Vierter Teil: Das alternative Ende der Ästhetik

Werbung
Morton Feldman
und
das alternative Ende der Ästhetik
Alexander Al
Doctoraalscriptie Universiteit Utrecht, juni 2007
Studentnummer 9941622
Begeleider: Prof. dr. Helga de la Motte-Haber (Technische Universität Berlin)
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG ............................................................................................................................................... 3
PRELUDE: FELDMANS MARGINAL INTERSECTION UND DAS SPIEL DER ILLUSIONEN ..... 4
ERSTER TEIL: DREI ÄSTHETISCHE MODELLE .............................................................................. 8
DIE ROMANTISCHE MUSIKÄSTHETIK: MIßLUNGENE EMANZIPATION?....................................................... 8
EDUARD HANSLICK UND DIE TRADITIONELLE ÄSTHETIK ........................................................................... 9
JANKÉLÉVITCH UND DAS BEINAHE-NICHTS ............................................................................................... 13
ZWEITER TEIL DAS KLINGEN DES ANDEREN: FELDMANS KONZEPT DER
ABSTRAKTEN ERFAHRUNG ................................................................................................................. 19
DER SOUND DES BEINAHE-NICHTS .............................................................................................................. 19
DIE ABSTRAKTE ERFAHRUNG ...................................................................................................................... 20
ABSTRAKTE EXPRESSION IN DER MALEREI................................................................................................ 21
SERIALISMUS ................................................................................................................................................ 23
DIE ANGST VOR DER KUNST ........................................................................................................................ 24
MORTON FELDMAN UND DIE BUDDHA-NATUR CAGES .............................................................................. 26
BETWEEN CATEGORIES ............................................................................................................................... 27
DRITTER TEIL:
FELDMANS SPÄTE WERKE UND DER HORIZONT DER
ÄSTHETISCHEN INTERPRETATION .................................................................................................. 28
SAKRALE SEHNSUCHT .................................................................................................................................. 28
DAS DING ALS REALE .................................................................................................................................. 29
DIE MUSIK FELDMANS ALS DESINTEGRATION ........................................................................................... 30
MODERNISMUS: FELDMAN UND BECKETT.................................................................................................. 31
POSTMODERNISMUS ..................................................................................................................................... 31
EINE POSTMODERNE INTERPRETATION FELDMANS .................................................................................. 33
POSTMODERNE PERFOMATIVITÄT .............................................................................................................. 34
MODERNE PERFORMATIVITÄT .................................................................................................................... 35
MODERNISMUS UND POSTMODERNISMUS ALS DOUBLEBIND ..................................................................... 36
VIERTER TEIL:
DAS ALTERNATIVE ENDE DER ÄSTHETIK ............................................... 38
EINLEITUNG.................................................................................................................................................. 38
VERLUST UND TRANSFERENZ ...................................................................................................................... 39
SCHRITT EINS: RETROAKTIVE PERFORMATIVITÄT ................................................................................... 39
RESULTAT: DAS SUBJEKT ALS LEERE FORM .............................................................................................. 40
SCHRITT ZWEI: DAS OBJEKT KLEINE A ....................................................................................................... 40
OBJEKT A ALS ABSOLUTER ZUFALL ............................................................................................................ 41
IMAGINÄRE UND SYMBOLISCHE KONSISTENZ DES SUBJEKTS IN DER LACANSCHEN PSYCHOANALYSE . 41
DIE IMMANENZ DER ZWEI ........................................................................................................................... 42
FELDMAN HÖREN ......................................................................................................................................... 42
LITERATUR ............................................................................................................................................... 44
2
Einleitung
Die Kunst, insbesondere die Musik, gewann am Ende des 18. Jahrhunderts erheblich an Status. Kunst war
nicht länger funktionell – als Begleiter sozialer und religiöser Aktivitäten – ihr wurde jetzt selbst ein Sinn
zugesprochen. Die neue philosophische Richtung der Ästhetik musste sich als autonome Disziplin
verbinden mit der Ethik. Man musste die Frage beantworten, was aus ästhetischer Sichtweise eine sinnvolle
Aktivität wäre – eine Akitivität, die unserem Leben Sinn verleiht. Keine der ästhetischen Strömungen, auch
nicht die einer l’art pour l’art Attitüde, entgeht seitdem dieser Frage.
Der Komponist Morton Feldman (1926-1987) hat sich ausführlich mit dieser Frage auseinandergesetzt, auf
einer sehr expliziten Weise: in seinen Essays und Vorlesungen spielen die ethischen Voraussetzungen der
Kunst eine Schlüsselrolle. Seine Antwort auf die Frage is nicht nur unentbehrlich für ein tieferes
Verständnis seiner Musik, sondern sie klärt auch seine ästhetische Position zu seinen Gegner. Die
Erklärung der ästhetischen Position Feldmans ist das erste Ziel dieser Arbeit.
Wir werden im ersten Teil der Arbeit drei wichtige ästhetische Positionen besprechen: neben der
romantischen “extatischen” Ästhetik werden die traditionelle Ästhetik – mit ihrem musikalischen
Befürworter Eduard Hanslick und sein exemplarisches Werk Vom musikalisch-Schönen – und die Ästhetik
von Vladimir Jankélévitch ausführlich analysiert. Im zweiten Teil wird gezeigt, dass Feldmans ästhetische
Position im Grunde völlig mit den Ideen Jankélévitchs übereinstimmt. Jetzt kann auch Feldmans Beziehung
zu den anderen Ästhetiken geklärt worden. Es ist dabei wichtig zu bemerken, dass Feldman der Meinung
ist, dass die zwei genannten Ästhetiken ein entscheidendes Element gemein haben: die Idee der Kunst als
das Erreichen-Wollen einer ideellen Einheit und der Versuch, diese durch eine extatische Erfahrung
und/oder eine rationelle Struktur zu erreichen.
Der dritte Teil fängt an mit zwei Interpretationen der späten Werke Feldmans von Marion Saxer und
Herman Sabbe, deren Deutungen als modernistisch beziehungsweise postmodernistisch einzustufen sind.
Das zweite Ziel dieser Arbeit ist, diese Interpretationsweisen kritisch zu analysieren. Wir werden
behaupten, dass diese zwei Positionen einen gemeinsamen Kern besitzen: sie entnehmen ihren Sinn an
einem unerreichbaren Punkt, den wir in dieser Arbeit mit dem Kantischen Begriff des “Ding-an-sich”
andeuten. Es wird also gezeigt, dass der Gegensatz zwischen Modernismus und Postmodernismus
schliesslich kein wesentlicher ist.
Daraus würde sich einerseits eine Unterstützung der These einiger Musikwissenschaftler ergeben, die
behaupten, dass Feldmans Ästhetik letztendlich im Rahmen der herkömmlichen Ästhetik bleibt. Anderseits
aber versuchen wir im vierten und letzten Teil zu zeigen, wie das Spätwerk Feldmans neu interpretiert
werden kann, wenn das Ding nicht länger der zentrale Punkt unserer ästh-ethischen Bemühungen ist, dank
Feldmans Fokussierung auf die subjektive Attitude anstatt auf die abstrakte Erfahrung des Dings. Mit Hilfe
von Konzepten des psychoanalytikers Jacques Lacan und dessen Ideen der fundamentellen Phantasie und
des Objektes petit a wird es möglich, einen anderen Rahmen für eine sinnvolle musikalische Erfahrung zu
schaffen, der sich dem Ding entzieht. Diese Theorie bildet eine Alternative zum üblichen Ende der Kunst
und der Ästhetik. Dies ist das dritte und letzte Ziel dieser Arbeit.
3
Prelude: Feldmans Marginal Intersection und das Spiel der Illusionen
In Marginal Intersection, ein Stück, das Feldman 1951 komponierte, entdecken wir eine Merkwürdigkeit,
die besonders dazu geeignet ist, uns das Hauptproblem des Feldmanschen ästhetischen Denkens zu
illustrieren.
Feldmans Wahl für das Instrumentarium scheint teilweise unkonventionell für sein gesamtes Schaffen, aber
könnte auf dem ersten Blick leicht erklärt werden, wenn wir das Instrumentarium mit der experimentellen
Musik zweier seiner Freunden verbinden, nämlich John Cage und Edgar Varese. Neben der Benutzung der
üblichen Orchesterinstrumenten fügt Feldman eine ausgebreitete Schlagzeugbesetzung zu: “The
percussionists employ a large battery of wood, metal objects and any other material which can produce a
variety of glasslike sounds”1. Die Benutzung solcher Klänge ist nicht neu, wenn man die Musik John Cages
kennt, der Feldman 1949 traf und ihn in die New Yorker Kunstszene einführte. Auch brauchen wir uns
nicht zu verwundern über die Anwesenheit von “sound-effects recording of a riveting machine”. Solche
Experimente erinnern an Edgar Varèse, den der junge Feldman wöchentlich traf. Wie Cage träumte Varèse
von neuen Instrumenten, die neue Klänge schaffen würden jenseits der üblichen Klänge des
Symphonieorchesters. Auch die Anwesenheit von zwei Oszillatoren in Marginal Intersection deutet auf
den Einfluß Varèses. Sebastian Claren sieht die Benutzung dieser Instrumenten folglich als eine Hommage
an Varèse2. Varèse beabsichtigte mit seinen Experimenten nicht nur das Schaffen neuer Klangfarben,
sondern auch bisher unerreichbaren Klanghöhen des experimentellen Instrumentariums. Eine Aufnahme
der Marginal Intersection des Barton Workshops3 interpretiert die Anwesenheit der Oszillatoren auf
Varèsischer Weise und läßt sie auf Tonhöhen spielen, die hörbar, aber durch ihre Höhe oder Tiefe nicht
mehr identifizierbar sind.
Aber wieso gebietet Feldman in seinen Anweisungen, dass die beiden Töne der Oszillatoren nicht gehört
werden sollten? “The score […] calls for […] two oscillators, one low and the other high (These cannot be
heard, but are ‘felt’) ”4. Was könnte gemeint sein mit dieser Bemerkung, dass man die Töne nicht hören,
sondern fühlen sollte?
Dass man Musik “fühlen” sollte, war schon ein Anliegen der romantischen Musikästhetik. Aber Feldman
geht anscheinend über diese Gefühlsästhetik hinaus: wie kann man Musik fühlen, ohne sie zu hören?
Möglicherweise kommt eine physiologische Erklärung in Betracht. Wir kennen alle das direkte Gefühl, das
durch eine beträchtliche Lautstärke entsteht, zum Beispiel, wenn ein schwerer Lastwagen vorbeifährt oder
in einem Club ein Baß von 130 dB aus den Lautsprechern schallt, der duch den ganzen Körper fließt. Es ist
aber unwahrscheinlich, dass Feldman dieses Effekt nachgestrebt hätte: nicht nur darf in Marginal
Intersection die Dyamik frei gewählt werden (“Dynamics are … freely chosen”5); auch würde man die
Töne natürlich auch hören und nicht nur fühlen.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Töne sich jenseits der absoluten Wahrnehmungschwelle befinden,
das heißt zu hoch oder tief sind, dass man sie gesamtkörperlich wahrnehmen kann, ohne sie wirklich zu
hören. Aber wir interessieren uns hier für eine andere Erklärung: was, wenn wir nur unsselbst fühlen?
Wir werden diese Möglichkeit erläutern mit einer von John Cage beschriebenen Erfahrung. Im selben Jahr,
in dem Feldman Marginal Intersection komponierte, besuchte John Cage den anechoischen Raum der
Harvard-Universität. Beim Eintreten des tonlosen Raums, der völlig von den Geräuschen der Außenwelt
abgeschlossen war, hatte Cage eine totale Stille erwartet, aber er hörte doch ein höhes und ein tiefes
Geräusch. Als er einen Mitarbeiter des Raums fragte, was er gerade gehörte habe, antwortete der, das er
keine Geräusche von Außen wahrgenommen hatte, sondern seinen eigenen Körper: der hohe Ton war das
Geräusch seines Nervensystems; der tiefe Ton seines Blutkreislaufs.
1
Feldman, Morton; Friedman, B.H. (hrsg.): Give my regards to Eighth Street : collected writings of Morton Feldman.
Cambridge : Exact Change 2000, S. 11.
2 Claren, Sebastian: Neither. Die Musik Morton Feldmans. Hofheim : Wolke 2000. . -Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1996,
S. 55.
3 Barton Workshop: Composing by Numbers. The Graphic Scores 1950-67. Feldman edition 9, Mode, cd nr 146.
4 Feldman 2000, S. 11.
5 Idem, S.11.
4
Cage hatte ein Geräusch gehört, das er nicht der Außenwelt zuschreiben konnte, sondern sich selbst. Wenn
wir uns erinnern, dass die zwei Oszillatoren in Marginal Intersection einen hohen und einen tiefen Ton
produzieren sollten, die man aber fühlen sollte, liegt unsere nächste Frage ziemlich nahe: Ist es nicht
möglich, dass wir als Zuhörer auch meinen könnten, die Oszillatoren würden das hohe und das tiefe
Geräusch produzieren? Würden wir unsere Selbstwahrnehmung auf die Außenwelt projizieren, so wie
Cage? Auf dieser Weise wäre es tatsächlich möglich, dass ein Zuhörer meinen könnte, er höre die
Oszillatoren, obwohl sie vielleicht gar nicht spielen... Ja, wir könnten meinen, die Oszillatoren zu “fühlen”,
obwohl jemand den Stecker der Oszillatoren aus der Steckdose herausgezogen hat…
Aus der Erfahrung des lautstillen Raums der Harvard-Univerität könnten wir also eine Schlussfolgerung
ziehen, die sich wesentlich von der Schlussfolgerung Cages unterscheiden würde. Cage konkludierte
nämlich, dass Stille, empirisch betrachet, nicht existiert, weil es immer etwas zu hören gibt (den eigenen
Körper, zum Beispiel). In der Welt der ungetrübten Sinnen würde es also keine Stille geben. Die Bedeutung
des Begriffs der Stille hängt bei Cage zusammen mit der menschlichen Interpretation der Klänge. Cage
betrachtete die übliche Interpretation der Stille als eine Sache der (Fehl-)Interpretation, der Bewertung mit
Hilfe eines musikalischen Systems. Es ist uns unterrichtet worden, den Klang der Geige als musikalisch zu
bezeichnen, aber alles was nicht dieser Konventionen angehört als Geräusch oder Lärm oder sogar als gar
nichts – Stille – zu bezeichnen. Die Erfahrung im anechoischen Raum schärfte also Cages Gefühl für die
psychologischen Hürden für eine “objektive” Bewertung der (bloß empirischen) Klänge. Die
nichtmusikalischen Klänge sollten emanzipiert werden. Deswegen forderte Cage zu Stille auf, nicht auf
musikalischer (physiologischer), sondern auf psychologischer / interpretativer Ebene: nicht die Klänge,
sondern die Vorurteile der Menschen sollten schweigen. Diese “interpretative” Stille hatte zum Ziel “to
sober and quiet the mind, thus make it suspectible for divine influences”6.
Zusammengefaßt ist für Cage das Konzept der Stille eine Illusion. Aber wäre aufgrund der Marginal
Intersection nicht eine andere Schlußfolgerung möglich – ist hier nicht der Schall eine Illusion, wenn wir
meinen, dass die schweigende Oszillatoren klingen, obwohl wir eigentlich nur uns selber hören? Wo Cage
der klingende Körper schließlich als Teil der klingenden Umwelt interpretiert, der wie alle Klänge gleich
bewertet werden sollte, liegt der Körper bei der Wahrnehmung der Oszillatoren uns in der Quere. In dieser
Sichtweise ist der anechoische Raum der Harvard-Universität ganz entschieden ein stiller Raum, bis der
Mensch eintritt und sich selbst (und sein eigener Lärm) mitbringt. Ohne es zu wissen ist er sein eigener
physiologischer Störsender – und nicht (nur) ein psychologisch/interpretativer.
Aber die Illusion hat einen wichtigen Nebeneffekt: es schafft Sinn. Es ist nicht unvorstellbar, dass
Rezipienten der Marginal Intersection, die aufmerksam zuhören, sich auf die schweigenden Oszillatoren
richten und ihre Töne erwarten, in der Tat am meisten fasziniert sind von den zwei Oszillatoren, die
inmitten der “Lärm” der anderen (Schlagzeug-)Instrumenten nur schweigend zusehen und ihre “Töne” ins
Publikum schreien. Das Publikum könnte meinen, diese Töne direkter wahrzunehmen als alle andere Töne,
sie wirklich zu fühlen, weil diese Wahrnehmung eigentlich eine Selbstwahrnehmung ist: das körperliche
Nebeneffekt jeder Wahrnehmung – sozusagen die Wahrnehmung des eigenen Wahrnehmungsgeräusches.
Wir müssen unsere Behauptung, der Schall sei eine Illusion, ein wenig präzisieren: es ensteht erstens eine
physiologische Illusion. Obwohl es also keine direkte Ursache-Folge-Beziehung gibt zwischen der
Wahrnehmung der zwei Töne und den Oszillatoren, haben die Oszillatoren eine wichtige Funktion: sie
ermöglichen eine Selbstwahrnehmung, die gerade durch die Antiziptation des Rezipienten – sie erwarten,
die Oszillatoren wahrzunehmen und nicht sich selbst – entstehen kann. Diese physiologische Illusion ist
also im Wesen ein Paradox: die unmittelbarste Erfahrung, von der man glaubt sie zu fühlen statt nur bloß
wahrzunehmen, braucht eine Art Vermittler – die Oszillatoren, die diese Erfahrung überhaupt ermöglichen,
sind in Wirklichkeit nur eine “Quasi-Ursache” für eine solche Erfahrung.
Es gibt aber ein anderes Element dieser Illusion, die Fragen aufruft: inwiefern ist eine Selbstwahrnehmung
ein Fühlen? Wir könnten meinen, die Oszillatoren zu fühlen statt zu hören (wie Feldman es formuliert hat
in der Einführung zum Werk), aber genau genommen hören wir uns selbst – die Erfahrung bleibt von der
Empirie abhängig, sie ist nur indirekt mit den (schweigenden) Oszillatoren verbunden. Warum sollten wir
denn diese Wahrnehmung als Fühlen beschreiben – eine viel undeutlichere Beschreibung dieser Erfahrung,
die viele andere Assoziationen aufruft?
6
Cage in Pritchett, James: The music of John Cage. Cambridge : Univ. Press 1993, S. 37.
5
Ein Grund wäre, das man eine (ganz-)körperliche Bestätigung nachstrebt, der für sinnvoll gehalten werden
kann. Eine bloße auditive Selbstwahrnehmung wird also sinnvoll, wenn sie mit dem ganzen Körper
identifiziert werden kann und so ihren bloß auditiv-empirischen Gehalt übersteigt. Es ist diese Erfahrung,
die Feldman als “total sensuousness”7 beschreibt. Er beschreibt 1984 im Rahmen eines Seminars eine
ähnliche Erfahrung während einer Tanzaufführung: “One of the most beautiful things I’ve ever seen was a
woman from Chicago, a contemporary Martha Graham. Her name was Sybil Shearer. Sybil Shearer would
come and stand on one leg and then move something like this, and then just stand, put her leg down and
stand there. She would create where you have an afterimage. Even though something is standing still, you
are looking, you are having some kind of kinetic hocus-pocus. Nothing is happening, she is just standing
like this. But because of what she does you are seeing the changes. In other words, when she stands still,
you cannot believe she is standing still”8. Feldman beschreibt das visuelle Äquivalent unserer Beschreibung
der Wahrnehmung der Oszillatoren: auch hier passiert nichts, aber der Zuhörer antizipiert ihre Töne – seine
Erfahrung ist ein auditives “hocus-pocus”. Vergleiche hierzu Feldmans Beschreibung der Tanzaufführung:
“Actually she is not standing still, because she is standing in an anticipating way, which you already are
living out, the suggestions and the possibilities of some kind of kinetic movement, hallucinatory”9. Diese
physiologische Illusion ist eine empirische: das Auge “erwartet” bestimmte Bewegungen, die aber
eingestellt werden. Es entsteht eine Art Stasis: die Tänzerin bewegt, obwohl sie einfach dasteht. Der
Begriff Stasis ist für das Verständnis von Feldmans Musik von entscheidender Bedeutung, wie wir in dieser
Arbeit sehen werden.
Aber Feldman geht weiter und interpretiert die Erfahrung nicht nur empirisch. “I said to / Cage – he took
me – I said, ‘How does she do that?’ And Cage said, ‘She’s concentrating. You are into her concentration’.
You see, just like we are into someone’s concentration”10. Und so wie ein Rezipient laut Feldman in der
Konzentration des Ausführenden gerät, reagiert auch ein Ausführender auf das Publikum: “Why is it that
the performer goes on the stage and feels the audience and the change of the audience throughout the whole
performance? It’s not magic, it communicates. They don’t have to go, ‘Boo’. He hears the vibes, as we
say”11. Feldman behauptet, dass ein Ausführender und das Publikum auf einer geteilten Ebene miteinander
kommunizieren, die aber mit einer üblichen Weise der Kommunikation nichts zu tun hat. Diese Ebene ist
die “Konzentration” des Ausführenden, aber sie wird von Feldman auch die “vibes” genannt, also Wellen,
die der Ausführende “hört” und damit das Publikum “fühlen” kann. Feldman konkludiert, dass es hier um
eine Selbsterfahrung handelt – “[I]f someone is staying on the stage doing nothing and we are sitting there,
we are going to be watching our person”12– aber diese Erfahrung hat Kontakt zu etwas größeren, etwas
unbekanntes, das “kommuniziert”. Feldman zitiert als Argumentation für die Wichtigkeit der
Selbsterfahrung seinen Freund, den Maler Philip Guston: “Philip Guston said something fantastic. He says,
‘The problem with most art is, they don’t know that everything is revealed on the canvas’ […] Everything
is revealed. It’s the same thing with everything else, you see. Just like everything is revealed in art,
everything is revealed by people that look at art”13 . Die Selbsterfahrung wird hier mit einem ähnlich
rätselhafter Begriff, “Alles”, verbunden, der wohl mit den “vibes” zusammenhängt.
Die Beschreibung Feldmans der bloß physiologische Erfahrung der Tänzerin, hat sich während einer Seite
zu einer mysteriösen, wellenden Erfahrung eines “Alles” entwickelt, der laut Feldman schwierig
wahrzunehmen ist, aber dafür gefühlt werden kann. Nachdem er Philip Guston zitiert hat, spricht er von
derselben Erfahrung bei den Gemälden Mark Rothkos und spricht er auch über sein eigenes Werk,
insbesondere über seine Opera Neither und das Libretto Samuel Becketts, in dem der Begriff des Schattens
(shadow) eine wichtige Rolle spielt. Ein Auszug aus dem Libretto: “To and fro in shadow from inner to
outer shadow / from impenetrable self to impenetrable unself by way of neither / as between two lit refuges
whose doors once neared gently close, once turned away from gently part again […]”14. Der Begriff des
Schattens ist laut Feldman “the subject of the Beckett opera […]. The subject of the Beckett opera is that
our life is framed in shadow all around us, we cannot see into the shadow. Being that we cannot see into the
shadows, our life is framed in shadow all around us, we cannot see into the shadow. Being that we cannot
7
Feldman 2000, S. 187.
Idem, S. 177.
9 Idem, S. 177
10 Idem, S. 177f.
11 Idem, S. 178; Kursivdruck AA
12 Idem, S. 178.
13 Idem, S. 178.
14 In Claren 2000, S. 22.
8
6
see into the shadows, our existence is only this much and we are fluctuating the shadows of life and
death”15.
Was Feldman genau meint mit diesen Aussagen und diese auf dem ersten Blick ziemlich willkürliche
Aneinanderreihung mannigfaltigster Künstler und Begriffe, werden wir im zweiten Teil dieser Arbeit
untersuchen. Jetzt ist wichtig, dass wir aus der Denkart Feldmans eine zweite Art Illusion benennen
können. Das Werk Marginal Intersection provozierte wie gesagt die Frage, inwiefern wir hier von einer
physiologischen Illusion sprechen konnten – der Rezipient meinte, etwas wahrzunehmen, obwohl er das
Effekt der Wahrnehmung selbst produzierte. Er hat sich also im Objekt geirrt: nicht die Oszillatoren,
sondern er selbst produzierte den hohen und den tiefen Ton. Wir können aber eine zweite Illusion auf einer
anderen Ebene wahrnehmen. Auch diese Illusion wird gekennzeichnet von einer Ursache und einer Folge,
die nicht ganz zusammengehören. Die phänomenale (Selbst-)Erfahrung wird von Feldman verbunden mit
einer einheitlichen Erfahrung eines Etwas (“it”), das kommuniziert, das fluktuiert zwischen Leben und Tod.
Aber was denn ist die eigentliche Verbindung zwischen diesen Erfahrungen? Hatten wir es zunächst mit
einer physiologischen Illusion zu tun, so könnten wir hier eine psychologische Illusion thematisieren: eine
bloß phemonenale Erfahrung wird zu einer existentiellen Erfahrung. Anders als die psychologische /
interpretative Illusion, die Cage vermeiden wollte, wird eine bloß fenomenale Erfahrung wichtig für unser
Leben, obwohl wir auch hier von einer gestörten Kausalitätskette sprechen können. Warum ist eine
Erfahrung von zwei bloßen Oszillatoren, von Sybill Shearer oder einem Gemälde Gustons bedeutungsvoll?
