Freundschaft, Schweiß und Tränen

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DeutschlandRadio/DEUTSCHLANDFUNK
Hintergrund/Feature
Redaktion: Marcus Heumann
Sendung:
Dienstag, 9. Dezember 2003
19.15 - 20.00 Uhr
Freundschaft, Schweiß und Tränen
Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend in England 1939 - 1946
Von Henry Bernhard
Co-Produktion DLF/MDR
DLF-Fassung
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt
werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz
geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
DeutschlandRadio
- unkorrigiertes Exemplar -
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O-Ton Ursel Hoffmann
Das ist hier mein FDJ-Ausweis. Und da steht etwas: „Das besondere Interesse der
FDJ gilt der britischen Jugend. Die FDJ ist eine selbständige Organisation und an
keine Partei gebunden. Die FDJ – das bist du!“ Und dem habe ich mich
angeschlossen!
Vorwärts, Freie Deutsche Jugend
In Paris, in Kopenhagen, London, Prag
scheint die Sonne und derselbe runde Mond
Und wir leben unseren ruhelosen Tag
Ansagerin
Freundschaft, Schweiß und Tränen
Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend in England 1939-1946
Ein Feature von Henry Bernhard
Musik:
Wir haben nicht für immer Lebewohl gesagt,
unsere Straße führt zurück, wir kehren wieder.
Kameraden, unverzagt.
Atmo in Belsize Park
O-Ton: (Tür öffnet sich) - Hello, I’m Henry Bernhard! Hello, please come in! ...
O-Ton Marianne Pincus
Na ja, da war unten ein großer Raum, ein großer und noch ein kleiner Raum, die
waren – glaube ich – durch eine Tür getrennt, in Parterre war das. Das war der
Raum, in denen an den Wochenenden die Veranstaltungen stattfanden, also
richtiges nettes Jugendleben.
O-Ton Alfred Fleischhacker
Und noch ne halbe Treppe höher war das Büro, das zentrale Büro der Freien
Deutschen Jugend in Großbritannien. Und darüber waren dann zehn oder zwölf
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Räume, in denen wir wohnten, meistens Zwei- und Drei-Bettzimmer. Und dort habe
ich etwa für ein halbes, dreiviertel Jahr, von 1942 Oktober bis 1943, gewohnt.
Atmo in Belsize Park
O-Ton:
Hampstead, wonderful atmosphere! Lots of refugees, lots of old ladies in the
coffeeshop …
Sprecher
Belsize Park 12. Heute eine Adresse für den gehobenen Mittelstand im Nordwesten
Londons. Die Hardys, ein Rentnerpaar, zeigen mir ihr Haus, von dem ich zuvor so
viele hatte reden hören. Von 1938 bis 1945 strandeten hier jüdische deutsche Kinder
und Jugendliche, dieses Haus ersetzte ihnen die Heimat. Die Freie Deutsche
Jugend, die später zur öden und inhaltsleeren Zwangsgemeinschaft der DDRJugend verkam, war hier vielen politische Heimat und Familie zugleich.
O-Ton Werner Händler
Und dann wurden Feten gemacht, es wurden auch sehr ernsthafte Fragen gestellt,
z.B. die Frage: In welcher Sprache wird geliebt? Das ist klar: Es war Englisch!
Musik:
Singend wollen wir marschieren in die neue Zeit,
Adolf Hitler soll uns führen, wir sind stets bereit.
O-Ton Ursel Hoffmann
Ich war ja nun schon 17, und ich bin über´n Pfingstmarkt gegangen, und ein junger
Mann fand an mir Gefallen und fing an, mit mir zu flirten, der wollte mich auch
küssen. Ich hab gesagt „nein, nein, nein!“ und bin schnell reingelaufen! Meine Eltern,
denen ich das auch erzählt hab, haben gesagt: „Kind, um Gottes Willen, das kann
dein Leben kosten! Das ist Rassenschande!“
O-Ton Eberhard Zamory
Und ich kam nach Hause und meine Mutter nahm mich in Empfang und sagte: „Vater
ist abgeholt worden!“
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O-Ton Marianne Pincus
Er hat einen Selbstmordversuch gemacht, ist aber nicht geglückt. Und er ist nach
Buchenwald gekommen.
Sprecher:
Marianne Pincus, Ursel Hoffmann und Eberhard Zamory waren zwischen 14 und 18
Jahre alt, als ihnen ihre deutschen Mitbürger im November 1938 klarmachten, dass
es Zeit war zu gehen. Sie hatten Glück, Chuzpe und Selbstvertrauen, dass sie es
schafften, nach England zu kommen: mit gefälschten Papieren, mit Bestechung, über
Beziehungen oder mit dem Kindertransport, der 1938/39 10.000 jüdischen Kindern
die Flucht nach Großbritannien ermöglichte.
O-Ton Eberhard Zamory
Ich war fix und fertig, wusste nicht, wohin. Und dann bin ich zu einer Telephonzelle
gegangen, konnte aber natürlich das Englisch nicht lesen, weil ich Latein und
Griechisch hatte und Französisch – aber kein Englisch!
