Hintergrund und Problemstellung - Lise-Meitner

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Der Mauerfall und die deutsch sowjetischen Beziehungen
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M 1 Der Umbau der sowjetischen Gesellschaft
Der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, erläuterte in einer Grundsatzrede
vom 31. Juli 1986 die Ziele seiner Politik (d. h. ca. ein Jahr nach Machtantritt):
Die derzeitige Umgestaltung umfasst nicht nur die Wirtschaft, sondern auch alle anderen Seiten des
gesellschaftlichen Lebens: die sozialen Beziehungen, das politische System, den geistig-ideologischen
Bereich sowie Arbeitsstil und -methoden der Partei und all unserer Kader. Umgestaltung ist ein umfassendes Wort. Ich würde zwischen den Wörtern ‘Umgestaltung’ und ‘Revolution’ ein Gleichheitszeichen setzen.
Unsere Umwandlungen und Reformen, die in den Beschlüssen des April-Plenums des Zentralkomitees der Partei und des XXVII. Parteitages der KPdSU1 vorgesehen sind, stellen eine wahre Revolution im ganzen System der gesellschaftlichen Beziehungen, in den Hirnen und Herzen der Menschen, in
der Psyche und im Verständnis der heutigen Zeit dar, vor allem der aus dem stürmischen wissenschaftlich-technischen Fortschritt erwachsenen Aufgaben.
In der KPdSU und im ganzen Land herrscht die einhellige einheitliche Auffassung: Die Antworten auf
die Fragen, die das Leben stellt, müssen wir nicht außerhalb des Sozialismus, sondern innerhalb unseres Systems suchen, indem wir das Potential der Planwirtschaft, der sozialistischen Demokratie und
Kultur wie auch des Faktors Mensch erschließen und uns auf das lebendige Schaffen des Volkes stützen. Das gefällt so manchem im Westen nicht. Dort wartet man auf etwas, was einer Abkehr vom
Sozialismus gleich käme, darauf, dass wir vor dem Kapitalismus zu Kreuze kriechen und seine Methoden übernehmen.
Zit. nach Retrospect, Die Chronik des 20. Jahrhunderts (auf 6 CD-ROMS), München 1998 (keine
Seitenangaben).
Erläuterungen:
1.) Auf diesem Plenum im April 1985 gelang es Gorbatschow, das Kräfteverhältnis zwischen Reformgegnern und -befürwortern im Politbüro durch die Wahl neuer Mitglieder zu seinen Gunsten zu
ändern. Diese erfolgreiche Personalpolitik konnte er auf dem 27. Parteikongress Anfang 1986
fortsetzen (Wahl neuer Parteisekretäre und ZK-Mitglieder).
1. Skizzieren Sie die Argumentationsstruktur Gorbatschows.
2. Was versteht Gorbatschow unter „Umgestaltung“ und welche Ziele verfolgt er mit seiner Politik?
3. Inwieweit argumentiert der Generalsekretär „traditionell“ sowjetisch und in welcher Hinsicht
überschreitet er die gewohnten Bahnen der Sowjetideologie?
M2a
Staats- und Parteichef Erich Honecker hielt am 7. Oktober 1989, anlässlich des 40. Jahrestages der
Gründung der DDR, eine Festrede, bei der auch Gorbatschow anwesend war. Sie fand in einer Atmosphäre des Belagerungszustandes in Ost-Berlin statt: Zehntausende demonstrierten auf den Straßen, forderten Reformen und bejubelten den sowjetischen Hoffnungsträger: „Gorbi, Gorbi“ (Auszug):
Wir werden unsere Republik in der Gemeinschaft der sozialistischen Länder, durch unsere Politik der
Kontinuität und Erneuerung auch künftig in den Farben der DDR verändern. ... Es geht um die weitere Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Selbstverständlich ist dies kein Vorhaben, das binnen kurzer Zeit und nach fertigen Rezepten, ohne unablässige Suche nach den jeweils
zweckmäßigsten Lösungen zu bewältigen wäre. Es handelt sich vielmehr um einen historischen, einen
langwierigen Prozess tief greifender Wandlungen und Reformen in allen Bereichen. Dadurch erlangt
der Sozialismus als reale Alternative zum Kapitalismus eine ständig höhere Stufe, wirken seine Vorzüge umso nachhaltiger auf das Leben der Menschen. Gehört es nicht überhaupt zu den größten Errungenschaften unserer Republik, dass ausnahmslos alle jungen Leute eine Zukunft haben, dass sie
nicht auf der Straße stehen müssen, ohne Ausbildung bleiben, an der Drogennadel hängen oder gar
ohne Dach über dem Kopf dahinvegetieren müssen? ... Wer nach Sinnerfüllung im Leben strebt, der
wird den faulen Zauber, der da drüben glänzt, schnell als das erkennen, was er ist. ...