Wie könnte man das behaupten von einem Körper einer Tänzerin, von einem beschmutzten Leinwand oder
van klingenden Tönen? Wir stehen hier vielleicht am Abgrund: irren wir uns nicht in dem Sinn dieser
Objekte? Wie behaupten wir uns in dieser Illusion?
Wir kommen zum Hauptproblem der Ästhetik. Schon seit dem Beginn der Ästhetik bei Baumgarten ist die
Verbindung zwischen der Kunst und einem sinnvollen Leben äußerst wichtig. Bloße Töne bleiben bloße
Töne, bis sie einen Sinn bekommen – sonst würden wir nicht zuhören. Jede Ästhetik is also mit der Ethik
verbunden – selbst wenn Künstler eine l’art pour l’art befürworten.
Aber wie hängt die Musik mit seinem Sinn zusammen? Wie schafft die Ästhetik diese “unmögliche”
Verbindung zwischen den beiden Bereichen?
Im ersten Teil dieser Arbeit werden drei ästhetische Modelle präsentiert, die den Sinn der Musik
unterschiedlich interpretieren. Wir besprechen, neben der romantischen Musikästhetik, vor allem die
Position der traditionellen Ästhetik des Schönen und ihren wichtigsten musikwissenschaftlichen
Befürworter, Eduard Hanslick, und die (Musik-)Ästhetik des Vladimir Jankélévitch. Die Übereinkunft der
ästhetischen Gedanken Jankélévitchs und Feldmans ist treffend; im zweiten Teil werden wir uns mit dieser
Übereinkunft auseinandersetzen. Es wird jetzt deutlich, wie Feldmans ästhetisches Denken die
unterschiedlichsten Künstler wie Sybil Shearer, Philip Guston, Mark Rothko und Samuel Beckett
miteinander verbinden kann. Es wird auch möglich, Feldmans Position in der ästhetischen Debatte seiner
Zeit zu bestimmen.
Aber im dritten Teil werden wir die ästhetischen Positionen erneut kritisch untersuchen. Im Hintergrund
spielt die genannte psychologische Illusion eine Schlüsselrolle: die Verbindung zwischen dem bloßen Ton
und dem Sinn der Musik, zwischen Empirie und (transzedentaler oder immanenter) Bedeutung, zwischen
ästhetischer Wahrnehmung und ethischem Sinn, also zwischen Ursache und Folge ist immer brüchig. Im
dritten Teil werden wir weiter untersuchen, wie die verschiedenen Ästhetiken ihren Sinn legitimieren – wir
werden behaupten, dass die Weisen, worauf sie diesen Sinn definieren, einander ziemlich ähnlich sind…
15
Feldman 2000, S. 178.
7
Erster Teil: Drei ästhetische Modelle
Die romantische Musikästhetik: mißlungene Emanzipation?
Die musikalische Sprache im 18. Jahrhundert war durchdrungen von sozialen Konventionen. So sollte die
Musik repräsentativ sein für eine soziale Klasse, die adliche Elite zum Beispiel, die sich seine eigene Werte
wie Ehre und Gnade in der Musik (als Gegenstand der Libretti, als musikalische Gattung usw.)
repräsentiert sehen wünschte. Diese Repräsentativität änderte sich durch die französische Revolution, da
die Selbstverständlichkeit der bisherigen sozialen Struktur verschwand. Die soziale Revolution eröffnete
der Musik neue Möglichkeiten: eine Abweichung von der musikalischen Sprache des 18. Jahrhunderts
wurde von bürgerlichen Intellektuellen als bahnbrechend gefeiert. Beethoven explorierte die Löcher der
bisherigen musikalischen Sprache; Gebiete, die noch nicht von konventionellen Werten besetzt wurden und
so eine romantische Idee der musikalischen Autonomie ermöglichten – logischerweise war sie schliesslich
eine bürgerliche Idee. Die Bruchstellen der Musik, mit den Beethoven seine Musik dramatisierte, bekamen
eine entscheidende Beduetung und die sich ausbreitende musikalische Abstraktion war nicht nur erlaubt,
sondern konnte im Rahmen eines emanzipatorischen Projekts – als Ausdruck universeller (bürgerlicher)
Werten, die nicht länger das Privileg einer bestimmten sozialen Klasse waren – interpretiert und bewertet
werden. Die von ETA Hoffmann verherrlichte Instrumentalmusik Beethovens ist das klassische Beispiel
einer solchen Bewertung.
Aber als der Zeitgeist des frühen 19. Jahrhunderts die Musik ermöglichte, emanzipatorische Ziele
nachzustreben, entstand ein merkwürdiges Verhältnis zwischen dem bürgerlichen Publikum und der Musik,
das gekennzeichnet wurde von einem Kultus, der Musik als eine Kunstreligion verehrte. Dieser Kultus
erreichte erst mit Wagner einen Höhepunkt – war die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts noch das Zeitalter
Beethovens und Rossinis, so war in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jeder Komponist, ob Freund oder
Feind, fast gezwungen, sich mit der Musik Wagners auseinanderzusetzen. En masse übergab das
bürgerliche Publikum der Musik Wagners seine emanzipatorische Kraft, da diese Musik anscheinend diese
Emanzipation am besten Ausdruck verleihen konnte. Der Rausch, den die Rezipienten erfuhren, und die
höhere Wahrheit, welche sie dieser Musik zusprachen, führte schliesslich zur Annahme der von Wagner
eingeführte Konzertpraxis, die die Löschung des Lichtes im Saal forderte und versuchte, die ganze
Aufmerksamkeit des Publikums zu fesseln. Es war nicht länger möglich (und nicht länger erwünscht) im
Konzertsaal wie üblich miteinander zu reden und Karten zu spielen; der Saal änderte in einer Kirche mit
streng vorgeschriebenen Verhaltensregeln. Die Bürgerei schien ihre emanzipatorischen Ziele bei der
Garderobe abzugeben und in ihrem selbsterschaffenen Ritual, das heißt in ihrer eigenen Passivität zu
beharren.
Die Musikästhetiken, die wir in diesem Teil zusätzlich besprechen werden, haben gemeinsam, dass sie
diese selbstgewählte Passivität zutiefst verurteilen. In seinem einflußreichen Werk Vom MusikalischSchönen (1854) beschrieb Eduard Hanslick (1825-1904) das Verhalten dieses Publikums als pathologisch
und verhöhnte ihre Attitüde als “ein stetes Dämmern, Fühlen, Schwärmen, ein Hangen und Bangen in
klingendem Nichts… eine unmotivierte und darum desto eindringlichere Totalempfindung wird in Bausch
und Bogen eingesaugt”16. Auch Vladimir Jankélévitch (1903-1985), ein bedeutender französischer
Philosoph und Ästhetiker, verurteilte diese Passivität und sah sie als beschämend: “By means of massive
irruptions, music takes up residence in our intimate self and seemingly elects to make its home there. The
man inhabited and possessed by this intruder, the man robbed of a self, is no longer himself: he has become
nothing more than a vibrating string, a sounding pipe. He trembles madly under the bow or the fingers of
the instrumentalist; and just as Apollo fills the Pythia’s lungs, so the organ’s powerful voice and the harp’s
16
Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen : ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst.
Wiesbaden : Härtel, 197518, S. 121f.
8
gentle accents take possession of the listener. This process, at once irrational and shameful, takes place on
the margins of truth, and thus borders more on magic than on empirical science”17 (Kursivdruck AA).
Sowohl Hanslick wie Jankelevich wollen den Zuhörer zur Aktivität anregen: es ist erwünscht, dass die
musikalische Aktivität auch eine aktive Teilnahme der Zuhörer motivieren sollte, statt einen Zustand der
Selbstvergessenheit nachzustreben. Wir werden jetzt untersuchen, welche Art von Aktivität beide
Ästhetiker nachstreben.
Eduard Hanslick und die traditionelle Ästhetik
Das Wort Ästhetik geht aus dem griechischen aisthesis hervor, einem Begriff, der sowohl Wahrnehmung
als Empfindung bedeutet: “Als Wahrnehmung richtet sich die aisthesis auf die genuinen Sinnesqualitäten
wie Farben, Töne, Geschmäcke, Gerüche. Sie dient deren Erkenntnis. Als Empfindung hingegen verfolgt
sie eine Gefühlsperspektive. Sie bewertet Sinnenhaftes im Horizont von Lust und Unlust”18. Das Ziel der
traditionellen Ästhetik ist die Betonung der Erkenntnis der Wahrnehmung gegenüber der Empfindung und
ihre Gefühle der Lust und Unlust. Sie enthällt eine “elevatorische Imperativ”, die wie folgt formuliert
werden kann: “Folge nicht nur der primär-vitalen Lust, sondern praktiziere auch die höhere, die
eigentümlich ästhetische Lust eines reflexiven Wohlgefallens!”19. Die traditionelle Ästhetik – wir nennen
sie traditionell, weil sie sich mit der traditionellen Ethik des Guten verbindet – verpflichtet den Menschen
sich über den Mensch als ‘Lebewesen’ (als zweifüßliches Saugetier) zu erheben. Das ist nur möglich mit
Hilfe einer Erkenntnis des Guten: “[A]nfänglich, als Empfindung, diente die aisthesis insgesamt vitalen
Interessen. Sie diente dem Leben, dem Sich-am-Leben-erhalten und Überleben (zen, soteria) – nur noch
nicht dem guten Leben (eu zen). […] So hat es beispielsweise Aristoteles beschrieben: die Tiere kennen nur
das Nützliche und Schädliche, und dafür sind Lust und Schmerz ausreichende und verläßliche Indikatoren.
Die Menschen aber kennen auch höhere Prädikate wie gut und schlecht, recht und unrecht, und diese
erfordern mehr als sinnliche Gewißheit, sie verlangen die Fähigkeit der Reflexion und Kommunikation”20.
Das Ziel ist also ein denkendes Wahnehmen, dass von subjektiven Empfindungen gesaubert ist; sie ist jetzt
eine autonome Handlung und “richtet sich nun auf objektive Qualitäten, nicht mehr auf
empfindungsgebundene Aspekte der Gegenstände”21. Aber sie ist trotzdem sinnvoll: die reflexive
Erkenntnis der Wahrnehmung ersetzt in der traditionellen Ästhetik die Empfindung als Bewerter des
“Sinnenhaften im Horizont von Lust und Unlust”. Anders gesagt: nicht länger soll die Lust oder die Unlust
den Sinn der Erfahrung bestimmen, sondern die Erkenntnis der Wahrnehmung.
Damit wird aber nicht gemeint, dass die Lust aus der Ästhetik verbannt wird – nur die Unlust. Die
ästhetische Lust hat nichts mehr mit Empfindung zu tun, sondern ist eine zivilisierte, domestizierte
Empfindung im Rahmen der reflexiven Wahrnehmung geworden: “Über dem Erdgeschoß der vitalsinnlichen Lust entsteht das piano nobile einer neuartigen Lust: der Lust eines rein reflexiven
Wohlgefallens oder Mißfallens. Dies ist die Geburtstätte des spezifisch ästhetischen Sinns: des
Geschmacks”22. Kant stellt dieses “Reflexionsgeschmack” über das “Sinnengeschmack”23. Die Liebe für
Musik geht sozusagen nicht durch den Unterbauch, sondern durch den Kopf – und diese Liebe schenkt den
Rezipient eine eigentümliche Befriedigung, eine sanfte, ausgeglichene, “gute” Lust.
Eduard Hanslick folgt dasselbe Ziel wie die traditionelle Ästhetik. Er kehrt sich gegen die romantische
Gefühlsästhetik: gegen das Publikum, das die Empfindungen betont, und gegen die Komponisten seiner
Zeit, die diese einseitig sinnliche Weise der Wahrnehmung stimulieren, wie “Liszts Programm-Symphonien
[…], welche vollständiger, als es bisher gelungen ist, die selbständige Bedeutung der Musik abdanken, und
diese dem Hörer nur mehr als gestaltentreibendes Mittel eingeben”24, und “Richard Wagners ‘Tristan’,
‘Nibelungenring’ und seine Lehre von der unendlichen Melodie’, d.h. die zum Prinzip erhobene
Formlosigkeit, den gesungenen und gegeigten Opiumrausch, für dessen Kultus ja in Bayreuth ein eigener
17
Jankélévitch, Vladimir: Music and the ineffable. Princeton [u.a.] : Princeton Univ. Press, 2003, S.1.
Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart : Reclam 1996 (Universal-Bibliothek ; 9612),
S. 109.
19 Idem, S. 112.
20 Idem, S. 113.
21 Idem, S. 110.
22 Idem, S. 112.
23 Kant in idem, S. 112.
24 Hanslick, S. VII.
18
9
Tempel eröffnet worden ist”25. Hanslick befürwortet dagegen eine Wahrnehmung des “reinen Schauens”26,
ein “Schauen mit Verstand”27. Nur auf dieser Weise wäre die spezifische musikalische Erfahrung, die
Erfahrung des Schönen, möglich. Dazu solle man nicht mit dem Gefühl wahrnehmen: “Das Organ, womit
das Schöne aufgenommen wird, ist nicht das Gefühl, sondern die Phantasie, als die Tätigkeit des reinen
Schauens”28.
Für Hanslick ist die Wahrnehmung ursprünglicher als das Gefühl, das nur Wert hat, wenn es dem
ästhetischen Gefallen dient: “Das Schöne trifft zuerst unsere Sinne. Die Empfindung ist Anfang und
Bedingung des ästhetischen Gefallens und bildet erst die Basis des Gefühls […]”29. Das Schöne ist also
keine Zivilisierung der Empfindung: die Empfindung ist eine Abweichung der Originalzustand des
Schönen. Das schöne Genießen ist, wie in der traditioneller Ästhetik, ein ausgeglichenes Genießen, das sich
noch von der Empfindung, noch nur vom Verstand leiten läßt: “Ausschließliche Betätigung des Verstandes
durch das Schöne verhält sich logisch anstatt ästhetisch, eine vorherrschende Wirkung auf das Gefühl ist
noch bedenklicher, nämlich gerade pathologisch”30. Die richtige Weise der Wahrnehmung nennt Hanslick
“geistig”; sie verspricht dem Rezipient einen sinnvollen Kunstgenuss, aber ohne Unlust: “Wir setzen [den]
pathologischen Ergriffenwerden das bewußte reine Anschauen eines Tonwerks entgegen. Diese
kontemplative [Anschauung] ist die einzig künstlerische, wahre Form des Hörens, ihr gegenüber fällt der
rohe Affekt des Wilden und der schwärmende des Musik-Enthusiasten in Eine Klasse. Dem Schönen
entspricht ein Genießen, kein Erleiden, wie ja das Wort ‘Kunstgenuß’ sinnig ausdrückt. […] Freudigen
Geistes, in affektlosem, doch innig-hingebendem Genießen sehen wir das Kunstwerk an uns vorüberziehen
und feiner erkennend, was Schelling so schön ‘die erhabene Gleichgültigkeit des Schönen’ nennt. Dieses
Sich-Erfreuen mit wachem Geiste ist die würdigste, heilvollste und nicht die leichteste Art, Musik zu
hören”31.
Hanslick behauptet in Vom Musikalisch-Schönen nicht nur, die Gefühlsästhetik sei wissenschaftlich
unmöglich – weil in der Musik bestimmte Gefühle nicht kausal mit bestimmten musikalischen Wendungen
verbunden sind, kann eine solche Analyse nicht objektiv sein – sondern es darf klar sein, dass sie auch
ethisch unerwünscht ist.
An Hand der Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen von Friedrich Schiller können wir zwei
wichtige Kennzeichnen dieser ästhetischen Position beschreiben sowie die Weise, wie Schiller diese
Kennzeichen zum Äußersten durchführt – bis sie, wie Wolfgang Welsch kritisch bemerkt, zu
“Absolutismen” werden32.
Die elevatorische Imperativ der traditionellen Ästhetik führt zu zwei Konsequenzen. Die erste ist die
Bedeutung der Formen. Wenn der Mensch sich wirklich über die Natur erheben will, soll er diese
Wirklichkeit in seinen eigenen Formen fassen: er soll, laut Schiller, “den Krieg gegen die Materie in ihre
eigene Grenze spielen”. Das “eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters” besteht darin, “daß er den Stoff
durch die Form vertilgt”33, damit sich alles “durch Formarbeit in einem humanen Bestand verwandeln”
kann.
Bei Hanslick spielt die Formarbeit in der Musik eine entscheidene Rolle. Das musikalische Werk sei die
Verkörperung dieser Formarbeit; es seien nicht die Gefühle, die Seelesgeschichte und die Leidenschaften
des Komponisten, die den Inhalt der Musik bestimmen: ”Ein unbestimmtes Fühlen als solches ist kein
Inhalt, soll eine Kunst sich dessen bemächtigen, so kommt alles darauf an, wie es geformt wird”34. Die
Formen sind also selbst der Inhalt: “Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen”35. Wie gesagt sind
die schönen Formen laut Hanslick ursprünglicher als das Gefühl. Die Formen seien nämlich abhängig von
einem “Naturgesetz”, eine “primitive, geheimnisvolle Macht”36, die Gegenstand musikwissenschaftlicher
Forschung ist. Die Betonung dieses Naturgesetzes ermöglicht Hanslick, einen zwingenden Zusammenhang
zwischen den musikalischen Elementen zu postulieren: “Alle musikalischen Elemente stehen unter sich in
25
Hanslick, S. VII.
Idem, S. 7.
27 Idem, S. 8.
28 Idem, S. 7.
29 Idem, S. 7.
30 Idem, S. 8.
31 Idem, S. 132.
32 Welsch 1996, S. 118.
33 Schiller in idem, S. 119.
34 Hanslick, S. 44.
35 Hanslick, S. 59.
36 Idem, S. 86.
26
10
geheimen, auf Naturgesetze gegründenten Verbindungen und Wahlverwandtschaften”37. So ist das
“Urelement” der Musik “Wohllaut”, das “Wesen” der Musik den Rhythmus und die “Grundgestalt” die
Melodie38. Wenn der Rezipient den tönend bewegten Formen der Musik folgt, erfährt er die “negative,
innere Vernünftigkeit, welche dem Tonsystem durch Naturgesetze innewohnt”. Nur die Angleichung von
natürlicher und menschlicher Vernünftigkeit ermöglicht uns, eine “Fähigkeit zur Aufnahme positiven
Schönheitsgehalts”39 zu entwickeln.
Obwohl Hanslick die innere Vernünftigkeit – oder Zweckmäßigkeit (Kant) – eines schönen Kunstwerks als
Naturgesetz betrachtet, sind diese Gesetzen insofern “unnatürlich”, da sie gerade menschliche FormKriterien sind für das Schöne – der Begriff der Natur bei Hanslick, so behaupten wir, ist schon vom
Menschenhand geformt worden. Es soll die Idee der Autonomie – der inneren Vernünftigkeit, der
Zweckmäßigkeit ohne Zweck (Kant) – legitimieren, welche eine harmonische Beziehung zwischen Teil
und Ganzes betont: “Jede Kunsttätigkeit besteht […] im Individualisieren, in dem Prägen des Bestimmten
aus dem Unbestimmten, des Besondern aus dem Allgemeinen”40. Das Ganze des Werkes wird laut
Hanslick bestimmt vom Hauptthema: “[V]on diesem Hauptthema ausgehend und sich stets darauf
beziehend, [stellt er] es im allen seinen Beziehungen [dar]”41. Ein schönes Werk funktioniere wie ein
Organismus 42und erwecke den Eindruck, dass der Wissenschaftler sich fragen muss, “warum das Werk
gefällt und weshalb gerade in dieser und keiner anderen Weise” 43 und beweisen muss, dass ”dieser
Melodie mit dieser Harmonie zugleich erdacht werden [mußte], mit diesen Rhythmus und dieser
Klanggestaltung”44. Die Zweckmäßigkeit des Schönen grenzt schliesslich an Determinismus und die
Erfahrung der Musik als eine Einheit. Hanslick beschreibt den talentierten Komponisten wie folgt: seine
Arbeit ist “die Subsumierung der spezifisch musikalischen Eigen- / schaften unter allgemeine ästheische
Kategorien und dieser unter Ein oberstes Prinzip […] Der Geist ist Eins und die musikalische Erfindung
eines Künstlers gleichfalls. Melodie und Harmonie eines Themas entspringen zugleich in einer Rüstung aus
dem Haupt des Tondichters”45.
Es ist die Aufgabe des Rezipienten, diese Zweckmäßigkeit zu folgen, als Ausdruck der Geistigkeit des
Werkes. Diese Aktivität ermöglicht eine schöne Erfahrung und bewirkt eine “geistige Befriedigung, die der
Hörer darin findet, den Absichten des Komponisten fortwährend zu folgen und voranzueilen, sich in seinen
Vermutungen hier bestätigt, dort angenehm getäuscht zu finden”46. Das Schöne ist jedoch nicht nur eine
Erfahrung des Schönen: das Werk ist auch schön, wenn niemand es erfährt: “Als Schöpfung eines
denkenden und fühlenden Geistes hat demnach eine musikalische Komposition in hohem Grade die
Fähigkeit, selbst geist- und gefühlvoll zu sein”47. Es hat sozusagen die Potenz, schön zu wirken, muss aber
nicht erfahren werden, um tatsächlich schön zu sein: “Das Schöne ist und bleibt schön, auch wenn es keine
Gefühle erzeugt, ja wenn es weder geschaut noch betrachtet wird, also zwar nur für das Wohlgefallen eines
anschauenden Subjekts, aber nicht durch dasselbe”48. Diese Auffassung illustriert für uns den Versuch des
Ästhetikers, die Macht über die Musik zu erhalten. Nicht nur formt er das Chaos (und den Naturbegriff)
nach seinen eigenen Gesetzen, so wie Schiller es befürwortete, sondern ist imstande, das Gefühl zu
hintergehen, indem er betont, man müsse die Musik gar erst nicht spielen. Die Praxis der “autonomen”
Musikanalyse schafft also eine Möglichkeit, einen klaren Kopf zu behalten gegen die Macht der Musik.
Die Zivilisierung der Wahrnehmung durch Formarbeit läuft laut Welsch das Risiko, die Ästhetik zu “einem
Spiel des Subjekts bei geschlossenen Türen” 49zu reduzieren. Seine Kritik lautet, dass letztendlich nur ein
vernünftiges Werk als sinnvoll bewertet wird, aber “keine Vorgegebenheit, keine Exteriorität, keine
Widerständigkeit, keine Andersheit wird anerkannt, geachtet, gewahrt. Für Ästhetiken dieses Typs ist von
ihrem Ansatz her dergelichen wie Mimesis, Hingabe an das Material, Erfahrung eines Verändertwerdens,
Aufbrechung des Panzers der Subjektivität ausgeschlossen”50.
37
Idem, S. 64.
Idem, S. 58.
39 Idem, S. 65.
40 Idem, S. 44f.
41 Idem, S. 66.
42 Idem, S. 70.
43 Idem, S. 11.
44 Idem, S. 72.
45 Idem, S. 70f.
46 Idem, S. 133.
47 Idem, S. 65.
48 Idem, S. 5.
49 Welsch 1996, S. 119.
50 Welsch 1996, S. 119
38
11
Die zweite Konsequenz der traditionellen Ästhetik ist die Souveräniteitsanspruch dieser Ästhetik. Schiller
behauptet, dass nur die Ästhetik als die wahre “Lebenskunst” gilt und nur sie wirklich etwas ändern kann,
im Gegensatz zu einer politischen Lösung wie die (mißlungene) franzözische Revolution. Diese Idee lebte
im deutschen Idealismus (vielleicht aufgrund der politischen und militärischen Unmacht der deutschen
Staaten während dieser Zeit). Im Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus, mit dem jungen
Hegel als wichtigste Koautor, wurde verkündet: “Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft,
der, indem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist, und dass Wahrheit und Güte, nur in der
Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muss eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter.
Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsre Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist
eine ästhetische Philosophie”51. Es ist klar, dass damit “die modern mit [der Ästhetik] konkurrierenden
Instanzen – Wissenschaft und Moral – […] von ihr systematisch degradiert [werden]”52. Welsch nannte das
Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus ein Projekt, “[daß mit] einer Ethik beginnt, um mit der
ästhetischen Absorption des Ethischen wie des Kognitiven zu enden”53.
Die ästhetische Erhebung des Menschen ist nicht nur ein Prinzip, sondern ist auch unmittelbar vom Subjekt
ausführbar, unabhängig (autonom) von der politischen Situation oder der sozialethischen Regeln und
Verboten: das elevatorische Prinzip ermöglicht eine elevatorische Attitüde als unmittelbare subjektive
Aktivität. Die ästhetische Haltung besitzt dank seiner Performativität eine transformative Kraft, und ein
ästhetisches Subjekt kann das Chaos der Welt auf jedem Moment zu seinen eigenen Gesetzen formen.