Sprecher
Ende 1939 lebten 70.000 deutschsprachige Flüchtlinge in Großbritannien, aus
Deutschland, Österreich und dem Sudetenland. Fast alle waren Juden, die anderen
Sozialdemokraten, Sozialisten, Liberale. Jeder Dritte war noch Kind oder
Jugendlicher. Sie lebten in Heimen, bei Pflegeeltern, in jüdischen Waisenhäusern
oder auch schon selbständig. Die wenigsten waren mit ihren Familien hier.
O-Ton Ernst Hoffmann
Wir haben also kennengelernt die jüdischen Jugendlichen bei diesem Treffen
Pfingstlager. Und da kam zufällig eine Fahrradgruppe. Und so bekamen wir
Verbindung, also auch zu meiner späteren Frau. Die hat natürlich geglaubt, ich wär’
ein Nazi-Spitzel.
O-Ton Ursel Hoffmann
Und wir hatten ja keine Ahnung davon, dass z.B. ein Mensch Deutschland verlassen
muss, einfach weil er politisch nicht da hinein gepasst hat. Deshalb war es eben so,
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dass ich gedacht habe: Was will denn der hier? Der ist ja kein Jude und hat
überhaupt nichts damit zu tun! Da war ich erst mal sehr misstrauisch!
Sprecher:
Ursel und Ernst Hoffmann lernten sich im Sommer 1939 in Manchester kennen. Sie –
die Tochter des Kantors der Jüdischen Gemeinde in Rostock – und er – der
Wuppertaler Kommunist. Ernst Hoffmann war Funktionär des Kommunistischen
Jugendverbandes in Deutschland. 1937 war er nach drei Jahren im Zuchthaus
zunächst in die Tschechoslowakei emigriert. Dort in Prag hatte er im Mai 1938 mit
anderen Jugendlichen – Kommunisten, Sozialdemokraten, Katholiken – eine
Organisation gegründet, die den Nazis in Deutschland Widerstand entgegensetzen
sollte: Die Freie Deutsche Jugend – kurz FDJ. Denn die Komintern hatte es
aufgegeben, als schlimmsten Feind die Sozialdemokratie zu bekämpfen, und
propagierte seit 1935 eine Volksfront-Politik gegen den Faschismus. In Paris gab es
die FDJ schon seit 1936, als Dachorganisation verschiedener linker Gruppen. Die
Zeit in Prag währte nicht lange: Anfang 1939 mussten die politischen Emigranten
wieder vor Hitler fliehen. Tausende konnten sich nach Großbritannien absetzen,
darunter etwa 50 Mitglieder der FDJ. Hier aber war die Flüchtlingsstruktur eine
andere: Über 95 Prozent waren Juden. Die meisten von ihnen von Hause aus
bürgerlich und unpolitisch.
O-Ton Ernst Hoffmann
Und als wir die erste Zusammenkunft machten, da habe ich versucht, dass die Lieder
singen: Das war nicht möglich! Die waren dermaßen durcheinander, dass sie nicht
die innere Kraft aufbrachten, Lieder zu singen! Und da haben wir die erste Gruppe
gebildet. Dazu gehörte der Zamory.
O-Ton Eberhard Zamory
Als ich Ernst Hoffmann und andere Genossen kennenlernte, das war das erste Mal
in meinem Leben, dass ich mit Widerstandskämpfern in Berührung kam. Ich hatte
vorher nur Feigheit und Opportunismus in der ganzen bürgerlichen Umgebung, in der
wir in Breslau lebten, erlebt. Und jetzt traf ich auf Widerstandskämpfer, die Schlägen
und Folter der Gestapo standgehalten hatten, nichts verraten hatten.
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O-Ton Ernst Hoffmann
Es war im Grunde genommen zunächst ein Ersatz für die verlorene Familie. Aber
darüber kann ja Ursel selber sprechen!
O-Ton Ursel Hoffmann
Wir hatten ja nun wirklich kein Zuhause mehr. Wir waren ja ausgegrenzt! Wir hatten
ewig kein Kino mehr besuchen können in Rostock, das war ja auch so, dass wir uns
jetzt weiter bilden wollten. Und da waren diese Vorträge auch hochinteressant. Und
dann haben wir Lieder gesungen! Ich war damals 18 Jahre – da begann eigentlich
erst mal mein Leben!
Ursel Hoffmann liest Emigrantenchoral
(Ich weiß gar nicht, wer das gemacht hat)
In Paris, in Kopenhagen, London, Prag
scheint die Sonne und derselbe runde Mond
Und wir leben unseren ruhelosen Tag
fremder, als wir es gewohnt ...
Sprecher:
Ursel und Ernst Hoffmann und Ernst Zamory lebten damals in Manchester. FDJGruppen gab es in zwei Dutzend Städten. In ihren besten Zeiten hatte die FDJ in
Großbritannien 600 Mitglieder. Die Zentrale war in London. Im Nordwesten der Stadt,
in Willesden und Hampstead, hatten die Jugendlichen zwei Häuser gemietet,
finanziert durch Mitgliedsbeiträge und Mieten: als Treffpunkt, als Wohnheim, als
Organisationszentrale der FDJ. Eine von ihnen lebt noch heute um die Ecke: Barbara
Cartlidge – damals Barbara Feistmann, Spitzname Bobby.
