Wie kann man die Rede vom Buch des Lebens - RPI

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Rolf Sistermann:
Umgang mit dem Wissen um den Tod, Unterrichtsreihe- Sek. II, in: Religion heute, 65/2006
I.
Ein Videoclip als „Memento mori!“? Robbie Williams’ Musikvideo „Come undone“ zeigt am Anfang
Bilder, die zwar heftig, aber nicht ungewöhnlich sind. Der Morgen nach einer wüsten Party in einem
Haus der Reichen und Schönen hoch über Los Angeles. Leere Flaschen überall, ein Sessel schwimmt
im Pool, halb oder ganz nackte verschlungen schlafende Leiber auf den Sofas oder in den Sesseln. Der
Sänger streift verkatert durch das Haus. Szenen der wüsten Orgie, die in der Nacht gelaufen ist,
werden wie Erinnerungsfetzen eingeblendet. Dann sieht man plötzlich ein hässliches großes Insekt auf
dem makellosen Gesicht einer jungen Frau. Der Betrachter ist sich erst nicht sicher, ob er sich
getäuscht hat. Aber dann tauchen zwischen den nackten, schönen Frauenleibern und aus den offenen
Mündern plötzlich immer mehr eklige Tiere auf, Spinnen, Würmer und Schlangen. Zwischendurch
auch kurz eingeblendet ein Totenschädel. Erleben wir einen Deliriumtraum oder ist das etwa eine
Anspielung auf die spätmittelalterlichen Darstellungen der Frau Welt, die von vorne ein
verführerisches Angesicht, von hinten einen von Maden zerfressenen Rücken zeigt? Man kann sich an
barocke „Memento Mori!“ Gedichte erinnert fühlen. Der Text spricht das Thema Tod an: „I’ not
scared of dying, I just don’t want to.“ Den Refrain „I come undone“ kann man mit „Ich geh kaputt“
übersetzen.
Noch weniger würde man das Video von Marius Müller- Westernhagen „Nimm mich mit“ in einem
Musikvideosender erwarten. Am Anfang wischt jemand eine Staub- oder Erdschicht von einer
Schiefertafel. Dann wird ein neugeborenes Baby auf die Tafel gelegt, das sich schnell verändert und
älter wird. Links oben auf der Tafel kann man die Zahl der Lebensjahre der Person ablesen, die
unbeweglich mit nacktem Oberkörper auf der Tafel liegt. Bei der Zahl zwanzig erkennt man schon
deutlich die Züge des Sängers. Die Veränderung der Gestalt führt jedoch nicht etwa bis zu seinem
jetzigen Lebensalter, sondern zeigt ihn auch als Greis, bis er schließlich mit 93 Jahren stirbt und ihm
jemand die Augenlider zudrückt. Aber die Veränderung geht weiter. Wir sehen, wie die Gestalt
verwest, wie das Skelett auseinander fällt und schließlich in der Staubschicht verschwindet, die wir
schon am Anfang gesehen haben.
Drittes Beispiel dafür, dass Musikmacher längst begriffen haben, dass der Umgang mit dem Wissen
um den Tod ein Thema für Jugendliche ist: „Hey boys, hey girls“ von den Chemical Brothers. Der
Text gibt nicht mehr her als die nichtssagende Eingangszeile, aber die Bildgeschichte ist perfekt
zusammengeschnitten. Ein junges Mädchen entdeckt bei einem Besuch im Naturkundemuseum und
beim Röntgen, nachdem sie sich einen Arm gebrochen hat, die Ähnlichkeit ihres Skeletts mit all den
anderen toten Lebewesen. Später bei dem Besuch in der Disko, bei der Anmache an der Theke, auf der
Damentoilette oder bei Suche nach einem Taxi sieht sie immer wieder, wie die Menschen sich in
Skelette verwandeln. Anscheinend kommt sie von dem Gedanken nicht los, dass in allen Lebewesen
der Tod steckt. Ist sie davon besessen oder kann sie gut damit leben? Als sie sich am Schluss in ein
Taxi fallen lässt und ein Skelett sich umdreht und fragt „Where are you going, baby?“ wirkt sie
eigentümlich gelassen.
II.
In dem monumentalen Werk über die Geschichte des Todes von Ariès heißt es: »Der Tod hat
aufgehört, als natürliches und notwendiges Phänomen zu gelten. Er ist ein Fehlschlag, ein business
lost... Wenn der Tod eintritt, wird er als Zwischenfall aufgefasst, als Zeichen ärztlicher Unfähigkeit
oder Ungeschicklichkeit...« (Ph. Ariès, 1982, 751) Ariès hat wohl recht, wenn er behauptet, dass seit
der Aufklärung der Tod aus dem Alltag verdrängt wird. An die Stelle der Auseinandersetzung mit dem
Tod im Alltag sind jedoch Inszenierungen des Todes in der Literatur, im Fernsehen und im Kino
getreten. Der Eindruck von der
Allgegenwart des Todes drängt sich vor allem in den
Nachrichtensendungen auf. Unfälle, Katastrophen, Terroranschläge und Krieg sind beherrschende
Themen. Je mehr Tote, desto größer ist der Stellenwert. „Not und Leid, Sterben und Tod sind wie
Mosaiksteine für ein großes Unterhaltungstableau gebührenzahlender Bürger, die für ihr „Geld auch
was haben“ wollen – und dies auch bekommen.“ (Hartmut Kriege, Deutschlandfunk Köln, Impulse
1994, Nr 32) Die Verdrängung des Todes aus dem Alltagsleben hat die Frage Hamlets nach dem
"unentdeckten Land, von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt," nicht verstummen lassen. Wir
können vielleicht den Tod aus dem Alltag verdrängen, aber nicht das Wissen um unsere Sterblichkeit.
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Die Frage nach dem, was danach kommt, lässt uns nicht los und stürzt den Menschen in ein
Dilemma, das Jugendlichen sehr bewusst ist, das aber zu ihrem Leidwesen nur selten angesprochen
wird. Es gibt deshalb ein unmittelbares Interesse an diesem Thema im Unterricht. Der amerikanische
Soziologe Ernest Becker schildert das Dilemma in drastischer Weise:
" So ist der Mensch buchstäblich in zwei Hälften gespalten: Er weiß um seine eigene, herrliche
Einmaligkeit, weil er sich überall von der Natur abhebt und sie überragt, und doch braucht er nur ein
paar Meter unter die Erde zu gehen, um blind und stumm zu verwesen und für immer zu
verschwinden. Es ist ein schreckliches Dilemma, mit dem er leben und sich abfinden muss. (....) Es
bedeutet, erkannt zu haben, dass man Fraß für die Würmer ist. So sieht also das Entsetzliche aus: aus
dem Nichts hervorgegangen zu sein, einen Namen, ein Bewusstsein, tiefe innere Gefühle, eine
quälende Sehnsucht nach Leben und Selbstverwirklichung zu beherbergen - und trotzdem sterben zu
müssen. " (E. Becker, 1976, 54 ) Das Dilemma der menschlichen Existenz entsteht also aus dem
Gefühl der Einzigartigkeit einerseits und dem Wissen um die Gleichheit angesichts des Todes
andererseits. Ein Ausweg aus diesem Dilemma, so die These von E. Becker, ist der Heroismus.
"Heldenmut ist vor allem die Kehrseite der Todesangst." (33)
Der Giessener Philosoph Werner Becker hat die These aufgegriffen und zu einer umfassenden
Kulturtheorie ausgestaltet, die neue Aspekte und Möglichkeiten für einen grundlegenden Kurs über
theologische Anthropologie in der Sekundarstufe II bieten kann.
Man kann den Gedankengang seines Werkes in fünf Schritten zusammenfassen und diese
Zusammenfassung auch den Schülern an geeigneter Stelle in die Hand geben. Sie haben damit einen
Leitfaden, der ihnen hilft, unterschiedliche Materialien einzuordnen und selbst zu finden:
Werner Becker: Das Dilemma der menschlichen Existenz: die Evolution der Individualität und
das Wissen um den Tod, Stuttgart u.a. 2000
Der Gedankengang des Buches in fünf Schritten:
In dem ersten Schritt geht es um das Bewusstwerden der Sterblichkeit, das den Menschen
grundlegend vom Tier unterscheidet. Der Mensch kann darauf mit Annahme oder Abwehr reagieren,
kann aber nicht mehr dahinter zurück. Indem er sich bewusst geworden ist, dass der Tod nicht nur das
andere Tier in seinem Rudel oder seiner Herde bedroht und schmerzhaft erfasst, sondern auch
unausweichlich ihn selbst erreichen wird, ist er aus dem Paradies des zeitlosen Lebens herausgefallen
und weiß, dass er sterblich ist. Er hat gewissermaßen von der Frucht der Erkenntnis des Guten und
Bösen genossen.
Mit der Anerkennung der Tatsache der eigenen Sterblichkeit verbindet sich in einem zweiten Schritt
das existentielle Dilemma des Menschen.
„Einerseits akzeptiert man, wie alle sterblich zu sein. Andererseits versteht man sich, in Auflehnung
dagegen, als einzige mögliche Ausnahme. Die Intensität der Dramatisierung, mit der die Auflehnung
gegen das Sterbenmüssen einhergeht, macht zugleich den zentralen Gehalt des
Individualitätsbewusstseins aus. Die spezifische Art und Weise, wie Menschen auf das Wissen um den
Tod reagiert haben, ist für das menschliche Individualitätsbewusstsein charakteristisch.“ (27)
Der dritte Schritt ist also die spezifische Ausprägung des menschlichen Individualitätsbewusstseins.
Ist der Mensch sich einmal seiner Vergänglichkeit bewusst geworden, bleiben ihm nur zwei
Möglichkeiten: Der eine ist der Weg der Teilhabe oder Partizipation. Dieser findet seine Bestimmung
letztlich nur in der Teilhabe an einem überindividuellen unsterblichen Wesen. Der andere ist der Weg
der Selbstbehauptung, des Heroismus und der Individuation.
