Rainer Bartel

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Rainer Bartel
GATT, WTO und GATS
GATS (General Agreement on Trade in Services) ist das geplante Allgemeine Abkommen
über den Dienstleistungshandel. Nicht zu verwechseln ist es mit den verschiedenen Zollund Handelsabkommen, die bisher in jeweils mehrjährigen Verhandlungsrunden im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT (General Agreement on Tariffs
and Trade) abgeschlossen wurden. Mittlerweile wurden das GATT-Vertragswerk und die
laufenden Verhandlungen über seine Weiterentwicklung auf eine organisatorische Basis
gestellt: die Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization).
Schon seit den späten 40er-Jahren wird in den verschiedenen GATT-Runden und nunmehr im Rahmen der WTO über die Liberalisierung des Welthandels verhandelt. Dabei
ging es bis vor kurzem hauptsächlich um den Abbau von Außenhandelshemmnissen im
Warenverkehr (d.h. im Handel mit materiellen Gütern, wie Rohstoffen, Maschinen, Lebensmitteln).
Zum einen wurde in den vergangenen ca. zehn Jahren der Fortschritt in der Informationsund Telekommunikationstechnologie (IT) Ausschlag gebend für die Wirtschaftsentwicklung, so dass sich dem internationalen Handel mit solchen und damit zusammenhängenden Diensten (z.B. Beratung, Versicherung, Bildung) wesentlich größere Möglichkeiten
eröffneten. Ebenso erleichtern die globalen IT-Möglichkeiten die Führung von Betrieben im
Ausland. Zum anderen ist in den entwickelten Wirtschaften allgemein zu beobachten, dass
der Dienstleistungssektor am schnellsten wächst. Deshalb geht der Anteil von Landwirtschaft und Bergbau an der Wirtschaftsleistung beständig und markant zurück, während
der Anteil der Sachgütererzeugung tendenziell leicht sinkt.
Da das GATS nichts Anderes ist als die Fortführung der GATT- bzw. WTO-Verhandlungen
mit der beabsichtigten Ausdehnung der Handelsliberalisierung auf die Dienstleistungsmärkte, stellen sich einige Fragen. Was ist mit Liberalisierung gemeint? Was ist eigentlich
die Motivation für die internationalen Handelsliberalisierung? Was sind Vor- und Nachteile
– allgemein und speziell bei Dienstleistungen?
Liberalisierung wird eher weit gefasst. Darunter wird nicht nur der stufenweise Zollabbau
verstanden, sondern auch der Abbau von administrativen Bürden für Importe und die Unterlassung staatlicher Subventionen, die den Wettbewerb zu Gunsten des eigenen Landes
verzerren würden. Ein WTO-Mitglied hat das Recht, Klage zu führen vor dem WTOSchiedsgericht, welches den klagenden Mitgliedstaat notfalls ermächtigt, Strafzölle einzuheben.
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Das GATT wurde geschaffen, um die Wiederholung der protektionistischen Außenhandelspolitik der Zwischenkriegszeit zu vermeiden. Die Nationalstaaten hatten nämlich ihre
Importe behindert, ihre Exporte gefördert und bewusst eine extreme Abwertungspolitik
(Abwertungs-"Wettläufe") betrieben, um möglichst hohe Nettoexporte und somit einen
größtmöglichen Beitrag der Außenwirtschaft zum Inlandseinkommen zu erzielen. Doch
global – als sich viele an diesem Wettbewerb beteiligten – konnte dies keine erfolgreiche
Strategie sein: Das Welthandelsvolumen ging zurück, das Welteinkommen litt darunter,
und die Börsenkrise 1929 riss die Weltwirtschaft leicht in die Große Depression, von der
sich die Beschäftigung vor dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erholte. Daher wurde in der
Nachkriegsordnung auf politische Kooperation statt nationale Konkurrenz, auf Liberalisierung statt Protektionismus gesetzt.
Zweifellos brachte die fortschreitend liberale Handelspolitik (auch) Wohlstandsgewinne für
die Welt. Für den internationalen Handel lassen sich gute Argumente finden: Die ungleiche
Verteilung natürlicher Ressourcen und die ebenfalls unausgewogene Ausstattung einer
nationalen Wirtschaft mit Arbeit (Arbeitskräftepotenzial, Qualifikationsstruktur) und Kapital
(Produktionsanlagen) lassen sich nur durch Außenhandel ausgleichen. Ebenso legt es die
unterschiedliche Ausstattung der Nationen mit den verschiedenen Produktionsfaktoren
aus Effizienzgründen nahe, dass sich eine Volkswirtschaft auf jene Produkte spezialisiert,
die sie am besten bzw. am kostengünstigsten herstellen kann. Dadurch ist global die Produktivität maximal, was bedeutet, dass mit den begrenzt vorhandenen Produktionsfaktoren
ein Maximum an Produktion und Einkommen erzielt werden kann. Und schließlich können
die Kostenvorteile der Massenproduktion oft nur dann voll genützt werden, wenn der Absatzmarkt für die Produkte der große Weltmarkt und nicht der kleinere Binnenmarkt ist.
Insgesamt kann also der Außenhandel gerade kleinen Ländern die größten Vorteile bieten.
Andererseits zeigt eine bedingungslose, wirtschaftspolitisch ungeregelte Liberalisierung
auch Schattenseiten. Gibt es ungleiche Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen in
verschiedenen Ländern, so wird freier Wettbewerb diese Ungleichheit in den Produktionsbedingungen und Wohlstandsergebnissen noch verstärken. Gerade der Vorsprung in
technisch-organisatorischem und marktbezogenem Know-how wird größer, je länger diese
Ungleichheit besteht. Daher hat die jene Unternehmung, die sich früher auf einem neuen
Markt etabliert, einen Vorsprung ("first-mover advantage") gegenüber der nächsten usw.