O-Ton Barbara Cartlidge
Ich kam hier am 6. Dezember 1938. Und so allmählich war von uns so eine ziemliche
Gruppe von vielleicht 20 - 30 jüngeren Flüchtlingen, die natürlich viel gemeinsam
hatten: Wir hatten alle kein Geld, keine Möglichkeit, Arbeit zu finden oder irgendwie
weiter zu studieren, es war alles sehr schwierig. Und wir fühlten uns so ein bisschen
wie eine Insel auf einer Insel. Und so taten wir uns zusammen und beschlossen, eine
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Organisation zu gründen, die uns allen irgendwie einen Halt gab.
O-Ton Eberhard Zamory
Und es war für viele auch in der FDJ dieses sich einander hingeben und
anklammern. Und da war es natürlich so, das gleiche Schicksal haben, dass junge
Mädchen sich da zusammenfanden. Einmal die FDJ als Familienersatz und
andererseits auch eine Liebesbeziehung, die Halt gab! Ich glaube, das hat das ne
Rolle gespielt. Und dann natürlich auch: Es war niemand da, der uns das verbieten
konnte.
O-Ton Horst Brie
Man darf aber nicht vergessen, dass diese jungen Menschen sich erst viel später
bewusst wurden, dass sie an sich Waisenkinder waren.
Sprecher:
Horst Brie hatte Glück: Ihm war die abenteuerliche Flucht über die Tschechoslowakei
und Polen nach Großbritannien gemeinsam mit seinen Eltern gelungen. Bobby
Feistmann kümmerte sich um den schüchternen 16-jährigen.
O-Ton Horst Brie
Die hatten schon ein Jugendlager durchgeführt. Und dort hat die Bobby aus der
Lamäng praktisch dieses Logo der Freien Deutschen Jugend entworfen. Was
nachher später auch das Zeichen in der DDR oder im Osten Deutschlands wurde.
O-Ton Barbara Cartlidge
Und ich habe diese Fahne entworfen – und zwar war es eine Sonne auf blauem
Hintergrund – und habe sie selber genäht aus Stoff. Und wir haben dann ein RiesenSommercamp im August 1939 organisiert. Und, ehrlich gesagt, weil schon die
Wolken des Krieges über uns sehr sichtbar waren, haben wir uns alle eigentlich
gewünscht, dass sie vielleicht einen Drahtzaun um dieses Camp machen, so dass
wir während des Krieges die ganze Kriegszeit verleben konnten.
Sprecher:
Der Wunsch Bobby Feistmanns ging schneller, aber auch anders in Erfüllung als
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erhofft: Angesichts des rasanten Vormarschs der deutschen Wehrmacht nach
Westen und Norden internierten die Briten im Sommer 1940 ihnen vermeintlich
feindlich gesinnte Ausländer – gemeinsam mit deutschen Kriegsgefangenen! So
wurden aus Deutschland emigrierte Juden verdächtigt, zur Fünften Kolonne Adolf
Hitlers zu gehören.
O-Ton Alfred Fleischhacker
Und dann sind wir nach Kanada transportiert worden. Und auf dem Schiff waren
schon Kriegsgefangene: Und die sahen uns kommen und fingen dann an zu pöbeln:
„Juden!“ Und landeten dann in Quebec.
O-Ton Horst Brie
Und diese Internierung führte dazu, dass die FDJ zu einer Massenorganisation
wurde. Weil wir in diesen Lagern sofort alle Arbeiten übernahmen: Küche,
Reinigungsarbeiten... Und schufen ne Volkshochschule, Unterricht war bei uns, da
konnte man alles lernen, mit hervorragenden Lehrern.
Sprecher:
Horst Brie gelang es, in England zu bleiben. Werner Goldstein kam nach Australien,
Alfred Fleischhacker und Horst Schalscha – wie auch die meisten anderen – nach
Kanada zum Bäumefällen. Ältere Emigranten – unter ihnen ehemalige
Reichtagsabgeordnete und Universitätsprofessoren, organisierten regelrechte
Lageruniversitäten, mit Sprachunterricht und Vorlesungen in Mathematik, Geschichte
und Philosophie.
O-Ton Eberhard Zamory
Da wurde unglaubliche Schulung betrieben! Da habe ich das erste Mal
durchgenommen: Kurze Geschichte der KPdSU in einem Zirkel. Na ja.
O-Ton Ernst Hoffmann
Und ich hab ein solches gemacht und habe also angefangen mit dem Gegensatz
zwischen Materialismus und Idealismus. Und nachdem ich alle Argumente der
beiden Seiten ausgebreitet hatte, habe ich gesagt: „So, jetzt machen wir einen
Kampf! Ich übernehme den Idealismus und ihr den Materialismus!“ Dieser Streit hat
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gelandet auf dem Fußboden! Die sind dann alle über mich hergegangen und haben
gesagt: „Dein Hauptargument für den Materialismus war die Bestätigung durch die
Praxis. Und jetzt machen wir die Praxis!“
O-Ton: Eberhard Zamory
Es hat mir mächtig gefallen. Ich habe mich zum ersten Mal zu einer echten
Gemeinde zugehörig gefühlt, wo wir alle nur linksradikal eingestellt waren. SPD war
streng verboten, es waren Erzfeinde.