Der eine Weg beinhaltet einen weitgehenden Verzicht auf Ausgestaltung der eigenen Individualität
durch "Exteriorisierung" (Entäußerung) alles Besonderen. Der andere beinhaltet eine Steigerung durch
Theatralik "grandioser Selbstinszenierung“. Man könnte auch sagen, es ist der Weg der Ruhmsucht,
des Größenwahns oder der Angeberei. Beide Versuche, mit der Todesangst fertig zu werden, sind
kulturschaffend und kulturprägend.
Man kann also in einem vierten Schritt Teilhabe und Selbstbehauptung als grundlegende kulturelle
Betätigungen unterscheiden. Religiös geprägte Kulturen gehören sicher zu den ersteren. Mythisierung
kann als der Versuch betrachtet werden, das Dilemma von Besonderheit und Einzigartigkeit auf der
einen Seite und von Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit auf der anderen Seite dadurch zu lösen,
dass die Vorstellung von Individualität auf ein unsterbliches Wesen übertragen wird. In der
verehrenden Teilhabe an diesem Wesen kann der Mensch zwar nicht selbst der Sterblichkeit entgehen,
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aber an Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit in einer wie auch immer gearteten Form teilhaben. Der
Weg der Selbstbehauptung dagegen ist der des Heroismus. Er versucht mit der Todesangst dadurch
fertig zu werden, dass das Selbst seine Größenphantasien auslebt und seine Individualität möglichst
grandios inszeniert.
In einem fünften Schritt des Gedankengangs bei Werner Becker geht es um die Kosten und den Erfolg
der Versuche, mit der Todesangst fertig zu werden.
Die Religionskritik hat immer nur die Versuche, an einem göttlichen Wesen und seiner
Unsterblichkeit teilhaben zu wollen, für illusionär gehalten und die Anerkennung der Sterblichkeit als
verheißungsvollen Weg zu einer befreienden Autonomie gepriesen. Werner Becker betont dagegen,
dass auch der Weg der Selbstbehauptung zum Scheitern verurteilt ist, weil die Positionen
gesellschaftlicher Anerkennung, die die Todesangst verblassen lassen, knapp sind. Immer nur ganz
wenige können hoffen, sich einen Namen gemacht zu haben, der noch einige Zeit im Gedächtnis der
Menschheit bleiben wird, und selbst die wenigen werden einmal vergessen sein. Der Kampf um die
knappen Positionen gesellschaftlicher Anerkennung ist der von Hobbes beschriebene Kampf aller
gegen alle. Besonders zerstörerisch wird er, wenn aus der Erkenntnis der Knappheit die
Verdiesseitigung beibehalten wird und eine Dilemmaentlastung in einem heroischen Kollektivsubjekt,
z.B. der Nation, gesucht wird.
III.
Die These Bonhoeffers, dass wir in einem religionslosen Zeitalter leben, muss im Fernsehzeitalter
unter einem erweiterten Religionsbegriff bezweifelt werden. Werner Becker bietet eine Erklärung und
eine wichtige Differenzierung für das Phänomen, dass auch die populäre Kultur von heute noch von
mythischen Motiven geprägt ist. Bisher schien die Kulturtheorie René Girards (1982/1988, 38ff;
Sistermann 1990) die beste Erklärung dafür zu liefern. Danach ist der Mensch von einer unbestimmten
Begierde erfüllt und kann diese nur zeitweise stillen, indem er Vorbilder nachahmt und nach dem
strebt, was dieses Vorbild besitzt ("Was hat er, was ich nicht habe?"). Dadurch wird das Vorbild zum
Rivalen. Die latente Aggressivität in einer durch diese mimetische Rivalität geprägten Gesellschaft
wird dann in regelmäßigen Abständen auf einen Sündenbock gelenkt, der ausgegrenzt, gemobbt oder
gar umgebracht wird. Jede Gesellschaft braucht Opfermythen, mit denen sie ihre Verbrechen als
Erfüllung eines göttlichen Willens verklären kann und durch die sie sich wieder zur Gemeinschaft
zusammenschließt. Das erklärt die ungebrochene Kraft des Mythos auch in der modernen populären
Kultur.
Aber oft kann man beim besten Willen in den popkulturellen Inszenierungen keine mythischen
Elemente entdecken. Oft will offensichtlich nur jemand den Helden spielen. Unsere ganze populäre
Kultur ist wie jede Kultur wohl mindestens genauso sehr von der Suche nach immer neuen Helden
geprägt wie von dem Kult alter und neuer Götter. Eine Theorie der Kultur muss nicht nur das
Weiterleben des Mythos erklären, sondern auch den modernen Heldenkult, den Heroismus. Der
Freudschüler Otto Rank hat den erweiterten Begriff des Heroismus wesentlich geprägt. In seiner
kleinen Monographie „Der Künstler“ (Wien u.a. 19182) sieht er in diesem in erster Linie einen
hysterischen Selbstdarsteller, der aus Angst vor dem Versinken in die Bedeutungslosigkeit mit allen
Mitteln ohne Rücksicht auf alle menschlichen Beziehungen versucht, sich einen Namen zu machen.
Heute wird man Spitzensportler und Popstars in ähnlicher Weise sehen müssen. Die populäre Kultur
ist durch die Wiedergeburt der Helden mindestens ebenso geprägt wie durch die Wiedergeburt der
Götter. Die Göttergeschichten des Mythos und die Heldengeschichten sind oft aus dem gleichen
Muster erklärt worden, z.B. bei Joseph Campbell (1953), nach dessen Theorie heute viele
Hollywooddrehbücher ausgerichtet sind. Titel wie „Götter und Helden der Griechen“ suggerieren, dass
Mythisierung und Heroismus etwas Ähnliches bezeichnen. Nach Werner Becker müssen sie aber als
zwei sehr unterschiedliche Versuche verstanden werden, mit dem Bewusstsein des Todes zurecht zu
kommen. Der eine beruht auf der Teilhabe, der andere auf der Selbstbehauptung.
"Mut zum Sein" hat Paul Tillich 1952 eine wichtige religionsphilosophische Schrift genannt. Er
unterscheidet zwei Formen, den Mut zur Partizipation und den Mut zur Individuation, die sehr genau
der Beckerschen Unterscheidung in Teilhabe und Selbstbehauptung entsprechen. In dem ersten Band
seiner kurz zuvor erschienenen Systematischen Theologie sieht er in der Typologie von Individuation
und Partizipation neben Dynamik und Form und neben Freiheit und Schicksal eine der drei
grundlegenden ontologischen polaren Elemente. Die gleiche Polarität taucht auch bei Fritz Riemann in
den ‚Grundformen der Angst’ auf. Er vergleicht die bei jedem Menschen lebensnotwendige
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Individuation mit dem Kreisen der Erde um die eigene Achse und die ebenso notwendige
„Selbsthingabe“ mit dem Kreisen der Erde um die Sonne und der Einordnung in ein größeres System.
Nach ihm leben wir immer in der Angst, der „paradoxen Zumutung“ (Riemann, 1981,14) nicht gerecht
werden zu können, zugleich zur Selbstbewahrung und zur Selbsthingabe fähig sein zu müssen. Indem
wir nur einen Pol verwirklichen, droht die Neurose. Riemann kann deutlich machen, dass es in jedem
Leben darum geht, die richtige Mischung aus Selbstbehauptung und Teilhabe zu finden. Die Erklärung
des menschlichen Dilemmas nach der Stellung der Erde im Sonnensystem ist allerdings weit
hergeholt. Hier ist die Erklärung Werner Beckers aus dem Widerspruch zwischen der Gleichheit aller
sterblichen Wesen und der Einzigartigkeit meines eigenen Todes einleuchtender.
Schüler bekommen damit einen gut nachvollziehbaren Zugang zu den Phänomenen der
Mythisierung und des Heroismus und können diese mit eigenen Erfahrungen verbinden. Sie können
versuchen, sich selbst einzuordnen und zu überlegen, welche Mischung aus Selbstbehauptung und
Teilhabe sie selbst anstreben wollen. Beide Haltungen gehören zum Leben. Mythisierung und
Heroismus kommen durch hypertrophe Steigerung zu Stande und sind darin strukturell ähnlich, wenn
auch inhaltlich verschieden. Grund ist wohl eine übersteigerte Todesangst, die zu einer
leidenschaftlichen Besessenheit von dem Bild einer mythischen Welt einerseits oder dem Idol des
Helden andererseits führt. Ziel einer Beschäftigung mit diesen Strukturen wäre ein gelassener,
humorvoller Umgang mit unserem Wissen um den Tod und den Versuchen, damit zurecht zu
kommen.