Es ist gerade diese Immanenz der ästhetischen Haltung, die Hanslick betont: “Ohne geistige Tätigkeit gibt
es überhaupt keinen ästhetischen Genuß. Der Musik aber ist diese Form von Geistestätigkeit darum
vorzüglich eigen, weil ihre Werke nicht unverrückbar und mit Einem Schlag dastehen, sondern sich
suksessiv am Hörer abspinnen, daher sie von diesem kein, ein beliebiges Verweilen und Unterbrechen
zulassendes Betrachten, sondern ein in schärfster Wachsamkeit unermüdliches Begleiten fordern”54. Wir
betonen, dass es also zu einfach wäre, Hanslick als bloßer Formalist darzustellen, der nur die Wichtigkeit
des vernünftigen Kunstwerks betont; er hebt gerade die performative Kraft der musikalischen Erfahrung
hervor – und ihre Einzigartigkeit bezüglich der anderen Künste. Der Immanenz der geistigen
Wahrnehmung des Schönen setzt er die Transzedenz der Gefühlsästhetik gegenüber: “Unsere Ansicht über
den Sitz des Geistes und Gefühls einer Komposition ver-/ hält sich zu der gewöhnlichen Meinung wie die
Begriffe Immanenz und Transcedenz55“. Laut Hanslick kann die Musik keine transzedenten Ideen oder
moralischen Werte ausdrucken56, sie drückt aber die Bewegung selbst aus: “welches Moment dieser Ideen
ist’s denn also, dessen die Musik sich in der Tat so wirksam zu bemächtigen weiß? Es ist die Bewegung
(natürlich in dem weiteren Sinne, der auch das Anschwellen und Abschwächen des einzelnen Tones oder
Akkordes als ‘Bewegung’ auffaßt)”57. Es sind schliesslich die tönend bewegte Formen, die eine schöne
Erfahrung ermöglichen. Der ästhetische Mensch läßt sich nicht länger von großen Ideen und Leidschaften
überwältigen – er ist jetzt selbser ein aktiver Teilnehmer geworden, der performativ die Welt nach seinen
Prinzipien gestaltet ohne ein Gefühl von menschlicher Unmacht – anders gesagt: die (politische,
transzedentale) Enttäuchung wird hintergangen und die Unlust beseitigt von der musikalischen Bewegung
der schönen Formen, die wir unserer geistigen Aufmerksamkeit widmen. Nur durch unsere kontrollierte,
geformte und formende Wahrnehmung schaffen wir Gutes – dies schliesslich ist das elevatorische Prinzip
der traditionellen Ästhetik, das auch von Hanslick betont wird.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich u.a., “Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus”. In: Jamme, Christoph;
Schneider, Helmut (hrsg.): ”Mythologie der Vernunft. Hegels ‘ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus. Frankfurt
aM: Suhrkamp 1984, S.12.
52 Welsch 1996, S. 120.
53 Idem, S. 120.
54 Hanslick, S. 133.
55 Idem, S. 56.
56 Vgl. Hanslick, S. 36.
57 Idem, S. 27.
51
12
Jankélévitch und das Beinahe-Nichts
Vladimir Jankélévitch (1903-1985) war ein franzözischer Philosoph und Ästhetiker, der außerhalb
Frankreichs relativ unbekannt geblieben ist. Seine Ästhetik dient in dieser Arbeit als Gegengewicht zur
traditionellen Ästhetik. Seine Denkart stimmt großenteils mit der Morton Feldmans überein. Wir müssen
dabei betonen, dass es keine direkte Beziehung zwischen Feldman und den Schriften des Jankélévitch gibt.
Das Denken des franzözischen Philosophen wird hier als eine Denkart analysiert, deren Struktur häufig im
abendländischen Denken auftaucht und sich auf einen fundamentellen Punkt vom Ansatzpunkt der
traditionellen Ästhetik unterscheidet. Wir werden versuchen, das Muster dieser ästhetischen Struktur zu
erklären.
Jankélévitch verurteilt, wie Hanslick, alle Musik, die einen ekstatischen Selbstverlust nachstrebt. Er
beschreibt dazu Nietzsches Kritik an der Musik Wagners: laut Nietzsche ist seine Musik “a sterile malaise
that enervates and smothers conscience: as lullaby, putting it to sleep, as elegy, making it soft” 58. Die
Erklärung Nietzsches für den Grund, warum Rezipienten diese Extase nachtstreben wollen, beschreibt
Jankélévitch wie folgt: “[I]n music in general Nietzsche sees the means of expression of nondialectical
consiences and of apolitical peoples. The former, in love with twilight dreams, with inexplicable thoughts
and reverie, sink gratefully into the swamp of solitude; the latter, reduced to inaction and boredom by
autocracy, take refuge in the inoffensive compensations and the consolations of music. Music, the decadent
art, is the bad conscience of an introverted populace, which finds a substitute for their need to take civic
action in works that are merely instrumental or vocal”59. Wir erkennen in dieser Kritik, neben der Kritik
Hanslicks an der Schwärmerei der Wagner- und Listzt-Rezipienten, auch die politische Enttäuschung, die
vielleicht das Gewicht des Idealismus und ihre ästhetische Attitüde erklären dürfte. Eine elegische Musik
ist geeignet für die Weiterführung einer inaktive Attitüde der Schwärmer und Enttäuschten: “Music does
not allow the discursive, reciprocal communiction of meaning but rather an immediate and ineffable
communication; and this can only take place in the penumbra of melancholia, unilaterally, from hypnotist
to the hypnotized”60. Er beschreibt, wie Nietzsche sich deswegen von Wagner abkehrte und in Dem Fall
Wagner Bizet (oder genau gesagt: das Schöne) vorzog: “[H]e famously saw in Bizet’s music a means of
detoxification, music able to restore joy, cleanliness, and virility to the mind”61.
Wie Hanslick behauptet auch Jankélévitch, dass eine metaphysische Annäherung der Musik zu kurz greift:
“The metaphysics of music is not constructed without recourse to many analogies and metaphorical
transpositions”62. Ein Beispiel ist die Behauptung, dass “the polarity of major and minor corresponds to that
of the two great ‘ethoi’ of subjective mood, serenity and depression […] By such means, the philosophy of
music reduces itself in part to a metaphorical psychology of desire” 63. Aber Jankélévitch kritisiert auch
räumliche Analogien in der Musik: “When music is involved, the graphical and spatial transcription of
sound successions greatly facilitates this extensions of the psychological drama. Melodic lines ascend and
descend – on staff paper, but not in the world of sound, which has neither ‘up’ or ‘down’ […] The realm of
supersensible music itself […] ends by appearing to be situated ‘beyond’ the most stratospheric high
regions of audible music; the ultraphysics of the metamusical thus takes on a naively topographical
sense”64. Jankélévitch attackiert nicht nur die psychologische Interpretation der tönend bewegten Formen,
sondern behauptet auch, dass eine Betonung der Bewegungen der Formen selbst “naively topographical”
sei. Im Gegensatz zu Hanslick weist Jankélévitch eine auf Naturgesetze stützenden innere Zweckmäßigkeit
des musikalischen Werkes zurück. Laut ihn kennzeichnet die Musik sich gerade durch “its absence of any
systematic unity”. Die Essenz der Musik ist “less the rational synthesis of opposites than the irrational
symbiosis of the heterogeneous […] Music, like movement or duration, is a continuous miracle that with
every step accomplishes the impossible”65.Wir erinnern uns, dass die tönend bewegten Formen bei
58
Jankelevitch, Music and the Ineffable, S. 8.
Idem, S. 8.
60 Idem, S. 9.
61 Idem, S. 9.
62 Idem, S. 13.
63 Idem, S. 13.
64 Idem, S. 13f.
65 Idem, S. 18f.
59
13
Hanslick innerhalb einer dialektischen Beziehung funktionieren, von Teil und Ganzen, aber auch von
Erwartung und Täuschung: “Es ist die geistige Befriedigung, die der Hörer darin findet, den Absichten des
Komponisten fortwährend zu folgen und voranzueilen, sich in seinen Vermutungen hier bestätigt, dort
angenehm getäuscht zu finden”66 (Kursivdruck AA). Eine schöne Art der Täuschung reißt uns nicht vom
Hocker, sondern ist noch immer eine Abweichung innerhalb des geformten Werkes – wie eine rhetorische
These und seine Antithese wechseln sie einander ab und reizen den “musikalischen Sinn […], [den] immer
neue symmetrische Bildungen [verlangt]”67. Jankélévitch agiert jedoch gegen die Idee einer geschlossenen
Struktur der menschlichen Formen: “The sounding material does not simply tag along after the human
mind and is not just something at the disposition of our whims. It is recalcitrant. Sometimes it refuses to
take us where we would like to go”68. Der Inhalt der Musik befindet sich also nicht ganz in (die immamente
Begleitung ihrer) Formen, wie Hanslick behauptet, sondern “[the] musical language in general suggests
[…] a meaning that it was not specifically our intention to communicate. Far from being amenable to the
winds of our desire, this servant of intention will make use of its own master”69. Diese Täuschung der
Struktur ist nicht länger angenehm, sonder widerspenstig – und da sie nicht unter unserer Kontrolle fällt,
wäre unsere Erfahrung der Musik nicht länger die einer “ästhetischen Lust des reflexiven Wohlgefallens”70,
sondern schafft die Widerspenstigkeit der Musik wieder Raum für eine “anti-ästhetischen” Unlust.
Es ist weder die angenehme Lust der traditionellen Ästhetik, noch ein Untergehen in einer schwärmischen
Lust oder einer Unlust der Enttäuschung, sondern diese bestimmte “Unlust”, die laut Jankélévitch den Sinn
der musikalischen Erfahrung ausmacht: es ist die mysteriöse Erfahrung des Beinahe-Nichts. Jankélévitch
reicht uns in seinem Absatz Das ‘Beinahe-Nichts ein musikalisches Beispiel an, die diese Erfahrung für uns
verdeutlichen kann: “[U]m eine Metapher zu riskieren in einem Bereich, in dem man nicht umhin kann, es
häufig zu tun (denn man weiß nicht, wovon man spricht) – man könnte das Pianissimo am Ende eines
Crescendo oder am Anfang eines Crescendo, wenn der Ton anschwillt oder abschwillt, sich steigert oder
abnimmt – und das ist hier die nebelhafte Welt des Zwischenraums und der genetistischen Approximation –
einem Pianissimo des Mysteriums gegenüberstellen, das tatsächlich auf der Schwelle zum Schweigen ist.
Ich bin mir nicht sicher, ob es eine akustische Differenz zwischen dem Pianissimo von Debussy und dem
skalaren Pianissimo gibt, doch sicher ist, daß uns Debussy eine geheimnisvolle Botschaft übermittelt: Da
nun einmal das Pianissimo nicht als die letzte Stufe, als der äußerste Ausdruck eines Decrescendo
wahrgenommen wird und ebensowenig als der minimale Beginn eines Crescendo, sondern als die Schwelle
zu etwas anderem, kündigt es wahrhaftig das Jenseits der Übernatur, das heißt das Mysterium an. Es ist ein
Pianissimo, dem man sich sogleich widmet, selbst wenn es am Beginn eines Aufstiegs zum Licht steht, wie
zum Beispiel in La Mer von Debussy”71.
Jankélévitch behauptet, dass das pianissimo von Debussy eine Erfahrung ermöglicht, die keine direkte
Beziehung zur Dynamik hat: sie ist laut Jankélévitch nicht “skalar” und also nicht nur durch ein
willkürliches Pianissimo zu erreichen oder von einem bloßen Decrescendo anzunähern – Jankélévitch weist
eine solche Annährung, eine “genetistische Approximation” des Beinahe-Nichts ab. Die bestimmte
Erfahrung des Beinahe-Nichts hat offenbar einen anempirischen Komponenten: Jankélévitch schreibt, dass
er zweifelt, ob es überhaupt “eine akustische Differenz zwischen dem Pianissimo von Debussy und dem
skalaren Pianissimo gibt”. Es gibt keine direkte Beziehung zwischen dem musikalische Material und dem
Effekt desselben – hierin unterscheidet sich das Pianissimo des Beinahe-Nichts vom piano nobile der
traditionellen Ästhetik.
Ein ähnlicher Bruch zwischen empirische Wahrmehmung und Erfahrung haben wir schon in Feldmans
Marginal Intersection beobachtet. Zur Erinnerung: hier war der angeblich empirische (hörbare, fühlbare)
Klang der schweigenden Oszillatoren schliesslich ermöglicht durch eine phyiologische Illusion: die
Selbsterfahrung wurde mit dem antizipierten Klang der Oszillatoren verwechselt – wie auch Cage im
anechoischen Raum keine Geräsuche von außen hörte, sondern sichselber. Es ist die Stille, das Schweigen
der Oszillatoren sowie das Pianissimo Debussys, das “auf der Schwelle zum Schweigen ist […], die
Schwelle zu etwas anderem”, die diese phänomenale Selbsterfahrung ermöglicht.
66
Hanslick, S. 133.
Idem, S. 84.
68 Jankelevitch, S. 28.
69 Idem, S. 28.
70 Welsch 1996, S. 112.
71 Jankélévitch, Vladimir, “Das ‘Beinahe-Nichts’ ”. In: Jankélévitch, Vladimir; Konersmann, Ralf (hrsg.): Das Verzeihen.
Essays zur Moral und Kulturphilosophie. Frankfurt aM. : Suhrkamp 2003, S. 167f.
67
14
Wir haben aber vorher festgestellt, dass Feldman diese Erfahrung als mysteriöse “vibes” und “shadows”
beschrieben hat. Auch Jankélévitch sieht diese Erfahrung als eine mysteriöse Erfahrung: er bezeichnet es
als die Erfahrung eines Beinahe-Nichts, die er eine “konkrete Erfahrung” nennt72, oder eine Erfahrung
eines Quods: “Dieses Je-ne-sais-quoi ist eine Grenze, die wir nicht erfassen können, die jedoch
paradoxerweise im privilegierten Augenblick der reinen Quoddität [quoddité] erlebt werden muß, das heißt
in der Effektivität des reinen Unvermuteten, unabhängig von der Zeit, vom Raum und sogar von der
Position in der Zeit und im Raum”73 Diese Erfahrung des Beinahe-Nichts taucht laut Jankélévitch auf in
einem Augenblick: ”[D]as Beinahe-Nichts [ist] […] ein Nichts an Dauer. Das Beinahe-Nichts ist nur
beinahe, weil es nicht dauert, und indem es einsetzt, beinahe nicht existiert! […] Das BN ist einzig ein
Nichts an Dauer, doch dieses Nichts wird im Bruch des Augenblicks erfahren”74. Der Begriff des
Augenblicks erweckt anscheinend den Eindruck, dass er einen Punkt in der Zeit ist, aber laut Jankélévitch
existiert ein Augenblick nicht mal in der Zeit, in Gegensatz zum “Moment”. Der Moment “ist wohl
Negation der Zeit, doch nicht der Position in der Zeit, da er ja das Datum festsetzt; der Moment negiert, wie
der Punkt, den Raum; doch überdies negiert der Moment den Punkt, das heißt die Position im Raum, so wie
er die Zeit und den Raum negiert; andererseits setzt er das Datum in der Zeit”75. Der Augenblick negiert
jedoch schliesslich den Datum und entbehrt sogar einer empirischen Existenz: “[der Augenblick] negiert
beinahe alles, er negiert alles außer … außer dem nicht greifbaren Geschehnis [fait], das zu erreichen
unwägbar ist”76. Die Erfahrung des Augenblicks “ist keine Erfahrung im empirischen Sinn des Ausdrucks,
denn sie läßt sich keine Zeit”77. Weil sie aber erfahrbar ist, spricht Jankélévitch von einer “anempirischen
Empirie”78.
Obwohl der Augenblick anscheinend nur Raum und Zeit negiert, betont Jankélévitch das Positive dieser
Erfahrung: der Augenblick ist ein “Aufblitzen” von “Energie”79, eine “Virtualität”80, die diese Erfahrung
sinnvoll macht. Das endliche menschliche Leben wäre nur ein Intervall innerhalb der alltäglichen Zeit und
Raum, “wäre wie nichts, wenn es nicht den virtuellen Augenblick in seiner Masse gäbe…[man] entdeckt in
der Masse des Intervalls ein Gewimmel von virtuellen Augenblicken, die sich unendlich aktualisieren
können und die demnach wie mikroskopische, in der Fortdauer eingeschlossene Energiezentren sind; das
Werden an sich wird nur durch diese Milliarden von unbemerkt vorübergehenden Brüchen, die der
Kontinuität zur Dauer verhelfen”81. Nicht eine Erfahrung einer inneren Vernünftigkeit, sondern die
Erfahrung der Brüchigkeit dieser Vernünftigkeit führt zu einer sinnvollen Erfahrung. Die Erfahrung des
Augenblicks ist dabei keine Erfahrung eines jenseitigen “Nichts”, aber eine immanente Anwesenheit an der
Schwelle des Nichts. Sie ist sozusagen beinahe eine Erfahrung eines Nichts, das die empirische Welt
virtualisiert: “Es ist diese gefangene Energie, die das Werden werden läßt und die Dauer zum Abschluß
bringt; ihretwegen wird Dasselbe ein Anderes. Die Augenblicke sind wie die innere Lüftung, welche die
Dauer porös macht und ihr zu atmen erlaubt”82.
Anläßlich der Ästhetik Jankélévitchs werden wir erstens das Konzept des Beinahe-Nichts näher
untersuchen. Inwiefern kann die Ästhetik Jankélévitchs die magische Stille der schweigenden Oszillatoren
erklären anhand der Erfahrung des Beinahe-Nichts? Und (inwiefern) haben wir es laut Jankélévitch mit
einer empirischen Erfahrung zu tun? – Wir haben nämlich bei Feldmans Beschreibung der Tanzaufführung
Sybil Shearers festgestellt, dass Feldman die Erfahrung als empirisch beschreibt, aber später diese
Erfahrung mystifiziert und als anempirisch (als “vibes” und “shadows” ) beschreibt. Wie löst Jankélévitch
also dieses Problem der brüchigen Verbindung zwischen empirische Erfahrung und sinnvoller Erfahrung?
Zweitens werden wir untersuchen, wie oder inwiefern die Ästhetik Jankélévitchs die Aktivität des
Subjektes bevorzügt. In der traditionellen Ästhetik wurde die Aktivität des Subjekts, wie wir beschrieben
haben, mit dem formlichen begleitenden Wahrnehmen des Subjekts und der inneren Zweckmäßigkeit des
Werkes verbunden – aber kann ein Subjekt, der sich mit einem widerspenstigen Beinahe-Nichts
Jankélévitch, Vladimir, “Das ‘Beinahe-Nichts’ ”. In: Jankélévitch, Vladimir; Konersmann, Ralf (hrsg.): Das Verzeihen.
Essays zur Moral und Kulturphilosophie. Frankfurt aM. : Suhrkamp 2003, S. 161.
73 Idem, S. 174.
74 Idem, S. 173.
75 Idem, S. 173.
76 Idem, S. 173f.
77 Idem, S. 183.
78 Idem, S. 183.
79 Idem, S. 174.
80 Idem, S. 175.
81 Idem, S. 176.
82 Idem, S. 177.
72
15
konfrontiert sieht und deshalbe keine völlige Kontrolle über seine eigene Erfahrung hat, noch aktiv sein? Ist
das ästhetische Subjekt bei Jankélévitch nicht zu einer passiven Haltung gezwungen im Bezug auf den
außerempirischen Augenblick, der sich seiner Kontrolle (und, so mann will, seine Autonomie und seine
Freiheit) entzieht?
Für die Beantwortung der ersten Frage ist es einleuchtend, die Hauptpunkte des Kapitels Music and Silence
aus Jankélévitchs musikästhetischen Werk Music and the Ineffable zu besprechen, in dem er die möglichen
Beziehungen zwischen Musik und Stille beschreibt.
Zuerst versucht Jankélévitch die Beziehung zwischen Musik/Geräusch und Stille als eine einfache
Dichotomie zu beschreiben. Die Stille wäre dann ein “Nichts”, von dem sich der lebendige Mensch zu
unterscheiden versucht: “Noise […] is connected to human presence, which […] is a sigh barely audible in
the eternal silence of infinite space. This presence, like civilization itself, must affirm and reaffirm itself
withoud end, by constant vigilance and self defense, to resist the invasion of nothingness”83. Der Mensch
(oder das Sein) sollte sich, laut dieser Dichotomie, vom Chaos (des Nichts) unterscheiden. Jankélévitch
bevorzügt aber anscheinend ein umgekehrtes Verhältnis zwischen Geräusch und Stille: “Noise is not
suspended silence, but silence is noise that has ended, and the suspension of continuity. Previously, it was
change itself – living, increasing diversity – that stood out from boredom’s uniform oceanography and that
troubled a preexisting and subterranean continuousness. Silence was the backdrop suspended under Being.
But now, it is noise that constitutes a sonorous foundation, suspended under silence”84. Nicht die Stille,
sondern das ewige Geräusch, ein “perpetual din”85, formt das Fundament. Musik unterscheidet sich von
diesem Geräusch, weil es eine bestimmte Art von Stille innehat: es ist offensichtlich, dass Jankélévitch
seinen Begriff von Stille nicht bloß akustisch auffasst (also Stille als ein Nicht-existieren von Geräusch
interpretiert), sondern mit der Erfahrung des Beinahe-Nichts verbindet. “As an interruption, a momentary
lacuna that mars the noisy animation of Becoming, silence blossoms through voids that interrupt a
perpetual din”86. Musik schafft Leerräume (voids) durch die die Stille “aufblühen” kann. “[S]ilence is no
longer analogous to nothingness, or a source of anguish, but is a haven where contemplation co-exists with
total quiet […] [S]ilence is no longer the limitless ocean or the unformed grayness of the infinite; rather, it
delimits a well-circumscribed zone within the universal din”87.
Die Beziehung zwischen Stille und Musik/Geräusch ist bei Jankélévitch also schwieriger als eine bloße
dichotome Beziehung. Auch weicht sie ab von Cages Sichtweise auf dieser Beziehung, die wir schon in der
Prelude besprochen haben: Cage verwirft die akustische Existenz der Stille und will das Subjekt sich von
den Geräuschen des “perpetual din” bewußtmachen – die “divine influences” die wahrnehmbar werden,
wenn man das urteilende Bewußtsein zum Schweigen bringt. Stille ist laut Jankélévitch eine energische
Anwesenheit, ein “potential not being”88, die die Musik wirklich lebendig macht, es zum Atmen bringt:
“[M]usic can only breathe when it has the oxygen of silence”89. Das Auftauchen der Stille funktioniert wie
der Augenblick, der Jankélévitch bereits beschrieben hat: “Die Augenblicke sind wie die innere Lüftung,
welche die Dauer porös macht und ihr zu atmen erlaubt”90. Es ist deutlich, dass die Stille bei Jankélévitch
eine musikalische Übersetzung der Erfahrung des Beinahe-Nichts ist. Wie Jankélévitch selbst schreibt:
“[S]ilence is […] a relative or partial nothingness […]” 91
Auf welcher Weise erfahren wir diese Stille (oder das Beinahe-Nichts)?
Jankélévitch ist hier nicht eindeutig. So beschreibt er das Atmen der Stille als eine synästhetische
Erfahrung: die Stille ist nicht hörbar, aber durchaus von den anderen menschlichen Sinnen erfahrbar:
“[N]othingness is not the simultaneous negation of all qualities perceptible to the senses; rather, it
excluedes only a single category of sensation, that of physiological hearing”92. Jankélévitch nennt vor allem
eine Verbindung zwischen Ohr und Auge: “The most characteristic form of silence is silence brightly
83
Jankélévitch, Music and the Ineffable, S. 131.
Idem, S. 134.
85 Idem, S. 135.
86 Idem, S. 135.
87 Idem, S. 135.
88 Idem, S. 137.
89 Idem, S. 136.
90 Jankélévitch, Beinahe-Nichts, S. 177.
91 Jankélévitch, Music and the Ineffable, S. 137 (Kursivdruck AA)
92 Idem, S. 138.
84
16
illuminated”93; “The silence of noon, which is the nonexistence of the auditory contrasted with a plenitude
of optical existence, takes the paradox to its extreme”94.
Aber trotzdem beschreibt Jankélévitch an anderer Stelle diese Erfahrung als eine auditive Erfahrung –
“Human beings in a contemplative state can hear in silence”95 – , obwohl sie nicht empirisch ist: “It is
silence that allows us to hear another voice, a voice speaking another language, a voice that comes from
elsewhere”96. Auch spricht er vom “noise of silence” und eine “deafening silence”97. Und am Ende des
Kapitels behauptet Jankélévitch, die Stille sei eine Selbsterfahrung: “[M]usic and the silence that envelops
it are of this world. Yet if this enigmatic voice is not disclosing the secrets of the Beyond, it may
nonetheless remind us of the mystery that we bear within ourselves”98.
Wie Feldman hat auch Jankélévitch Mühe, eine kohärente Kausalität zwischen Erfahrung und Herfunkt
derselben zu postulieren – und durch dieses Verfehlen kommt die Mystifizierung ins Spiel: die andere
Stimme der Stille stammt von einem unbekannten, mysteriösen Ort… Das bringt uns zur Beantwortung der
zweiten Frage: ist das Subjekt in der Ästhetik Jankélévitchs genauso unfrei und passiv wie das betäubte
Subjekt der romantischen Musikästhetik, wenn es sich mit einer unerreichbaren Punkt konfrontiert sieht?
Jankélévitch selbst beschreibt die Erfahrung des Augenblicks interessanterweise als aktiv: diese Erfahrung
geschieht mithilfe der “Intuition”, die Jankélévitch als ein “Akt des Denkens” definiert99. Er vergleicht
dieses Denken mit dem Begriff der Weisheit des Henri Bergson: “Irgendwo definiert Bergson die Weisheit
als die Synthese von Denken und Handlung; in diesem Fall würden wir sagen, daß die Intuition eine
Weisheit des augenblickshaften Bruchs ist, eine entstehend-sterbende Weisheit wie der Funke. Exoterisch
erscheint die Intuition wie eine Unterbrechung oder Aussetzung des Denkens ; nun ist es aber das
suspendierte Denken, das hier das tiefgründigste Denken ist, und dieser Gedanken-Blitz [pensée-éclair] ist
überdies ein schneidender Akt, der gordische und gleichzeitig zutiefst zweideutige Akt, durch den derselbe
Gedanke, der Gedanken-Funke [pensée-étincelle], zugleich geboren wird und stirbt”100. Wie die
romantische Ästhetik sieht auch Jankélévitch ein Suspendieren des Denkens als tiefgründig und verbindet
diese Tiefe mit einer Erfahrung eines Außen / Exoterischen. Bei Jankélévitch ist jedoch nicht die Rede von
einem extatischen Versenkung in einer Einheit: die Erfahrung ist ein “zutiefst zweideutige Akt”, der schon
verschwunden ist, wenn er auftaucht.