In dieser Zeit der größten Krise des englischen Empires haben die Briten begonnen
eine Kampagne: „Lasst die deutschen Emigranten wieder frei!“ Und in der Tat haben
sie durchgesetzt, dass wir wieder freigelassen wurden.
Sprecher:
Die Entlassung der Internierten zog sich über Jahre hin. Schließlich mussten
Tausende während des U-Boot-Krieges von Kanada und Australien zurück nach
England gebracht werden. Unterdessen hatten die Mädchen in London, Liverpool
und Birmingham die Geschäfte der FDJ besorgt: Sie arbeiteten auf kriegswichtigen
Arbeitsplätzen, schickten den Internierten Briefe und Päckchen und brachten die
Verbandszeitung heraus. Mit verantwortlich damals: Barbara Feistmann, heute
Cartlidge:
O-Ton Barbara Cartlidge
Für mich wie für viele andere Mitglieder der Freien Deutschen Jugend gab es damals
viel mehr schwarz-weiße Differenzen: Man war entweder ganz rechts oder ganz
links. „Kommunistisch” war schon zu viel gesagt in vieler Hinsicht, und trotzdem
fanden wir alles in der SU ziemlich beneidenswert und ohne Kritik. Für uns war es
das genaue, das Gegenspiel gegen die Nazis.
O-Ton Eberhard Zamory
Odysseus auf dem Floß! Zwischen Scylla und Charibdis! Die Sirenengesänge! Und
damit er sich nicht verführen ließe, hat er sich an den Mast binden lassen. Wir haben
uns an den Mast der FDJ gebunden, um nicht unterzugehen. Also ich muss Ihnen
sagen, dass ich als unsicherer, schüchterner Mensch, der ich war, das Gefühl – also
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man kann es christlich ausdrücken: den kollektiven Messias! Das war ja unsere
Vorstellung: Das ist die Elite, der Kader, der uns befähigt, in Kürze Ausbeutung und
Unterdrückung für immer zu überwinden. Na, das ist doch... Also, als nebbich
„Judensau“ aus Deutschland rausgeprügelt und getreten und dann England, „enemy
alien“, aber plötzlich gehört man zu der Weltelite, die die Welt von Krieg und
Unterdrückung und Ausbeutung befreit. Na, das ist doch toll!
Sprecher:
1942 war innerhalb der FDJ eine kommunistische Jugendgruppe gegründet worden.
Ihr gehörten etwa hundert Jugendliche an, darunter Marianne Pincus.
O-Ton Marianne Pincus
Und da haben die alle – war auch so ein Urerlebnis für mich –, da haben die alle
geklatscht, weil ich ja nun gewählt worden war zu ihrer Gruppenleiterin. Und das hat
mich so erschrocken Da habe ich gedacht: Was erwarten die eigentlich von dir? Was
wollen die eigentlich von dir? Das kannst du überhaupt nicht erfüllen, diese
Erwartungen, die die haben Warum klatschen die denn dir kleinem FDJ-Mitglied zu?
Da habe ich mich zurückgezogen. Das hat mir wirklich echt geschadet, diese Sache
da und dieses Innerparteiliche, diese Querelen, die kannte ich nicht, und die haben
mich auch nicht so interessiert.
Sprecher:
An die inneren Querelen in der FDJ kann oder will sich kaum noch jemand, der dabei
gewesen ist, erinnern. Tatsache ist, dass Alfred Buchholz, Spitzname Appel, der
charismatische Vorsitzende der FDJ schon in Prag, 1942 auf Beschluss der KPD von
seinem Posten zurücktrat, mit ihm der gesamte FDJ-Vorstand. Warum dies geschah,
bleibt aber unklar. Wahrscheinlich ging es darum, ob und wie ein kommunistischer
Jugendverband wiedergegründet werden sollte. Der neue FDJ-Vorsitzende hieß
Horst Brasch. Fortan ging es – viel intensiver als zuvor – darum, etwas aktiv gegen
den Faschismus zu tun. Die Organisation wurde straffer.
O-Ton Marianne Pincus
Deshalb wurde jetzt geworben, dass wir alle in irgendeiner Form kriegswichtige
Arbeit machen sollten. Die Männer haben sich ja teilweise für die Armee gemeldet,
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und wir Mädchen sollten in die Produktion gehen. Na ja, ich hab das auch gemacht,
hab schweren Herzens meinen schönen Job aufgegeben, da habe ich im
Dreischicht-System den Beruf eines Drehers gelernt.
O-Ton Eberhard Zamory
Und da haben wir uns in der FDJ in Manchester überlegt: Was machen wir? Wir
machen ne Theateraufführung mit einer Reihe von Sketchen, wo das Schicksal von
Emigranten dargestellt wird, echte Geschichten. Die Schauspieler waren schnell
gefunden, nur eine Rolle konnte schlecht besetzt werden: In der einen Szene musste
ein SS-Mann gefunden werden. Die kamen auf mich zu. Ich kriegte eine Uniform
verpasst. Dann habe ich den eingetrimmten Text, bis auf jede Grimasse, die ich
ziehen musste, auswendig gelernt und mechanisch aufgesagt usw. Und meine
Partnerin, auf die ich einredete, war eine Arierin, Frau Nathan. Und ich musste
versuchen, sie zu zwingen, sich von ihrem jüdischen Professormann zu trennen. Das
war ihre eigene Geschichte. Sie musste laut Regieanweisung an einem bestimmten
Punkt anfangen zu weinen. Das tat sie auch, und das war alles o.k. Nur, was nicht
der Regieanweisung entsprach: Sie hörte nicht auf zu weinen. Weil es echte Tränen
waren. Sie war überwältigt von der Erinnerung und fing an zu weinen. Und von dem
Moment an war das wie ein elektrischer Schock, der durch die Zuschauerreihen ging:
Dann konnte man eine Stecknadel fallen hören. Ich war plötzlich völlig in meiner
Rolle drin. Es war ein tosender Beifall nachher, und das lief sehr gut.