Natürlich stellen die beiden Haltungen nicht mehr und nicht weniger als eine heuristische Typologie
dar. Sie kommen nur selten in reiner Form vor. Das Opfer, z.B. das die westliche Welt verstörende
der islamischen Selbstmordattentäter, kann als eine Verbindung von Heroismus und Mythisierung
verstanden werden. Die sinnlose Selbstbehauptung des Verlierers im Wettkampf um die knappen
Positionen gesellschaftlicher Anerkennung bekommt ihren angeblich höheren Wert, indem sie indem
sie durch Externalisierung des Individualitätsbewusstseins als Hingabe an ein göttliches Subjekt
verstanden wird. Auch der Buddhismus stellt eine Mischform dar. „Einerseits zielt die Lehre auf
Aufhebung der menschlichen Individuation im Zustand des >Nicht-seins<, andererseits will ein
>Buddha< Anerkennung seiner Individualität nach den >exzentrischen< Maßstäben der Besonderheit,
indem er sich zu einer heroischen Menschengestalt zu entwickeln sucht, von Normalen gänzlich
abgehoben.“ (92f) Andere Positionen kann Becker jedoch eindeutig zuordnen, so z.B. das Christentum
und den Platonismus dem Teilhabemodell, die heroische Welt des heidnischen Germanentums
dagegen und die „solipsistische Welt des Philosophen-Individuums >Friedrich Nietzsche<“, der sich
als „größter Denker unter den lebenden“ versteht, dem Selbstbehauptungsmodell (197). Auch der
kapitalistische Unternehmer wird nach Becker interessanter Weise nicht, wie bisher immer
angenommen, von einem natürlichen Egoismus bewegt, sondern von der „individualistischen
Motivation“, sich im Angesicht des Todes zu behaupten und sich einen Namen zu machen. (193)
Kommunismus und Nationalismus stellen auch Mischformen dar, indem sie fordern, auf individuelle
Selbstbehauptung zu verzichten und als Lohn für die Opferbereitschaft Teilhabe an einem
Kollektivsubjekt versprechen. Da dieses aber im Gegensatz zum Teilhabemodell ein diesseitiges ist,
dominiert der Heroismus der Selbstbehauptung (232; 262). Eindeutig ist dagegen die Zuordnung des
Existentialismus. Nach Becker „handelt es sich um einen Heroismus der Eigentlichkeit, denn sowohl
bei Kierkegaard und Nietzsche als auch bei Heidegger wird ein elitärer Stolz offenbar, Äußerstes an
existenzieller Negativität aushalten zu wollen.“ (307) Tatsächlich versteht auch der von Becker nicht
erwähnte Camus seine Philosophie als „modernen Heroismus“ (Camus, 1965, 100) und preist den
rücksichtslosen Verführer Don Juan wegen seiner „sieghaften Frechheit“ (61), die an nichts glaubt.
Becker kann sogar das Interesse an Computerspielen mit Horrorszenarien noch als Ausdruck der
„superlativischen Ansprüche der Individualität“ und der Verarbeitung von „Enttäuschungserfahrungen
mit dem Phänomen >individualistischer< Knappheit in der realen Gesellschaft“ deuten (313).
Auf jeden Fall bietet die von Werner Becker entwickelte Typologie von Teilhabe und
Selbstbehauptung eine hervorragende didaktische Möglichkeit, weit mehr kulturelle und popkulturelle
Schöpfungen als bisher in religionsphilosophischer Perspektive zu betrachten. Indem man sie als
Antworten auf die Frage nach der Bewältigung der Todesangst versteht, können sie mit den in der
christlichen Tradition gegebenen Antworten in Korrelation gebracht werden.
IV.
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In der Unterrichtsreihe, die ich im Folgenden vorstelle, stehen die oben zusammengefassten Thesen
von Werner Becker im Mittelpunkt. Sie verbinden auf wünschenswerte Weise die Frage nach
Ursprung und Funktion von Religion mit der Frage nach dem Sinn und der Bestimmung menschlichen
Lebens.
Zur Hinführung dient das anfangs geschilderte Video von Müller- Westerhagen, in dem die Schüler
hautnah mit dem Phänomen des Alterns, Sterbens und Verwesens konfrontiert werden. Man kann den
Ton zuerst weglassen, weil der Text sehr viel weniger aussagekräftig ist als die Bilder, und die Schüler
selbst einen Text schreiben lassen. Die Resultate sind oft tiefgehender als der Originaltext. Wenn das
Video nicht zur Verfügung steht, kann auch ein Auszug aus dem m.E. theologisch wichtigsten Buch
zum Thema Tod von Eberhard Jüngel den Schülern einen realistischen Eindruck von der biologischen
Seite des Sterbens vermitteln (M) .
Die in dem Video der Chemical Brothers aufgeworfene Frage, ob es gut ist, sich bewusst zu machen,
dass man sterblich ist, kann auch mit der Graphik
von Gibson „Frau im Spiegel“ (um 1902) erarbeitet
werden.
Wie in dem Video von Robbie Williams geht es um
ein ‚Memento mori!’ Motiv. Die Schüler erkennen:
Eine Dame der feinen Gesellschaft macht sich vor
ihrem Schminkspiegel zum Ausgehen zurecht. Sie
sieht nicht, dass ein Beobachter im Hintergrund
ihren Hinterkopf und ihr Spiegelbild als die Augen
eines von dem Spiegel und den Schminkfläschchen
gebildeten Totenkopfes auffassen kann. Sollte der
eintretende Beobachter der Dame seine Beobachtung
mitteilen? Indem die Schüler darüber diskutieren,
entwickeln sie intuitiv Thesen über die Bedeutung
des Todesbewusstseins und dessen Verhältnis zu
Alltag und Vergnügen.
In einer kontrollierten Problemlösungsphase können
sie nun den Text über den prähistorischen Ursprung
des Todesbewusstseins von Werner Becker als eine Antwort eines Experten auf ihre Frage verstehen
(M). Für ihn ist das Todesbewusstsein das entscheidende Charakteristikum, „ durch das sich die
menschliche Art von denen der Tiere unterscheidet.“ Die Ergebnisse der modernen
Primatenforschung, die man den Schülern z. B. mit Hilfe des Films „Der Mensch im Affen“ (Arte
1998) präsentierten kann, bestätigen, dass alle anderen Merkmale, die in der Geschichte der
Anthropologie genannt wurden (Sprachfähigkeit, Werkzeuggebrauch, Gemeinschaftsfähigkeit), bei
Menschenaffen auch nachgewiesen werden können. Zwar haben auch Tiere einen Überlebenswillen
und versuchen instinktiv, die Todesgefahr zu vermeiden. Ihr Leben ist aber außerhalb der akuten
Todesgefahr offensichtlich nicht von einem Todeswissen bestimmt. Sie leben im glücklichen
Vergessen und gehen auf im Augenblick (Vgl. F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie
für das Leben, I). Sie leben tatsächlich im Paradies des zeitlosen Lebens.
Wenn genügend Zeit ist, kann man an dieser Stelle in einem Transfer die Neuinterpretation von
Genesis 3 durch Werner Becker anschließen. (M) Werner Becker lenkt die Aufmerksamkeit auf die
Frage: „Warum sollten die ersten Menschen nicht von den Früchten des Baumes der Erkenntnis
essen?“ Man sollte diese Frage nach der Lektüre von Genesis 3 mit den Schülern vorab besprechen,
damit diese in einer intuitiven Phase eigene Lösungen entwickeln können. Man wird feststellen, dass
die Schüler das Verbot Gottes für willkürlich und die Furcht Evas, bei einer Übertretung sterben zu
müssen, für unbegründet halten und damit der Schlange Recht geben. Dabei lernen sie, dass es bei den
Früchten nicht, wie immer wieder behauptet, um Äpfel geht, sondern dass diese Deutung nur durch
eine falsche Übersetzung von Malum entstanden ist. Warum sollten auch Äpfel verboten sein?
Einleuchtender ist dann schon die durch die Darstellung Tizians nahegelegte Interpretation, dass es um
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eine sexuelle Verfehlung geht und dass die verlockende Frucht, die Eva Adam anbietet, ihre eigene
Brust ist. Die Darstellung kann unter http://www.uni-leipzig.de/ru/bilder/urgesch1/tizian01.jpg
heruntergeladen werden. Tiefgehender und plausibler ist aber die Interpretation Werner Beckers.
Nicht das biologische Faktum des Todes ist die direkte Folge der Sünde, sondern das Bewusstsein
davon. Die Sünde ist also keine Schuld, sondern eine Bewusstseinsveränderung, die den Menschen aus
dem Paradies des zeitlosen Lebens fallen lässt. Man kann nun fragen, ob Gottes Gebot so gesehen
wirklich als ein willkürliches Verbot oder nicht eher als fürsorgliche Warnung verstanden werden
muss.
Im Verlauf der Reihe kommt nun die eigentliche Problemstellung: Wie kann der Mensch mit dem
Wissen um seine Sterblichkeit fertig werden?
In einer intuitiven Phase suchen die Schüler eigene Lösungen, indem sie sich mit der Frage
beschäftigen: Was würde ich tun, wenn ich nur noch einen Monat, eine Woche und schließlich nur
noch einen Tag zu leben hätte? Anschließend erhalten sie den Textauszug von J.P. Sartre (M). In
einer seiner frühesten literarischen Arbeiten hat Sartre die Situation, nur noch wenige Stunden zu
haben, eindringlich beschrieben. Im spanischen Bürgerkrieg sind drei Kämpfer der internationalen
Brigaden von den Faschisten gefangen genommen worden und warten auf ihre Erschießung am
anderen Morgen, betreut von einem belgischen Priester. Die Schüler können überlegen: Was könnte
ich als der Erzähler, als der Ire Tom, als der belgische Priester dem kleinen Juan sagen? Eine ähnliche
Situation, in der drei Soldaten am nächsten Morgen wegen angeblicher Feigheit vor dem Feind
erschossen werden sollen, schildert der Film von Stanley Kubrick „Wege zum Ruhm“ (1957).
Das Dilemma der menschlichen Existenz und die daraus resultierende Frage nach dem Sinn des
Lebens wird in dem leicht verständlichen Text von J. Ziegler auf den Begriff gebracht: „Unser ganzes
Tun ist nichts als ein Versuch, den Tod zu bannen.“ (M)
Wenn man die Schüler auffordert, sich Beispiele zu diesem Satz zu überlegen, kommt eine
erstaunliche Liste zusammen: Ehrgeiz im Beruf; Fitness/Sport; Kontakte; Essen/Gesundheit;
Vorsorgeuntersuchung; Hygiene; Fernsehen; Drogen/Alkohol; Musik hören; Tai-chi/Autogenens
Training; Kirche/ Gebet; übermäßiges Schlafen; Feiern; Erinnerungen (Fotos, Tagebuch usw.);
Arbeiten (Workaholics); Kinder machen/ sich fortpflanzen...