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Ratschläge, die zur Schwächung des Sozialismus führen sollen, fruchten bei uns nicht. Die zügellose
Verleumdungskampagne, die derzeit, international koordiniert, gegen die DDR geführt wird, zielt
darauf ab, Menschen zu verwirren und Zweifel in die Kraft und die Vorzüge des Sozialismus zu säen.
Dies kann uns nur darin bestärken, auch in Zukunft alles zu tun für ein friedliches europäisches Haus.
Auch im fünften Jahrzehnt wird der sozialistische Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden durch sein Handeln zum Wohle des Volkes, durch seinen Beitrag zu Frieden, Sicherheit und internationaler Zusammenarbeit ständig neu beweisen, dass seine Gründung im Oktober 1949 ein Wendepunkt war – in der Geschichte des deutschen Volkes und Europas.
Zit. nach Retrospect, Die Chronik des 20. Jahrhunderts (auf 6 CD-ROMS), München 1998 (keine
Seitenangaben).
1. Worin bestehen nach Honecker die Vorzüge des von ihm verfolgten Gesellschaftskonzepts, und
welche „Leistungen“ seines Staates führt er an?
2. Vergleichen Sie seine Argumentation mit der Gorbatschows von 1986 (M 1). Worin bestehen Unterschiede, worin Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten?
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Das SED-Politbüro nahm am 11. Oktober 1989 Stellung zu den Ursachen der Fluchtbewegung aus
der DDR, die zur Ausreise von zehntausenden von Menschen über Ungarn und Österreich und über
die deutsche Botschaft in Prag (Ende September 1989) in die Bundesrepublik geführt hatte (Auszug):
Der Sozialismus braucht jeden. Er hat Platz und Perspektive für alle. Er ist die Zukunft der heranwachsenden Generationen. Gerade deshalb lässt es uns nicht gleichgültig, wenn sich Menschen, die
hier arbeiteten und lebten, von unserer Deutschen Demokratischen Republik losgesagt haben. Viele
von ihnen haben die Geborgenheit der sozialistischen Heimat und eine sichere Zukunft für sich und
ihre Kinder preisgegeben. Sie sind in unserem Land aufgewachsen, haben hier ihre berufliche Qualifikation erworben und sich ein gutes Auskommen geschaffen. Sie hatten ihre Freunde, Arbeitskollegen und Nachbarn. Sie hatten eine Heimat, die sie brauchte und die sie selbst brauchen. Die Ursachen
für ihren Schritt mögen vielfältig sein. Wir müssen und werden sie auch bei uns suchen, jeder an seinem Platz, wir alle gemeinsam.
Viele von denen, die unserer Republik in den letzten Monaten den Rücken gekehrt haben, wurden
Opfer einer groß angelegten Provokation. Wiederum bestätigt sich, dass sich der Imperialismus der
BRD mit einem sozialistischen Staat auf deutschem Boden niemals abfinden wird, Verträge bricht
und das Völkerrecht missachtet. Mit dem 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen
Republik glaubten imperialistische Kräfte den geeigneten Zeitpunkt gefunden zu haben, um mit einer
hasserfüllten Kampagne ihrer Massenmedien Zweifel am Sozialismus und seiner Perspektive zu verbreiten. Sie wollen von der Hauptfrage unserer Zeit, der Sicherung des Friedens, ablenken. Das Interesse am gemeinsamen Ringen der Völker um die Lösung globaler Probleme soll geschwächt werden.
...