Wir werden versuchen, diese Zweideutigkeit zu erklären. Wir erinnern uns, dass Nietzsche zwei typische
romantischen Rezipienten unterschieden hat: die Schwärmer und die Enttäuschten. Diese zwei Typen sind
tatsächlich zwei Seiten derselben Münze: für jeden Schwärmer ist der Rausch endlich und wird die
imaginäre Einheit zerrissen. Entzückung und Enttäuschung folgen aufeinander. In unserer Enttäuschung
können wir uns als machtlos empfinden (wie Schopenhauer) oder versuchen, eine andere Attitüde
anzunehmen. Die Ästhetik des Schönen versucht dem unangenehmen Gefühl der Enttäuschung entweder
eine “erhabene Gleichgültigkeit” oder eine ironische Haltung entgegenzutreten. Jankélévitch teilt den
Vorzug der Ironie101, aber er wehrt die Unlust nicht ganz aus der Attitüde des Rezipienten. Er schreibt: “To
seek silence is to seek a meta-empirical Beyond, a supersensory realm more essential by far than the realm
occupied by existence […] This quest gets us ready – if not to recognize thruth, then at least to receive it.
The chimera of the Beyond will survive all disappointment”. Es gibt auch hier kein Erkenntnis der
“Wahrheit”, wir können sie nur empfangen – aber das reicht trotzdem zur Bekämpfung der Enttäuschung.
Aber wie?
Wir könnten Jankélévitchs Erfahrung des Beinahe-Nichts als eine Beschleunigung der
aufeinanderfolgenden Entzückung und Enttäuschung betrachten: es gleicht ein romantisches prestissimo.
Die Momenten der Entzückung und der Entäuschung folgen wie ein Blitz aufeinander: wenn wir erfassen
wollen, was passiert ist, ist sie schon vorüber. Jankélévitch betont nämlich, dass das Beinahe-Nichts in
dieser Welt erfahren wird und wir es aktiv wahrnehmen können – wie ein Blitz, der leuchtet und sofort
wieder verschwindet. In der von Jankélévitch präsentierten intuitiven Erfahrung folgen diese Ereignisse so
schnell aufeinander, mit Lichtgeschwindigkeit, dass man gar keine Zeit hat für Melancholie. Statt die
93
Idem, S. 138.
Idem, S. 138, Kursivdruck AA.
95 Idem, S. 150.
96 Idem, S. 151.
97 Idem, S. 154.
98 Idem, S. 154.
99 Jankélévitch, Beinahe-Nicts, S.181.
100 Idem, S. 181.
101 Jankélévitch betont in Music and the Ineffable die Humor, die Haltung des understatements sowie der Leichtsinn (S. 4250 und 64-70). Auch in der idealistischen Ästhetik spielt die Haltung der Ironie eine bedeutende Rolle, z.B. bei Schlegel.
94
17
Entzückung und die Enttäuschung getrennt zu erfassen, als zwei Intervalle, ist der Augenblick des BeinaheNichts eine äußerste Verdichtung dieser Bewegung; sie formt fast eine (immer zweideutige) Einheit – der
Augenblick setzt immerhin den Raum und die Zeit, also die Kausalität, außer Kraft. Die augenblickshaft
erfaßte Quoddität erscheint im Gegensteil “wie ein Bankrott, der ein Erfolg ist: Mißerfolg, weil er ohne
Morgen ist und sich nicht fortsetzen kann, außer für den, der den Engel spielt… ohne ein Engel zu sein.
[…]
Schließlich ist das also der Optimismus unseres Pessimismus, die Kompensation der
Hoffnungslosigkeit unserer Erwartung: Das verschwindende Erscheinen ist wohl ein Verschwinden, da es
nun einmal alsbald am dunklen Himmel verlöscht, doch ich präge mir vor allen Dingen das Geschehnis ein,
das es einmal ist, als das es eines Tages erschienen ist. […] Dieses Geschehnis ist das plötzliche
Auftauchen, welches das Herz schlagen läßt und ohne welches weder das Leben noch das Werden ihr
Aroma besäßen”102. Auf dieser Weise bleibt die Passivität, wie auch ein Funken der Enttäuschung des
Subjekts, anwesend, aber wird eine aktive Haltung des Subjekts gewährt: er soll ständig diesen Funken
nachjagen, um so bis zur Erfahrung dieses Beinahe-Nichts zu gelangen. Diese sich wiederholende
Erfahrung des mysterium prestissimum ist laut Jankélévitch “der einzige metaphysische Erfolg, dem ein
Mensch nachstreben kann”103– und das wird nur möglich, wenn man auf kluger Weise die Niederlage mit
dem Sieg zusammenfallen läßt.
Im nächsten Teil dieser Arbeit werden wir die Verbundenheit zwischen Jankélévitch und der Ästhetik
Feldmans nachweisen. Feldman erklärt nämlich eine sehr ähnliche Erfahrung zur Ziel der Kunst.
Anschließend werden wir die von Feldman geführter ästhetischer Debatte beschreiben, in der er vor allem
die Ästhetik des Schönen angreift.
In den letzten Teilen werden wir versuchen, die beschriebenen ästhetischen Alternativen auf unserer
eigenen Weise zu beurteilen.
102
103
Jankélévitch, Beinahe-Nichts, S. 183f.
Idem, S. 183.
18
Zweiter Teil
Das Klingen des Anderen: Feldmans Konzept der
abstrakten Erfahrung
Der sound des Beinahe-Nichts
In seinem Essay Sound – Noise – Varèse – Boulez underscheidet Feldman zwischen zwei Klangarten, die er
sound und noise nennt. Damit ist nicht gemeint, Musik sei sound und noise sei Lärm. Der wichtigste
Unterschied liegt für Feldman in der Wirkung dieser Klangarten. Noise bewirkt laut Feldman einen
Wahrheitseffekt: “[I]t is noise that we really understand. It is only noise which we secretly want, because
the greatest truth usually lies behind the greatest resistance […] It bores like granite into granite”104. Wenn
wir noise hören, meinen wir, dass eine Wahrheit auf uns zukommt, aber sound bewirkt laut Feldman einen
dämonischen Effekt, da wir diese Wirkung nicht mit einer greifbaren Wahrheit verbinden können: “It is
unfortunate that when this sensuality [of sound, AA] is pursued we find that the world of music is not
round, and that there do exist demonic vastnesses when this world leaves off”105 […] ”[S]ound is
comprehensible in that it evokes a sentiment, though the sentiment itself may be incomprehensible and far
reaching”106. Der Mensch denkt, laut Feldman, dass er noise versteht und kontrollieren kann, während
sound ein “dämonisches” Rätsel aufwirft, das wir nicht lösen können.
Feldman nennt die Musik Beethovens als Beispiel für noise – “[Noise] is physical, very exciting, and when
organized it can have the impact and grandeur of Beethoven”107– währenddessen die Musik Edgar Varèses
die Idee des sound verkörpert. Feldman sieht einen Streit zwischen den zwei Klangarten: “The struggle is
between this sensuousness which is elegance [of sound] and the newer, easier to arrive at, excitement [of
noise]”108. Das Zitat enthält anscheinend keinen direkten Vorzug für eine der Klangarten, aber auf
indirekter Weise macht Feldman klar, dass er sound bevorzügt: er nennt noise nicht nur “einfacher zu
erreichen”, sondern auch “neuer”. Mit dieser Bemerkung meint Feldman nicht, dass noise als Klangart
historisch gesehen jünger wäre als sound – Feldman hat schon aufgemerkt, dass er die “ältere” Musik
Beethovens mit noise verbindet und die “jüngere” Musik Varèses mit sound109. Wir können das Wort
“newer” jedoch als “authentischer” übersetzen. Im Essay behauptet Feldman nämlich, die Klangart sound
stehe den Mensch näher als noise, wenn er über die Wirkung der Musik Varèses erzählt: “And those
moments when one loses control, and sound like crystals forms its own planes, and with a thrust, there is no
sound, no tone, no sentiment, nothing left but the significance of our first breath – such is the music of
Varèse. He alone has given us this elegance, this physical reality, this impression that the music is writing
about mankind rather than being composed”110. Es ist wichtig zu erkennen, dass Feldman auf einer
ähnlichen Weise von einem “first breath” spricht, wie Jankélévitch von einer Stille gesprochen hat, die die
Musik “atmen” läßt. Nur wenn wir diese Denkart in Betracht ziehen, können wir den scheinbaren
Widerspruch im Zitat erklären: Feldman schließt nämlich anscheinend sound aus (“no sound”), obwohl er
die Musik Varèses “elegant” nennt – ein Begriff, der er im Essay mit sound verbindet. Der Begriff sound
ist auch bei Feldman zweideutig, weil der Klang sich für die Stille öffnen muss, damit die Musik atmen
kann. Nicht der direkte Wahrheitseffekt des noise, sondern die “dämonische” Wirkung des sound schenkt
uns diese authentische Erfahrung.
104
Feldman 2000, S. 2.
Idem, S. 1.
106 Idem, S. 2.
107 Idem, S. 1.
108 Idem, S. 1; Kursivdruck AA.
109 Feldman verbindet übrigens nicht nur Varèse und die Komponisten der “New York School” (John Cage, Christian Wolff
und Earl Brown) mit sound, sondern auch “klassische” Komponisten wie Byrd, Mozart, Schubert, Debussy und Satie.
110 Idem, S. 2.
105
19
Die abstrakte Erfahrung
Unsere Behauptung, dass Feldmans Begriff des sound und die Erfahrung der Stille des Beinahe-Nichts bei
Jankélévitch relatiert sind, können wir anhand weiterer Zitaten Feldmans erklären. Feldman benutzt für die
Erfahrung des Beinahe-Nichts einen anderen Begriff: er nennt sie die abstrakte Erfahrung (abstract
experience). Die Abstraktion dieser Erfahrung ist nicht nur negativ bezogen auf “positiven” Begriffen wie
Rationalität, Intentionalität und so weiter, aber sie hat eine positive Bedeutung wegen der einzigartigen
Erfahrung, die sie hervorruft. Feldman betont den Wert dieses “Nichts”: “’Nothing’ is not a strange
alternative in art. We are continually faced with it while working. In actual life, this experience hardly
exists”111.
Feldman beschreibt die abstrakte Erfahrung wie folgt: “The abstract in the sense I use the term has
appeared in art all through the history of art – an emotion the philosophers have failed to categorize. To
make it perfectly clear that it is this uncategorized emotion that I wish to describe, we had better call it the
Abstract Experience”112. Feldman unterscheidet diese Erfahrung von der Phantasie (imagination): “[W]e
must constantly separate [the abstract experience] from the imagination, or rather, that aspect of the
imagination that is in the world of the fanciful. In my own work I feel the constant pull of ideas. On the one
hand, there is the inconclusive abstract emotion. On the other, when you do something, you want to do it in
a concrete, tangible way. There is a real fear of the abstract because one does not know its function. The
imagination is so many things; it can go so many ways. The abstract, or rather the Abstract Experience, is
only one thing – a unity that leaves one perpetually speculating. The imagination builds its speculative
fantasy on known facts. Facts that have their basis in a very real, a very literary world. Even when it is
irrational, it can be measured in terms of the rational – like Surrealism. The imagination provides answers
without a metaphor. The Abstract Experience is a metaphor without an answer […] [T]he Abstract
Experience reveals itself constantly as a unified emotion”113.
Wir kennen den Begriff der Phantasie schon aus unserer Analyse der Musikästhetik Hanslicks; den Begriff
interpretiert Feldman auf ähnlicher Weise, er verbindet die Phantasie mit dem fanciful . In gewisser Weise
gleicht joedoch die Kritik Feldmans die Kritik Welsches, der warnte für ein ”Spiel des Subjekts bei
geschlossenen Türen”114: auch Feldman behauptet, dass die Phantasie nur “known facts” erfasst: sie bleibt,
mit anderen Worten, innerhalb der Grenzen einer Rationalität, einem selbstgewählten Gefängnis. In der
Middelburg Lecture illustriert Feldman dieses Problem der Form der typischen niederländischen
Wohnungen: “Holland ist es niemals in den Sinn gekommen, daß jemand einen Konzert-Steinway im Haus
brauchen könnte. Können Sie sich vorstellen, in ein vier Fuß großes Zimmer zu gehen und einen neun Fuß
großen Bechstein im Zimmer zu sehen? Was kann man in das Zimmer stellen? Das is Form […] Form ist
eine Kontrolle, die einen auf einem bestimmten Typus von Lebensstil beschränkt, der von irgendjemandem
nicht in Frage gestellt wird”115.
Die Phantasie hat schon eine Antwort parat, hat in gewissen Weise ihre Mauern schon aufgezogen und die
(Haus)Türe geschlossen, während die abstrakte Erfahrung eine Frage auslöst – obwohl sie als Einheit
postuliert wird, ist sie laut Feldman “a unity that leaves one perpetually speculating”. Die Phantasie kann
die abstrakte Erfahrung nicht erfassen, weil “the Abstract Experience cannot be represented”116. Sie fällt
aus den Rahmen der Erkenntnis und kann nur empfunden werden. Feldman betont also die Empfindung als
sinnvoll und nicht die Erkenntnis als “ästhetische Lust eines reflexiven Wohlgefallens”117: die abstrakte
Erfahrung “is […] there – felt”118.
111
Idem, S. 37.
Idem, S. 74f.
113 Idem, S. 75f.
114 Welsch 1996, S. 118.
115 Feldman, Middelburg Lecture 1986, S. 62.
116 Feldman 2000, S. 76.
117 Welsch 1996, S. 112.
118 Feldman 2000, S. 76.
112
20
Abstrakte Expression in der Malerei
Feldmans Idee der abstrakten Erfahrung wurde beeinflusst vom Denken einer vielfarbigen Gruppe von
Malern, die sich ab den 40. Jahren in New York niederlaß und die Name “Abstrakter Expressionismus”
bekam. Feldman wurde 1949 von John Cage in diesem Künstlerkreis introduziert und traf sich seitdem
häufiger mit Maler als mit Musiker – bis er 1972 Musikprofessor wurde und nach Buffalo zog. In seinen
Essays schrieb er überwiegend über die Malerei; diese Essays erschienen gelegentlich in Musikzeitschiften,
aber meistens in Kunstzeitschriften, wie zum Beispiel Kulchur, eine an den Autoren der Beat-Generation
verbundene Zeitschrift. Die Name “abstrakte Expressionisten” erklärt einen wichtigen Punkt, der die Maler
miteinander verband: gerade die Abstraktion wurde einer besonderen Expressivität zugesprochen. Weil
diese Abstraktion Aufmerksamkeit erregen sollte, widersetzten die Maler sich gegen einer Überherrschung
der Symbolen, Formarbeit, Systemen und anderen Weisen, die diese Erfahrung absperren könnten.
Im allgemeinen können wir zwei Strömungen des abstrakten Expressionismus unterscheiden. Jede
Richtung betont seine Weise, die die abstrakte Erfahrung aufscheinen läßt.
Die erste Strömung wird häufig gesture painting genannt und wird gekennzeichnet von der Abwesentheit
einer dreidimensionalen Raumordnung im Gemälde. Hierdurch verschwindet eine zwingende visuelle
Zusammenhang der Elementen im Gemälde – ihre innere Vernünftigkeit. Das hat zur Folge, dass man nicht
länger von einem eindeutigen Unterschied zwischen Vordergrund und Hintergrund sprechen kann. Ein
berühmtes Beispiel ist das Werk des gesture painters Jackson Pollock (1912-1956), der in den späten 40.
Jahren Furore machte mit seinen dripping paintings. Der “Vordergrund” dieser Gemälden besteht aus
einem Durcheinander von auf der Leinwand getropften Farbe. Dieses Durcheinander enthält einen
beispiellosen Maß an Bewegung (gestures), aber führt nicht zu einer integrativen Idee des Raums – es ist
eher die Leinwand selbst, die als Hintergrund in Betracht kommt. Die Beziehung zwischen Vordergrund
und Hintergrund ist schwierig integrierbar für das menschliche Auge; wir könnten glauben. die wimmelnde
Bewegungen auf dem Vordergrund würden auf der Leinwand “schweben”. Und trotz alle Bewegung
scheint einen undefinierbaren, statischen Raum diese Bewegungen auf ihren Platz zu halten. Die Werke
Philip Guston, ein enger Vertraute Feldmans in den 60. Jahren, erzeugen einen ählichen Effekt.
Die zweite Strömung wird color field painting genannt. Sie spielt wie die gesture painting ein ähnliches
Spiel mit den räumlichen Parameter des Gemäldes, aber benutzt dazu eine andere Weise der Verwirring der
Vorder- und Hintergrund: bestimmte Tiefe-Wirkungen, die mit Farben und Anstrichweisen erzeugt werden.
Wie die gestures ist die Autonomisierung der Farbe eine Möglichkeit, Symbolen und Figurativität im
Gemälde zu vermeiden. Der wichtigste color field painter avant la lettre war ungezweifelt Piet Mondrian
(1872-1944), ein Künstler, den Feldman sehr schätzte. Seine bekanntesten Werke, die er in den 20. und 30.
Jahren des vorigen Jahrhunderts malte, kennzeichnen sich durch einen weißen “Hintergrund”, der von
schwarzen Linien in verschiedenen Rechtecken und Vierecken aufgeteilt ist; einigen von ihnen sind
gefärbt. Das visuelle Resultat ist jedoch nicht zweidimensional, wie man meinen könnte: es gibt nämlich
keinen weißen Gesamthintergrund. Die weiße Farbe wird auf verschiedenen Weisen gemalt. Durch
verschiedene Anstrichtechniken erzeugt Mondrian Tiefewirkungen, die er pro Fläche abwechseln kann. Die
Anschaaung eines Gemälde Mondrian erzeugt also keine zweidimensionale Wirkung, sondern schafft
Tiefstellen im Gemälde, ohne dass man von einem räumlichen Hintergrund sprechen könnte.
In den späten 60. Jahren war Feldman mit dem color field painter Mark Rothko (1903-1970) befreundet.
Wie Mondrian hob auch Rothko die konventionelle Struktur des Raums auf mit Hilfe von Tiefewirkungen.
Oft finden wir in seinen Gemälden zwei Rechtecken, die in keiner räumlichen Beziehung zueinanderstehen.
Rothko schafft jedoch eine Tiefewirkung dieser Rechtecken. Ein Beispiel seiner Technik ist die drückende
Wirkung, die er schwarze Fläche geben konnte. Laut Feldman ahmte Rothko mit dieser Tiefenwirkung
Rembrandt nach: “I once went to the Metropolitan with Mark Rothko, and we’d look at a Rembrandt
painting and the way Rembrandt bleeds to the edges. Take a look at Rothko, the way he bleeds to the
edges”119. Das “Blüten” der schwarzen Farbe in den Gemälden Rothkos schafft eine Bewegung in einem
anscheinend zweidimensionalen Gemälde.
Beide Strömungen zielen auf einer paradoxaler Wirkung, die Feldman stasis nennt: aus Stillstand wird die
Illusion der Bewegung bewirkt (wie bei der Tänzerin Sybil Shearer) oder umgekehrt wird aus Bewegung
die Illusion des Stillstands bewirkt. So schafft das Wirren der Farbtropfen bei Pollock einen stationären,
“non-dimensionalen” Hintergrund, während Mondrians anscheinend schlichte weiße Flächen das Auge des
119
Feldman, Morton; Zimmermann, Walter (hrsg.): Morton Feldman Essays. Kerpen : Beginner Press 1985, S. 190.
21
Betrachters keine Ruhe geben. Feldman erklärt den Wert des stasis für seinen Werk: “Stasis, as it is utilized
in painting, is not traditionally part of the apparatus of music. Music can achieve aspects of immobility, or
the illusion of it: the Magritte-like world Satie evokes, or the ‘floating sculpture’ of Varèse. The degrees of
stasis, found in a Rothko or a Guston, were perhaps the most significant elements that I brought to my
music from painting”120. Das Verfahren des stasis verwirrt nämlich die innere Vernünftigkeit eines
Kunstwerks: stasis “[has] put the whole question of symmetry and asymmetry in abeyance”: ihre Wirkung
ist der Beweis, dass “the sum of the parts does not equal the whole”121.
Für Feldman und die abstrakten Expressionisten sind diese visuellen Effekte, die unsere Augen verwirren,
mehr als eine sinnliche Erfahrung. Laut ihnen ist es zwar der Künstler, der dies Wirkung technisch
nachstrebt, aber die Wirkung selbst ist nicht der direkte Effekt des künstlerischen Schaffens. Der Künstler
hat als Aufgabe, das Beinahe-Nichts erscheinen zu lassen – deswegen erscheint seine Aktivität als ein
Paradox. Jankélévitch umschrieb die Aktivität des genialen Künstlers als “ein Wort, das der Homo poeticus
oder Homo faber an präexistente Wesenheiten richtet, um sie sich machen zu lassen”122. Es ist diese Suche,
die die mannigfaltige Künstler des abstrakten Expressionismus verbindet: die Suche nach Möglichkeiten,
das Abtrakte erscheinen zu lassen und erfahrbar zu machen, weil sie die einzig wirklich spekulative
Erfahrung ist. Nur sie macht die Kunst letztendlich bedeutend und stimuliert Künstler, diese Erfahrung
aufzusuchen, obwohl man sie nicht versteht. Diese Überzeugung verdeutlicht Feldmans Beschreibung der
Kunst der 50. Jahren: “What was great about the fifties is that for one brief moment – maybe, say, six
weeks – nobody understood art. That’s why it all happened”123.
Feldman beschreibt diese Erfahrung des stasis in der Malerei auf verschiedenen Weisen. Er erfährt die
Tiefewirkung der Werke Mondrians wie folgt: “Can we really say it is just a reductive, simplistic image
Mondrian gives us? How can we think so, when we feel we are entering it?”124– es scheint, die
Tiefwirkung “saugt” uns ins Gemälde. Stasis kann auch zu anderen, ähnlichen Erfahrungen führen:
Feldman beschreibt, wie er das Gefühl hat, wie ein statisches Gemälde ihm anschaut: “[A] certain sensation
begins to emerge: a sensation that we are not looking at the painting, but the painting is looking at us. The
reason for this is that this kind of painting is not conceived as a spatial reality”125. In seinem Essay Philip
Guston: the last painter beschreibt er einen Besuch an der Studio Gustons und beschreibt seine Gemälde
sogar als lebende Wesen: “The paintings were like sleeping giants, hardly breathing. As the others were
leaving I turned for a last look, then said to him, ‘There they are. They’re up’. They were already engulfing
the room”126. Wie wir schon beobachtet haben, ist die abstrakte Erfahrung für Feldman nicht nur
phänomenologisch zu erklären, sondern steht in Verbindung mit dem Leben überhaupt. Nicht nur die
Gemälden sind lebendig (sie atmen, schlafen, schauen dich an) – über die “Lebendigkeit” des sound sagt er
folgendes: “When you are involved with a sound as a sound, as a limited yet infinite thought to borrow
Einsteins’s phrase, new ideas suggest themselves, need defining, exploring, need a mind that knows it is
entering a living world not a dead one. When you set out for a living world you don’t know what to take
with you because you don’t know where you’re going”127. Auch benutzt er Begriffe wie Atem und Luft,
genau wie Jankélévitch, als Beschreibung der authentischen Wirkung dieser Kunst – so sind Gustons
Gemälden “sleeping giants, hardly breathing”. Dieser Hauch von Leben ist für Feldman der wichtigste,
weil unmittelbarste Aspekt der Kunst, im Vergleich zu mittelbare Kunst, die eine “literäre” (symbolische)
Botschaft hat. Eine solche Sichtweise auf der Kunst kann rasch zu Missverständnissen führen, wie Feldman
selbst berichtet: “Some years ago a good friend who was a painter asked me to write the foreword to his
new show. One of the things I remember writing was that he was the kind of artist who was content just to
‘breathe on the canvas’. Which actually means that he was a beautiful artist with a very modest statement.
As a result of this remark, my relations with this friend cooled considerably, and, needless to say, my
article did not appear in the catalog of his show”128.
120
Feldman 2000, S. 148.
Idem, S. 149.
122 Jankélévitch, Beinahe-Nichts, S. 178.
123 Feldman 2000,S. 101.
124 Idem, S. 66.
125 Idem, S. 79.
126 Idem, S. 40.
127 Idem, S. 60.
128 Idem, S. 81.
121
22
Die Frage, die wir uns im nächtsten Abschnitt stellen, ist zu zeigen, wie Feldman seine Musik von anderen
Musiken unterscheidet. Er setzt sich ab gegen die romantische Tradition sowie die Strömung, die in seiner
Zeit maßgebend wurde: der Serialismus.