Mit der Frage, wie sich diese vielfältigen Beispiele ordnen lassen, sind wir bei dem zentralen Teil der
Reihe, der oben dargebotenen Zusammenfassung der Thesen Werner Beckers in fünf Schritten. (M)
Mit der Methode des Gruppenpuzzles, einer Kombination von arbeitsteiliger und arbeitsgleicher
Gruppenarbeit, können die Schüler den anspruchsvollen Text selbstständig erarbeiten. In einer ersten
Runde beschäftigt sich je eine Stammgruppe von fünf Schülern intensiv mit nur einem der fünf
Schritte. Anschließend werden Expertengruppen gebildet, in denen für jeden Schritt ein Experte sitzt,
der den anderen die Ergebnisse seiner Stammgruppe vermitteln muss. Gemeinsam erstellen sie eine
Visualisation des Textzusammenhangs auf Folie und bekommen die Aufgabe, sich diese fünf Schritte
einzuprägen.
In einer anschließenden Klausur kann man das bisher Erarbeitete mit einem Textauszug des
amerikanischen Soziologen Ernest Becker vergleichen lassen, von dem sich Werner Becker in seinem
Werk hat anregen lassen. (M) Die Gegenüberstellung von „kosmischem Heroismus" und „kulturellem
Heroismus“ bei Ernest Becker ist weniger prägnant als die von Mythisierung durch Teilhabe und
Heroismus durch Selbstbehauptung. Andererseits macht Ernest Becker mit Bezug auf Kierkegaard
sehr schön deutlich, wie der kosmische Heroismus von den unerträglichen Zumutungen des
kulturellen Heroismus entlastet.
Mit dem Rüstzeug der fünf Schritte Werner Beckers haben die Schüler eine heuristische Typologie,
die es ihnen ermöglicht, im Sinne einer Festigungsphase unterschiedliche kulturelle und religiöse
Zeugnisse zu erfassen. Sie stellen sehr schnell fest, dass Selbstbehauptung und Teilhabe keine
Schubladen sind, sondern Begriffswerkzeuge, die erlauben, Tendenzen und Überschneidungen zu
beschreiben. Wenn sie verstehen, wie jedes kulturelle und religiöse Zeugnis von einer ganz
besonderen Mischung aus Teilhabe und Selbstbehauptung im Wissen um den Tod geprägt ist, wird es
ihnen vielleicht helfen, die für ihr eigenes Individualitätsbewusstsein charakteristische Verbindung zu
erkennen und zu reflektieren.
Nach der Lektüre des Textes von Z. Bauman (M), einem postmodernen Soziologen und Philosophen,
der sich ebenfalls wie Werner Becker von Ernest Becker hat anregen lassen, nennen die Schüler für
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den Heroismus der Selbstbehauptung und für die „grandiose Selbstinszenierung“ viele Beispiele:
Lance Armstrong („Verlieren ist wie Sterben“), Michael Schumacher, Alexander der Große, Herkules,
die Helden in den Aktionfilmen, aktuelle Popstars, das in der Sportschau gezeigte Transparent beim
Bayernderby Nürnberg gegen München „Heute könnt ihr unsterblich werden“, aber auch notorische
Angeber aus ihrem Bekanntenkreis.
Manche Schüler kommen von selbst auf das aktuell vielleicht eindeutigste popkulturelle Beispiel für
den Heroismus der Selbstbehauptung, den Film „Troja“ (USA 2004) von Wolfgang Peterson und
seinem Drehbuchautor David Benioff. Sie können den Film den anderen vorstellen und die
entsprechenden Ausschnitte auf DVD präsentieren. Am Anfang stellt eine dumpfe Stimme aus dem
Off beim Überblick über eine öde Landschaft die für die Haltung der Selbstbehauptung wichtigsten
Fragen: "Werden unsere Taten die Zeiten überdauern? Werden Freunde sich unserer Namen erinnern,
lang nachdem wir tot sind?" Griechenlands größter Held Achill (Brad Pitt) ist weder an der Ehre
seines Landes noch an der Gemeinschaft mit seinen Landsleuten interessiert, sondern nur an seinem
eigenen Ruhm. Bei der Landung in Troja segelt er der riesigen Flotte weit voraus und, bevor er mit
seinen wenigen Getreuen allein den Apollotempel am Strand erstürmt, stachelt er seine Männer an mit
der Parole "Jenseits dieses Strandes wartet die Unsterblichkeit! Holt sie euch!" Als ein Mitkämpfer ihn
nach der Eroberung des Tempels vor der Rache des Gottes warnt, schlägt er der goldenen
Apollostatue den Kopf ab und zeigt so seine Verachtung für die Hoffnung, am Göttlichen teilhaben zu
können.
In dem Bild von Hubert Lanzinger „Hitler als Bannerträger“ und dem dazu passenden Gedicht des
Nazidichters Heinrich Anacker erkennen die Schüler auch sofort die Haltung der heroisierenden
Selbstbehauptung. Zugleich wird aber auch in der Diskussion die Problematik dieser Haltung klar. Die
Positionen gesellschaftlicher Anerkennung sind knapp. Das führt unausweichlich zum gnadenlosen
Kampf und zur Ausrottung aller, die dabei im Wege stehen.
(M)
Brüder, was bleibt von unserer Zeit?
Runen, die leuchten in Ewigkeit!
Unsere Leiber werden vergehen,
Werden als Staub in die Winde wehen.
Unsere Lieder werden verklingen
Anders werden die Kommenden singen.
Unsre Gebärden und unsere Worte
Schluckt des Vergessens mächtige Pforte,
Aber vom Rund mit den steinernen Stufen
Werden die Chöre der Zukunft rufen.
Und auf den Straßen, die wir bauten,
Die erst die Enkel vollendet schauten,
Werden in hundert und tausend Jahren
Sausenden Schwungs die Wagen noch
fahren.
Unverwittert wirds dauern und bleiben,
Und darüber, Beginn und Amen,
Leuchtendste Rune: des Führers Namen!
(Heinrich Anacker: Brüder, was bleibt ...
In: Das Schwarze Korps. 14. 8. 1935. S. 9)
(Hubert Lanzinger, Hitler als Bannerträger
in: G. Richter, Kitsch- Lexicon von A bis Z,
Bertelsmann: Gütersloh 1972)
Als deutliches Beispiel für mythisierende Teilhabe am Göttlichen lernen die Schüler die Sure 56,16-39
kennen. (M) Die Schüler zeigen sich erstaunt über die anscheinend ungebrochen wörtlich
verstandenen Bilder von den Gärten der Wonne. Ein Schüler spricht von „Männerträumen“. In der
Diskussion erinnern einige daran, dass nicht nur die heroisierende Selbstbehauptungstheorie zu Gewalt
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führen kann, sondern dass manche islamische Selbstmordattentäter auch durch die Vorstellung der
Belohnung im Paradies zu blutigen Taten ermutigt wurden. Die Diskussion ergibt, dass mythische
Vorstellungen dann problematisch sind, wenn sie ungebrochen wörtlich genommen und nicht
symbolisch verstanden werden.
Um zu zeigen, dass es auch im Christentum sehr bilderreiche mythologisierende Ausmalungen des
Himmels gibt, präsentiere ich den Schülern das Kirchenlied „Herzlich tut mich erfreuen“ von Johann
Walter (1552) (Evangelisches Gesangbuch 1996 Lied Nr. 148).
(http://www.gesangbuch.org/hymns/title2.html)
Dagegen steht die eher symbolisch zu verstehende Vorstellung vom Buch des Lebens. Die Schüler
erhalten den Auftrag, in arbeitsteiligen Gruppen aus dem Kontext die Bedeutung dieses Symbols aus
Jes. 4, 3; Ps. 69, 29, Dan. 12,1 und Lk. 10, 20 zu erschließen und zu überlegen, wieweit sie diese
Stellen symbolisch verstehen, d.h. auf ihr Leben beziehen können. Anschließend können sie ihre
Deutung mit einem Auszug aus der Predigt des örtlichen Gemeindepfarrers Klaus Müller vergleichen
(M) und in einer E- Mail Stellung dazu Stellung beziehen. In der Diskussion geht es um die Frage, wer
den Eintrag ins Buch des Lebens vornimmt. Kann ich mich selber eintragen? Entscheidet Gott, wer
eingetragen wird? Tragen sich meine Taten von selbst ein? Die Schüler sind durch die Diskussion
genügend vorbereitet, um in der angeleitet kontrollierten Problemlösungsphase den anspruchsvollen
Text des jüdischen Religionsphilosophen Hans Jonas zu lesen und die These zu erfassen, dass nicht
die Täter, sondern die Taten sich einfügen in ein transzendentes Reich. (M)
In der Transfer- und Beurteilungsphase vergleichen die Schüler die klassischen Thesen der
Religionskritik Feuerbachs und Nietzsches am Jenseitsglauben mit der Position Schopenhauers.
