IGVorlesung_volltexte

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Quellen zur Vorlesung
Information und Gesellschaft
NUR FÜR DEN PERSÖNLICHEN GEBRAUCH
Rafael Capurro
www.capurro.de
Hochschule der Medien
Sommersemester 2005
ÜBERSICHT
Einleitung
I. Wolfgang Kleinwächter: Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel
II. Informationsgesellschaft Deutschland 2006. Aktionsprogramm der Bundesregierung
III. Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft
IV. Dieter Klumpp: Informationsgesellschaft – nur eine „symbolische“ Diskussion?
V. Friedemann Mattern: Ubiquitous Computing
VI. Rafael Capurro: Soziale, rechtliche, politische und ethische Aspekte der
Informationsgesellschaft
VII. Manuel Castells: Das Informationszeitalter
VIII. ICIE International Symposium 2004: “Localizing the Internet”.
Einleitung
Die folgende Textsammlung dient als Grundlage der Vorlesung Information und Gesellschaft
sowie als Hilfe für die Prüfungsvorbereitung. Diese Texte dürfen nur für den persönlichen
Gebrauch benutzt werden.
Einige Quellen sind im Netz zugänglich. Diese Sammlung darf nur für den persönlichen
Gebrauch benutzt werden. Sie ersetzt insbesondere nicht die Lektüre der jeweiligen Kapitel
aus Manuel Castells „Das Informationszeitalter“, die hier nur in Form von Exzerpten
wiedergegeben werden.
Zusätzlich zu diesen Quellen sollten Sie auf die Links in der Website der Vorlesung
(http://www.capurro.de/lehre_igvorlesung.html) achten.
Die Beiträge der eingeladenen Referenten sind Bestandteil des Prüfungsstoffes.
1
I. Wolfgang Kleinwächter: Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel
Quelle: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/16333/1.html
„Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel
Wolfgang Kleinwächter 16.12.2003
Die Genfer WSIS-Deklaration enthält zwar nur vage Grundsätze, aber dennoch
fand eine Bewegung in wesentlichen Dingen statt und es wurde zusammen mit
einem neuen globalen Problembewusstsein auch ein neuartiges globales Forum
geschaffen
Die erste Phase des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft ( WSIS) ist vorbei. Die
14.352 registrierten Teilnehmer sind nach Hause gefahren. Die angenommenen
Dokumente sind ins Internet gestellt. Und die Beobachter fragen sich, was hat die
Bergbesteigung denn nun wirklich gebracht? Sucht man nach konkreten Resultaten,
wird man kaum fündig. Außer Spesen also nichts gewesen? Oder war da noch was?
Schaut man aus der Froschperspektive auf die WSIS-Konferenz, dann ist zweifelsohne die
landläufig zu vernehmende Kritik an den verabschiedeten Regierungs-Dokumenten
berechtigt. Sie sind vage und unverbindlich. Die Cyberwelt sieht nach dem Gipfel nicht viel
anders aus als zuvor. Und der digitale Graben ist nicht flacher geworden.
Schaut man aber aus der Vogelperspektive auf den mühsamen Aufstieg zum Genfer Gipfel,
dann entdeckt man, dass sich einige wesentliche Dinge zwischen Minneapolis 1998, als die
Veranstaltung beschlossen wurde, und Genf 2003 bewegt haben.
Neues globales Problembewusstsein
Geändert hat sich vor allem das öffentliche Bewusstsein zum Thema
Informationsgesellschaft. 1998, im Sog des Dot-Com-Booms, war das Thema primär auf die
Faszination der technologischen Revolution, auf die kommerziell verwertbaren Aspekte und
die digitale Spaltung fixiert. Ein Thema für Experten, Techniker,
Risikokapitalinvestmentbanker und niedere Beamte in Wirtschafts- und
Entwicklungshilfeministerien.
Der Genfer Gipfel hat das Thema in den großen weltpolitischen Kontext des 21. Jahrhunderts
gestellt. In Genf ging es nicht um die "Informationsrevolution", es ging um die Gesellschaft,
die sich darauf zu konstituieren beginnt. Zu den politischen und wirtschaftlichen Interessen,
die sich 1998 abzeichneten, kamen gesellschaftliche und kulturelle Werte. Das machte die
Verhandlungen so schwierig, weil es eben leichter ist, einen Interessenausgleich zu erreichen
als sich über Wertvorstellungen zu verständigen. Das rückte aber das Thema auch vom Rand
der globalen Politik mehr ins Zentrum.