Serialismus
Genau wie Jankélévitch sieht Feldman den Hang zur Schwärmerei in der romantischen Musikästhetik nicht
als ein irrationelles Streben, sondern als ein Streben, das sogar rationelle Wurzeln hat. Sowohl Jankélévitch
wie Feldman behaupten, dass, im Vergleich der abstrakten Erfahrung des Beinahe-Nichts, diese “verhexte”
Musik (Jankélévitch) nicht von einer anderen Welt stammt, sondern menschlich, allzumenschlich ist.
Feldman: “We are taught to think of music as an abstract language – not realizing how functional it is, how
related to that other spirit, whether it be literary or a literary metaphor of technique…”129. Laut Feldman
fördert die Natur der Musik als “öffentliche Kunst”, wegen der zentralen Anwesenheit des Interprets im
Kommunikationsprozeß zwischen Komponist und Rezipient, eine theatrale Übertreibung: “[C]omposers
instinctively gear themselves to this rhetorical, almost theatrical element of projection in music”130. Auch
der Übergang zur formalen und serialisten Methoden hat dieses rhetorische Element – anders gesagt: das
Wahrheitseffekt des noise – nicht ausgelöscht: “Though tonality has long been abandoned, and atonality, I
understand, has also seen its day, the same gesture of the instrumental attack remains. The result is an aural
plane that has hardly changed since Beethoven and in many ways is primitive“131.
Das hat zur Folge, dass der theatralische Komponist sichselber einem Zwang zur Differenzierung auflegt –
aber die Ebene des sound wird nicht erreicht, weil laut Feldman die musikalische Leinwand (aural plane)
unverändert bleibt, sie sozusagen nicht zum Atmen kommt: “Naturally, if the instrumental attack in music
always creates the same aural plane, something must be done to activate, to vary it. It must be propped up
to make it more interesting. That is why music is so involved with differentiation”132.
Es darf klar sein, dass Feldman nicht nur die Gefühlsästhetik abweist, sondern auch die Formarbeit, die
Hanslick und die traditionelle Ästhetik befürworten: die Formarbeit ist Feldman zufolge selbst eine
Mythologie: “As the old myhology dies away, as music no longer extols the same subject matter it once
did, a new mystique arises. The mystique of its own making, of its own construction“133. Wo die
traditionelle Ästhetik das Verfolgen der musikalischen Struktur als eine autonome und sinnvolle Aktivität
propagiert, betont Feldman, dass diese musikalische Sinngebung eine Illusion, denn selbst ein Konstrukt
ist. Es ist die Struktur selbst, die sich der Wahrnehmung aneignet und sich verwandelt in “a control in
control of its master”, wie Feldman es formuliert. Er nennt die Große Fuge Beethovens als typisches
Beispiel: “Do I dare to suggest here that whatever transcedental quality this work possessess might be just
because of this fact? Just because what we have here, in its most volcanic and pathetic way, is a control in
control of its master?”134. Nur die spekulative, abstrakte Erfahrung ist laut Feldman sinnvoll, aber nicht die
Erfahrung der Großen Fuge, da hier alles schon von der Struktur der tonalen Sprache festgelegt ist: die
Wirkung wird von einer rationellen Benutzung des Materials erzeugt und nicht von einer Berührung eines
“Anderen” oder “Höheren”.
Dem Siegeszug der ”formalen” Musik steht Feldman deshalb sehr kritisch gegenüber: “I, for one, listening
to so much of the music of the past twenty years, must admit I still find the controls somewhat
intimidating…What composers apparently seek today is an infallible technical postition. Although they
claim to be so selective, so responsible for their choices, what they really choose is a system or a method
that, with the precision of a machine, chooses for them”135. Er kritisiert den Serialismus, sowohl die
europäische als die amerikanische Variante. Letztere wird in Boola Boola besprochen, einem Essay, in dem
Feldman die Anwesenheit des Serialismus auf den amerikanischen Universitäten verurteilt. Die Musik der
“akademischen Avant-Garde” ist laut Feldman “a criticism of Webern and Schoenberg. To take another
man’s idea, to develop it, expand it, to impose on its logic a superlogic; this does imply an element of
129
Idem, S. 74
Idem, S. 24.
131 Idem, S. 24.
132 Idem, S. 24.
133 Idem, S. 26.
134 Idem, S. 27.
135 Idem, S. 26.
130
23
criticism”136. Die akademische Avantgarde und die Ausdrucksästhetik haben Feldman zufolge denselben
Ursprung, nämlich die deutsche musikalische Tradition – “This music […] [has] a decided German accent”
137– , weil die Idee hinter dieser Musik, nach einem Zitat Hermann Weyls, “ ‘the rational subjugation of the
unbounded’ ” sei138. Der Anspruch der akademischen Avantgarde auf Autonomie ist laut Feldman ein
Gedankengang, der selbst im Kreis läuft: “Academic freedom seems to be the comfort of knowing one is
free to be academic”139. Wie Welsch schon behauptet hat, behauptet Feldman, das die Freiheit des
Serialismus sein eigener Gefängnis ist, weil der Komponist verantwortlich sein muss für die strukturelle
Integrität seiner Musik, das heißt ihre superlogic, die er mithilfe der Analyse vorzeigen muss. Die
kompositorischen Modelle die er benutzt, können auf dieser Weise bewiesen, wieder verwendet und
unterrichtet werden – aber da Feldman nur die spekulative Erfahrung des Abstrakten für sinnvoll hält,
kritisiert er den Mangel an Originalität der Serialisten: “[T]o these fellows, music is not an art. It is a
process of teaching teachers to teach teachers”140. Die mangelnde Originalität des Serialismus bedeutet für
Feldman nicht nur die völlige Kontrolle des Komponisten über dem musikalischen Material, sondern auch
die Macht der Struktur über der Musik. Er nennt Boulez als Beispiel: “Boulez wrote a letter to John Cage in
1951. There was a line in that letter I will never forget. ‘I must know everything in order to step off the
carpet’. And for what purpose did he want to step off the carpet? Only to realize the perennial Frenchman’s
dream…to crown himself Emperor. Was it love of knowlegde, love of music, that obsessed our
distinguished young provincial in 1951? It was love of analysis – an analysis he will pursue and use as an
instrument of power”141.
Die Angst vor der Kunst
Es ist für uns sehr wichtig zu erkennen, dass Feldman die Schlussfolgerung zieht, dass sowohl die
Gefühlsästhetik wie der Serialismus aus der “deutschen” musikalischen Tradition stammen. Tatsächlich
wirft er beide Ästhetiken vor, auf der Suche nach einer unzweideutigen Einheit zu sein. Diese Suche ist für
ihn die Knote, die den modernistischen Serialismus, als eine Weiterführung der traditionellen Formästhetik,
mit der romantischen Gefühlsästhetik verbindet. Während eines Seminars antwortete er deshalb auf einer
Bemerkung eines Studenten der behauptete, er wäre in seiner Musik zu sehr auf seinen Instinkt, im
Gegensatz zu Analyse als kompositorisches Instrument, fixiert: “Ich glaube, es ist das Gegenteil. Ich
glaube, Instinkt ist Analyse […] Denken Sie darüber nach! […] Wenn ich hier sitze, sitze ich nicht wie ein
Idiot da, wenn ich ein Stück schreibe. Ich folge nicht irgendwelchen Instinkten. Welche Art von Instinkten?
Wenn ich irgendwelchen Instinkten folgen würde, würde ich die Note dann auf diese Weise herausfinden
[zieht die Nase hoch]? In meinen Augen benutzten Sie die Nase, wenn Sie auf Beutesuche sind, wenn Sie
irgendeine Art von Beutesuchen nachstellen”142. Für Feldman sind also der Komponist, der sein Publikum
einzuschüchtern versucht mit einem Appell an höherer Mächten und der Serialist, der tadellose Strukturen
komponiert, die (nur) logisch zu erklären sind, zwei Seiten derselben Münze. Das ist der Grund, weil
Feldman nicht nur den (deutschen) Kanon des 19. Jahrhunderts mit der Idee der Kunstreligion verbindet,
sondern auch die formalistischen und serialistischen Komponisten, weil er beide eine ritualisierte
Sehnsucht nach Einheit, die ersehnte “Beute”, vorwirft: “This obsessive emphasis on a ritual which has
become identical with the belief it symbolizes, leads us to only one conclusion – that music must be some
kind of religion. The mission of music is evidently to propagate the tenets of this religion. Schoenberg,
Stravinsky, Webern, Boulez – their fame is because they did exactly this”143.
Aber wie können wir Feldmans Beschreibungen der abstrakten Erfahrung interpretieren, bei den er selbst
nicht vor religiösen Metaphern zurückschreckt?
Auch Feldman bescheibt die shadows und vibes der abstrakten Erfahrung mit Metaphern des Göttlichen.
Von seiner Musik sagt er: “If I want my music to demonstrate anything, it is that ‘nature and human nature
are one’ . Unlike Stockhausen, I don’t feel called upon to forcefully ‘mediate’ between the two.
136
Idem, S. 46, Kursivdruck AA.
Idem, S. 46.
138 Idem, S. 46.
139 Idem, S. 47.
140 Idem, S. 47.
141 Idem, S. 60f.
142 Feldman in Claren, S. 516)
143 Idem, S. 28.
137
24
Stockhausen believes in Hegel; I believe in God. It is as simple as that”144. Er behauptet, dass die abstrakte
Erfahrung die einzig wirkliche religiöse Erfahrung bewirkt: “[W]hereas the literary kind of art, the kind we
are close to, is involved in the polemic we associate with religion, the Abstract Experience is really far
closer to the religious. It deals with the same mystery – reality – whatever you choose to call it”145. Der
entscheidene Punkt ist, dass die Einheit bei Feldman immer unerreichbar bleibt und, wie die Quoddität des
Jankélévitch, immer aufblitzt und wieder verschwindet. Die Einheit Feldmans, sowie seine eigene Idee des
Religiösen, ist wie gesagt spekulativer Natur: es gibt immer ein Loch im Ganzen – und es ist dieser “Kitzel
des Abgrunds”, an dem Feldman, genau im Geiste des Jankélévitch, interessiert ist. Zu diesem Kitzel sagt
er: “Ist es nicht so, daß wir – Komponisten und Zuhörer – in Wahrheit einen statischen Zustand anstreben?
Mit Gewalt einem Abgrund zugestoßen zu werden? Das Gefühl, daß die Erde flach ist, und daß wir in
einen von Dämonen bewohnten Abgrund stürzen könnten? Genau dieser Aspekt bei Varèse – die Tatsache,
daß ‘er mich in den Zusammenbruch treibt’ – ist es, den ich so aufregend finde. Varèse hat mich gelehrt,
daß die Technik die Fähigkeit ist, das zu erkennen, was mir zum ‘ich-selbst-sein’ fehlt”146. Feldman
wiederholt hier in gewisser Weise sein Plädoyer für die “dämonische” Wirkung des sound und für den
spekulativen Zustand des stasis. Mit Hilfe derselben Gedankenganges geht Feldman von einem Subjekt
aus, das nicht-Ganz ist, ohne eine unzweideutige Synthese nachzustreben. Die Einheit ist, wie bei
Jankélévitch, eine unmögliche Einheit zwischen zwei Gegenpolen – und diese spekulative Einheit macht
auch seinen Begriff der Kunst aus: “The only criterion for his kind of art is, how truly personal, how truly
omniscient is it”147; “ ‘nature and human nature are one’ […] I don’t feel called upon to forcefully
‘mediate’ between the two”148. In einer Anekdote underscheidet er auf derselben Weise den christlichen
und den jüdischen Gottesbegriff: “Maybe it’s because I’m Jewish; actually, the Christian point of view is
that there was God and then there was the world and the Jewish point of view is almost as if there was the
universe in order to have a God. It’s a little different. In other words I’m not creating music, it’s already
there, and I have this conversation with my material, you see”149. Feldman spielt also seine Rolle als
Schaffender herunter, im Geiste des Jankélévitch, der die Genialität eines Künstlers umschrieben hat als
“ein Wort, das der Homo poeticus oder Homo faber an präexistente Wesenheiten richtet, um sie sich
machen zu lassen”150. Diese Passivität gegeüber dem Abstrakten sieht Feldman als seine Sichtweise: “You
know there is a very funny conversation. Stockhausen asked for my secret, ‘What’s your secret?’ And I
said: ‘I don’t have any secret, but I do have a point of view, it’s that sounds are very much like people. And
if you / push them, they push you back. So, if I have a secret: don’t push the sounds around”151.
Dieser Abstand zum unbekannten “Blitz” erklärt auch die auf dem ersten Blick überraschende Erklärung
Feldmans, dass er in seinen graphischen Partituren, in den er die Kontrolle eines (oder mehreren)
musikalischen Parameters “freiläßt”, ganz entschieden eine gewisse Kontrolle nachstrebt: “[I] don’t want
to give up control”152. Er unterscheidet diese Art der Kontrolle von der Kontrolle der Formarbeit oder des
Materials: “Control of the material is not really control. It is merely a device that brings us the
psychological benefits of process – just as relinquishing control brings us nothing more than the
psychological benefits of a nonsystematic approach. In both cases, all we have gained is the intellectual
comfort of having made a decision – the psychological comfort of having arrived at a point of view. The
question at hand, the real question, is whether we will control the materials or choose instead to control the
experience”153. Der Komponist soll den Raum öffnen für die abstrakte Erfahrung, er soll diese Erfahrung
“machen lassen”. Die Kontrolle hat bei Feldman sowohl ein aktives wie ein passives Element – und genau
wie bei den unbestimmten Partituren Cages ist es nicht das Ziel Feldmans, den Interpreten völlige Freiheit
zu schenken.
Das Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität betrachtet Feldman als entscheidend für seine
kompositorische “Aktivität”: “The question continually on my mind all these years is: to what degree does
one give up control, and still keep that last vestige where one can call the work one’s own?”154. Eine
Antwort auf dieser Frage ist Feldmans Konzept des “Im-Material-Seins” des Künstlers – ein Konzept, das
144
Idem, S. 18.
Idem, S. 75.
146 Feldman 1985, S. 45.
147 Feldman 2000, S. 66.
148 Idem, S. 18.
149 Idem, S. 157.
150 Jankélévitch, Beinahe-Nichts, S. 178.
151 Feldman 2000, S. 157f.
152 Idem, S. 65.
153 Idem, S. 66.
154 Idem, S. 30.
145
25
von Varèse stammt: “Varèse expressed the […] idea […] when he said of himself and another man that he
wanted to be in the material, while the other man wanted to remain outside”155. Feldman verbindet also die
abstrakte Erfahrung, z.B. die Lebendigkeit der Gemälden Gustons, direkt mit dem Leben des Künstlers, der
im Material erfahrbar wird – und nicht als eine figurative Darstellung von Lebendigkeit oder eines
Künstlers.
Es wundert daher nicht, dass Feldman den berühmten Spruch der abstrakten Expressionisten – “down with
the masterpiece, up with art”156 – umarmen konnte: nicht die innere Vernünftigkeit des Meisterwerks,
sondern Kunst als (abstrakte) Erfahrung sollte betont werden. Das Abstrakte sollte sich zeigen – und dazu
sollte die Kontrolle des Künstlers über seinem Material (teilweise) mißlingen: “For art to succeed , its
creator must fail”.
Wer aber dennoch eine unzweideutige, fehlerlose Einheit nachstrebt, versucht laut Feldman, diese
fundamentelle Angst vor der Kunst (anxiety of art) zu vermeiden. Wer eine Einheit sucht, versucht einen
Halt zu finden, der es nicht gibt – und laut Feldman gibt es mannigfaltige Möglichkeiten, sich dennoch
diese Einheit vorzuspielen. Deshalb hechelt Feldman den Serialismus als einen illusionären Versuch, eine
Musik ohne Fehler zu schaffen. Aus demselben Grund kritisiert Feldman die Rolle der Musikgeschichte,
die der Serialismus historisch legitimieren sollte, obwohl laut ihn nur die ahistorische abstrakte Erfahrung
sinnvoll ist: “[T]he fact that a thing happened, that it exists in history, gives it an authority over us that has
nothing to do with its actual value or meaning”157. Die Musikgeschichte sei für viele Künstler ein
“Masterplan”, der Sicherheit bietet. Deshalb hat die Musikgeschichte “an irresistible attraction for him, in
that it offers him known goals, the illusion of safety in his work, the tempting knowlegde that nothing
succeeds in art – like someone else’s succes. In a word, because it relieves the anxiety of art”158.
Morton Feldman und die Buddha-Natur Cages
Mit Hilfe der skizzierten Ausgangspunkten seines ästhetischen Denkens können wir vielleicht auch
Feldmans ambivalente Beziehung mit der Ästhetik John Cages erklären. Wie gesagt wurde Feldman von
Cage in der New Yorker Künstlerwelt eingeführt; außerdem war er einer der wichtigsten Gesprächspartner
Feldmans. Es ist jedoch interessant, den Grund zu finden, warum er ihn während seiner Karriere sowohl
gepriesen wie kritisiert hat. Einerseits ist er zum Beispiel der Meinung, dass die Musik nach Cage und ihm
nie dieselbe sein wird, weil man “nicht mehr darüber diskutieren [kann], was im hierarchischen Sinne eine
Komposition ist”159; andererseits glaubt er, Cage sei “naiv”, weil er “das Kind mit den Bade [ausgeschüttet
hat]” 160– an anderer Stelle behauptet er: “The more interested I got in Cage’s music, the more detached I
became from his ideas” 161.
Feldman interessierte sich sehr für die experimentelle Seite der Musik Cages, weil Cage die Funktion der
Formarbeit radikal neuinterpretiert. Die ästhetische Position Cages können wir auffassen als eine radikale
Interpretation der Ästhetik des Schönen. Wir haben zwei Kennzeichnen des elevatorichen Prinzips
besprochen: die Formarbeit und die Souveränität der ästhetisierenden Attitüde. In gewisser Weise betont
Cage ausschliesslich die Souveränität und bekommt die Formarbeit eine negative Funktion. Die Form ist
nicht länger Inhalt der Musik, sie macht nicht länger ihren Sinn aus. Nicht die Form oder das schöne
“Werk” ist sinnvoll, sondern nur die reine Anschaung de Subjekts. Die Aktivität des Subjekts ist zwar
abhängig von seriellen Strukturen, aber anders als in der Tradition Hanslicks bestimmt die Struktur nicht
die Integrität des Werkes (und zeigt so die Integrität des Komponisten und des Zuhörers, die diese Integrität
hörend begleitet), sondern sie soll eine unbestimmte Erfahrung fördern. Die Struktur ist also negativ auf
sichselber bezogen: sie hat für sich keinen Sinn, sie hat nur eine Funktion im Bezug auf die Souveränität.
Das ist schliesslich ihr einziges Ziel: die Ermöglichung neuer Klänge ohne den Bezug auf bekannten,
musikalischen Systemen und Gemeinplätze – aber auch nicht auf der eigenen Struktur... Die von Hanslick
geförderte Immanenz der subjektiven Aktivität bleibt übrig als die einzige Instanz, die den Sinn eines
Klanges bestimmen kann: die bloße Aktivität – oder Akzeptanz, Zustimmung – des Subjekts wird als
155
Idem, S. 66.
Idem, S. 50.
157 Idem, S. 21.
158 Idem, S, 21.
159 Feldman, Middelburg Lecture, S. 37.
160 Idem, S. 23.
161 Feldman 2000, S. 96.
156
26
autonom gesetzt ohne Rückzug auf irgendwelcher (formalen) Kriterien für diese Aktivität. Diese sinnvolle
Haltung kann, aus dem Blickwinkel des westlichen Denkens, als affirmativ gesehen werden, weil sie jedem
Klang einen Wert zuschreiben kann; aber auch kann sie, aus dem Blickwinkel des östlichen Denkens, als
neutral oder tolerant betrachtet werden: man läßt dem Klang ihren eigenen Wert.
In gewisser Weise fallen aktive Bewertung und passive Neutralität ineinander. Dieser Wiederspruch wird
auch von Feldman besprochen. Er beobachtet, dass “not since Tolstoy has there been an artistic figure who
has made such an impression on the youth”162; der Grund für diese Popularität sei jedoch, dass die
ästhetische Position Cages nicht weniger “religiös” ist als die Ästhetik der Serialisten: “If art is selfeffacement to begin with, what Cage achieves is self-abolishment” und durch diese Haltung wird man
konfroniert mit “the end of the world, the end of art. That is the paradox. That this very self-abolishment
mirrors its opposite – an omniscient dogma of final things. It does suggest, it does have an aura, of art’s
final revelation”163. Feldman kritisiert Cages Ästhetik, da sie erneut eine Einheit nachstrebt, ein
“omniscient dogma of final things”. Anders gesagt: Cage sieht das aktive Subjekt im Rahmen einer
einheitsstiftenden Aktivität und widersetzt sich gegen dieser anderen Idee der Einheit, die Struktur und ihre
logische oder Geschmacksregeln – diese Auffassung Cages führt jedoch zu “a type of resignation. What he
has to teach is that just as there is no way to arrive at art, there is also no way not to […] ‘Everything is
music’”164. Feldman kritisiert die gleiche Struktur des Sinns der beiden Einheiten: “Just as there is an
implied decision in a precise and selective art, there is an equally implied decision allowing everything to
be art”165.
Seine eigene Stellungnahme gegenüber Cage ist leicht zu erklären mit Bezug auf Feldmans Ästhetik der
abstrakten Erfahrung. Laut ihn ist Cage zu weit gegangen, weil er die abstrakte Erfahrung negiert: “We said
earlier that the painter’s mastery consists in stepping aside and letting things be themselves. Cage stepped
aside to such a degree that we really see the end of the world, the end of art”166. Es ist wichtig, dass in den
Augen Feldmans die Dinge nur “lebendig” sein können, wenn die abstrakte Erfahrung anwesend ist – und
wir haben gesehen, dass man dazu bestimmte Techniken braucht, die eine statische Wirkung erzeugen
können. Diese spekulative Erfahrung ist bei Cage jedoch nicht (länger) die einzige sinnvolle Erfahrung; er
hebt die Zweideutigkeit diser Erfahrung auf. Dieser fundamentelle Unterschied zwischen dem Denken
Feldmans und Cages illustriert Feldman ausgerechnet mit einem Verweis auf Zen: “There is a Zen riddle
that replies to its own question: ‘Does a dog have the Buddha nature?’ the riddle asks. ‘Answer either way
and you lose your own Buddha nature’. Faced with a mystery about divinity, according to the riddle, we
must always hover, uncertain, between the two possible answers. Never, on pain of losing our own divinity,
are we allowed to decide. My quarrel with Cage is that he decided. A briljant student of Zen, he has
somehow missed this subtle point”167.
Between Categories
Wir werden in dieser Arbeit keine theoretische Analysen der Musik Feldmans vorzeigen. Wir hoffen
jedoch verdeutlicht zu haben, dass Feldman Idee der abstrakten Erfahrung den Ausgangspunkt ist für seine
musikalische Fragen. Er versucht während seiner Karriere, diese Erfahrung in den “konventionellen”
Parameter einfließen zu lassen: es ist seine Aufgaben, den sound, die Zeit und schliesslich die Form atmen
zu lassen und geht auf der Suche nach sound statt noise, Plastizität des Rhythmus und “Time Undisturbed”
statt einer rigiden aural plane des instrumentalen Attaques; sowie scale statt Form in seinen späten
Werken, in den Feldman auch das Verfahren der reiteration (statt Variation) der Pattern (statt eines
Themas) vorzeigt.
Mit diesen Begriffen versucht Feldman also, die abstrakte Erfahrung auf verschiedenen Ebenen “sich
machen zu lassen”, wie Jankélévitch es ausdrückte. Feldmans Begriffe haben allen zum Ziel, die
“buddhistische” Erfahrung “zwischen den Kategorien” zu ermöglichen.
162
Feldman 2000, S. 28.
Idem, S. 28f.
164 Idem, S. 29.
165 Idem, S. 29.
166 Idem, S. 28.
167 Idem, S. 28f.
163
27
Dritter Teil:
Feldmans späte Werke und der Horizont der
ästhetischen Interpretation
Sakrale Sehnsucht
Der Musikwissenschaftler Peter Niklas Wilson veröffentlichte 1992 in Musiktexte einen Aufsatz, der zu
einem stürmischen Protest einiger Leser und sogar zu einer “schriftlichen Androhung von Tätlichkeiten
eines der im Text Zitierten” führte168. In seinem Aufsatz versuchte Wilson die Frage zu beantworten,
warum Komponisten wie Luigi Nono und Morton Feldman in den 80. Jahren auf einer beträchtlichen
Anhängerschaft rechnen konnten. Er beobachtete, dass Menschen mit einem New Age Hintergrund für
diese Musik empfänglich schienen. Diese Beobachtung, die keineswegs Wilsons persönliche Meinung
widerspiegelte, löste eine heftige Debatte aus: einige Leser fühlten sich von Wilson beleidigt, nicht nur,
weil man den Vergleich zwischen den distinguierten Werken der beiden Komponisten und dritträngigen
New Age Musik als geschmackslos empfand, sondern auch, weil ein solcher Vergleich das kritische
Potential der Musik vernächlässigen würde. In einem späteren Aufsatz Sakrale Sehnsüchte beschreibt
Wilson die geäußerte Kritik und fasst diese Meinung zusammen: für die Kritiker ist “diese Musik […] ganz
im Gegenteil eine eminent politische, da sie in ihrer Sensibilisierung für die feinsten Nuancen des
Klingenden zum Politikum werde, zum Einspruch und zur bestimmten Negatium gegen die Abstumpfung
der Sinne in der kapitalistischen Medienkultur”169.