Feuerbach: „Der religiöse Mensch gibt die Freuden dieser Welt auf; aber nur, um dafür die
himmlischen Freuden zu gewinnen (....) Und die himmlischen Freuden sind dieselben wie hier, nur
befreit von den Schranken und Widerwärtigkeiten dieses Lebens. Die Religion kommt so, aber auf
einem Umweg, zu dem Ziele, dem Ziele der Freude, worauf der natürliche Mensch in gerader Linie
zueilt. (...) Die Religion opfert die Sache dem Bilde auf.“ (M)
Nietzsche: „Christentum war von Anfang an wesentlich und gründlich Ekel und Überdruß des Lebens
am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein »anderes« oder »besseres« Leben nur verkleidete,
nur versteckte, nur aufputzte.“ (M)
Schopenhauer: „Hauptsächlich auf diesen Zweck sind alle Religionen und philosophischen Systeme
gerichtet, sind also zunächst das von der reflektierenden Vernunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte
Gegengift der Gewissheit des Todes.“ (M)
Feuerbach und Nietzsche kritisieren den Jenseitsglauben und halten ihm eine Philosophie des Lebens
entgegen, die freilich bei Feuerbach und Nietzsche sehr unterschiedlich ausfällt. Für Feuerbach besteht
sie in der Freude des „natürlichen Menschen“, eines Gattungswesen, das schon von Karl Marx in der
6. These über Feuerbach und von Friedrich Engels in einer eigenen Schrift als Abstraktum kritisiert
wurde, für Nietzsche in „Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und
des Irrtums.“
Schopenhauer dagegen sieht, dass nicht nur die Religionen, sondern auch alle philosophischen
Systeme (-das würde also auch für Feuerbach und Nietzsche gelten-) hauptsächlich zu dem Zweck
entstanden sind, ein Heilmittel gegen die erschreckende Gewissheit des Todes zu bekommen. Das
deckt sich mit den Thesen Werner Beckers. Während die klassische Religionskritik nur den
Jenseitsglauben kritisierte, kann nun die Frage gestellt werden, ob die Selbstbehauptungstheorien
Feuerbachs und Nietzsches, die sie an Stelle des Jenseitsglaubens setzen wollen, nur „grandiose
Selbstinszenierungen“ angesichts des Todes sind. Der Einfluss von Nietzsches Lehre vom Leben als
Kampf und dem Recht des Stärkeren auf die faschistische Weltanschauung und Ersatzreligion Hitlers
kann im Rahmen einer Unterrichtsreihe im Religionsunterricht nur angedeutet werden. (Vgl B.
Taureck, Nietzsche und der Faschismus, Hamburg: Junius 1989)
Der Glaube und der Zweifel an der Möglichkeit der Teilhabe werden schließlich in dem Text von
Günther Putzberg (M) auf humorvolle Weise vorgeführt und können mit den Schülern durchgespielt
werden. Wenn einer der beiden Embryos die Überlegung anstellt „Vielleicht gibt es gar keine Mutter
hinter allem.“, wird den Schülern klar, dass hier die Frage der Religionskritik ironisiert wird. Ist das
Unsinn oder Tiefsinn? Darüber kann man gut diskutieren.
Literaturangaben:
9
Ariès, Philippe: Geschichte des Todes, (Paris 1977) München 1982
Becker, Ernest: Dynamik des Todes, Die Überwindung der Todesfurcht- Ursprung der Kultur. Olten
und Freiburg i.B., 1976
Becker, Werner: Das Dilemma der menschlichen Existenz, Die Evolution der Individualität und das
Wissen um den Tod. Stuttgart, Berlin, Köln, 2000
Campbell, Joseph: Der Heros in Tausend Gestalten, (1953) Frankfurt 1973
Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos, Ein Versuch über das Absurde, (1942) Reinbek 1965
Girard, René: Der Sündenbock (1982), Zürich 1988
Peemöller- Schulz, Antje/ Schulz, Martin/ Surkau, Silke: Auseinandersetzung mit Sterben und Tod in
Video-Clips, in: M. Pirner/Th. Breuer, Medien- Bildung- Religion, München 2004, 207-217
Riemann, Fritz: Grundformen der Angst, Eine tiefenpsychologische Studie. München u.a. 1981
Sistermann, Rolf: Symboldidaktik und gebrochener Mythos in: Ev. Erz. 42/1990, H.3, 321-341
V.
Übersicht über die eingesetzten Textmedien
 Eberhard Jüngel: Vorboten des eintretenden und Anzeichen des eingetretenen Todes
 Werner Becker: Der prähistorische Ursprung des Todesbewusstseins
 Jean Paul Sartre: Die Wand (Le mur, 1937)
 Jean Ziegler: Was ist der Tod?
 Werner Becker: (Der Sündenfall)
 Ernest Becker: Die Überwindung der Todesfurcht
 Zygmunt Bauman: Das gesellschaftliche Versprechen persönlicher Unsterblichkeit
 Heinrich Anacker: Brüder, was bleibt (1935)
 Koran: Der Lohn im Paradies
 Johann Walter: Herzlich tut mich erfreuen“ (1552) (Evangelisches Gesangbuch 1996 Lied Nr.
148
 Klaus Müller: Namen im Himmel
 Hans Jonas: Das Symbol ‚Buch des Lebens’
 Ludwig Feuerbach: Kritik am Jenseitsglauben
 Friedrich Nietzsche: Die Erfindung des Jenseits aus Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit
des Lebens
 Arthur Schopenhauer: Alle Religionen und philosophischen Systeme als Heilmittel gegen das
Bewusstsein der Sterblichkeit
 Günther Putzberg: Leben danach
Im Rahmen dieses Beitrags können nur die wichtigsten eingesetzten Textausschnitte abgedruckt
werden (oben unterstrichen). Die vollständigen Ausschnitte können aber in dem virtuellen
Studienzimmer Sistermann unter www.rpi-virtuell.de (http://www.rpi-virtuell.net/rolf%20sistermann)
aus dem Ordner ‚Tod und Bewusstsein der Sterblichkeit’
heruntergeladen werden.
Der Aufbau der Reihe und der einzelnen Unterrichtseinheiten ist
bestimmt von einem Verständnis des Lernprozesses, das man am
besten in einem Bonbonmodell darstellen kann. Die Breite der
einzelnen Phasen deutet an, wo engere oder weitere
Fragestellungen angebracht sind. Das Verständnis der
schwierigeren Texte wird dadurch erleichtert, dass diese jeweils
an eine Problemstellung angebunden werden, mit der sich die
Schüler beschäftigen sollten, bevor sie den betreffenden Text
erhalten. Sie haben damit die Möglichkeit, in einer selbstgesteuert
intuitiven Problemlösungsphase eigene Antworten zu finden, die
in
der
anschließenden
angeleitet
kontrollierten
Problemlösungsphase mit den Antworten des Textes verglichen
werden können. Sie sind so eher in der Lage, die ihnen in den
Arbeitstexten angebotenen Lösungen kritisch beurteilen zu
können.
10
Aus dem Lernprozessmodell ergeben sich für alle Texte folgende drei Arbeitsaufgaben:
1. Welche Antwort gibt der Autor auf die dem Text vorangestellte Frage?
2. Vergleichen Sie diese Antwort mit den Antworten, die Sie in Ihrer Lerngruppe
gefunden haben, bevor Sie den Text bekommen haben.
3. Nehmen Sie begründet Stellung zu der Frage, welche dieser Antworten für Sie die
überzeugendste und aufschlussreichste ist.
Wie muss man sich den Prozess des Sterbens vorstellen?
E. Jüngel: Vorboten des eintretenden und Anzeichen des eingetretenen Todes
Als wahrnehmbare Vorboten des Todes lassen sich nennen: »Verwesungsgeruch in der
Ausatmungsluft; die Facies hippocratica mit der sich scharf profilierenden Nase, dem halboffenen
Mund, dem Herabsinken der Augenlider; unwillkürlicher Abgang von Urin und Kot; kalter Schweiß
und Totenblässe der Haut ... Der Schleim, der nicht mehr ausgehustet wird, verursacht rasselnde
Geräusche. Die Tastempfindung beginnt zu schwinden. Die Hände bewegen sich unkoordiniert . . .
Häufig, aber durchaus nicht immer, beginnen zunächst die rationalen, dann die sensitiven, die
animalischen und schließlich die vegetativen Funktionen zu erlöschen . . . Die meisten Kranken
sterben ohne klares Bewußtsein. Die Unruhe und das Stöhnen der Sterbenden sind auf reflektorisch
bedingte Vorgänge zurückzuführen, ohne schmerzhaft empfunden zu werden. Soweit sich dies vom
Biologischen beurteilen läßt, dürfte das Sterben des Menschen nicht mit besonderen Qualen
verbunden sein.«
Ist der Tod eingetreten, dann hören Atem, Herztätigkeit und Pulsschlag auf. »Die Haut ist zyanotisch
oder blaß und unempfindlich. Die Hornhaut trübt sich. Die Pupillen werden weit. Die Muskeln
erschlaffen. Der Eintritt der Totenstarre ist unterschiedlich. Nach heftiger Muskelanstrengung kann die
Starre plötzlich auftreten. In der Regel vergehen drei bis zehn Stunden bis zu deren Eintritt.« Wenn
sich die Totenstarre nach 24-48 Stunden löst, kann es zu Bewegungen kommen.
Untrügliche Kennzeichen des eingetretenen Todes lassen sich erst eine gewisse Zeit nach dem Eintritt
feststellen, am sichersten durch den Zerfall der Gewebe. »Die Zellen der bereits trüben Hornhaut
beginnen sich voneinander zu lösen. Einige Stunden später werden an den abhängigen Körperpartien
die Totenflecke sichtbar. Zunächst kann man sie noch wegdrücken, später bleiben sie fixiert. Die Haut
beginnt einzutrocknen und bekommt besonders an den Lippen pergamentartiges Aussehen. Durch die
im Darm sich entwickelnde Fäulnis beginnt sich die Bauchhaut grünlich zu verfärben. Die Fäulnisgase
treiben den Leib auf. Bakterielle Zersetzung und Insektenlarven bauen die toten Gewebe fortschreitend
ab, wenn Luft zutreten kann und genügend Feuchtigkeit und Wärme vorhanden ist. Nach vier bis
sechs Jahren bleibt nur mehr das Knochengerüst übrig.« Das ist zweifellos das untrüglichste
Anzeichen des eingetretenen Todes.
Eberhard Jüngel: Tod, Gütersloh 1971, 33f, nach: Adolf Faller, Biologisches vom Sterben und Tod, in:
Anima 1956,S.260ff
Welches ist das wichtigste Charakteristikum, durch das sich der Mensch von den Tieren
unterscheidet?