O-Ton Barbara Cartlidge
Wir haben eine Ausstellung gemacht in Regent Street, das ist eine der Hauptstraßen
von London, in `42, das hieß „Allies inside Germany“.
O-Ton Marianne Pincus
Also „Alliierte in Deutschland“, also es sind nicht alle Deutschen schlecht, es ist nicht
hoffnungslos, und wenn der Krieg vorbei ist, wollen wir ein besseres Deutschland
aufbauen. Dafür gibt es Potenzen. Und dafür brauchen wir auch Streiter, die uns
unterstützen – so etwa.
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Reportage V1-Start deutscher Rundfunk
Achtung, ein Knall, ein erstes Röhren und noch ein Schlag. Ein Donnern und Orgeln.
Die V1 fliegt rüber nach England.
O-Ton Marianne Pincus
Der Krieg war ausgebrochen, und die Bombardements auf London gingen los. Die
Leute sind damals jeden Abend mit Sack und Pack in die U-Bahn-Stationen gezogen
und haben in der U-Bahn-Station geschlafen. Ganze Ströme sind da
vorbeigekommen abends auf ihrem Weg dorthin.
Lied: Mein Vater wird gesucht
O-Ton Ernst Hoffmann
Die FDJ hat diese Liedergruppen, Singegruppen usw. und wir haben in den
britischen ..., in dem Luftschutz, haben sie englische, deutsche und jiddische Lieder
gesungen, während von oben die deutschen Bomben kamen. Und da ist nie
irgendwas gegen die Sänger, sondern die haben den vollen Beifall gekriegt.
O-Ton Horst Brie
Durch das Rote Kreuz bekamen sie bis `43, bis zur Deportation, sogar Post aus
Deutschland, die zwar nichts aussagte, aber die irgendwie ne Bestätigung war, dass
die Eltern noch lebten, ja.
O-Ton Alfred Fleischhacker
Und so haben meine Eltern zwei oder drei Briefe an mich geschickt mit flehentlicher
Bitte um Hilfe! Ich muss sie bekommen haben 1943 oder 1944, zu einem Zeitpunkt,
als meine Eltern schon gar nicht mehr lebten. Und in diesen Briefen die flehentliche
Bitte, ihnen ein paar Dollar zu schicken, damit sie sich ein bisschen was dazu kaufen
können. Und noch heute läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich diese
Briefe lese, weil ich mir dann sagen muss, dass ich im Grunde genommen so
ohnmächtig und hilflos war.
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Sprecher:
Nur die wenigsten waren mit ihren Eltern nach England gekommen, die meisten
Versuche, sie nachzuholen, scheiterten. Die einzige Hoffnung, die Familie
wiederzusehen, war der militärische Sieg über Nazi-Deutschland. Deshalb schufteten
sie 50-60 Stunden pro Woche in der Rüstungsindustrie, strickten Handschuhe für die
Rote Armee, sammelten Geld für ein Feldlazarett, machten Ernteeinsätze. Fast alle
Männer meldeten sich freiwillig zur britischen Armee, aber nur wenige wurden
genommen.
God Save the King
O-Ton Gerry Wolf
Am 8. Mai `45 hüpfte ich – zum ersten und letzten Mal, glaube ich – vorm
Buckingham Palace auf und ab. Und wir riefen immer: „We want the King!“ Wir
wollten den König sehen.
Sprecher:
Der spätere Schauspieler und Sänger Gerry Wolf lebte damals schon zehn Jahre in
England.
O-Ton Gerry Wolf
Aber niemand hat gerufen „We want Churchill!“, der auch da war! Den wollte keiner
sehen, den König wollten sie sehen.
O-Ton Werner Blumenthal
V-Day, der Tag des Sieges! Als das bekannt wurde, wurden natürlich nicht nur bei
uns die Maschinen sofort abgestellt, alles strömte in die Straßen. Und man traf sich
alles irgendwann, irgendwie am Picadilly, man ging in langen Reihen untergehakt
durch die Straßen und sang und tanzte, also absolut nicht nach dem Schema, wie
man sich England vorstellt.
O-Ton Ursel Hoffmann
Und dann kam die große Frage: Der Krieg war aus. Was nun? Und mein Mann hatte
immer gesagt: „Wenn das alles zu Ende ist, gehe ich nach Deutschland zurück und
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baue ein besseres Deutschland, ein gutes Deutschland auf!“ Jetzt musste ich mich
entscheiden.