Dem gemäß sind so genannte Erziehungszölle (Schutzzölle, die auf die Dauer des wirtschaftlichen Aufholprozesses von MarktteilnehmerInnen begrenzt sind) zwar protektionistisch, aber durchaus sinnvoll. Obendrein werden von jenen Staaten, die sich ohnehin in
einer überlegenen Position befinden, vielfach nur Lippenbekenntnisse zur Öffnung der
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Märkte für ausländische Produkte abgegeben. Und schließlich beruhen viele Erfolgsstorys
der Reifung von Entwicklungs- zu Schwellen- und Industrieländern (wie die ostasiatischen
"Tigerstaaten") auf einer protektionistischen Handelspolitik während der Aufholphase.
Besonders gravierend für bestimmte Staaten können sich Wirtschaftskrisen unter der Bedingung der kaum eingeschränkten internationalen Freizügigkeit von Finanz- und Sachkapital auswirken. Finanzkapital kann in Minutenschnelle zu schier unbegrenzten Beträgen
aus einer Anlageform in einem Land in eine andere Veranlagung in einem anderen Land
verschoben werden. International grundsätzlich mobil ist auch Sachkapital, wenn auch
nicht so mobil wie Finanzkapital; werden Produktionsanlagen oder gar ganze Betriebe in
andere Länder verlegt, bleiben oft Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit zurück, denn die
Menschen können oder dürfen zwischenstaatlich kaum mobil sein.
Begleiterscheinung der Liberalisierung des Welthandels durch GATT, WTO und GATS
dürfte in so manchem Fall die Koexistenz von dynamischer Wohlstandsentwicklung und
ungleicher werdender Verteilung der Wohlstandszuwächse, zum Teil aber auch der Wohlstandsniveaus sein (z.B. zwischen vielen Staaten Afrikas und der meisten übrigen Welt).
Ebenso sind Änderungen der regionalen, aber auch globalen Umweltqualität durch den
Transport eine negative Begleiterscheinung. All diese Phänomene erfordern eine sinnvolle
internationale Kooperation in der Wirtschaftspolitik. Doch die Zeichen weisen zur Zeit eher
in die Richtung einer Wirtschaftspolitik, die eine unbedingte Liberalisierung in Form eines
Rückzugs des Staates aus seiner staatspolitischen Verantwortung forciert statt eine begleitenden Regulierung der Öffnung der Märkte für internationale Konkurrenz.
Eine Liberalisierung des Dienstleistungssektors durch das geplante GATS dürfte zwar den
Gesamtwohlstand beschleunigen, aber auch die genannten Struktur- und Verteilungsprobleme verschärfen. Wie nötig eine Regulierung der Märkte begleitend zu deren Öffnung ist,
hängt allgemein davon ab, ob der jeweils geöffnete und sich frei entwickelnde Markt die
gesellschaftlich erwünschten Ergebnisse bringt: möglichst niedrige (jedenfalls sozial zumutbare oder wenigstens leistbare) Preise, hohe, zuverlässige Qualität, flächendeckende
Versorgung, Umweltverträglichkeit, größtmögliche Sicherheit am Arbeitsplatz und des Arbeitsplatzes, faire Entlohnung u.dgl.
Das Besondere an der Dienstleistungsliberalisierung des GATS wäre, dass dadurch
Dienste betroffen wären, die bislang vielenorts (noch) zu den traditionellen Aufgabenbereichen des Staates zählen: Sozialversicherung, Versorgung und Entsorgung, Bildung und
Gesundheit.
Nach dem GATS-Entwurf dürfen ausländische gegenüber inländischen DienstleistungsanbieterInnen nicht benachteiligt werden. Also würde die Konkurrenz im Allgemeinen und für
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den öffentlichen Sektor im Besonderen verstärkt. Privat-staatlicher Wettbewerb würde erzwungen, indem gewisse Ausnahmen von den GATS-Bestimmungen für die öffentlichen
Dienste nur dann gewährt werden sollen, wenn sich diese ohnedies schon im Wettbewerb
mit AnbieterInnen "auf kommerzieller Basis" befinden. Die Politik müsste sich folglich immer mehr auf eine sehr mittelbare Rahmengesetzgebung statt einer effektiv lenkenden
Regulierung zurückziehen und tendenziell die (sozial motivierten) Versorgungsleistungen
den privaten, kommerziellen Märkten überlassen. Selbst wenn – nachdem die privaten
KonkurrentInnen die profitablen Bereiche (Hocheinkommensschichten) abdecken ("Rosinenpicken") – sich der Staat der Versorgung einkommensschwacher und risikoträchtiger
Bevölkerungsschichten annimmt, müsste er in diesen verlustträchtigen Marktsegmenten
öffentliche Mittel zuschießen.
Auf Grund des GATS-Vertrages würden jedoch staatliche Regulierungen für private
Dienstleistungsproduktionen bzw. staatliche Subventionen für sozial wichtige Versorgungsbereiche als protektionistische Hemmnisse bzw. wettbewerbsverzerrende Staatseingriffe in den Dienstleistungsbereich interpretiert, somit von der WTO untersagt werden
und einen weiteren Abstand des Staates von der Gestaltung der Wirtschaft bewirken. Das
WTO-Schiedsgericht kann immerhin nationales Recht brechen. In diesem Sinn würde eine
Entpolitisierung der Wirtschaftspolitik stattfinden.
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