Werner Becker: Der prähistorische Ursprung des Todesbewusstseins
Eine ins Bewußtsein dringende Ahnung über die eigene Sterblichkeit war beim Menschen
gattungsmäßig so wenig vorhanden wie bei Tieren. Doch auch diese Unbewußtheit bewahrte nicht vor
dem Faktum des Todes als endgültigem Ende. So ist die Geschichte der Menschheit eine der langen
Phase vor der Entdeckung des Wissens um den Tod und eine weniger langen danach. In Analogie zur
christlichen Zeitrechnung spreche ich von den Phasen ante und post scientiam mortis. Damit stellt die
Trennung der Menschheitsphasen ante und post scientiam mortis einen der tiefsten Einschnitte im
Selbstverständnis des Menschen dar.
(....) Mit dem Satz >ich bin sterblich< wird die Wahrheit, daß alle Menschen sterblich sind, zentraler
Bestandteil des menschlichen Selbstverständnisses. Sie verändert ihren Gehalt nicht dadurch, daß der
Mensch sie in sein Wissen aufnimmt. Doch ihre Akzeptanz ist für jeden Einzelnen bedeutender, als es
11
eine andere Wahrheit je hätte sein können. Mit Akzeptanz dieser Wahrheit geht nämlich der Verlust
der Naivität des Lebensvollzugs einher, jener Unschuld, die ein Jeder vor der Aufnahme dieses
Wissens besaß und deren Wesen darin lag, ähnlich wie die Tiere in der Wahrnehmung des Hier und
Jetzt aufzugehen. (....)
Die ältesten Zeugnisse, die auf ein mögliches Wissen um den Tod verweisen, sind Grabstätten, die auf
Bestattungsriten schließen lassen. Konnte bei Ausgrabungen festgestellt werden, daß die verstorbenen
Mitglieder einer Gruppe bestattet worden waren, so galt dies als sicherer Hinweis, daß es sich um
Überreste menschlicher Gruppen gehandelt haben muß, die dem Tod mehr als nur eine materielle
Bedeutung zusprachen. (....)
Dieses Wissen ist ein, wenn nicht das Charakteristikum, durch das sich die menschliche Art von denen
der Tiere unterscheidet. Zwar gibt es Belege dafür, daß auch Menschenaffen in der Lage sind, den Tod
als Faktum in irgendeiner für sie typischen Weise zu erkennen und auszudrücken. Es ist jedoch
überaus fraglich, ob sich damit eine wirkliche Ahnung vom direkt eigenen Tod verbindet. Selbst von
Affen ist nicht bekannt, daß sie ihre toten Artgenossen bestattet hätten. Man weiß aus Beobachtungen,
daß sie bei Verwundung oder Verletzung von Mitgliedern der eigenen Gruppe zu Empfindungen in
der Lage sein können, die wir als >Mitgefühl< bezeichnen würden. Auch versuchten sie, verstorbene
Artgenossen zu >wecken<, indem sie sie schüttelten. Blieben Versuche, dem toten Artgenossen noch
ein letztes Lebenszeichen entlocken zu wollen, über längere Zeit erfolglos, ließen sie von ihm ab und
wandten sich wieder der weiterziehenden Gruppe zu. (....)
Der Mensch hat, als einziges Lebewesen, aus der Erfahrung plötzlicher Todesangst erst ein
Bewusstsein dauernder Todesfurcht gemacht. (...)
(Werner Becker: Das Dilemma der menschlichen Existenz: die Evolution der Individualität und das
Wissen um den Tod, Stuttgart u.a. 2000)
Was würdest Du tun, wenn Du nur noch eine Nacht zu leben hättest?
Jean Paul Sartre, Die Wand (Le mur, 1937)
In diesem Moment hatte ich den Eindruck, als läge mein ganzes Leben ausgebreitet vor mir, und ich
dachte: «Das ist eine verdammte Lüge. » Es war nichts mehr wert, denn es war zu Ende. Ich fragte
mich, wie ich mit Mädchen hatte spazieren gehen, lachen können: ich hätte keinen Finger gekrümmt,
wenn ich geahnt hätte, dass ich so sterben würde.
Mein Leben war vor mir, abgeschlossen, zugebunden wie ein Sack, und dabei war alles, was darin
war, unfertig. Einen Augenblick versuchte ich es zu beurteilen. Ich hätte mir gerne gesagt: es ist ein
schönes Leben. Aber man konnte kein Urteil darüber fällen, es war ein Rohentwurf, ich hatte meine
Zeit damit verbracht, Wechsel auf die Ewigkeit auszustellen, ich hatte nichts begriffen. Es tat mir um
nichts leid- es gab eine Menge Dinge, um die es mir hätte leid tun können, der Geschmack von
Manzanilla oder das sommerliche Baden in einer kleinen Bucht in der Nähe von Cadiz; aber der Tod
hatte allem seinen Reiz genommen. Der Belgier hatte plötzlich eine großartige Idee. «Freunde», sagte
er zu uns, «ich kann es übernehmen - vorausgesetzt, die Militärverwaltung ist einverstanden -, den
Menschen. die Sie lieben, eine Nachricht von Ihnen, ein Andenken zu überbringen ... » Tom brummte:
«Ich habe niemand. » Ich antwortete nichts. Tom wartete einen Augenblick, dann sah er mich
neugierig an: «Läßt du Concha nichts ausrichten'.> « Nein. » (....) Ich dachte an ihre schönen sanften
Augen. Wenn sie mich ansah, wanderte etwas von ihr zu mir. Aber ich dachte, daß das vorbei war:
wenn sie mich jetzt ansähe, würde ihr Blick in ihren Augen bleiben, er ginge nicht bis zu mir. Ich war
allein.
Auch Tom war allein, aber nicht auf dieselbe Weise. Er hatte sich rittlings hingesetzt und hatte
angefangen, die Bank mit einer Art Lächeln anzusehen, er sah verwundert aus. Er streckte die Hand
aus und berührte behutsam das Holz, als hätte er Angst, etwas zu zerbrechen, dann zog er seine Hand
schnell zurück und erschauerte. Ich hätte mich nicht damit vergnügt, die Bank zu berühren, wenn ich
Tom gewesen wäre; das war wieder so eine Irenkomödie, aber ich fand auch, dass die Gegenstände
komisch aussahen: sie waren verwischter, weniger dicht als gewöhnlich. ich brauchte nur die Bank,
die Lampe, den Kohlenhaufen anzusehen und ich spürte, dass ich sterben würde. (....) Einen Moment
lang tastete ich meine Hose ab und fühlte, dass sie feucht war; ich wusste nicht, ob sie von Schweiß
oder von Urin nass war. (.....) Tom sprang hoch: wir hatten noch nicht gemerkt, dass die Zeit verrann;
die Nacht umgab uns wie eine formlose und dunkle Masse, ich erinnerte mich nicht einmal, dass sie
angefangen hatte.
Der kleine Juan fing an zu schreien. Er rang die Hände, er flehte:
12
«Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben. »
Er lief mit erhobenen Armen durch den ganzen Keller, dann warf er sich auf einen der Strohsäcke und
schluchzte. Tom sah ihn mit stumpfen Augen an und hatte nicht einmal mehr Lust, ihn zu trösten.
Tatsächlich lohnte es sich nicht: der Kleine machte mehr Krach als wir, aber es ging ihm weniger
schlecht: er war wie ein Kranker, der sich mit Fieber gegen seine Krankheit wehrt. Wenn einer nicht
einmal mehr Fieber hat, ist es viel schlimmer.
Er weinte: ich sah genau, dass er Mitleid mit sich selbst hatte; er dachte nicht an den Tod. Eine
Sekunde, eine einzige Sekunde lang hatte ich Lust, auch zu weinen, vor Selbstmitleid. Aber das
Gegenteil trat ein: ich warf einen Blick auf den Kleinen, ich sah seine mageren, vom Schluchzen
geschüttelten Schultern und fühlte mich unmenschlich: ich konnte weder mit den anderen noch mit
mir Mitleid haben. Ich sagte mir: « Ich will anständig sterben. »
Warum sollten Adam und Eva in Genesis 3 nicht von den Früchten des Baumes der Erkenntnis
essen?
Werner Becker: (Der Sündenfall)
Mythen über Sündenfall und verlorene Unschuld, die aus vielen Kulturen überliefert sind, enthalten in
verschlüsselter Form das Wissen über diesen Bruch der Menschheit mit ihrer bereits unvorstellbar
langen Existenz im Zustand vorausgegangener ahnungsloser Unbewußtheit. Sie alle erinnern an
belastende Herausforderungen, die ein solches Aufbrechen der Erkenntnis über die Sterblichkeit des
menschlichen Individuums von Anfang an darstellte. So lautet etwa die Botschaft des biblischen
Genesis-Berichts über die Erschaffung des Menschen: Tod ist Strafe für die Sünde des Menschen. Die
>Sünde< liegt jedoch, ohne daß es ausgesprochen wird, nicht im biologischen Faktum des Todes,
sondern im Bewußtsein davon.
Dem biblischen Bericht zufolge wurden Adam und Eva, die >unschuldig< im sicheren Gefühl der
Ewigkeit existierten, von der Schlange verführt, Früchte vom >Baum der Erkenntnis< zu essen,
Metapher für den Verlust paradiesischer Unsterblichkeit. Daß die Bibel Eva, der >Urfrau<, die Rolle
zuweist, von der Last des zum Tode Verurteiltseins bereits zu wissen, mag Anleihe sein bei den durch
Tod- und Fehlgeburten erlittenen psychischen Traumata und so uralte Erfahrungen der Frauen
widerspiegeln. Denn Eva weiß - und teilt es der Schlange und Adam mit -, daß derjenige sterben
müsse, der Früchte vom Baum der Erkenntnis ißt. Die >Erkenntnis< besteht also im Wissen um das
Sterbenmüssen als einer Bestrafung für das gleichsam schwerste Verbrechen. Wie der >Sündenfall<
ausgeht, ist bekannt: Adam und Eva lassen sich von der Schlange verlocken und essen von den
verbotenen Früchten. Der Zorn Gottes fällt furchtbar aus wie auch die Strafe: Er verfügt ewige
Feindschaft zwischen der Schlange, Symbol der Tierwelt, und dem Menschengeschlecht, bestraft die
Frau für immer mit den schmerzlichen Beschwerden der Geburt und den Mann, >im Schweiß des
Angesichts< künftig auf den >Äckern voller Disteln und Dornen< um des Überlebens willen arbeiten
zu müssen. Das Sterben jedoch bleibt Höhepunkt der Bestrafung: „Zuletzt aber wirst du wieder zur
Erde zurückkehren, von der du genommen bist. Staub von der Erde bist du, und zu Staub mußt du
wieder werden.“ In diesem Sündenfall-Geschehen werden die Dinge aus der Naivität ihrer Anfänge
heraus ins Gegenteil verkehrt: Mit der Vertreibung aus dem Paradies geht die Unsterblichkeit verloren.