O-Ton Alfred Fleischhacker
Und so sind von den 700 Mitgliedern, die wir hatten zu unseren Bestzeiten, vielleicht
100, 120 nach Deutschland zurück gegangen. Die anderen sind entweder in England
geblieben oder sie haben Angehörige gefunden, die in anderen Ländern Zuflucht
gefunden hatten. Manche sind dann nach Israel gegangen. Und viele sind auch in
England geblieben.
O-Ton Eberhard Zamory
Also, ich war damals päpstlicher als der Papst: Ich fand das ein moralisches
Versagen oder Verrat, wenn leitende Funktionäre nicht nach Deutschland, ich war
erstaunt, entsetzt, wenn die also nicht zurückkamen.
O-Ton Barbara Cartridge:
Ich hatte immer die Absicht, nach Deutschland zurückzugehen und, ehrlich gesagt,
am Ende des Krieges, wo ich dann schon verheiratet war mit meinem Mann, ist mir
erst eingegangen, dass ich eigentlich zum ersten Mal an einem Platz bin durch
meine eigene Entscheidung. Und ich blieb hier.
O-Ton Ursel Hoffmann
Für mich ist England die zweite Heimat, und ich hätte auch in England weiterleben
können. Es war für mich schon ein sehr, sehr großes Opfer, nach Deutschland
zurückzugehen, zumal meine Eltern ja in Auschwitz umgekommen sind.
O-Ton Werner Goldstein
Ja, dann haben wir sozusagen unsere Koffer auch gepackt und haben drauf
gesessen. Und dann wurde uns aber klar, dass die Sowjets uns nicht haben wollten,
und die Engländer waren auch nicht scharf drauf, dass Kommunisten nach
Deutschland zurückgehen. Ich bin erst im Herbst, September, 1947 nach Berlin
gekommen.
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O-Ton André Asriel
Wie wir dann die grüne Grenze passiert hatten, kam der erste russische Soldat durch
den Zug, Papiere kontrolliert. Das war so ein ziemliches Dokument, dieses englische
Papier – ihm das übergeben, der hat das angeguckt, der hat das natürlich nicht
verstanden. Da habe ich versucht, Kontakt zu machen, und hab gesagt: „Viel
Papier!“ Darauf hat er gesagt: „Wir viel mehr Papier!“ Und so kam ich dann rüber.
Das war wirklich ein Kulturschock und eine Traumatisierung, wie immer man das
heute nennt, diese Dinge. Es war eine Katastrophe. Es war eitel Zerstörung. Es war
grauenhaft.
Sprecher:
So wie der Komponist André Asriel kamen etwa 200 FDJ-Mitglieder nach
Deutschland – etwa zur Hälfte nach Ost und West. In England hatten sie sich zuvor
in Kursen auf die Rückkehr vorbereitet: Sie sollten vor allem Jugend- und Parteiarbeit
machen. Den Namen und das Symbol der FDJ – die Sonne auf blauem Grund –
brachten sie als Morgengabe mit. 200 FDJ-Mitglieder blieben in England, 200 zogen
weiter – in die USA, nach Palästina oder nach Frankreich wie Horst Schalscha. Die
FDJ in Großbritannien zerfiel 1947 – ihr neues Zentrum war die Sowjetische
Besatzungszone.
O-Ton Ursel Hoffmann
Da war unsere Tochter 4½ Jahre alt, und wir kamen am 4. Oktober 1946 in einem
völlig kaputten Berlin an, das wussten wir ja auch, dass alles zerstört ist, dass es
nichts zu essen gab. Diese Opfer wollten wir bringen. Aber es ist natürlich so, dass
die Zerstörung.., in den Köpfen der Menschen war auch alles durcheinander. Die
Ruinen in den Köpfen der Menschen, die wollten wir wieder aufbauen oder erklären.
O-Ton Horst Brie
Meine Mutter hat dann am Kriegsende gesagt, wenn sie wieder mal nach Berlin
kommt, wird sie nicht weinen, wenn sie die Trümmer von Berlin sieht. Aber als sie
`47 das erste Mal kam, hat sie dann doch geweint.
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FDJ-Gründung Schwerin 10.3.1946
Die sowjetische Administration hat uns nunmehr gestattet, die überparteiliche
demokratische Freie Deutsche Jugend aufzubauen. (Beifall)
O-Ton Alfred Fleischhacker
Und ich kam dann 1947 zurück. Da gab´s ja hier schon die Freie Deutsche Jugend,
die allerdings bis zu ihrem Ende sich nicht an ihre Vorgeschichte und an ihre
Vorgänger erinnern wollte. Aber das hängt zusammen mit dem Wunsch des
ehemaligen Vorsitzenden der Freien Deutschen Jugend, Erich Honecker, der eben in
die Geschichte eingehen wollte auch als Gründer der FDJ.
O-Ton Werner Goldstein
Dann hat die FDJ, hier die Leitung der FDJ, hier von einem Besitz ergriffen. Ich sollte
beim FDJ-Zentralrat politische Schriften entwickeln. Und es ergab sich die
Möglichkeit, in Leipzig ein Sonderstudium zu machen. Und ich bin mit nem großen
Krach aus dem Zentralrat der FDJ von Axen, Hermann Axen, praktisch
rausgeschmissen worden. Und dann hatte ich ne böse Zeit mit meinen FDJFreunden aus London, die waren auch böse mit mir, weil ich nicht das gemacht
habe, was der Zentralrat und was Horst Brasch angeordnet hatten. Da war ich
eigentlich ziemlich isoliert ne Weile.