Die WSIS-Deklaration sagt in ihrem ersten Paragraphen, welche Informationsgesellschaft
man denn aufbauen wolle.
“We, the representatives of the peoples of the world, declare our common desire and
commitment, to build a people-centred, inclusive and development-oriented
2
Information Society, where everyone can create, access, utilize and share information
and knowledge, enabling individuals, communities and peoples to achieve their full
potential in promoting their sustainable development and improving their quality of
life, premised on the purposes and principles of the Charter of the United Nations and
respecting fully and upholding the Universal Declaration of Human Rights.”
Den Menschen in den Mittelpunkt und das Schaffen, den Zugang und den Austausch von
Informationen und Wissen ins Zentrum zu rücken, sind sehr noble, aber leider auch sehr
allgemeine Zielsetzungen und Formulierungen. Sie haben es aber dennoch in sich. Der hohe
Abstraktionsgrad bietet ein nicht zu unterschätzendes Referenzpotential. Man denke nur an
die langfristigen Wirkungen von ähnlichen Dokumenten wie der UNMenschenrechtsdeklaration von 1948 oder der KSZE-Schlussakte von 1975. Erst Jahre später
merkte man, was solche allgemeinen Formeln tatsächlich bewirken.
Die Zivilgesellschaft hatte sich vom ersten Tag der PrepCom1 (Juni 2002) gegen eine
technokratische oder bürokratische Informationsgesellschaft gewandt und eine
"Informationsgesellschaft mit menschlichen Antlitz" eingefordert. Der stete Tropfen aus den
unendlichen Quellen der globalen Zivilgesellschaft höhlte offensichtlich den Stein, der nun
ein Meilenstein ist, an dem sich zukünftige Entwicklungen messen lassen müssen.
Neues globales Verhandlungsforum
Ein zweites, nicht sofort sichtbares Resultat, ist die Tatsache, dass WSIS einen Prozess in
Gang gesetzt hat, der die Grundfragen der Informationsgesellschaft zum Thema globaler
Verhandlungen für das nächste Jahrzehnt gemacht hat. Bei allen fünf WSIS-Themen geht es
um Grundsätzliches. Beim "Digitalen Solidaritätsfonds" geht es ums Geld, bei "Internet
Governance" um Macht, beim "geistigem Eigentum" um Wissen, bei "Cybersicherheit" um
Kontrolle und bei Informationsfreiheit und Datenschutz um Menschenrechte.
Die Organisation und Verteilung von Geld, Macht, Wissen, Kontrolle und Menschenrechte im
Cyberspace aber ist eine gigantische langfristige Herausforderung. Genf 2003 ist nur eine
Zwischenstation. Es folgt Tunis 2005. Und der Aktionsplan zielt auf das Jahr 2015, also Tunis
10+.
Zwar enthält die Genfer WSIS-Deklaration zu den fünf Themen nur vage Grundsätze. Das
Interessante daran aber ist, dass diese Themen, die natürlich alle miteinander verquickt sind,
bislang global entweder gar nicht oder völlig isoliert voneinander behandelt wurden. Mit
WSIS haben diese Themen nun ihre globale Verhandlungsheimstatt gefunden.
Der Europarat, Depositar der "Cybercrime Convention", wird sich die Prinzipien der WSISDeklaration anschauen müssen, wenn er das Konzept der Cybersicherheit weiter entwickeln
will. WTO und WIPO werden nicht umhin kommen, sich mit der von der WSIS-Deklaration
eingeforderten Balance zwischen Schutz des geistigen Eigentums und freien Zugang zu
Wissen zu befassen. Die Weltbank wird sich mit der Idee des "Digitalen Solidaritätsfonds"
auseinandersetzen müssen. Und bei "Internet Governance" wird ICANN prüfen müssen,
inwieweit ihr gerade beendeter Reformprozess dem von WSIS geforderten "multistakeholder
approach" entspricht.