Deshalb ist es das Gebot der Stunde, dass sich alle, deren Handeln von politischer Vernunft und humanistischem Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Menschen unseres Landes bestimmt ist,
deutlich abgrenzen von jenen, die die Bürger für konterrevolutionäre Attacken zu missbrauchen trachten. Die Probleme der weiteren Entwicklung des Sozialismus in der DDR lösen wir selbst – im sachlichen Dialog und im vertrauensvollen politischen Miteinander. ...
Gemeinsam wollen wir über alle grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft beraten, die heute und
morgen zu lösen sind. Gemeinsam wollen wir Antwort finden, wie wir die nicht leichten Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts im Sinne der humanistischen Ideale des Sozialismus bestehen
können. Gemeinsam wollen wir unser Vaterland so gestalten, dass die wachsenden materiellen und
kulturellen Bedürfnisse jedes Einzelnen entsprechend seiner Leistungen immer besser erfüllt werden
können. Es geht um die Weiterführung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es geht um
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und ihren Nutzen für alle, um demokratisches Miteinander und
engagierte Mitarbeit, um gute Warenangebote und leistungsgerechte Bezahlung, um lebensverbunde-
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ne Medien, um Reisemöglichkeiten und gesunde Umwelt. Es geht um den Beitrag unserer Republik
für die Sicherung des Friedens in der Welt.
Zit. nach Retrospect, Die Chronik des 20. Jahrhunderts (auf 6 CD-ROMS), München 1998 (keine
Seitenangaben).
1. Worin sieht das SED-Politbüro die Ursachen der Fluchtwelle aus der DDR?
2. Beziehen Sie Stellung zur Argumentationsweise Honeckers (M 2a) und des Politbüros (M 2 b) vor
dem Hintergrund der fundamentalen Umbrüche in der UdSSR seit 1985 und der DDR im September bis November 1989.
M3a
Bei Gorbatschows von der Bevölkerung mit Sympathien und Jubel begleiteten Besuch in der Bundesrepublik kam es am 13. Juni 1989 zur folgenden gemeinsamen Erklärung von Bundeskanzler Helmut
Kohl und dem Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzenden des Obersten Sowjets der
UdSSR, die den Zustand der deutsch-sowjetischen Beziehungen umriss (Auszug):
I.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken stimmen darin
überein, dass die Menschheit an der Schwelle zum dritten Jahrtausend vor historischen Herausforderungen steht. Probleme, die von lebenswichtiger Bedeutung für alle sind, können nur gemeinsam von
allen Staaten und Völkern bewältigt werden. Das erfordert neues politisches Denken.
Der Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten und die Sorge für das Überleben der Menschheit
müssen im Mittelpunkt der Politik stehen.
Das gewaltige Potential an schöpferischen Kräften und Fähigkeiten des Menschen und der modernen
Gesellschaft muss für die Sicherung des Friedens und des Wohlstands aller Länder und Völker nutzbar gemacht werden.
Jeder Krieg, ob nuklear oder konventionell, muss verhindert, Konflikte in verschiedenen Regionen der
Erde beigelegt und der Friede erhalten und gestaltet werden.
Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander
auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muss sichergestellt werden. Der Vorrang
des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muss gewährleistet werden.
Die Erkenntnisse moderner Wirtschaft, Wissenschaft und Technik bieten ungeahnte Möglichkeiten,
die allen Menschen zugute kommen sollen. Risiken und Chancen, die sich hieraus ergeben, verlangen
gemeinsame Antworten. Es ist daher wichtig, die Zusammenarbeit auf allen diesen Gebieten auszuweiten, Handelshemmnisse jeglicher Art weiter abzubauen, neue Formen des Zusammenwirkens zu
suchen und zum beiderseitigen Vorteil dynamisch zu nutzen.
Die natürliche Umwelt muss im Interesse dieser und künftiger Generationen durch entschlossenes
Handeln gerettet, Hunger und Armut in der Welt müssen überwunden werden.
Neue Bedrohungen, einschließlich Seuchen und internationaler Terrorismus, müssen energisch bekämpft werden.
Beide Seiten sind entschlossen, ihrer sich aus dieser Einsicht ergebenden Verantwortung gerecht zu
werden. Fortbestehende Unterschiede in den Wertvorstellungen und in den politischen und gesellschaftlichen Ordnungen bilden kein Hindernis für zukunftsgestaltende Politik über Systemgrenzen
hinweg. ...