Die Trennung von Gott wird also mit dem historisch erreichten Wissen um den Tod in eins gesetzt.
Die Sünde ist aber bereits im Alten Testament eine Schuld, die die Menschen nicht mehr begleichen
können, können sie doch nicht mehr zur Stufe der Naivität ante scientiam mortis zurückkehren.
(Werner Becker, Das Dilemma der menschlichen Existenz: die Evolution der Individualität und das
Wissen um den Tod, Stuttgart, Berlin, Köln 2000, 29f)
Wie kann der Mensch seine Todesfurcht überwinden?
Ernest Becker, Die Überwindung der Todesfurcht
Der Mensch muß verzweifelt kämpfen, um sich im Kosmos als ein Objekt primären Wertes zu
behaupten; er muß sich auszeichnen, ein Held sein, den größtmöglichen Beitrag zum Fortbestehen der
Welt leisten, zeigen, dass er mehr zählt als jedes andere Ding, jeder andere Mensch. 23
Dies also ist das Paradox: Der Mensch ist zur selben Zeit außerhalb der Natur wie hoffnungslos in ihr
verfangen. Er ist eine Zweiheit, hoch oben in den Sternen und trotzdem ein vom Herzschlag belebter,
13
nach Luft schnappender Leib, der einst einem Fisch gehörte und der immer noch dessen
Kiemenmerkmale trägt. Sein Leib ist eine aus Materie bestehende fleischliche Hülle, die ihm auf
mannigfaltige Weise fremd ist – das Seltsamste und Abstoßendste dabei ist, dass sie wehtun kann,
dass sie blutet, dass sie altern und schließlich sterben muß. So ist der Mensch buchstäblich in zwei
Hälften gespalten: Er weiß um seine eigene, herrliche Einmaligkeit, weil er sich überall von der Natur
abhebt und sie überragt, und doch braucht er nur ein paar Meter unter die Erde zu gehen, um blind und
stumm zu verwesen und für immer zu verschwinden. Es ist ein schreckliches Dilemma, mit dem er
leben und sich abfinden muss. (....) Verrückt, weil, wir werden es sehen, alles, was der Mensch in
seiner symbolischen Welt unternimmt, nichts weiter ist als ein Versuch, sein groteskes Schicksal zu
verleugnen. Er betäubt sich buchstäblich mit sozialen Spielen, er klügelt psychologische
Spitzfindigkeiten und individuelle, so weit von der Wirklichkeit seiner Situation entfernte
Beschäftigungen aus, dass diese bereits Formen des Wahnsinns sind: zugegebener Wahnsinn, geteilter,
verhüllter, würdevoller aber nichtsdestoweniger Wahnsinn. 53f
Die Wahrheit wird verschleiert, die Verzweiflung der menschlichen Situation verborgen, eine
Verzweiflung, die das Kind in seinen nächtlichen Alpträumen und täglichen Phobien und Neurosen
erlebt. Und dieser Verzweiflung weicht es durch Abwehrmaßnahmen aus, und diese wiederum
vermitteln ihm ein fundamentales Gefühl des Selbstwertes, der Bedeutsamkeit und der Macht.
Dadurch erscheint es ihm, als beherrsche es sein eigenes Leben, seinen eigenen Tod, als lebe und
handele es tatsächlich wie ein mit eigenem Willen ausgestattetes, freies Individuum, als besitze es eine
einmalige, selbstgeprägte Individualität, kurz: als sei es jemand und kein zitterndes und rein zufällig
geschaffenes Stück Protoplasma auf einem Treibhausplaneten (....). Wir haben den Lebensstil des
Menschen eine lebensnotwendige Lüge genannt, und wir können jetzt eher verstehen, warum wir sie
als lebensnotwendig bezeichnet haben: Sie ist die unerlässliche und grundlegende Unehrlichkeit uns
selbst und unserer ganzen Situation gegenüber.94
Was Kierkegaard sagen will ist, anders formuliert, dass die Schule der Angst nur dann eine
Möglichkeit ist, wenn sie die Lebenslüge des Charakters vernichtet. (....) Der Mensch sprengt die
Fesseln des rein kulturellen Heroismus; er zerstört die Charakterlüge, die ihn sich im Alltagsleben als
Held gebärden ließ. Indem er dies tut, erschließt er sich der Unendlichkeit, dem Potential eines
kosmischen Heroismus, dem Dienste Gottes. Damit erhält sein Leben einen letztendlichen Sinn
anstelle eines nur sozialen und kulturellen oder historischen Sinnes. Er verbindet sein geheimstes,
innerstes Selbst, seine echte Begabung, seine tiefsten Gefühle der Einmaligkeit, sein innerstes Streben
nach einem letzten Sinn und Ziel mit dem wahren Grund der Schöpfung. (.....) Das ist der Sinn des
Glaubens. (....) 141ff
Die Religion hat die unmittelbare Antwort auf das Übertragungsproblem parat, indem sie Furcht und
Schrecken hineinsteigert in den Kosmos, wohin sie gehören. Sie nimmt auch das Problem der
Selbstrechtfertigung auf und entfernt es von den nächstliegenden Objekten. Nun brauchen wir unseren
Nächsten nicht mehr zu gefallen, wir brauchen nur noch dem Quell aller Schöpfung zu gefallen – den
Kräften, denen wir Leben verdanken und nicht denen, in deren Leben wir rein zufällig hineingefallen
sind.
(Ernest Becker, Dynamik des Todes, Die Überwindung der Todesfurcht- Ursprung der Kultur, (zuerst
New York 1973) Walter Verlag, Olten und Freiburg i.B. 1976, 297ff)
Wie stellen sich Moslems die mythisierende Teilhabe am Göttlichen vor?
Koran: Der Lohn im Paradies
Sure 56, 10-39
Und die Vordersten (die zuerst den Islam bekannten oder auch die Propheten) auf Erden.
Die Vordersten auch im Paradiese. Sie sind die Allah Nahegebrachten.
In Gärten der Wonne.
Eine Schar der Früheren
Und wenige der Späteren
Auf durchwobenen Polstern,
Sich lehnend auf ihnen einander gegenüber.
Die Runde machen bei ihnen
Unsterbliche Knaben
Mit Humpen und Eimern
14
Und einem Becher von einem Born.
Nicht sollen sie Kopfweh von ihm haben
Und nicht das Bewußtsein verlieren.
Und Früchte, wie sie sich erlesen,
Und Fleisch von Geflügel, wie sie's begehren,
Und großäugige Hüris gleich verborgenen Perlen
Als Lohn für ihr Tun.
Sie hören kein Geschwätz darinnen und keine Anklage der Sünde;
Nur das Wort: »Frieden! Frieden!«
Und die Gefährten der Rechten - was sind die Gefährten der Rechten? (selig!)
Unter dornenlosem Lotos
Und Bananen mit Blütenschichten und weitem Schatten
Und bei strömendem Wasser und Früchten in Menge,
Unaufhörlichen und unverwehrten, und auf erhöhten Polstern.
Siehe, wir erschufen sie (die Hüris) in (besonderer) Schöpfung
Und machten sie zu Jungfrauen,
Zu liebevollen Altersgenossinnen für die Gefährten der Rechten,
Eine Schar der Früheren
Und eine Schar der Späteren.
(Der Koran, übertragen von Max Henning, Reclam: Stuttgart 1960, 512f)
Wie kann man die Rede vom Buch des Lebens symbolisch, also auf unser Leben bezogen,
verstehen?
Klaus Müller: Namen im Himmel
Predigt am 20.2.05 in der Friedenskirche in Köln- Mülheim über Lk. 10, 20
Was meint nun aber Jesus, wenn er in unserem Monatsspruch sagt:
Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind.
Mit diesem Wort knüpft er an an ein Bild, welches es schon im AT gab. (Jes. 4, 3; Ps. 69, 29; Dan.
12,1)
Das Bild vom Buch des Lebens, welches im Himmel liegt.
Man hatte die Vorstellung, dass im Himmel ein Buch liegt, in das Gott Namen von Menschen einträgt.
Welche Namen trägt er dort ein?
Die Namen der Menschen, die vor ihm bestehen können.
(....) Jesus redet von Freude und nicht von Angst.
Jesus sagt dieses Wort zu seinen Freunden.
Also zu denen, die auf sein Wort hören und die ihm vertrauen.
Er sagt nicht zu ihnen:
Freut euch aber, dass die Namen einiger von euch im Himmel geschrieben sind.
Nein, alle gehören dazu.
Alle, die ihm vertrauen.
Alle, die ihm nachfolgen.
(....) Es ist kein Buch, welches in Gut und Böse einteilt.
Es ist kein Buch, welches die Leistungen der Menschen aufzählt.
Nein, man kann es wohl am ehesten mit einem
TAGEBUCH vergleichen.
Ich weiß nicht, wer von ihnen schon mal ein Tagebuch geführt hat.
In so ein Tagebuch schreibt man alles rein, was man für wichtig erachtet.