Während vor dem Genfer Gipfel Europarat, WTO, WIPO, Weltbank und ICANN so gut wie
nichts miteinander zu tun hatten, werden sie jetzt in ein entstehendes globales institutionelles
Netzwerk hineingezogen, in dem nicht nur Regierungen, sondern auch die private Industrie
und die Zivilgesellschaft eine von der WSIS-Deklaration bestätigte "bedeutende Rolle"
spielen.
3
Wie weiter mit "Internet Governance"?
Die Globalisierung der WSIS-Themen wird sich vor allem bei der weiteren Diskussion über
Verwaltung der Kernressourcen des Internet zeigen. Die Kontorverse "ITU vs. ICANN" und
der dahinter liegende Konflikt über die Zukunft des Internet zwischen der chinesischen und
der amerikanischen Regierung einerseits, sowie zwischen Regierungen, Privatwirtschaft und
Zivilgesellschaft andererseits hatte WSIS zeitweise an den Rand des Scheiterns gebracht,. Der
schließlich erreichte Kompromiss ist die Auslösung eines neuen Prozesses. Nun soll UNGeneralsekretär Kofi Annan mittels einer Arbeitsgruppe bis 2005 einen funktionsfähigen und
akzeptablen Vorschlag aus dem Hut zaubern.
Das Internet wird damit zu einem eigenständigen globalen Verhandlungsgegenstand. WSIS
holt das Thema praktisch aus der Ecke der technischen Expertengremien mit unklaren
politischen Zuständigkeiten und transportiert es auf die große politischen Bühne der globalen
Politik. Was dass im Einzelnen bedeutet, ist momentan schwer abzuschätzen. Möglicherweise
ist Paragraph 50 der WSIS-Deklaration, der Zusammensetzung und Mandat der neuen Gruppe
definiert, das weitreichendste Ergebnis von WSIS I.
Die Gruppe soll, so der Text von Paragraph 50, aus "Vertretern der Regierungen, der privaten
Wirtschaft und der Zivilgesellschaft aus entwickelten und Entwicklungsländer und unter
Einschluss bestehender zwischenstaatlicher und anderer relevanter Institutionen und Foren"
gebildet werden. Den Regierungen wird dabei primär ein Mandat für die mit dem Internet
zusammenhängenden Aspekte öffentlicher Politik zugewiesen. ("rights and responsibilities
for international Internet-related public-policy issues"). Der privaten Wirtschaft und der
Zivilgesellschaft wird eine "wichtige Rolle" bescheinigt. Zwischenstaatliche Organisationen,
wie die ITU, sollen eine "fördernde Rolle" spielen.
Bemerkenswert darin ist nicht nur, dass erstmals in einem offiziellen UN-Dokument der
Zivilgesellschaft eine "bedeutende Rolle", ähnlich wie der privaten Wirtschaft, zugewiesen
wurde, sondern vor allem der konzeptionelle Ansatz, der auf einem neuen "trilateralen
Politikmodell" basiert, bei dem Regierungen, private Wirtschaft und Zivilgesellschaft mit
unterschiedlichen Rollen und Verantwortlichkeiten, aber praktisch weitgehend
gleichberechtigt, Hand in Hand arbeiten sollen. Das ist neu. Wie das funktionieren soll und
kann, ist noch unklar. Aber es wird spannend werden zu beobachten, wo diese Reise hingeht.
Die neue "Kofi Annan Gruppe" soll zunächst definieren, was man denn überhaupt unter
"Internet Governance" versteht. Dann soll sie herausfinden, welche politischen Aspekte davon
tatsächlich einer staatlichen Regulierung bedürfen. Und schließlich soll sie der zweiten
Gipfelphase im November 2005 in Tunis einen Mechanismus vorschlagen, wie die
unterschiedlichen Themen durch unterschiedliche Akteure global und effektiv gemanagt
werden können.
Dieser WSIS-Beschluss enthält möglicherweise mehr Dynamik, als man sich heute noch
vorstellen kann. Schon hat die Diskussion begonnen über das "Wer", "Wie", "Wann" und
"Wo" der Gruppe. Nitni Desai, Kofi Annans WSIS-Botschafter, will erst einmal zuhören, was
denn die einzelnen "Stakeholder" zu sagen haben. Das erste Vorbereitungstreffen für die
zweite Gipfelphase findet im Juni 2004 statt. Bis dahin will er seine Gedanken sortiert haben.