Bonn, den 13. Juni 1989
Helmut Kohl Michail Gorbatschow
Zit. nach Retrospect, Die Chronik des 20. Jahrhunderts (auf 6 CD-ROMS), München 1998 (keine
Seitenangaben).
1. Worin besteht Ihrer Meinung nach das „neue Denken“, das in der gemeinsamen deutschsowjetischen Erklärung zum Ausdruck kommt?
2. Welche Werte werden dabei in den Mittelpunkt gestellt?
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Nach seinem Treffen mit Helmut Kohl äußerte sich der Generalsekretär am 16. Juli 1990 in Schelesnowodsk auf einer Pressekonferenz. Die persönliche Einladung des deutschen Gastes in Michail
Gorbatschows Heimat im Kaukasus war Ausdruck dafür, dass die entscheidende Einigung zwischen
den beiden schon am 14. Juli in Moskau erreicht worden war (Auszug):
Ich denke vor allem, dass eine derart umfangreiche Arbeit zu einem so großen Fragenkomplex die
Grundinteressen nicht nur unserer beiden Völker, sondern auch aller Europäer und der gesamten
Weltgemeinschaft betrifft. Wir konnten eine fruchtbare Arbeit leisten, weil wir in den vergangenen
Jahren einen weiten Weg in der Entwicklung unserer Beziehungen zurückgelegt haben. Sie zeichnen
sich heute durch einen hohen Stand des politischen Dialogs, ein bestimmtes Maß an Vertrauen und
intensive Kontakte auf höchster Ebene aus. Der Herr Bundeskanzler und ich nutzen verschiedene
Formen wie persönliche Begegnungen, Besuche, Ferngespräche und Korrespondenz. Dies ist ein sehr
intensiver Dialog. ...
Die Atmosphäre, die unsere Beziehungen kennzeichnet, gestattete uns, in dieser schwierigen Etappe
weitreichender Wandlungen effizient, im Geiste des Einvernehmens vorzugehen und uns um Antworten auf wichtige Fragen zu bemühen. [...]
Wir gehen davon aus, dass wir mittels eines völkerrechtlichen Schlussdokumentes zur Aufhebung der
Rechte und Verantwortung der vier Mächte gelangen werden, die aus den entsprechenden völkerrechtlichen Entscheidungen über die Kriegsergebnisse resultierten. Das bedeutet, dass ein vereinigtes
Deutschland vollständige Souveränität erlangt. Es ist berechtigt, über diese Souveränität zu verfügen
und seine Entscheidung zu treffen. Das betrifft auch die Sozialentwicklung und die Tatsache, an welchen Bündnissen es teilnehmen, welche Beziehungen es unterhalten, zu wem es Kontakte aufnehmen
oder erneuern will. Dies sind alles Merkmale der vollständigen Souveränität, die ein Staat erhält.
Diesen Teil des Problems haben wir gründlich besprochen. Ich erinnere mich, dass ich bereits früher
gesagt habe, einmal werde die Zeit kommen, in der ein vereinigtes Deutschland ganz gleich ob, wir
das wollen oder nicht, in der NATO präsent sein wird, wenn sein Volk so entscheidet. Doch selbst
wenn es so entscheidet, wird es dennoch in bestimmtem Maße, in rechtlich fixierten Beziehungen mit
der Sowjetunion und damit mit einem bedeutenden Teil des Warschauer Vertrages zusammenarbeiten. Irgendetwas Ähnliches entwickelt sich. Daraus entsteht ein wichtiges Problem, das wir gründlich
und konstruktiv besprochen haben – das Problem des Aufenthalts, der Fristen, der Rechtslage, der
Bedingungen usw. für die Truppengruppierung, die bereits jetzt reduziert und weiter reduziert wird.
Wir haben Klarheit geschaffen und gegenseitige Besorgnis zerstreut. Das alles darf die Souveränität
eines vereinigten Deutschland nicht berühren, andererseits müssen aber auch die Interessen der Sowjetunion berücksichtigt sein.
Auf dem ‘Zwei-plus-Vier’-Treffen werden wir unsere Meinung darlegen, der zufolge sich die NATOStrukturen nicht auf das Territorium der ehemaligen DDR erstrecken dürfen.