O-Ton André Asriel
Ich hab natürlich auch einen Schuss davon gehabt. Irgendwie kam ich mir vor wie ein
wandelnder Heiland, der dem Volk ein neues Ziel zu bringen hat. Das war also auch
meine musikalische Tätigkeit: In der ersten Zeit wollte ich in der Hauptsache für die
FDJ Lieder schreiben, was man damals Massenlieder nannte. Weniger
Zähnefletschen, weniger marschieren – Links! Zwei, drei, vier! Weil ich mir dachte,
Sozialismus müsste eigentlich eine freundliche Sache sein. Ich muss gestehen, ich
habe nicht viel Erfolg damit gehabt – rückblickend.
Musik: Freundschaft - Einheit - Frieden
Freundschaft, Freundschaft werden wir erringen
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wenn wir fest zusammensteh'n
singen soll die Heimat, singen
unsere Friedensfahnen weh'n...
Sprecher:
Aus Hunderten oft unpolitischen Kindern und Jugendlichen waren durch Schulung in
der FDJ Kommunisten geworden. Kommunisten, die aber auch die parlamentarische
Demokratie in England schätzen gelernt hatten. Die ehemaligen FDJler aus England
wurden Jugendfunktionäre, Journalisten, Lehrer, Erzieher, Schauspieler,
Komponisten, Professoren, Betriebsleiter, Dolmetscher oder Diplomaten. Aber für
sie, die Westemigranten, blieb der Weg nach ganz oben in der Hierarchie versperrt.
Dort saßen die Funktionäre, die KZ, Zuchthaus oder das Exil in der Sowjetunion
überlebt hatten. Aber alle fügten sich klaglos in ihr Schicksal. Auch noch, als Stalin
von 1949 bis 1953 seine europäischen Satellitenstaaten mit einer Welle von
Schauprozessen und „Säuberungen“ überzog – gegen Westemigranten und Juden.
O-Ton Horst Brie
Zum Beispiel stand ich vor der ganz entscheidenden Frage, dass die jungen
Menschen, die z.B. in die englische Armee eingetreten sind und in der DDR dadurch
große Schwierigkeiten hatten. Ich habe für jeden einzelnen, der sich an mich
gewandt hat, eine Garantie geschickt, dass er das im Auftrag der Partei gemacht hat.
Genutzt hat es nicht sehr viel, aber das habe ich wenigstens getan, weil’s ja so war.
O-Ton Ursula Hoffmann
Es war nicht immer angebracht, darüber zu sprechen. Der Lutz hat sehr darunter
gelitten. Das war ein Freund von uns. Der ist freiwillig aus dem Leben geschieden.
Wir wissen nicht, warum.
O-Ton Alfred Fleischhacker
Es muss `52 gewesen sein. Gab es dann plötzlich eine Parteiversammlung. Und so,
wie man jetzt in der Stalinallee den Schutt wegräumt, räumen wir im Haus den Schutt
weg, um uns von diesen Elementen zu befreien. Und diese Begründung wäre keine
justitiable Begründung gewesen, um mich vom Rundfunk zu entfernen. Das heißt,
man konnte mich nicht mit dieser Begründung entlassen. Und ich selbst musste
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kündigen. Und diesem Druck habe ich stattgegeben. Und ich habe mit meiner Frau
eine Nacht, als es mich nun auch traf, darüber geredet: Was machen wir? Und wir
haben für ein paar Stunden überlegt: Gehen wir weg? Und wir sagten uns: Wenn wir
gehen, dann gehen wir nach England zurück! Allerdings nach drei Wochen wurde mir
signalisiert, dass das nicht so gemeint war und ich zum Rundfunk zurückkehren
könne. Bei einigen anderen hat das einige Jahre gedauert.
Sprecher:
Sie sind alle geblieben. Die ehemaligen FDJler aus Großbritannien, die schon einmal
aus Deutschland geflohen waren, wollten endlich auf der richtigen Seite stehen – und
sei es um den Preis der Selbstverleugnung. Damals hatte die Partei immer recht –
auch in ihren Irrtümern.
O-Ton Honecker auf 1. Funktionärskonferenz
Die erste Funktionärskonferenz der Freien Deutschen Jugend ist eröffnet. (Beifall)
O-Ton Barbara Cartlidge
O God! He used to kill us when he started talking! Das war nichts für mich! Da war
ich schon lange nicht mehr damit verbunden.
O-Ton André Asriel
Wir haben also erstaunliches Talent dafür gehabt, gesichtslose Leute an die Spitze
zu bringen. Honecker war für mich nichts, es war eine Unperson, es war ein Popanz!
O-Ton Honecker auf 1. Funktionärskonferenz
O-Ton Ernst Hoffmann
Der konnte nicht anerkennen, dass es vor seiner FDJ eine andere FDJ gegeben hat!
O-Ton Ursel Hoffmann
Das wurde eben totgeschwiegen, niedergeschlagen; das sollte eben nicht sein.