Einige Regierungen haben bereits vorgeschlagen, die neue Gruppe schon Ende März 2004 in
New York zu gründen, wenn sich die UN ICT Task Force, die auch unter der
Schirmherrschaft von Kofi Annan steht, trifft. Der zivilgesellschaftliche "Internet ICT
Governance Caucus" hat noch in Genf einen Vorschlag zur Zusammensetzung der Gruppe in
die Debatte gebracht. Man solle den Text von Paragraph 50 wörtlich nehmen und eine
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18köpfige Gruppe bilden mit je sechs Vertretern von Regierungen, der privaten Wirtschaft
und der Zivilgesellschaft, jeweils drei aus dem Norden und drei aus dem Süden. Der private
Sektor wird sich bei seiner routinemäßigen ICANN-Tagung Anfang März 2004 in Rom
positionieren.
Neue Rolle für Zivilgesellschaft
Ein drittes langfristig wirkendes Resultat ist die neue Rolle der Zivilgesellschaft im globalen
Verhandlungsprozedere. 1998 in Minneapolis spielte die Zivilgesellschaft überhaupt keine
Rolle. Dann meldete sich im Dezember 1999 in Seattle die Zivilgesellschaft auf der Strasse zu
Wort. Die Kritiker der WTO waren von den verhandelnden Ministern durch einen schwer
bewaffneten Polizeikordon getrennt. Die Staats- und Regierungschefs mussten sich durch die
Hintereingänge den Weg zum Plenarsaal und zum Konferenzdinner erschleichen.
US-Präsident Clinton, der die "Dinner Speech" in Seattle hielt, machte damals einen süßsauren Scherz. Das Winken mit der Serviette von WTO-Generalsekretär Moorer bei seinem
verspäteten Eintreffen im Ballsaal des Konferenzhotels, so Clinton, hätte ihn an das Hissen
der weißen Flagge erinnert. Manche der vorwiegend jungen Leute draußen, so Clinton weiter,
hätten aber ein durchaus legitimes Anliegen, dem man drinnen zuhören sollte. "Wir sollten sie
in den Verhandlungsraum einladen", sagte der US-Präsident damals.
WSIS-Genf war nicht WTO-Seattle. Die Zivilgesellschaft hat hier nicht Steine geworfen,
sondern Papiere produziert. Noch bei PrepCom1 gab es tumultartige Szenen vor
geschlossenen Konferenztüren. Zwar öffneten sich später die Türen ein wenig, aber das "Rein
oder Raus" zog sich durch den gesamten Vorbereitungsprozess. Beim Gipfel waren aber
immerhin bei den drei offiziellen Round Tables neben Staatspräsidenten und Ministern auch
jeweils vier Vertreter der Zivilgesellschaft als Redner eingeladen. Im Plenum konnten zehn
zivilgesellschaftliche Repräsentanten ihre Meinung sagen. Und nachdem die Regierungen ihre
Dokumente am Freitag Nachmittag per Akklamation verabschiedet hatten, trat Bill McIver ins
Rampenlicht und ans Rednerpult und präsentierte im Namen des "Civil Society Plenary" die
zivilgesellschaftliche WSIS-Deklaration. Sie sei keine Anti-Deklaration, sagte McIver,
sondern eine auf das Morgen ausgerichtete Vision, die das sage, was Regierungen, die zum
Konsensus auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner verpflichtet seien, nicht sagen könnten.
Die Tatsache, dass sich im WSIS-Prozess die Zivilgesellschaft in zahlreichen "Familien",
"Caucusen" und "Arbeitsgruppen" organisiert und sich handlungsfähige repräsentative
Gremien wie die "CS Plenary" (CS-P), die "CS Content and Themes Group" (CS-C&T) und
das "CS Bureau" (CS-B) geschaffen hat, gaben ihren Aktionen ein bisher kaum vorhandene
Legitimität.