Da erhebt sich die Frage: Was geschieht dann weiter? Wir rechnen damit, dass nach einem planmäßigen Abzug unserer Truppe in einer bestimmten Frist – wir haben mit dem Bundeskanzler von drei bis
vier Jahren gesprochen, wobei diese Frage natürlich noch behandelt und geprüft wird – auf dem Territorium, das natürlich vollständig unter der Souveränität eines vereinigten Deutschlands stehen wird,
welches das Recht hat, dort seine Truppen, die Bundeswehr, zu stationieren, jedoch weder Nuklearwaffen noch ausländische Truppen stehen werden. Das ist eine Voraussetzung für die Erhaltung des
entstandenen Vertrauens und die Verantwortung, die unseren Handlungen in den Beziehungen zueinander und zu anderen Europäern innewohnt.
... Die Führung der Bundesrepublik Deutschland hat sich dafür ausgesprochen, dass die zukünftige
Bundeswehr zahlenmäßig beinahe um die Hälfte – um 42 bis 45 Prozent der gesamten Stärke der Armeen beider deutscher Staaten – reduziert werden muss. Auch das ist ein Merkmal der verantwortungsbewussten Haltung der Bundesregierung, und ich hoffe, dass dies in die Politik jener eingehen
wird, die dann im vereinigten Deutschland regieren werden. Auch das ist ein überaus wichtiges Element. Und schließlich ändert sich auch der Charakter der NATO. Es wird eine gemeinsame Deklaration beider Bündnisse geben. Sie öffnen sich einander, nehmen Kontakte auf, es werden entsprechende
Institutionen gegründet und ein Zusammenwirken beginnt auch bei der Kontrolle. Das heißt, wir ha-
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ben bereits eine ganz andere Situation. Eine, ich würde sagen Situation des Übergangs zu zukünftigen
europäischen Sicherheitsstrukturen.
Zit. nach Retrospect, Die Chronik des 20. Jahrhunderts (auf 6 CD-ROMS), München 1998 (keine
Seitenangaben).
1. Welche zukünftige Entwicklung sieht Gorbatschow für das wieder vereinigte Deutschland und im
Verhältnis der beiden militärischen Bündnissysteme?
2. Worin besteht für den Generalsekretär nationale Souveränität und welche Folgen hat diese Einschätzung für die europäische Staatenwelt (M 2 a und b)?
M3c
Die Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags durch die ehemaligen Siegermächte des II. Weltkriegs und die beiden deutschen Staaten erfolgte am 12. September 1990, nach drei Gesprächsrunden
(die erste am 5. Mai 1990 in Bonn, die zweite am 22. Juni 1990 in Berlin und die dritte am 17. Juli in
Paris) und nach dem Ausräumen teils erheblicher Bedenken gegen die deutsche Einheit auf Seiten
Großbritanniens und Frankreichs, aber auch der UdSSR. Sie bedeutete die Wiederherstellung der
deutschen Einheit, die am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde (Auszug):
Die Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Demokratische Republik, die Französische Republik,
das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika - ...
IN WÜRDIGUNG DESSEN, dass das deutsche Volk in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat, die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen, um als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen,
IN DER ÜBERZEUGUNG, dass die Vereinigung Deutschlands als Staat mit endgültigen Grenzen ein
bedeutsamer Beitrag zu Frieden und Stabilität in Europa ist,
MIT DEM ZIEL, die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland zu vereinbaren,
IN ANERKENNUNG DESSEN, dass dadurch und mit der Vereinigung Deutschlands als einem demokratischen und friedlichen Staat die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in Bezug
auf Berlin und Deutschland als Ganzes ihre Bedeutung verlieren, ...
sind wie folgt übereingekommen:
Artikel 1
(1) Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen. Seine Außengrenzen werden die Grenzen der
Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sein und werden am Tage
des In-Kraft-Tretens dieses Vertrags endgültig sein. Die Bestätigung des endgültigen Charakters der
Grenzen des vereinten Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa.
(2) Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag.
(3) Das vereinte Deutschland hat keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche
auch nicht in Zukunft erheben.
(4) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
werden sicherstellen, dass die Verfassung des vereinten Deutschland keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien unvereinbar sind. Dies gilt dementsprechend für die Bestimmungen, die in der Präambel und in den Artikeln 23 Satz 2 und 146 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland niedergelegt sind.