Interessant ist jedoch, dass Wilson diese Politisierung der Musik Feldmans in Rahmen einer Beobachtung
des “sakralen Sehnsuchts” des Publikums bespricht – und damit sind nicht nur die New Age Rezipienten,
sondern auch ihre Kritiker gemeint. Die Kritiker des New Age haben vielleicht Recht, wenn sie eine solche
Erfahrungsweise verurteilen – wahrscheinlich war Feldmans selbst derselbe Meinung, weil er das
schwärmische Nachstreben einer unzweideutigen Einheit ablehnte. Es geht aber nicht nur um die
Sensibilisierung der Hörerschaft, sondern um dem Sinn dieser Erfahrung, die philosophisch kommentiert
wird. Wilson zitiert den Musikkritiker Heinz-Klaus Metzger, der behauptet, dass Feldman sich in seinem
ersten Streichquartett beschäftigt mit der “Exploration eines spekulativen Zwischenbereichs […] zwischen
Etwas und Nichts”, mit als Ziel “die Ontologie insgesamt aus den Angeln zu heben”170. Solche
Auffassungen sind laut Wilson den Grund für ein fast religiöses Ritual, das bei einer Aufführung der Werke
des späten Feldmans (und Nonos) stattfindet: “Das Hören von Feldmans extrem langen und extrem leisen
Stücken der letzten Jahre im Konzertsaal – das ist ganz offenkundig kein allein ästhetischer Akt, sondern
ein rituelles Exerzitium, eine Iniationszeremonie, ja, ein Martyrium, dem sich der Feldman-Hörige in der
Hoffnung auf Besserung seines Seelenheils mit flagellantischer Freude aussetzt […] [F]eldmanPropagandisten [schildern] regelmäßig mit unüberhörbarer Genugtuung, wie das ‘heilige’ Werk die
Ungläubigen aus dem Konzertsaal jagt und somit die engere Gemeinde zum hörenden Dienst an der
klanglichen Offenbarung sammelt”171.
Wo Wilson beobachtet, fragen wir weiter. Warum soll diese Erfahrung überhaupt sinnvoll sein? – Das ist
die Frage, die jeder Zuhörer während eines der endlosen späten Werke Feldmans sich mal gefragt hat.
Warum sollten wir durchhalten? – eine Frage, die auch ein Fan wie Walter Zimmermann nicht ausweichen
kann172.
Natürlich sind vergleichbaren Frage in den anderen Künsten zu finden – wie auch andere Lösungen.
Nehmen wir die notorische Solo-Performance Lips of Thomas (1975) von Marina Abramovich, in der sie
sich nackt auszog und anfing sichselbst zu quälen: sie aß langsam ein Kilo-Glas Honig und trank dazu eine
ganze Flasche Rotwein; danach entstellte sie auch ihren auswendigen Körper auf verschiedenen Weisen,
Wilson, Peter Niklas, “Sakrale Sehnsüchte. Über den ‘unstillbaren ontologischen Durst’ in der Musik der Gegenwart”. In:
de la Motte-Haber, Helga: Musik und Religion. Laaber : Laaber-Verl. 1995, S. 266.
169 Idem, S. 262.
170 Idem, S. 263.
171 Idem, S. 264.
172 Vgl. Idem, S. 264.
168
28
bis zum Bluten. (Erst) nach zwei Stunden konnten (nur) einige Zuschauer es nicht länger vertragen und
ergriffen die Künstlerin und trugen sie weg. So endeten sie also die Performance… aber warum hat das
Feldman-Publikum nie auf dieser Weise eingegriffen? Warum haben sie nicht, nach zwei Stunden, die
gequälte Interpreten von ihren Podest befreit und aus den Raum weggetragen? Oder die Zuhörer dieser
Musik? Was nutzt es, diese Stunden auszusitzen, was macht aus ihr eine fast religiöse Erfahrung?
Das Ding als Reale
Um diese religiöse Erfahrung einsichtlich zu machen, werden wir zuerst eine Erfahrung besprechen, die
Kant das Erhabene genannt hat. In seiner Kritik der Urteilskraft setzt Kant das Erhabenen gegenüber dem
Schönen. Das Schöne begrenzt sich zu einem universellen Geschmack in den Künsten, während Kant das
Erhabene nicht mit Kunst, sondern mit der Gewalt der Natur verbindet: das Erleben einer schrecklichen
Sturm oder die Konfrontation mit den endlosen Gewässer der Ozeanen verursachen ein überwaltigendes
Gefühl: gegenüber diesen elemetarischen Mächte sind wir winzig und stehen wir machtlos. Die Essenz
dieser Macht nennt Kant das Ding-an-sich. Dieses Ding ist nicht empirisch wahrnehmbar, aber durch die
Erfahrung des Erhabenen können wir sie in der phänomenalen Welt wahrnehmen, in negativer Form. Diese
Negativität verursacht das Gefühl der Unlust: sie läßt uns erahnen, wie unerreichbar diese Macht ist – und
der Anblick dieser einheitlichen Macht schafft auch Lust, dass es eine solche Macht gibt. Diese Form des
Erhabenen ist also weit entfernt von einer Form der metaphysischen Schwärmerei oder eines New AgeDenkens, die nur Lust und keine Unlust kennt, Das Erhabene bricht die imaginierte Einheit, wie auch die
Kontrolle des Menschen über die Welt. Das zeigt sich laut Kant nicht nur im “dynamisch-Erhabenen” des
Sturms, sondern auch im “mathematisch-Erhabenen” der Mathematik – zum Beispiel die Unmöglichkeit,
die unendliche Zahl auszudrücken.
Wir können die Ursache dieses Bruchs jedoch nicht nur in der Naturgewalt oder dem Weltall, sondern in
unserer eigenen Nähe betrachten. In der Theorie des Psychoanalytikers Jacques Lacan, ein
vielbesprochener Nachfolger Freuds, wird das Ding als die Ebene des Realen beschrieben. Mit dem Realen
ist nicht die alltägliche Realität gemeint, es hat daher nichts mit dem Freudschen Realitätsprinzip zu tun.
Mit dem Realen meint Lacan gerade den Bruch im Alltag, die Desintegration einer Einheit. Diese
Erfahrung des Realen ist laut Lacan ständig anwesend in den anderen zwei Ebenen, die imaginäre und die
symbolische Ebene. Die imaginäre Ebene ist ganz besonders die Ebene, die ein extatisches Genießen
nachstrebt – aber sie wird immer mit seiner Unmöglichkeit konfrontiert, vom Einbruch des Realen
entnüchtert. Die symbolische Ebene zielt auf reibungslosen, geschlossenen Systemen, in den Teil und
Ganzen zusammenstimmen, wie eine organisierte Gesellschaft oder eine Sprache, in der die Bedeutung der
Worte genau festliegt, in der Signifikat und Signifikant übereinstimmen. Wäre diese Systeme tatsächlich
geschlossen, so gäbe es keinen Grund mehr zu Unlust, aber wären die Menschen im System völlig
desubjektiviert wie Automaten. Für Lacan ist das Reale auch den Bruch im symbolischen Netzwerk, das es
nicht gelingt, identisch mit sichselbst zu sein.
Die Ursache dieses Bruches findet den Psycho-Analytiker bei dem Mensch selbst. Das Reale ist nichts
anderes als die eigene Zerrissenheit des Subjekts und gerade diese Zerrissenheit is die “Form” des Subjekts.
Wir werden noch ausführlich auf Lacan zurückkommen. Es ist jetzt wichtig zu untersuchen, wie der
Mensch versucht, eine befriedigende Beziehung zu diesem Realen aufzubauen: Er ist aber besonders dazu
geneigt, den Bruch des Realen zu heilen und sich wieder in einer imaginären oder symbolischen Einheit zu
orientieren. Das leitet dazu, diesen Bruch eine religiöse Bedeutung zu geben. In diesem Fall wäre das Dingan-sich einfach ein Stellvertreter für einen Gott. Wir müssen uns an Nietzsches Gedanken zum Tod Gottes
erinnern: obwohl Gott tot ist, hat das Christentum diesen Tod überlebt. Man glaubt nicht mehr an Gott, aber
das Glauben ist iht verschwunden – der Gott als “Inhalt” ist verschwunden, aber die religiöse “Form” als
“sakrale Sehnsucht” ist geblieben173. Und die Suche nach einer Einheit treibt uns voran.
Mit Kants Begriff des Erhabenen fängt den avantgardischen Aufmarsch der modernen Kunst an als einen
wahrheitssuchenden Diskurs – eine Entwicklung, die Kant nicht vorausgesehen hat. Das Problem der
Avantgarde ist natürlich, dass sie dazu begrenzt ist, nur eine negative Darstellung zu geben.
Der Gedanke, Musik sei eine Möglichkeit, Kontakt mit einer Einheit, einer Fülle zu bekommen, ist ein
Thema, das nahezu unendlich variiert wird. Ein Beispiel: “Musik schließt den Gefühlen der Entwurzlung
173
Zupancic, Alenka: The Shortest Shadow. Nietzsche’s Philosophy of the Two. London ua.: MIT Press 2003, S. 35.
29
und Verwirrung, der Zerbrechlichkeit und Unvollendetheit. Wer sich nicht ganz zuhause fühlt auf unserer
Erde, sich nirgendwo niederläßt sondern immer unterwegs ist wie ein Pilger, der findet Trost in einem Lied
[…] Musik bringt Leben in einer endlichen Existenz. Sie kann dir helfen, gerade dank einer klaren
Erkenntnis der eigenen Endlichkeit, nicht wie ein toter Mensch inmitten des Lebens zu stehen […] Die
plötzliche Empfindung der Musik, diese Empfindung einer Fülle des Lebens die auch dir überreicht wird,
berührt den Nerv unserer Existenz, die, unausgesprochen oder sehr bewußt, uns ringen läßt mit der
Sterblichkeit und mit Gebrochenheit, Zerbrechlichkeit, mit einem unausweichbaren Mangel unserer
menschlichen Existenz”174. Das Zitat ist entnommen aus einem Buch über Rockmusik). Die Musik ist also
entweder eine unerreichbare Fülle, die zurückholen kann, was der Mensch anscheinend verloren hat, oder
sie ist die Erkenntnis dieser Unerreichbarkeit.
Die Musik Feldmans als Desintegration
Marion Saxer zieht anscheinend dieselbe Schlussfolgerung, wenn sie in ihren Essay Irdische Längen die
späte Werke Feldmans rezipiert: “Was Feldmans Patternkompositionen für Fehlinterpretationen so anfällig
macht, ist die Tatsache, dass er den rituellen Aspekt von Kunst nicht vollständig negiert, sondern integriert
und in das Paradox eines Rituals der Desintegration umdeutet”175. Saxer beschreibt in ihrem Essay, wie
diese Desintegration aus der “Spaltung des Selbstbewusstseins” hervorgeht, die die Individualisering ab
dem 19. Jahrhundert begleitete. Die Idee der In-Dividualität, die Un-Teilbarhet des Menschen, die in der
Philosophie Fichtes und Novalis postuliert wurde, wurde verlassen. Kierkegaard, ein Philosoph, dessen
Gedanken auch in den Geschriften Feldmans auftauchen, sprach inmitten des 19. Jahrhunderts nicht länger
von einer absoluten Subjektivität, sondern von einem absoluten Zweifel. Das Ziel der Kunst wurde
geändert: nicht länger sei sie ein Ausdruck der In-dividualität des Menschen, die Kunst solle jetzt auf der
Bewußtmaching dieser Spaltung zielen. In dieser Hinsicht steht die Musik Feldmans laut Saxer einem
“Aberglauben einer Klangontologie, für die den Klang selbst bereits ein an sich Seiendes oder gar Heiliges
verkörpert…”176 kritisch gegenüber.
Beim Publikum sieht Saxer jedoch, dass auf dem Prozeß der Individualisierung eine paradoxale
Entwicklung folgt: “Paradoxerweise führte gerade die Höherbewertung des Individuellen zu jener die
Öffentlichkeit prägenden Figur des passiven Beobachters […] Während sich in der nun individualisierten
und psychologisierten sozialen Interaktion die Empfindungen zu verwirren drohten und an Stabilität
verloren, bot die passive Beobachtersituation Schutz, ja es ließ sich aus ihr heraus eine Intensivierung der
Empfindungen erhoffen”177.
Wir können hinzufügen, dass die Erwartung des Publikums nach (einer neuen) Stabilität also vor allem von
imaginärer Art ist – was laut Feldman zu einem unlösbaren Problem führt. In einer Anekdote beschreibt er
die unersättliche Erwartung eines Künstlerpublikums: “[A]s you remember Orpheus was a popular poet. He
is like Frank Sinatra. He is in modern dress and he’s walking, down Paris streets and a girl stops him for an
autograph and he goes tot the avant-garde café and asks an elderly artist there what he is lacking. Why do
all the other artists ignore him when he comes in? What’s wrong with his work? And the old man hands
him a book and says this is the latest rage. He picks up the book and he’s looking at empty pages, you see,
and he is out of it somewhat, and he hands the book back to the old man who looks over and says to him,
‘Astonish us!’ ”178. In einem anderen Absatz erkennt Feldman die Ursache für diese paradoxe Forderung
des Neuen, diesmal bei dem Konzertpublikum: “The audience feels the loss in change more crucially than
the artist, because it loves art with the passionate love one gives a thing one can never really possess. What
it incessantly demands of the artist is for him to make up for this loss. But it is very hard for the artist. He
feels the audience is suffocating art with its love and concern. He doesn’t understand the nature of their
love, or the nature of their loss”179. Die Forderung nach dem Neuen (auf der symbolischen Ebene) hängt
also mit der Forderung eines Verlorenes (die Einheit auf der imaginären Ebene) zusammen.
174
Koenot, Jan: Voorbij de woorden. Essay over Rock, Cultuur en Religie. Averbode: Ten Have 1996, S. 21f; Übersetzung
aus dem Holländischen (AA).
175 Saxer, Marion, “Irdischen Längen. Zur Rezeption der späten Werke Morton Feldmans”. In: Barthelmes, Barbara (hrsg.):
Musik und Ritual. Fünf Kongreßbeiträge und ein Seminarbericht. Mainz [u.a.] : Schott 1999, S. 40.
176 Idem, S. 40.
177 Idem, S. 35.
178 Feldman 2000, S. 157.
179 Idem, S. 31.
30
Saxer vergleicht die paradoxe Erwartung des Publikum mit dem Ziel, den Feldman laut ihr nachstrebt:
“Nur indem Feldman seine Klangkonstellationen dem Prozess des ständigen neuen Fokussierens als einem
Prozess permanenter Desintegration unterwirft, kann er – seiner Überzeugung nach – etwas von der
Realität des Klanges erfahrbar machen. Feldmans Denken im Klang hat demnach mit dem Aberglauben
einer Klangontologie, für die der Klang selbst bereits ein an sich Seiendes oder gar Heiliges verkörpert,
nichts zu tun”. Was diese “Realität des Klanges” beinhaltet, erklärt Saxer nicht direkt, aber sie verbindet
das künstlerische Ziel Feldmans mit dem Samuel Becketts. Wie aus dem Beckett-Zitat Saxers klar wird, ist
Beckett noch immer auf der Suche nach einem möglichen positiven Erscheinung des Dings, auch wenn es
anscheinend unerreichbar ist: “[…] darum…sage ich es geduldig variierend, versuchend zu variieren, denn
man kann nie wissen, es handelt sich vielleicht nur darum, auf das richtige Aggregat zu stoßen. Um endlich
nicht mehr hier zu sein […]”180. Aber bis wir auf dem richtigen Aggregat gestoßen sind, müssen wir als
Rezipient den Ritual der Desintegration aussitzen.
Modernismus: Feldman und Beckett
Die Verbindung Beckett-Feldman wird oft benutzt um Feldman als ein später Modernist zu beschreiben,
wessen Wahrheit nur noch die negative Erscheinung des Dings ist. Laut Feldman hat der Künstler nur eine
Aufgabe: “To me, the artist has only one duty, only one duty and no thing other than that, and that one duty
is to strip away illusions about things” (Diese Worte sprach Feldman 1987 in Middelburg; sie sind das
Motto des Buches Neither von Sebastian Claren), damit man am Ende nur noch mit dem “Kitzel des
Abgrunds”181 konfrontiert wird.
Aber Feldman scheint radikaler vorzugehen als Beckett. Im vorgenannten Zitat äußerte Beckett die
Hoffnung, einst ein “richtiges Aggregat” zu finden, während Feldman lieber im Negativen verweilt.
Während Feldman seine Ähnlichkeiten mit Beckett betont, vergißt er nicht auf einem Unterschied zwischen
beiden zu weisen: “Aber ich muß etwas über mein Treffen mit Beckett erzählen [anläßlich der Oper
Neither, AA] und über das Gespräch, weil es sowohl witzig wie interessant in Bezug auf mein Vorgehen
ist, und weil ich mich sklavisch an seine Gefühle ebenso wie an meine halten wollte. Dennoch gab es
keinen Kompromiß, denn wir waren uns über sehr viele Dinge vollständig einig”182. Ein möglicher Grund
für die Unvereinbarkeit der “sklavischen” Gefühle gibt Feldman leider nicht, aber er kritisiert in einem
anderen Interview die gängige Verbindung zwischen Beckett und Existentialismus: “It's beyond
Existentialism, you see, because Existentialism is always looking for a way out, you know. If they feel that
God is dead, then long live humanity. Kind of Camus and Sartre. I mean, there's always a substitute to save
you in Existentialism. And I feel that Beckett is not involved with that, because there's nothing saving him.
For example […]: The subject [of the opera Neither] essentially is: whether you're in the shadows of
understanding or non-understanding. I mean, finally you're in the shadows. You're not going to arrive at
any understanding at all; you're just left there holding this -- the hot potato which is life. Now getting back
to my feeling about Beckett: I never liked any one else's approach to Beckett. I felt it was a little too easy; it
was a little too-- Again, they're treating him as if he's an Existentialist hero, rather than a Tragic hero”183.
Möglicherweise hat Feldman, während seinem Treffen mit Beckett, ein “sklavisches” Glauben Becketts an
einem richtigen Aggregat verurteilt… keine unmögliche Gedanke, da Feldman anscheinend einen
modernen Sehnsucht wie Becketts vermißt – einer der Kennzeichnen der Ästhetik Feldmans, die als
postmodern beurteilt sind.
Postmodernismus
In den Jahren, in den Feldman seine späte Werke schrieb, entbrannte eine Debatte um den erhabenen Kern
des Modernismus. Nach den enttäuschenden Resultaten der “großen Geschichten” und anderen utopischen
180
Beckett in Saxer 1999, S. 38.
Feldman 1985, S. 44.
182 Feldman in Saxer 1998, S. 241.
183 Feldman, Morton; Frost, Everett [Int]: The Note Man and the Word Man. An Interview with Morton Feldman about
Composing the Music for Samuel Beckett's Radio Play, Words and Music. http://www.cnvill.net/mfefrost.htm
181
31
Ziele der Moderne, waren es die sogenannte Postmodernisten, die die Desintegration dieser Geschichten als
befreiend interpretierten. Niet länger sollte man nach einer Einheit streben oder die Unerreichbarkeit der
modernen Ziele beweinen, sondern man rief dazu auf, die Pluralität der Meinungen zu genießen. Eine
höhere, durch allen geteilte Wahrheit gab es immerhin nicht mehr, die Welt war nur eine Sammlung von
aus Geschichte und Kultur gewachsenen Diskursen, die nicht selbstverständlich waren, sondern erlernt. Die
Postmoderne, in ihren verschiedenen Formen, fing am Anfang der 80. Jahren die Wind in den Flügeln, weil
die revolutionäre Geist der vergangenen Jahrzehnte, sowohl politisch als auch in der Kunst der Avantgarde,
verflogen war. Darum waren die Postmodernen schnell dazu bereit, die modernistische Ziele der Kunst
fallen zu lassen. Sie rief die Modernisten auf, “mit dem Pluralismus leben zu lernen”184.
Wolfgang Welsch zufolge ist die Postmoderne jedoch nicht entstanden aus dem Scheitern der Kunst,
sondern aus dessen Triumph. In seinem Essay Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist
der modernen Kunst behauptet er, dass das experimentelle Charakter der modernen Kunst seine logische
Konsequenz fand in einer postmodernen Welt, in der jeder auf kreativer Weise seine eigene Meinung
bestimmt: die ästhetische Kreativiteit verbreitete sich im Zeitalter der Postmoderne über die ganze
Gesellschaft, statt nur im Rahmen der Kunst eine Rolle zu spielen. Diese Betonung der Souveränität des
Ästhetischen bekam historischer Unterstützung, als am Ende der achtziger Jahren das kommunistische
Gesellschaftsidee von der Realität überholt wurde und die liberale westliche Demokratien ohne
Blutvergießen den ideologischen Krieg gewannen. Dieser Triumph über diese Ideologie, die sich so lange
als die Große Geschichte der Menschheit gesehen hatte, verstärkte das Gefühl von einer Ende der
Geschichte (Fukuyama) und gab den Prefix “post” noch mehr Gewicht.
Als Kennzeichnen des Postmodernismus nennt Welsch in seinem Essay die Kritik am Anthropozentrismus,
Logozentrismus, Monosemie (das heißt die “Monokultur des Sinns”) und am Visualprimat (das heißt die
“Prävalenz des Sehens) 185 – eine Kritik, die laut Welsch am besten von François Lyotard fomuliert sei.
Positiv beobachtet definiert der Postmodernismus sich laut Welsch durch fünf Begriffe. Der erste Begriff
ist Dekomposition. Lyotard beobachtete das Ziel der Malerei gerade als ihre Auflösung. Mit dieser
“Auflösung der Malerei” meinte er nicht einen Niedergang der Kunst, sondern die Auflösung der inneren
Grenzen der Kunst. Nicht länger war Kunst “nur” Kunst, sondern sie beschäftigte sich mehr und mehr mit
philosophischen Fragen. Lyotard behauptet, dass die moderne Kunst entstand aus dem Scheitern der
Philosophie, oder wie Adorno sagte, dass “Schönberg und Beckett” wichtige Figuren wurden “aufgrund
von Hegels Erbenlosigkeit”186. Die Dekomposition der Kunst wurde also möglich durch den reflexiven
Gehalt der modernen Kunst: nicht länger hatte sie nur zum Ziel die Wirklichkeit darzustellen, aber ihre
eigene Legitimation und Ziele zu hinterfragen: “[D]ie dramatische Erfahrung einer ‘geborstenen Realität’
[bildet] den Ausgangspunkt der künstlerischen Experimente. Das Zerplatzen der Wirklichkeit war ihre
Initialzündung. Wenn die moderne Malerei sich noch einmal auf Wirklichkeit bezieht, dann gerade, um zu
zeigen, wie wenig wirklich die Wirklichkeit ist, anders gesagt: um Nietzsches Lektion vom FiktionsCharakter alles Wirklichen bis in ihre äußersten Konsequenzen auszutragen”187.
Deswegen nehmt auch bei Lyotard das Erhabene einen wichtigen Platz ein, als Erfahrung des Realen.
Nicht das “bloße Sehen” oder das “bloß sinnlichen Wahrnehmen”188, sondern das Unsichtbare und
Unerreichbare des Erhabenen, mit der man sich reflexiv auseinandersetzen kann, wird betont. “Durch
diesen Zug zum Denken und durch die Aufmerksamkeit auf das Unsichtbare wird diese Kunst – zumindest
tendentiell – zu einer Kunst des Erhabenen, [welches] die ‘Erweckung des Gefühls eines übersinnlichen
Vermögens in uns’ bedeutet, welches die Fähigkeiten der Einbildungskraft prinzipiell überschreitet”189.
Lyotard betont daher das Erhabene als “das paradoxe ästhetische Gefühl eines Anästhetischen”190.
Diese Erfahrung des Erhabenen formt den Basis für das Experiment. Hier betont Welsch einen Unterschied
zwischen den modernen und postmodernen Begriffen des Erhabenen: “[E]s geht wohlgemerkt nicht um die
Darstellung einer Entität namens Undarstellbares, sondern um die Erfahrung, daß keine Darstellung
hinreichend, endgültig, definitiv ist […] Lyotard bemüht sich – so hat es Christine Pries formuliert – nicht
um das Metaphysisch-, sondern um das Kritisch-Erhabene. Lyotard vertritt keine Metaphysik der
Ein Kapitel aus Arthur C. Dantos Buch Kunst nach dem Ende der Kunst (1996) trägt den Titel: “Mit dem Pluralismus
leben lernen”.
185 Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken. Stuttgart : Reclam 19985 (Universal-Bibliothek ; 8681), S. 82.
186 Adorno in Welsch 1998, S. 86.
187 Welsch 1998, S. 87.
188 Idem, S. 88.
189 Idem, S. 88f.
190 Idem, S. 89.
184
32
Transzedenz, sondern eine Ontologie der unabsehbaren Möglichkeiten, und das Erhabene ist nicht vertikal,
sondern horizontal zu deklinieren und gewinnt genau dadurch kritische Funktion”191. Die Postmoderne
betont nicht sosehr die Unerreichbarkeit des Erhabenen, sondern das Erhabene als einen imaginären Raum
der unbegrenzten Möglichkeiten, den man verteidigen soll: “Alle Gestaltung bewegt sich vielmehr auf
einem ‘Boden’ von Nihilismus und in einem Raum unabschließbarer Potentialität. Diese Verfassung gilt es
gegen alle Kurzschlüsse zu bezeugen und zu verteidigen. Dies und nichs anderes meint das Erhabene im
postmodernen Sinne”192. Lyotard sieht das Ding als ein Vielheitsoption und nicht im Rahmen einer
Einheitssehnsucht. Welsch zufolge hat Lyotard “seinen ästhetischen Entwurf als affirmative Ästhetik
bezeichnet – in Absetzung von der negativen Ästhetik Adornos”193.