Damals hätten wir in unseren jeweiligen Ländern bleiben können - was England
anbelangt. Kein Mensch hat uns gesagt, dass wir jetzt nach Hause sollen – wir
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hatten ja kein Zuhause! Es war doch eigentlich für uns ein großes Opfer. Und es
wurde totgeschwiegen.
O-Ton Eberhard Zamory
Das zeigt den mediokren Charakter für mich von Honecker und – sagen wir’s mal
ganz brutal – von dem, was Stalin mit seinen Säuberungen übriggelassen hatte. Was
das für ein Format war! Schlimm!
O-Ton Gerry Wolf
Merkwürdigerweise – wir haben uns immer gewundert, wir alten Engländer, was sich
hier FDJ nannte, das hatte mit uns gar nichts mehr zu tun, nee! Honecker hielten wir
immer für einen sicher sehr guten Schlagzeuger bei einer Schalmeienkapelle. Und
das langte eigentlich nicht, um einen Staat zu leiten.
O-Ton Eberhard Aurich auf Fackelzug der FDJ
Liebe Freunde, liebe Genossen, liebe Gäste! Die Freie Deutsche Jugend gratuliert
mit einem Fackelzug unserer Deutschen Demokratischen Republik zu ihrem 40.
Jahrestag! (Jubel)
O-Ton Alfred Fleischhacker
Diese äußeren Analogien zur Hitlerjugend, diese Aufmärsche, diese Fackelzüge, es
lag auf der Hand, und es wurde darüber geredet. Auch in unserem Freundeskreis!
Aber das hat man eben verdrängt.
Fackelzug der FDJ „DDR-Vaterland“ - Funktionär skandiert: „DDR – unser
Vaterland“
Sprecher:
Die Freie Deutsche Jugend geriet gegen Ende der DDR immer mehr zur Posse:
Nichts war mehr freiwillig, nichts kam von unten, die hohlen Sprechchöre mussten
von Claqueuren angeschoben werden. Der schaurige Höhepunkt: der Fackelzug der
FDJ am 6. Oktober 1989. Immer wieder müssen die „Gorbi-Gorbi"-Rufe durch
Musikeinspielungen übertönt werden.
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O-Ton Horst Brie
Aber das ging ja alles parallel mit der völligen Disziplinierung der Partei selbst da, wo
es keine Demokratie mehr gab. Menschen wie ich haben immer in der Hoffnung
gelebt, dass eine Demokratisierung in der Partei und eine Demokratisierung in der
Gesellschaft kommen wird, ja! Und gescheitert sind wir darin, dass wir keine
Alternativen gesehen haben, mit denen wir uns hätten identifizieren können.
O-Ton Barbara Cartlidge
Ich bin gern dort hingefahren wegen meiner Freunde, aber auch gern wieder
weggefahren, weil ich mich nicht dort zu Hause gefühlt hätte, niemals. Aber je mehr
ich von anderen Plätzen und anderen Ländern gesehen hatte, desto mehr war ich
mir eigentlich sicher, dass ich in England am glücklichsten war.
O-Ton André Asriel
Das hat das Leben zerstört. Punkt. Es ist alles kaputt gegangen, was wir uns ein
Leben lang erhofft haben und wofür wir ein Leben lang gearbeitet haben. Daran hat
natürlich die eigene Regierung ein gerüttelt Maß Schuld, das ist keine Frage, und wir
haben sicherlich auch ein gerüttelt Maß Schuld daran.
O-Ton Ernst Hoffmann
Ich habe selbstverständlich mitgemacht die schweren Fehler! Das ergab sich aus der
ganzen Lage! Aber ich habe von Anfang an gesagt, dass wir alles tun müssen, um
die Massen, die noch nicht bei uns sind, zu gewinnen – und nicht sie vor den Kopf zu
stoßen, wie wir das tun.
Sprecher:
Ernst Hoffmann, der Mitbegründer der FDJ in Prag und England, starb wenige
Wochen nach dem Interview für diese Sendung.
O-Ton Marianne Pincus
Also wenn man das mal historisch betrachtet, ist es natürlich bitter. Weil wir waren,
glaube ich, stärker als die meisten anderen wirklich engagiert für dieses Experiment.
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Dass ich doch ne andere Beziehung dazu hatte als andere. In England waren wir ja
auch nur Menschen zweiter Klasse. Da war das also ein unglaubliches Erlebnis für
uns der Freiheit, hierher zu kommen, wo wir dann plötzlich völlig gleichberechtigt
waren.
O-Ton Eberhard Zamory
Es funktioniert nicht! So ist der Sozialismus immer noch notwendig, aber nicht
machbar.
O-Ton Marianne Pincus
Trotzdem: Ich würde mein Leben nicht als verpfuscht betrachten, das kann ich nicht
sagen. Ich hab auch Schönes im Leben gehabt, ja. Aber das Schönste war die
Illusion wohl.
Absage (auf Musik):
Freundschaft, Schweiß und Tränen
Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend in England 1939 - 1946
Ein Feature von Henry Bernhard
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Mitteldeutschen Rundfunk
Es sprach: Norman Matt
Ton und Technik: Klaus Peter Heieck und Genia Hoppenrath
Regie: Henry Bernhard
Redaktion: Marcus Heumann
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