Man schreibt alles rein, was man gerne behalten möchte.
Alles, woran man sich noch in 20 Jahren erinnern möchte.
Da schreibt man vor allem auch rein, wenn man sich verliebt hat.
Wenn man mal so die Tagebücher der Weltliteratur liest, dann stehen da ganz viele Liebesgeschichten
drin.
So stelle ich mir das auch mit dem Buch des Lebens im Himmel vor.
Da steht alles drin, was wichtig ist.
15
Da steht alles drin, was nicht vergessen werden darf.
Das steht alles drin, was in Ewigkeit Bestand haben soll.
Und vor allem, da stehen die Namen aller drin, die Gott liebt.
Alle, mit denen Gott eine Liebesgeschichte hat.
Da stehen alle drin, die auf Gottes Liebesbrief geantwortet haben.
Und der Liebesbrief Gottes, das ist Jesus Christus.
Durch ihn zeigt uns Gott, wie sehr er uns liebt.(....)
Das bedeutet, dass ich bei Gott in alle Ewigkeit gut aufgehoben bin.
Das bedeutet, dass ich niemals vergessen bin.
Ich brauche keine Angst mehr zu haben, dass mit dem Tod alles aus ist.
Jedes Leben und sei es noch so unscheinbar, hat bei Gott einen unverlierbaren Wert.
Und selbst wenn ich irgendwann einmal in einem anonymen Grab auf dem Friedhof liegen werden:
Mein Name ist im Himmel aufgeschrieben.
Ich bin von Gott für alle Zeiten angenommen und geliebt.
Freut euch aber,
dass eure Namen im Himmel geschrieben sind.
Amen
Was kann das Symbol vom »Buche des Lebens« uns sagen?
Hans Jonas, Das Symbol ‚Buch des Lebens’
Was kann das Symbol vom »Buche des Lebens« uns sagen? In der jüdischen Überlieferung bedeutet
es eine Art von himmlischem Hauptbuch, in dem unsere Namen gemäß unseren Verdiensten
verzeichnet werden - womöglich »zum Leben«, d. h. zu unserem, dem Leben der jeweiligen Person.
Aber anstatt Taten als Verdienste anzusehen, die dem Täter gutzuschreiben sind, können wir sie auch
als für sich selbst zählend ansehen - gewissermaßen als »Dinge an sich« - und dann den Begriff des
Buches anders fassen, nämlich so, daß es sich nicht mit Namen und Anrechnungen, sondern mit den
Taten selbst füllt. Mit anderen Worten, ich spreche von der Möglichkeit, daß Taten sich selbst
eintragen in ein ewiges Register der Zeitlichkeit; daß was immer hier gehandelt wird - jenseits seiner
Fortwirkung und schließlichen Verflüchtigung im Kausalgewebe der Zeit -, sich in alle Zukunft einem
transzendenten Reiche einfügt und es prägt nach Gesetzen, die anders sind als die der Welt, immer
weiter das unabgeschlossene Protokoll des Seins anschwellend und immer neu die angstvolle Bilanz
verschiebend. Ja, könnte es nicht sein, um mich noch einen Schritt weiter zu wagen, daß das, was wir
so der Urkunde hinzufügen, von überragender Bedeutung ist - wenn auch nicht für unser eigenes
zukünftiges Schicksal, so doch für das Interesse jener geistigen Summe selber, die das vereinende
Erinnern der Dinge fortlaufend zieht?
(H. Jonas, Unsterblichkeit und heutige Existenz, in: ders., Das Prinzip Leben, Suhrkamp TB, Frankfurt
1997, 387)
Welchen Wert haben Schönheit und Sinnlichkeit des Lebens im christlichen Jenseitsglauben?
Friedrich Nietzsche, Die Erfindung des Jenseits aus Furcht vor der Schönheit und
Sinnlichkeit des Lebens
5. In Wahrheit, es gibt zu der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie in
diesem Buche gelehrt wird, keinen größeren Gegensatz als die christliche Lehre, welche nur moralisch
ist und sein will und mit ihren absoluten Maßen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit Gottes,
die Kunst, jede Kunst ins Reich der Lüge verweist, - das heißt verneint, verdammt, verurteilt. Hinter
einer derartigen Denk- und Wertungsweise, welche kunstfeindlich sein muß, solange sie irgendwie
echt ist, empfand ich von jeher auch das Lebensfeindliche, den ingrimmigen rachsüchtigen
Widerwillen gegen das Leben selbst: denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik,
Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums. Christentum war von Anfang an wesentlich und
gründlich, Ekel und Überdruß des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein
»anderes« oder »besseres« Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Haß auf die
»Welt«, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits,
erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen ins Nichts, ans Ende, ins
Ausruhen, hin zum »Sabbat der Sabbate« - dies alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille
des Christentums, nur moralische Werte gelten zu lassen, immer wie die gefährlichste und
unheimlichste Form aller möglichen Formen eines »Willens zum Untergang«, zum mindesten ein
16
Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Mißmutigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben, - denn vor
der Moral (insonderheit christlichen, das heißt unbedingten Moral) muß das Leben beständig und
unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches ist (....) Gegen die
Moral also kehrte sich (....) mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich
eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens, eine rein artistische, eine
antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige
Freiheit - denn wer wüßte den rechten Namen des Antichrist? - auf den Namen eines griechischen
Gottes: ich hieß sie die dionysische. F. Nietzsche, Versuch einer Selbstkritik (1886) [Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 13 ff.Die
digitale Bibliothek der Philosophie, S. 42801 (vgl. Nietzsche-W Bd. 1, S. 14 ff.)]
Was haben Religionen und Philosophie mit dem Wissen um den Tod zu tun?
Arthur Schopenhauer: Alle Religionen und philosophischen Systeme als Heimmittel gegen das
Bewusstsein der Sterblichkeit ( Die Welt als Wille und Vorstellung, 1839, Kapitel 41:)
Das Tier lebt ohne eigentliche Kenntnis des Todes: daher genießt das tierische Individuum unmittelbar
die ganze Unvergänglichkeit der Gattung, indem es sich seiner nur als endlos bewusst ist. Beim
Menschen fand sich, mit der Vernunft, notwendig die erschreckende Gewissheit des Todes ein. Wie
aber durchgängig in der Natur jedem Uebel ein Heilmittel, oder wenigstens ein Ersatz beigegeben ist;
so verhilft die selbe Reflexion, welche die Erkenntnis des Todes herbeiführte, auch zu metaphysischen
Ansichten, die darüber trösten, und deren das Tier weder bedürftig noch fähig ist. Hauptsächlich auf
diesen Zweck sind alle Religionen und philosophischen Systeme gerichtet, sind also zunächst das von
der reflektierenden Vernunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte Gegengift der Gewissheit des
Todes. Der Grad jedoch, in welchem sie diesen Zweck erreichen, ist sehr verschieden, und allerdings
wird eine Religion oder Philosophie viel mehr, als die andere, den Menschen befähigen, ruhigen
Blickes dem Tod ins Angesicht zu sehn.
Wie könnte sich ein Embryo fühlen, wenn ihm klar würde, dass er eines Tages den Mutterschoß
verlassen muss?
Günter Putzberg: Leben „danach“
Es geschah, dass in einem Schoß Zwillingsbrüder empfangen wurden. Die Wochen vergingen, und die
Knaben wuchsen heran. In dem Maß, in dem ihr Bewusstsein wuchs, stieg die Freude: "Sag, ist es
nicht großartig, dass wir empfangen wurden? Ist es nicht wunderbar, dass wir leben?!" Die Zwillinge
begannen, ihre Welt zu entdecken. Als sie aber die Schnur fanden, die sie mit ihrer Mutter verband
und die ihnen die Nahrung gab, da sangen sie vor Freude: Wie groß ist die Liebe unserer Mutter, dass
sie ihr eigenes Leben mit uns teilt!"
Als aber die Wochen vergingen und schließlich zu Monaten wurden, merkten sie plötzlich, wie sehr
sie sich verändert hatten.
"Was soll das heißen?" fragte der eine.
"Das heißt", antwortete der andere, dass unser Aufenthalt in dieser Welt bald seinem Ende zugeht."
"Aber ich will gar nicht gehen", erwiderte der eine, "ich möchte für immer hier bleiben."
,Wir haben keine andere Wahl", entgegnete der andere, "aber vielleicht gibt es ein Leben nach der
Geburt!"
"Wie könnte das sein?", fragte zweifelnd der erste, "wir werden unsere Lebensschnur verlieren, und
wie sollen wir ohne sie leben können? Und außerdem haben andere vor uns diesen Schoß hier
verlassen, und niemand von ihnen ist zurückgekommen und hat uns gesagt, dass es ein Leben nach der
Geburt gibt. Nein, die Geburt ist das Ende!"
So fiel der eine von ihnen in tiefen Kummer und sagte: "Wenn die Empfängnis mit der Geburt endet,
welchen Sinn hat dann das Leben im Schoß? Es ist sinnlos. Womöglich gibt es gar keine Mutter hinter
allem." ,Aber sie muss doch existieren", protestierte der andere, "wie sollten wir sonst hierher
gekommen sein? Und wie könnten wir am Leben bleiben?" "Hast du je unsere Mutter gesehen?" fragte
der eine. Womöglich lebt sie nur in unserer Vorstellung. Wir haben sie uns erdacht, weil wir dadurch
unser Leben besser verstehen können."
Und so waren die letzten Tage im Schoß der Mutter gefüllt mit vielen Fragen und großer Angst.
Schließlich kam der Moment der Geburt. Als die Zwillinge ihre Welt verlassen hatten, öffneten sie
ihre Augen. Sie schrieen. Was sie sahen, übertraf ihre kühnsten Träume.
(Günter Puzberg, aus: Klaus Berger, Wie kommt das Ende der Welt?, Gütersloh 2002)
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