Eine postmoderne Kunst ist letztendlich nicht inhaltlich von einer modernistischen Kunst zu unterscheiden;
wir müssen sie vor allem als eine veränderte Attitüde definieren, wie wir später in diesem Teil behaupten
werden.
Eine postmoderne Interpretation Feldmans
Sabbe versucht, die Musik Feldmans auf den Punkt zu bringen. Er fängt an mit der Beobachtung, dass die
späten Werke Feldmans strukturell organisiert sind, aber nicht auf der “üblichen” Weise (der traditionellen
Formästhetik): sie ist nicht motivisch, “at least not in the original, etymological sense of ‘motif’ as a cause
for motion, i.e. for immediate univocally, directed action”194. Laut Sabbe ist “the fundamental Feldman
paradox: Each and every element of Feldman’s music is quite definite, whereas the constitution of fixed
significations through the establishment of relationships among those elements is being indefinitely
deferred (‘differ’ed)“195. Anders gesagt: die Identität der einzelnen Teilen wird nicht von einem
vernünftigen Ganzen bestimmt. Aber wie kann man in diesem Fall von einer Integrität des Werkes reden?
Sabbe versucht diese Paradox zu lösen, indem er die Musik Feldmans im Rahmen von Derridas
Metaphysik-Kritik analysiert. Diese Theorie könnte erklären, wie die einzelnen Pattern in einem Werk eine
Identität haben können, ohne in einem Ganzen aufgehen zu müssen. “Just as Derrida questions the one-toone relationship between the (verbal) notational sign and the definite mental content it would ‘express’ or
‘represent’ […] , Feldman’s music, to my mind, refuses the ultimate identification of idealised (sound)
objects”196. In dieser Beschreibung erkennen wir das postmoderne Erhabene als Vielheitsoption, als
unbegrenzte Potentialität. Sabbes Bemerkungen wecken sogar den Eindruck, dass er diese Potentialität eine
größere Bedeutung zudichtet als die musikalische Verwirklichung in Pattern: Feldmans Musik ist “a chain
of differences, not a system of (reciprocally related) oppositions of fixed, constituted, essentialised
meanings… The chain of differences is, in principle, unending […] The 6-hour quartet is but an excerpt –
albeit an exemplary one – of that ongoing, illimited chain of signifying differences” 197.
Die Tatsache, dass diese Musik “[is] not mediated through namebles […], is not naming and not naming
itself – certainly not as an emanation of self” erhebt die Musik als “an art of immediacy” 198. Diese
Unmittelbarkeit ermöglicht sound: “the positive fullness of sound and the continual glimmering through of
nothingness […] are [a] simultaneous and interdependent feature of [the music]”199: die von Welsch
beschriebenen “Boden des Nihilismus” ermöglicht diese Fülle des sound und formt als Ganzes den
Hintergrund für Teile, die nicht vernünftig zusammenhangen müssen. Wichtig ist, dass Sabbe auch die
ethische Haltung des Postmodernismus in Feldman erkennt: “[Feldman] has made [the sounds] associate,
made them resonate to each other. He has most stringently restricted their freedom: free to be there and to
stay as long as the one is not in the way of the other. And that has to be arranged! … He has not ‘set the
sounds free’. He may have contributed to freeing listening, though. His anti-consumptive, noise reducing
art – in which each successive sound or sound configuration is the outcome of a decision, an art of
191
Idem, S. 90f.
Idem, S. 91.
193 Idem, S. 95.
194 Sabbe, Herman, “The Feldman Paradoxes. A Deconstructionist View of Musical Aesthetics”. In: Thomas DeLio (hrsg):
The music of Morton Feldman. New York : Excelsior Music 1996, S. 10.
195 Idem, S. 11.
196 Idem, S. 12.
197 Idem, S. 11.
198 Idem, S. 12.
199 Idem, S. 13.
192
33
invention – embodies on of the great lessons in morality given in this century though the metaphorics of
music: the pairing of liberty and responsibility, of caring, longing attention and the disposition for
loneliness, of tolerance and the virtue of ‘patientia’ ”200. Feldman ist laut Feldman ein Beispiel eines
postmodernen Komponisten, die die Potentialität des Erhabenen verteidigt: “Feldman’s is certainly one of
the hardest achievements in human action: creating sense without establishing direction, in other words:
thoughtful action not directed, not dictated, not dependent on an outer cause […] [Feldman] has […] given
[man] a new responsibility and thus restored him to a new dignity”201.
Mit der Betonung der ethischen Haltung Feldmans darf es klar sein, dass Sabbes Idee des Postmodernen
von einer “anything goes”-Attitüde fernliegt. Laut Sabbe kann von einer völlig indeterminierten Musik
kann bei Feldman nicht die Rede sein: “[F]eldman does not leave anything to chance. What through his
music he endeavors to impart to us is not a sense of chance, but one of causation of a circular nature”202.
Diese zirkuläre Kausalität ist natürlich die Umkreisung des Dings-an-Sich (oder die sich wiederholende
Erfahrung des Beinahe-Nichts als eine Variation der Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen usw.) Es ist
diese zirkuläre Kausalität, die als authentisch eingestuft wird: “The immediacy, the im-mediate presence of
each single and unique sonority or sound event […] is absolute and unique. It cannot be repeated (‘repetitioned’). It irreversibly belongs to a present that has been”203.
Postmoderne Perfomativität
Sabbe versucht, einen Unterscheid zu machen zwischen der aktiven Haltung Feldmans und der passiven
Haltung Cages: “Unlike Cage, Feldman who, like Cage, has replaced man as a creature of nature in nature,
does not leave him there in tutelage, powerless, condemned to utter silence; he has also given him a new
responsibility and thus restored him to a new dignity”204. Aber gibt es eigentlich überhaupt ein besseres
Beispiel der postmodernen Performativität wenn nicht John Cage?
Wo Cage ab den 50. Jahren die indeterminierten “Strukturen” im Dienste der Emanzipation neuer
musikalischen Möglichkeiten stellte, findet am Anfang der siebziger Jahre eine Verlagerung im Denken
Cages statt. Cage schreibt in seinem bedeutenden Essay The Future of Music (1974): “For many years I’ve
noticed that music – as an activity separated from the rest of life – doesn’t enter my mind. Strictly musical
questions are no longer serious questions. It wasn’t always that way. When I was setting out to devote my
life to music, there still were battles to win within the field of music”205 . In der Musik sei jedoch den
Schlacht gewonnen; “anything goes”206. Die Musik hat dadurch einen Vorsprung genommen im Bezug auf
den von Cage gewünschten gesellschaftlichen Entwicklungen: “The openmindedness among composers
(which has affected performers and listeners too) is comparable and kin to the religious spirit. The religious
spirit must now become social so that all Mankind is seen as Family, Earth as Home. Music’s ancient
purpose – to sober and quiet the mind, thus making it suspectible to divine influences – is now to be
practiced in relation to the Mind of which through technological extension we all are part, a Mind, these
days, confused, disturbed, and split. Music has already taken steps in this direction, towards social
interaction, the nonpolitical togetherness of people”207. Weil die openmindedness in der Kunst so weit
entwickelt ist, sollte die Kunst die richtige Attitüde zeigen, die Musik “has to do with changing minds and
spirits”208 . Die ästhetische Passivität, die in den vergangenen Jahrzehnten die musikalische Experimenten
Cages ermöglichten, soll jetzt Gegenstand der Kompositionen werden, in der die Musik als Metapher für
die richtige Aktivität benutzt wird. ”By making musical situations which are analogies to desirable social
circumstances which we do not yet have, we make music suggestive and relevant to the serious questions
which face Mankind”209. Diese “musikalische Situationen” sollen keine direkte Kritik üben, sondern selbst
die richtige Attitüde zeigen – deshalb kritisiert Cage im Essay die kritische Musik Cardews, während er die
“performative” Musik Christian Wolffs preist.
200
Idem, S. 13.
Idem, S. 13-14; Kursivdruck AA.
202 Idem, S. 10.
203 Idem, S. 11.
204 Idem, S. 14f.
205 Cage, John. Empty Words.Writings '73-'78. Middletown : Wesleyan Univ. Pr. 1979, S. 177-178.
206 Idem, S. 178.
207 Idem, S. 181.
208 Idem, S. 187.
201
209
Idem, S. 183.
34
Cage komponiert ab den 70. Jahren Werke, die James Pritchett als “program music” bezeichnet hat210. Wo
die romantische Programmmusik eine Idee ausbilden versuchte, soll die Cagesche Programmmusik die
Attitüde veranschaulichen. Ein Beispiel dieser Programmmusik ist zum Beispiel Ryoanji (1983-1985), die
eine kontemplative Attitüde “ausbilden” soll, wie auch die “Number Pieces” der 80. Jahren. Ein anderes
Beispiel sind die Freeman Etudes und die Etudes Australes, deren Komplexität das Arbeiten (“work”)
zeigen soll: “Cage saw in musical virtuosity a chance for optimism”211. Cage selbst sagt über den Freeman
Etudes: “These are intentionally as difficult as I can make them, because I think we’re now surrounded by
very serious problems in the society, and we tend to think that the situation is hopeless and that it’s just
impossible to do something that will make everything turn out properly. So I think that this music, which is
almost impossible, gives an instance of the practibility of the impossible”.
Sowohl die Attitüde Feldmans wie die Attitüde Cages ist darauf gericht, die virtuelle Mannigfaltigkeit des
Erhabenen zu aktualisieren in einer endlosen Signifikantenketten – und beide betonen mit ihren Musik die
Attitüde, dies zu erreichen.
Moderne Performativität
Die moderne Performativität wird gekennzeichnet von der Unerreichbarkeit des Dings. Diese
Performativität ist notwendig, weil man sonst mit dem Realen des Dings konfrontiert würde. Sowohl
Marion Saxer wie Sebastian Claren verbinden Feldmans späten Werke mit dieser Art von Performativität –
und bei beiden spielt den Vergleich zwischen Feldman und Beckett eine entscheidene Rolle. Claren erklärt
seine Interpretation Feldmans anhand des Beckettschen Theaterstück Footfalls. Er beschreibt die
Handlungen der Hauptperson Mary auf der Bühne: “Durch die Bewegung des Hin- und Hergehens und
insbesondere durch das Geräusch der auftreffenden Füße versichert sich May ihre Existenz, die in dem
Moment, in deim ‘kein Laut’ mehr zu hören ist, zusätzlich in Frage gestellt ist”212. Durch diese Handlungen
sichert Mary ihre Existenz – ohne diese Aktivität würde sie verschwinden. Diese Thematik begegnet Claren
auch in dem Beckettschen Libretto der Oper Neither: “Genauso wie May sich durch den Klang ihrer Tritte
ihrer Existenz versichert und selbst verschwindet, wenn ihre Tritte verlöschen, gibt auch die ausgesparte
Person von Neither im gleichen Moment, in dem ihre ‘Tritte’ als ‘einziger Laut’ verschwinden und ‘kein
Laut’ übrigbleibt, nicht nur ihr Ringen um ‘Selbst’ und ‘Unselbst’, sondern zugleich ihre eigene Existenz
auf. Das ‘Weder’ als ‘unaussprechliches Heim’ am Ende von Neither ist also Becketts Metapher für den
Tod”213. Das Libretto von Neither ist laut Claren eine “poetisch-philosophische Formulierung”, die “im
wesentlichen darauf hinweist, daß es nur ein ‘Dazwischen’ als ‘Weder’ ohne die Möglichkeit eines
endgültigen Verständnisses der zugrundeliegenden Gegensätze gibt”214. Claren verbindet Feldman mit
dieser Haltung, weil auch er versucht, sich between categories aufzuhalten. Bei Claren hat den Begriff
Neither zwei Seiten. Einerseits ist sie ein Nichts und wird sie mit dem Tod in Verbindung gebracht,
andererseits ist das Neither ein Dazwischen, das gekennzeichnet wird von einer “Verwirrung zwischen
Material und Konstruktion und einer Verschmelzung von Methode und Anwendung”. Die absolute
Negativität des Realen soll immer vermieden werden, dazu soll das Subjekt immer Aktivität entwickeln,
wie das Hin- und Herlaufen von May, das vielleicht nutzlos scheint, aber den Abgrund fernhält. Die Spuren
dieser Bewegung haben an sich keine Bedeutung; nur die Bewegung selbst zählt, weil die Spuren
schliesslich ausgelöscht werden – ein Gedanke, die auch im franzözischen (Post)Strukturalismus geäußert
wurde, zum Beispiel (den von Sabbe genannten) Jacques Derrida und seine Idee einer unendlichen
Signifikantenketten, sowie Michel Foucaults “Tod des Menschen”.
Auch Marion Saxer vergleicht Feldman mit Beckett: “Den Kompositionen Feldmans liegt der gleiche
Selbstbewußtseinsbegriff, dem sich die Beckettschen Werke verdanken, zu Grunde… Wie Beckett
artikuliert auch Feldman das Selbst als prozessuales Geschehen” 215. Dieses Prozes ist die unendliche
Annäherung am Ding: “[D]as Selbst [kann sich] nur in diesem unabschließbaren Auseinanderfalten zu
einer unintegrierbaren Bilderfolge als wirklich erfahren. Denn es ist, nach Iser, ‘der Ausweis des
Wirklichen, daß es sich der Integration widersetzt. Das auf sich selbst gerichtete Bewußtsein wird zur
210
Pritchett, S. 189.
Idem, S. 188.
212 Claren, S. 38.
213 Idem, S. 39. Claren zitiert hier aus Footfalls en Neither.
214 Idem, S. 517.
215 Saxer, Marion, “Individuelle Mythologien und die Wahrheit des Materials. Meditative Musikformen”. In: de La MotteHaber, Helga: Musik des 20. Jahrhunderts 1975-2000. Laaber 2000 (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 4). S. 250.
211
35
Möglichkeit, dieses zu entdecken’ ”216. Darum sollen laut Saxer die “permanent sich erneuernden
Klangsituationen bzw. –muster [der Musik Feldmans] das Selbst als Prozeß vergegenwärtigen”217 . Diese
Form der Individualität unterscheidet sich von der “traditionellen, idealistischen Auffassung des
Selbstbewußtseins”, da die traditionelle Auffasung (und damit die traditionelle Ästhetik) auf die Idee einer
inneren Vernünftigkeit stützt: “In einem klassischen Werk kann ein abstraktes thematisches Substrat nur
dann als musikalisches Zeichen von Selbstbewußtsein gelten, wenn es die Integration funktional
unterschiedener und in der Unterscheidung aufeinander bezogener Teile zu leisten vermag. Die Einheit in
der Mannigfaltigkeit muß stets doppelt begründet sein: zum einen in der thematischen Substanz, aus deren
Differenzierung durch entwikkelnde Variation der Gestaltenreichtum eines Satzes hervorgeht, und zum
andren in der Form des Ganzen, die sich durch die Integration funktional unterschiedener und in der
Unterscheidung aufeinander bezogener Teile ergibt”218. Bei Feldman spiele aber die Performativität, die
Akt eine entscheidene Rolle: “Nicht der gesetzten musikalischen Gestalt kommt eine substantielle
Bedeutung innerhalb [der Werke Feldmans] zu, sondern dem Akt des Wiederholens und Veränderns. Weil
die einzelnen Klangsituationen als gesetzte niemals eine adäquate Repräsentation des Selbst zu leisten
vermögen, ist das kompositorische Bewußtsein dazu gezwungen, sie beständig zu modifizieren. Nur indem
der Komponist diesen Prozeß des Modifizierens in der Komposition selbst offenlegt, vermag er etwas von
der eigenen Wahrheit zu vergegenwärtigen”219. Ein Pattern ist also kein Teil eines Ganzen, sondern “eine
individuelle Spur seines Lebens […] Der Prozeß der Modifikationen der Pattern enthält die Chance seines
Wirklichwerdens, deshalb muß Feldman weitermachen. Hieraus erklärt sich die außenordentliche Länge
seiner späten Werke”220.
Modernismus und Postmodernismus als doublebind
Wir behaupten, dass der Prefix “post” des Postmodernismus wishful thinking gewesen ist. Der
Postmodernismus folgt nicht den Modernismus auf, sondern ist in gewisser Weise eine Variation des
elevatorischen Prinzips der traditionellen Ästhetik: das Subjekt sollte aktiv seine Welt gestalten, aber wo
die traditionelle Ästhetik dazu die Formarbeit als geeignetes Mittel sah, betonte der Postmodernismus eine
aktive Attitüde gegenüber dem Erhabenen als Vielheit, Potentialität, Virtualität, Mannigfaltigkeit oder
unendliche Signifikantenketten, in dem sich das Subjekt aktiv und “rhizomatisch” seinen Weg finden kann.
Das Subjekt schafft nur Wert im Bezug auf die Vielheit selbst, die laut Lyotard verteidigt werden muss;
alle anderen Erscheinungen haben nur historischer oder kultureller Bedeutung. Was zählt ist ein Glauben an
dieser Einheit als Vielheit. Das Problem ist aber, das auch hier das Reale einbricht und diese Cagesche
Akzeptanz des Geschehens nur in einer Monotomie der Andersheit resultiert, die das Subjekt die
Möglichkeit entnimmt, ein Subjekt zu sein statt nur einer desubjektivierten Attitüde.
Wo der Postmoderne einen Einklang zwischen Vielheit und Subjekt propagiert, stützt der raison d’être der
Modernisten auf die wiederholte Erkenntnis des Realen, die unerreichbare Einheit des Dings. Die
Interpretation einer körperlichen Erfahrung als eine Erkenntnis dieses Dings spielte in Marginal
Intersection sowie in Feldmans abstrakte Erfahrung eine entscheidene Rolle. Die wiederholte
Selbstbehauptung dem Realen gegenüber, die wir bei Feldman und Beckett besprochen haben und die das
Publikum während einer Ausführung ritualisiert, leidet bei Peter Niklas Wilson nicht ohne Grund zur
Verdacht des Religiösen.
Sowohl Modernismus wie Postmodernismus bestimmen schliesslich den Wert der Musik – das heißt, der
Sinn der Musik für uns – anhand des Dings (als postmoderne Fülle der Virtualität oder als modernes
Verfehlen des ersehnten Dings). Deswegen behaupten wir, dass Modernismus und Postmodernismus ein
doublebind sind, das heißt zwei Seiten derselben Münze sind. Sie können nicht nur beide aufeinanderfolgen
(auch der Modernismus kann eine Nachfolge des “Post”-modernismus sein, wenn jemand sich enttaüscht
von der postmodernen Monotonie der Andersheit abwendet), sondern sie haben auch den gleichen Kern,
dieselbe Legitimation ihres Sinns: das Ding als Reale. Dieses Reale bestimmt in gewisser Maßen das
Endpunkt der Ästhetik, da es für den einheitssuchenden Menschen keine andere sinnvolle Erfahrung geben
wird.
216
Idem, S. 249.
Idem, S. 250.
218 Idem, S. 250.
219 Idem, S. 251.
220 Idem, S. 252.
217
36
Trotzdem werden wir im letzen Teil dieser Arbeit versuchen, ein alternatives Ende der Ästhetik
vorzuschlagen, die nicht mehr an einem transzedenten oder virtuellen Ding verknüpft ist – wir untersuchen
die Möglichkeit einer athetischen Ästhetik.
37
Vierter Teil:
Das alternative Ende der Ästhetik
Einleitung
Wir werden eine Alternative beschreiben, die vielleicht der Obsession für das Reale entlaufen könnte. Wir
werden dazu die Grundlinien einer Theorie vorschlagen, die von Slavoj Zizek, ein Lacanscher Philosoph,
entwickelt wurde. Zizek greift dabei auch gern zurück auf Hegel, der laut ihn auf einer überraschenden
Weise über die Philosophie Kants hinausgeht.
Wir kehren zurück zu Kants Begriff des Erhabenen, um diesen Unterschied zwischen den zwei Philosophen
aufzuklären. Zizek nennt die Philosophie Kants eine “Ökonomie des Obsessionellen”. Das Wort Obsession
ist hier in seiner psychoanalytischen Bedeutung gemeint, und nicht in seiner alltäglicher Bedeutung:
normalerweise nennt man jemand obsediert, der völlig in einem Gegenstand oder Person aufgeht, während
Lacan hinzufügt, dass diese Obsession zum Ziel hat, das begehrte Ziel zu vermeiden. Wo Kant seine
Philosophie als Einleitung zu einer wirklich allumfassenden Wissenschaft betrachtet, interpretiert auch
Hegel, dass Kant nicht die letzte Hürde nehmen will und deswegen diese Suche selbst inszeniert, damit er
die Hürde vermeiden kann: “Hegel grows furious precisely because Kant was already there, within the
speculative principle, yet radically misrecognized the true dimension of his own act, and espoused the
worst metaphysical prejudices”221.
Wir kehren zum Erhabene zurück: was ist die Beziehung zwischen Kant und Hegel und auf welcher Weise
geht Hegel über Kant hinaus? Viele Philisophen sind der Meinung, dass Hegel ein Schritt zuweit gegangen
ist, weil er beabsichtigen würde, den Riß des Kantischen Dings-an-sich auf einer totalitären Weise wieder
zu schließen. Es wundert deshalb nicht, dass sowohl Modernisten wie (vor allem) Postmodernisten die
Philophie Hegels im Allgemeinen mit Argusaugen betrachten und man oft zu Kant zurückgreift (nicht nur
der postmoderne Philosoph Lyotard, sondern auch Modernisten wie Jürgen Habermas und Ullrich Beck
greifen auf Kant zurück). Aber laut Zizek ist diese Interpretation Hegels zu einfach – die Synthese Hegels
sei viel radikaler: er behauptet nämlich, dass “das Übersinnliche […] die Erscheinung als Erscheinung”
ist222. Lacan verdeutlicht die Problematik dieser Erscheinung mit Hilfe der Geschichte über die Maler
Zeuxis und Parrhasius aus der griechischen Mythologie: “Zeuxis and Parrhasius, painters of Ephesus in the
5th century BC, are reported in the Naturalis Historia of Pliny the Elder to have staged a contest to
determine which of the two was the greater artist. When Zeuxis unveiled his painting of grapes, they
appeared so luscious and inviting that birds flew down from the sky to peck at them. Zeuxis then asked
Parrhasius to pull aside the curtain from his painting. When it was discovered that the curtain itself was
Parrhasius' painting, Zeuxis was forced to concede defeat, for while his work had managed to fool the eyes
of birds, Parrhasius had deceived the eyes of an artist“223. Parrhasius gewinnt den Duell, weil er die
menschliche Eigenschaft ausnützt, die immer etwas jenseits des Scheins sucht. Zizek sagt dazu: “Die
Illusion, daß es hinter dem Vorgang etwas Verborgenes gäbe, ist reflexiv: Was sich hinter der Erscheinung
verbirgt, ist die Möglichkeit eben dieser Illusion; hinter dem Vorgang gibt es nichts, außer dem Glauben
des Subjekts an die Existenz oder Präsenz von etwas. Die Illusion, als ‘falsche’, befindet sich aber
tatsächlich in einem leeren Raum jenseits des Vorhangs. Sie hatte einen Ort eröffnet, an dem sie möglich
war, einen leeren Ort, den sie ausfüllte (etwa mit dem, was man das ‘Heilige’ nennt), an dem sich eine
illusorische Realität aufbauen konnte. ‘Wir’ können sehen, daß es dort, wo das Bewußtsein etwas zu sehen
glaubte, nichts gibt, aber unser Wissen konnte nur von dieser Illusion produziert werden, sie ist dessen
inneres Moment. Löst sich diese Illusion auf, so bleibt trotzdem der leere Ort, an dem sie möglich war: Es
gibt nichts jenseits der Erscheinung, außer diesem Nichts – und dies ist das Subjekt […] [D]as Subjekt (das
221
222
223
Zizek, Slavoj: The metastases of Enjoyment. On Women and Causality. London-New York: Verso 20052, S. 187.
Zizek, Slavoj: Der erhabenste aller Hysteriker. Lacans Rückkehr zu Hegel. Turia: Kant 1991, S. 118.
http://en.wikipedia.org/wiki/Zeuxis
38
Bewußtsein) möchte das Geheimnis hinter dem Vorgang ergründen, aber seine Bemühungen scheitern, da
es hinter dem Vorgang nichts gibt, ein Nichts, welches das Subjekt ist”224.
Verlust und Transferenz
Anders gesagt: unsere Immanenz bringt die Illusion einer Transzedenz hervor. Und vielleicht bietet uns
diese Erkenntnis auch eine Erklärung der Entstehung der Musik. Dieses Ereignis hat angefangen mit dem
menschlichen “Fall aus dem Paradies”. Dieser “Fall” war in gewisser Weise kein Verlust, aber ein
Moment, an dem der Mensch ein Zu-viel wurde: als die Gehirnmasse sich entwickelte und der Mensch
sozusagen eine Gehirnzelle zuviel bekam, so daß er imstande war, seine Existenz zu hinterfragen und über
seinen automatischen, instinktuellen Funktionen (fight-flight-food-fuck) hinauszugehen. In dem Moment,
als wir denken konnten, waren wir schon “verloren” – und dieser Verlust ist konstitutiv für den Menschen.