(5) Die Regierungen der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Vereinigten Staaten von Amerika
nehmen die entsprechenden Verpflichtungen und Erklärungen der Regierungen der Bundesrepublik
Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik förmlich entgegen und erklären, dass mit
deren Verwirklichung der endgültige Charakter der Grenzen des vereinten Deutschland bestätigt wird.
Artikel 2
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Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen
werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik
Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, dass das vereinte Deutschland
keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung
und der Charta der Vereinten Nationen.
Artikel 3
(1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
bekräftigen ihren Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare,
biologische und chemische Waffen. Sie erklären, dass auch das vereinte Deutschland sich an diese
Verpflichtungen halten wird. Insbesondere gelten die Rechte und Verpflichtungen aus dem Vertrag
über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort.
(2) Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat in vollem Einvernehmen mit der Regierung
der Deutschen Demokratischen Republik am 30. August 1990 in Wien bei den Verhandlungen über
Konventionelle Streitkräfte in Europa folgende Erklärung abgegeben:
"Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich, die Streitkräfte des vereinten
Deutschland innerhalb von drei bis vier Jahren auf eine Personalstärke von 370000 Mann (Land-,
Luft- und Seestreitkräfte) zu reduzieren. Diese Reduzierung soll mit dem In-Kraft-Treten des ersten
KSZE-Vertrags beginnen. Im Rahmen dieser Gesamtobergrenze werden nicht mehr als 345000 Mann
den Land- und Luftstreitkräften angehören, die gemäß vereinbartem Mandat allein Gegenstand der
Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa sind. Die Bundesregierung sieht in ihrer
Verpflichtung zur Reduzierung von Land- und Luftstreitkräften einen bedeutsamen deutschen Beitrag
zur Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa.
Sie geht davon aus, dass in Folgeverhandlungen auch die anderen Verhandlungsteilnehmer ihren Beitrag zur Festigung von Sicherheit und Stabilität in Europa, einschließlich Maßnahmen zur Begrenzung
der Personalstärken, leisten werden."
Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik hat sich dieser Erklärung ausdrücklich angeschlossen.
(3) Die Regierungen der Französischen Republik, des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und der Vereinigten Staaten von Amerika
nehmen diese Erklärungen der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Kenntnis.
Artikel 4
(3) Nach dem Abschluss des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche
Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger. Darunter fallen nicht konventionelle Waffensysteme, die neben konventioneller andere Einsatzfähigkeiten haben können, die jedoch in diesem Teil Deutschlands für eine konventionelle Rolle ausgerüstet und nur dafür vorgesehen sind. Ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger
werden in diesem Teil Deutschlands weder stationiert noch dorthin verlegt.
Artikel 6
Das Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und
Pflichten anzugehören, wird von diesem Vertrag nicht berührt.
Artikel 7
(1) Die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union
der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre
Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und
Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst.
Der Mauerfall und die deutsch sowjetischen Beziehungen
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(2) Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.
... Zu Urkund dessen haben die unterzeichneten, hierzu gehörig Bevollmächtigten diesen Vertrag
unterschrieben.
Geschehen zu Moskau am 12. September 1990
Für die Bundesrepublik Deutschland Hans-Dietrich Genscher
Für die Deutsche Demokratische Republik Lothar de Maizière
Für die Französische Republik Roland Dumas
Für das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland Douglas Hurd
Für die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Eduard Schewardnadse
Für die Vereinigten Staaten von Amerika James Baker
Zit. nach Retrospect, Die Chronik des 20. Jahrhunderts (auf 6 CD-ROMS), München 1998 (keine
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1. Erläutern Sie die Hauptelemente des Zwei-plus-Vier-Vertrags.
2. Welche Bedeutung hat dieser Vertrag für die Nachkriegsordnung in Europa, für das deutschsowjetische (deutsch-russische) Verhältnis und die weitere Entwicklung unseres Kontinents?
3. Beurteilen Sie abschließend (M 1 - 3) die historische Leistung Gorbatschows vor dem Hintergrund
des Zusammenbruchs von Warschauer Pakt und UdSSR und der Beendigung von Ost-WestKonflikt und atomarer Vernichtungsdrohung.
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