Das menschliche Zu-viel erzeugte ein Gefühl von Mangel, ein Verlust, das von einer transzendenten
Wahrheit aufgefüllt werden musste. Musik bekam eine wichtige Funktion in der Kommunikation mit den
Göttern, die Bewohner dieser transzedenten Ebene. In den zivilisierten Gesellschaften wurde diese Kunst
eine eigenständige Kunstform, die noch immer mit der transzedente Ebene verbunden werden konnte, aber
eine Eigenname bekam (μουσική).
Auf dieser Weise wurde Musik zu einer Äußerung des Jenseits. Ihr Sinn bekam sie durch die menschliche
Neigung zur Transferenz. Dieser Lacanscher Begriff bedeutet, dass man annehmt, dass man die Fülle der
Transzedenz, das “pure Genießen” (Lacan), in einem anderen Objekt finden kann: so gibt es Subjekte, dem
man unterstellt (“pur”) zu wissen/glauben/begehren. Auf derselber Weise passt das Subjekt diese
Transferenz auf die Musik zu: sie ist eine Kunst, der man unterstellt transzedental zu sein.
Das Ziel der modernen (und postmodernen) Kunst war, Auge im Auge zu stehen mit dem Ding in reinster
Form, hier und jetzt. Man könnte dieses Zeitalter der Kunst als ein “Purifizierungsversuch” darstellen. Wir
erinnern uns den reflexiven Charakter der (post)modernen Kunst, die sich die Frage nach ihrer eigenen
Identität stellte. Was ist zum Beispiel Musik? Eine Antwort wäre: eine bestimmtes “Aura”, denn alle
materielle, “inhaltliche” Eigenschaften der Kunst sind einwechselbar und bestimmen nicht ihre Essenz.
Denken wir dabei wieder an Marginal Intersection: auch wenn die Oszillatoren nicht spielen würden,
könnten wir sie trotzdem hören: selbst wenn es keine Musik gibt, sie nicht materiell anwesend ist, gibt es
dennoch Sinn… und in gewisser Weise definiert Cage die Bedeutung der Kunst nur auf dem Gebiet des
Sinns, die am reinsten in der alleinigen Aktivität des Subjektes zu finden ist. Das Subjekt braucht nur die
reine Anschauung; seine eigene Performativität schafft “Musik”.
Aber was würde passieren, wenn diese transzedente Ebene verschwindet, wir die Neigung zur Transzedenz
aufheben? Wenn die Musik ihre Bedeutung dieser transzedenten Versprechen verdankt, wie wäre sie noch
länger sinnvoll, wenn sie nicht mit dem Verlust verbunden ist?
Schritt Eins: Retroaktive Performativität
Laut Zizek weicht Hegel das Erhabene aus, indem er ein Konzept der retroaktiven Performativät
entwickelt225. Diese Performativität ist retroaktiv, weil sie zwei Gedankenbewegungen ausführt. Wir gehen
zuerst die Illusion der Transzedenz (These), darauf findet eine Negation dieser Transzedenz statt
(Antithese), die nicht zu einer Synthese führt, sondern uns züruck zum Anfangspunkt bringt, den wir erst
nach dieser Bewegung auf einer neuen Weise betrachten können. Unsere Zerrissenheit zwischen Geist und
Körper zwang uns, nach einer Synthese zu suchen, aber am Ende werden wir den Bruch zwischen beiden
anerkennen müssen. Im Vergleich zu einer Suche nach einer (imaginären oder symbolischen) Einheit ist die
retroaktive Performativität substraktif: der Gedanke, dass der Mensch seine authentische Einheit verloren
hat, wird beseitigt. Wir können dieses wichtige Ziel deshalb umschreiben als das Verlieren des Verlustes226.
Hegel geht auf dieser Weise über das Kantische Erhabene hinaus, das noch immer diesen Verlust einer
transzedente Position zuschreibt, sowie über die ästhetische Position Feldmans: eine Hegelsche Kritik
dieser Ästhetik wäre, dass die abstrakte Erfahrung nicht abstrakt genug ist, da sie noch immer am Realen
orientiert. Hegels Bewegung der retroaktiven Performativität hat nichts mit einer Erfahrung des Beinahe224
Zizek 1991, S. 119.
Idem, S. 38.
226 Idem, S. 25f.
225
39
Nichts zu tun: retroaktiv gesehen erreicht sie sogar weniger als nichts, weil sie zur Anfangssituation
zurückkehrt ohne die Illusion der Transzedenz.
Resultat: Das Subjekt als leere Form
Wie gesagt konfrontiert diese retroaktive Performativität das Subjekt mit seinem leeren Ort. Das Subjekt
wird in der Philosophie Hegels zu einem formalen Raum des Nichts. Bevor wir erklären, was damit
gemeint ist, ist es wichtig aufzumerken, dass diese Sichtweise auf das Subjekt auf radikaler Weise von
einer Subjekt der “Substanz”. Diese Sichtweise geht aus von einer subjektiven Kontakt zur Realen – anders
gesagt: sie vertritt die Meinung eines “tieferen Selbst”, das man empfinden (fühlen) kann während einer
extatischen Erfahrung, wenn man “mit sichselbst in Einklang ist”. Obwohl sowohl die Ästhetik des
Schönen wie die Ästhetik des Erhabenen diese Extase verurteilen, haben sie mit dieser Gefühlsästhetik
gemein, dass sie eine Empfindung des Realen nachstreben, ein “pures Genießen”, das man jedoch versucht
zu kontrollieren, weil ein direktes Kontakt mit dem Realen zu einer Desubjektivierung und zu Passivität
führt, wie diese Ästhetiken im Bezug auf der Musik Wagners kritisiert haben. Aber auch die traditionelle
Ästhetik des Schönen sowie die modernistische Ästhetik des Erhabenen halten an einer religiösen
Bedeutung dieser Empfindung fest – wie auch Feldman, der eine körperliche Empfindung der Sinnen als
eine “abstrakte Erfahrung” interpretiert, die er einer religiösen Bedeutung beimißt: diese Erfahrung ist nicht
nur “truly personal”, sondern auch “truly omniescient”. In gewisser Weise versuchen diese Ästhetiken das
Unmögliche, nämlich die Kontrolle über die Empfindung zu gelangen – und damit rationelle Kontrolle
über Lust und Unlust, besser gesagt: über den Sinn. Sie versuchen, die Reale Empfindung zu zähmen und
den Sinn zu postulieren mit einer imäginaren oder einer symbolischer Ebene, die die Desintegration des
Realen verdecken will. Das elevatorische Prinzip der traditionellen Ästhetik umfasst beide Ebenen: die
symbolische Formarbeit sowie die imaginäre Souveränität der ästhetischen Erfahrung. Aber es ist klar
geworden, dass beide Ebenen von einem Riß des Realen bedroht werden, eine Konfrontation mit ihren
“Fall aus dem Paradies” und ihre Sinnlosigkeit. Eine menschliche Performativität kann keinen Sinn
schaffen, sie schafft nur kognitiven Dissonanzen: sie versucht, sich zufrieden zu stellen mit einer
zivilisierten Erfahrung des Realen, aber mißt diese “verkleinerte” Erfahrung an der Fülle eben dieses
Realen. Mit Bezug auf der Idee der Fülle dieser Erfahrung “verliert” das Subjekt immer und ist es immer
ein Zu-Wenig.
Laut Hegel/Zizek ist das Subjekt aber kein Subjekt der (kontrollierten) Substanz. Das Subjekt ist nichts
anders als ein leerer Ort, das aufgefüllt werden muss – das Subjekt selbst kann konzeptionalisiert werden
als eine Form. Die Idee eines inneren Kerns des Genießens wird verworfen; das Subjekt wird formal
“entäußert”. Zizek ruft auf zu einer subjektiven Destitution; damit meint er folgendes: “Yes, we do have to
renounce the secret treasure in ourselves, the agalma that confers on us our innermost dignity – all those
things so dear to personalism […] ”227.
Das formale Subjekt als leere Form wird nicht länger ausgefühlt von einem (Verlangen nach dem) puren
Genießen des Realen, sondern von einem Objekt, das sowohl ein Schatz wie ein Stück Dreck sei. In
Lacanscher Terminologie heißt dieses Objekt das objet petit a, die Objekt-Ursache des Begehrens.
Schritt zwei: das Objekt kleine a
Was ist dieses Objekt kleine a? Es ist ein phänomenologisches Objekt, im breitesten Sinne des Wortes, das
von einer spezifischen Person höher bewertet wird als andere Objekte. Für Musikliebhaber ist dieses Objekt
natürlich Musik, aber dieses Objekt kann auch ein Partner sein, Briefmarken, Malerei, alte Uhren und so
weiter. Der Grund, warum ein Objekt a mehr geliebt wird als andere Objekte, ist nicht auf rationeller Weise
zu erklären – sie ist schliesslich unabhängig von ihren Eigenschaften. Es hat unbewußt und anscheinend
zufällig einen Wert bekommen. Wir Musikliebhaber haben nicht nach langen Denken entschlossen, das wir
Musik lieben: wir erinnern uns nur, dass wir schon mit dieser Liebe zur Musik kontrontiert sahen, bevor
wir diese Liebe reflektieren konnten – man denkt immer zu spät, wenn “es” schon passiert hat. Wir können
hinterher verschiedene Ursachen bedenken, die aber verhüllen, dass wir es eigentlich nicht wissen. Das
Objekt kleine a wird in der Lacanschen Psychoanalyse auch mit den Begriffen Trauma und Symptom
verbunden. Die Lacansche Interpretation dieser Begriffe weicht von der klassischen, Freudschen
227
Zizek 2005, S. 168.
40
Bedeutung ab: das Trauma oder Symptom ist nicht ein Zeichen oder ein (sexuelles) Ereignis aus der
Vergangenheit, die der Psycho-Analytiker deuten muss, wenn er die Problemen des Subjekts lösen will.
Das Objekt a hat nämlich keinen Grund; es ist nicht die Botschaft für etwas anderes. Es dankt seinen Sinn
an der Stelle, die es im leeren Raum des Subjekts einnimmt.
Objekt a als absoluter Zufall
Es ist wichtig aufzumerken, dass hier den Sinn nicht von einer Performativität des bewußten Subjekts
abhängig ist: das Subjekt ist nicht “frei”, diese Objekten zu wählen – wir haben zwar die Möglichkeit, uns
für bestimmte Sachen zu interessieren, aber wir können nicht bewußt wählen, welche Objekte uns
faszinieren, wie wir zum Beispiel nicht bewußt entschließen können, uns in jemandem zu verlieben. Unser
Subjekt dankt seine Konsistenz an einer zufälligen Teil, das für das Subjekt sinnvoll ist.
Hegel spricht von einem absoluten Zufall gegenüber das Zufällige: “Der Zufall, nicht das Zufällige sei
notwendig, und damit sei das bestimmte Zufällige kein Gegsntand eines substantiellen Interesses”228. Das
Zufällige könnte man vergleichen mit der postmodernen, kreativen Weltsicht; Hegel nimmt selbst die Natur
als Beispiel: “Die Herrschaft des Zufalls schlichthin ist die Natur. Daß es 122 und nicht 123 Hunderassen
gibt usw., ist Zufall – hier überschwemmt der nicht-begriffliche Zufall die logische Notwendigkeit […] Die
unaufhörliche Überschwemmung […], die unaufhörliche Produktion von Bastarde, die Kreuzungen
zwischen den unterschiedlichen Spezien, dies alles drückt keineswegs die kreative Macht der Natur aus,
sondern gerade ihre radikale Ohnmacht”229. Eine Cagesche ästhetische Akzeptanz dieser Mannigfaltigkeit
führt daher zu Sinnlosigkeit. Deswegen setzte schon Hegel dieses Zufällige als gleichgültig: das chaotische
Zufällige, das vom Subjekt der traditionellen Ästhetik vertilgt, gebändigt und geformt werden sollte, oder
von Cage einfach akzeptiert werden sollte, ist bei Hegel “kein Gegenstand eines substantiellen Interesses”:
einer postmodernen Verehrung des Erhabenen als Potentialität, als Mannigfaltigkeit, als unendliche
Signifikantenketten, steht die Hegelsche Position fern. Laut Zizek betont Hegel die Abhängigkeit der
menschlichen “Struktur” von einem Zufall: “Nur durch ein kontingentes Element, durch dessen materielle,
leblose, positive Gegebenheit, kann sich die formelle Struktur verwirklichen”230. Dieses Element ist das
Objekt kleine a der Psychoanalyse: sie ist materiell und eine positive Gegenheit, auch oder gerade weil sie
“leblos” ist, sie also nicht in Verbindung steht mit einer angeblich empfundenen Einheit: das Objekt soll
zum Beispiel nicht das Beinahe-Nichts “atmen”, sie kommt ohne die Illusion einer Elan vital aus.
Imaginäre und symbolische Konsistenz des Subjekts in der Lacanschen
Psychoanalyse
Die Objekten a eines Subjekt – Objekten, die wir unbewußt auserwählt haben – stiften nicht nur Sinn ohne
einen Hang zu einem Jenseits; sie schaffen auch eine Konsistenz im Begehren des Subjekts, die von einem
ewigen Nachjagen des Realen nicht erreicht werden kann: das Objekt a ist einen “partikularen
’pathologischen’ Tick, der letztendlich die einzige Stütze [unsereres] Daseins bildet”231 .
Laut Zizek erscheint das Reale (R) jetzt nicht im eigenen Gestalt, als Bruch einer Einheit, sondern findet
man es zurück in der imaginären-phänomenalen Ebene, als Objekt a (RI), und in der symbolischstrukturellen Ebene, als die Struktur des Begehrens des Subjekts (RS). Das Objekt a (RI) bekommt seine
Bedeutung, weil es sich in der Struktur des Subjekts (RS) aufhält. Das Subjekt ist also nicht substantiell
definiert, er hat keinen Elan vital mit dem er bewußt Sinn schaffen könnte. Die Lacansche Psychoanalyse
hat also nichts zu tun mit der modernen und postmodernen Performativität, die gezwungen sind, ständig
Sinn zu schaffen im Bezug auf dem sinns-destruktiven Realen: weil einige faszinierende Objekte für ein
Subjekt eine einzigartige Bedeutung bekommen, ist er auch imstande, die andere “zufällige” Objekte als
nur interessant oder sogar gleichgütltig abzutun. In gewisser Weise findet eine Umkehrung der
romantischen Ästhetik statt: nicht länger ist es das Ziel des Subjekts, die alltägliche Problemen zu
entfliehen in der zeitweiligen Extase der Musik, die dieses Problem zeitlich (er-)löst – es ist jetzt gerade die
228
Henrich in Zizek 1991, S. 37.
Idem, S. 36.
230 Idem, S. 42f.
231 Zizek 1990, S. 27.
229
41
alltägliche Welt, die höchtens “interessant” ist, während die Musik den Status eines faszinierenden
Problems gekommen hat.
Das Lacansche Subjekt erwartet also keine Erlösung mit Hilfe der Musik, er strebt auch keine moderne
Erkenntnis der Unmöglichkeit dieser Erlösung nach, noch feiert er das Zufällige der postmodernen
Potentialität des Realen oder leidet er unter einer Obsession der performativen Sinngebung. Sowohl RI wie
RS schaffen das Subjekt aber eine sinnvolle Konsistenz: die Real-Symbolische Ebene zeigt uns die
universellen Struktur vom Begehren des Menschen, das heißt, wie sie begehren; was wir begehren, sind die
Objekte kleine a als konsistenten Objekt-Ursachen unseres Begehrens, da. Der Sinn für ein Subjekt ist also
auf zwei Weisen “entäußert”: im Objekt und in der asubjektiven, nonsubstantiellen Struktur.
Die Immanenz der Zwei
Das Objekt a ist, wenn wir die Worten Hegels benutzten, “die Erscheinung als Erscheinung”232 . Es dürfte
klar sein, das hiermit eine Erscheinung ohne die Illusion des Scheins gemeint ist: die Erscheinung ist nur
immanent, ohne die Illusion der Transzedenz. Aber wir meinen mit dieser Erscheinung als Erscheinung
auch nicht das Objekt in bloß materieller Hinsicht: die Erscheinung des Objekten a ist natürlich
phänomenologisch/empirisch, sondern wird für uns verdoppelt, weil wir sie auch eine Erscheinung einer
Wert betrachten. Wenn wir retroaktiv-performativ unsere Erfahrung der Musik als Objekt a beschreiben,
fängen wir bei der Ausgangsposition an: die Musik ist eigentlich nur ein empirisches Phänomen – es sind
bloß Schallwellen, aber wir haben den Gefühl, dass etwas “Heiliges” hinter diesen Schallwellen steckt.
Diese Illusion der Transzedenz wird beseitigt und wir finden uns retroaktiv wieder in der Ausgangslage, in
der die Schallwellen noch immer ein empirisches Phänonem sind, aber noch immer einer besonderen Wert
zugesprochen werden, die aber nicht länger transzedent sein kann. Der Lacanianer Alain Badiou spricht
deswegen von einer “Immanenz der Zwei”233: die zwei Erscheinungen der Musik, als materielle und als
sinnvolle Erscheinung, befinden sich auf derselber Ebene, ohne ein Hinweis auf einem außermusikalischen
Höheren.
Es gibt also keine substantielle Synthese zwischen Subjekt und Objekt a: das Subjekt wird konfrontiert von
zwei Erscheinungen desselben Objekts: das Objekt in seiner blöden, “leblose” materiellen Existenz und in
seinem wertvollen Erscheinung. Deswegen müssen wir laut Zizek dieses wertvolle Objekt nicht als eine
Fülle sehen, sondern auch als bloße Empirie – oder, wie Zizek es formuliert: wir sollten es in einem Stück
Drecl verwandeln: “Yes, we do have to renounce the secret treasure in ourselves, the agalma that confers
on us our innermost dignity – all those things so dear to personalism; we do have to undergo the conversion
of this treasure into a ‘piece of shit’ , into a stinking excrement, and identify with it”234.
Feldman hören
Der Zuhörer eines endlosen Werkes Feldmans erzeugt einen Sinn dieser Erfahrung anhand seiner
ästhetischen Gesinnung: man könnte das Stück strukturell hören, auf der Weise des begleitenden Hörens
der Ästhetik Hanslicks; man könnte es als einen Teil der endlosen Signifikantenketten hören oder als Ritual
der Desintegration.
Aber wir können Feldmans Musik auch im Sinne Lacans hören, besonders, weil diese Musik den Sinn des
Musikhörens ernsthaft in Frage stellt. Die Musik, als Immanenz der Zwei, verdoppelt durch den
Feldmanschen Technik der scale. Die Schönheit der nonfunktionalen Harmonie der Musik Feldmans ändert
sich nicht, aber nach mehreren Stunden stellt man dieselbe Klänge, die vorher noch schön waren, im Frage,
da sie jetzt auch Unlust erschaffen. Die Verdopplung hat zu Folge, dass die "treasure" der Musik sich in
einem " 'piece of shit, into a stinking excrement' verwandelt.
Die Musik Feldmans durchquert die Phantasie der Musik auf der Weise, die wir in diesem Teil beschrieben
haben. Während der endlosen Musik wird uns klar, dass es keine Schlussfolgerung, keine Einheit geben
wird – dies wird bewirkt von der scale der Länge sowie die Patternstruktur, die die Illusion der
Transzedenz vereitelt. Die Aufhebung der Illusion der Transzedenz geschieht also anscheinend äußerst
undramatisch; die Taktik Feldmans ist eine subtraktive. Der zweite Schritt macht uns aber deutlich, dass die
232
Zizek 1991, S. 118.
Vgl Zupancic, S. 168.
234 Zizek 2005, S. 168.
233
42
Desintegration, der Bruch in der erwünschten Einheit der Musik, schon das Subjekt selbst ist: es ist die
Veräußerung des Subjekts in einem wertvollen Objekts, dem Objekt kleine a, das den leeren Ort des
Subjekts auffüllt. Wir müssen uns für eine Angst vor der Kunst nicht fürchten – unsere Bindung an Musik
als Objekt a reicht dafür aus.
Feldmans Musik zeigt die Verdopplung der Erscheinung und demonstriert die retroaktive Performativität
des Subjekts. Der Bruch in der Musik ist schon das Subjekt selbst und schafft schon ihren Sinn. Wenn
Musik unser Objekt petit a ist, werden wir nicht aufhören können, diese Musik zu hinterfragen und
experimentelle Versuchen zu unternehmen, weil Musik die Konsistenz unserer Existenz bildet, weil sie uns
definiert, statt wir die Musik. Sie ist nicht länger souverän für alle; die Wahrheit liegt nicht einer
allgemeinen elevatorische Attitüde, sondern bei den Objekten, die wichtig für uns sind. Nicht die Musik ist
universell – sie ist als Objekt kleine a nur subjektiv – sondern die Struktur des Subjekts, die von diesen
Objekten a abhängig ist, wenn sie sich nicht dem Realen aussetzen will.
Auch für den Komponisten bedeutet es, dass er eine unendliche experimentelle Attitüde einnimmt
gegenüber dem Musik, die er nicht "erreichen" will, sondern die schon seinen Objekt kleine a ist. Feldman
selbst nennt sich ein Abenteurer im Rahmen seinem Objektes, der Musik: "Freud's great remark: he never
referred to himself as a scientist. He always called himself an adventurer. I always liked that. Because I'm a
adventurer"235
Vielleicht ist nur eine solche Ästhetik eine wirklich atheistische Ästhetik – und ein alternatives Ende der
Ästhetik.
235
Feldman 1985, S. 196.
43
Literatur
Cage, John. Empty Words.Writings '73-'78. Middletown : Wesleyan Univ. Pr. 1979.
Claren, Sebastian: Neither. Die Musik Morton Feldmans. Hofheim : Wolke 2000. . -Zugl.: Berlin, Freie
Univ., Diss., 1996.
Feldman, Morton; Friedman, B.H. (hrsg.): Give my regards to Eighth Street : collected writings of Morton
Feldman. Cambridge : Exact Change 2000.
Feldman, Morton; Zimmermann, Walter (hrsg.): Morton Feldman Essays. Kerpen : Beginner Press 1985.
Feldman, Morton; Whiticker, Michael [Int]: Conversations without Cage.
http://www.cnvill.net/mfwhtckr.htm
Feldman, Morton; Frost, Everett [Int]: The Note Man and the Word Man.
An Interview with Morton Feldman about Composing the Music for Samuel Beckett's Radio Play, Words
and Music. http://www.cnvill.net/mfefrost.htm
Feldman, Morton, “Middelburg Lecture”. In: Metzger, Heinz-Klaus (hrsg.): Morton Feldman.
München : Ed. Text + Kritik 1986, Musik-Konzepte 48/49, S. 3-63.
Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen : ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst.
Wiesbaden : Härtel, 197518.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich u.a., “Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus”. In: Jamme,
Christoph; Schneider, Helmut (hrsg.): ”Mythologie der Vernunft. Hegels ‘ältestes Systemprogramm des
deutschen Idealismus. Frankfurt aM: Suhrkamp 1984.
Jankélévitch, Vladimir, “Das ‘Beinahe-Nichts’ ”. In: Jankélévitch, Vladimir; Konersmann, Ralf (hrsg.):
Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie. Frankfurt aM. : Suhrkamp 2003.
Jankélévitch, Vladimir: Music and the ineffable. Princeton [u.a.] : Princeton Univ. Press, 2003.
Koenot, Jan: Voorbij de woorden. Essay over Rock, Cultuur en Religie. Averbode: Ten Have 1996.
Pritchett, James: The music of John Cage. Cambridge : Univ. Press 1993.
Sabbe, Herman, “The Feldman Paradoxes. A Deconstructionist View of Musical Aesthetics”. In: Thomas
DeLio (hrsg): The music of Morton Feldman. New York : Excelsior Music 1996, S. 9-15.
Saxer, Marion: Between categories. Studien zum Komponieren Morton Feldmans von 1951 bis 1977.
Saarbrücken : Pfau 1998. Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Diss., 1997.
Saxer, Marion, “Irdischen Längen. Zur Rezeption der späten Werke Morton Feldmans”. In: Barthelmes,
Barbara (hrsg.): Musik und Ritual. Fünf Kongreßbeiträge und ein Seminarbericht. Mainz
[u.a.] : Schott 1999, S. 31-40.
Saxer, Marion, “Individuelle Mythologien und die Wahrheit des Materials. Meditative Musikformen”. In:
de La Motte-Haber, Helga: Musik des 20. Jahrhunderts 1975-2000. Laaber 2000 (Handbuch der Musik im
20. Jahrhundert 4). S. 247-280
Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken. Stuttgart : Reclam 19985 (Universal-Bibliothek ; 8681).
44
Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart : Reclam 1996 (Universal-Bibliothek ; 9612).
Wilson, Peter Niklas, “Sakrale Sehnsüchte. Über den ‘unstillbaren ontologischen Durst’ in der Musik der
Gegenwart”. In: de la Motte-Haber, Helga: Musik und Religion. Laaber : Laaber-Verl. 1995, S. 251-266.
Zizek, Slavoj: Der erhabenste aller Hysteriker. Lacans Rückkehr zu Hegel. Turia: Kant 1991.
Zizek, Slavoj: The metastases of Enjoyment. On Women and Causality. London-New York: Verso 20052.
Zizek, Slavoj: The Plague of Phantasies. London-New York: Verso 1997.
Zizek, Slavoj: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien.
Berlin : Merve-Verl. 1991 (Internationaler Merve-Diskurs ; 161).
Zupancic, Alenka: The Shortest Shadow. Nietzsche’s Philosophy of the Two. London ua.: MIT Press 2003.
45
Herunterladen