Der Schritt von "Turmoil" zu "Trust" wurde zwar noch nicht mit einem signifikanten Schritt
von "Input" zu "Impact" belohnt, aber sieht man sich die Regierungsdokumente genauer an,
dann haben schon einige Buchstaben den Weg von den zivilgesellschaftlichen Einlassungen
in die regierungsoffiziellen Auslassungen gefunden. Die übliche Frustration der
zivilgesellschaftlichen Gruppen hielt sich denn am Abend des 12. Dezember 2003 daher auch
in Grenzen und mischte sich mit einer Hoffnung, dass sich engagierte und konstruktive
Einmischung, wenn sie mit Substanz und Hartnäckigkeit vorgetragen wird, am Ende doch
irgendwie lohnen kann Für die Zivilgesellschaft gilt daher in besonderer Weise die alte, einst
von Sepp Herberger formulierte Fußballweisheit, dass "nach dem Spiel immer vor dem Spiel"
ist.„
5
II. Informationsgesellschaft Deutschland 2006.
Aktionsprogramm der Bundesregierung
(Siehe: Broschüre)
„Bundeskabinett beschließt Masterplan zur Informationsgesellschaft - Bulmahn und Tacke: "Aktionsprogramm
wird Motor für Innovationen"
Gemeinsame Pressemitteilung von Bundesministerium für Wirtschaft und
Arbeit und Bundesministerium für Bildung und Forschung
Datum: 3.12.2003
Das Bundeskabinett hat heute in Berlin das Aktionsprogramm "Informationsgesellschaft
Deutschland 2006" beschlossen. Mit diesem Masterplan will die Bundesregierung die
Entwicklung in der Informations- und Kommunikationstechnologie stärken.
Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn und der Staatssekretär im
Bundeswirtschaftsministerium, Alfred Tacke, erläuterten die Ziele des Aktionsprogramms für
diese Legislaturperiode: "Deutschland wird mit dem Masterplan seine gute Position bei der
Verbreitung und Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien in den
kommenden Jahren weiter ausbauen. Eine Spitzenposition in der weltweiten
Informationsgesellschaft ist unverzichtbar für die Stärkung von Wachstum und
Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland." Gleichzeitig unterstütze das Aktionsprogramm
zentrale Vorhaben der Bundesregierung zur Modernisierung von Arbeitsmarkt und sozialen
Sicherheitssystemen.
Informations- und Kommunikationstechnologien beschleunigen Innovationen in Wirtschaft,
Wissenschaft und Gesellschaft. Über 80 Prozent der Exporte Deutschlands hängen
mittlerweile vom Einsatz moderner Informationstechnologien und elektronischer
Systeme ab.
IT ist der Innovationstreiber Nr.1 für Wirtschaft und Gesellschaft. Der Global Information
Technology Report 2002-2003 des World Economic Forum bescheinigt Deutschland eine
beachtliche Verbesserung im IT-Länder Ranking, eine Verbesserung von Platz 17 im
vergangenen Jahr auf Platz 10 heute.
Bundesforschungsministerin Bulmahn unterstrich: "Innovation in der Informations- und
Kommunikationsbranche bedeutet neue und sichere Arbeitsplätze." Der deutsche IuK-Markt
sei in den letzten vier Jahren schon schneller gewachsen als in USA und Japan. "Mit dem
Aktionsprogramm haben wir die Voraussetzungen geschaffen, die dafür sorgen, dass
Deutschland seine führende Rolle als High-Tech-Standort weiter ausbauen wird."
Staatssekretär Tacke betonte: "Wir wollen die Entwicklung und Nutzung innovativer Dienste
im öffentlichen und privaten Bereich voranbringen und den Übergang zur mobilen
Informationsgesellschaft gestalten. Hierzu haben wir uns ehrgeizige Ziele gesetzt: im Jahr
2005 sollen 75 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren das Internet nutzen und alle
öffentlichen Aufträge des Bundes sollen bis dahin ausschließlich elektronisch vergeben
6
werden. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir im Zusammenwirken mit der Wirtschaft unsere
hochgesteckten Zielmarken erreichen werden und so einen wesentlichen Beitrag zu mehr
Wachstum und Beschäftigung in Deutschland leisten."
Informationsgesellschaft
Für die Bundesregierung hat die aktive Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels von der
Industrie- zur wissensbasierten Informationsgesellschaft hohe Priorität. Die
Bundesregierung hat dazu im Herbst 2003 das Aktionsprogramm "Informationsgesellschaft
Deutschland 2006" beschlossen. Die Bereiche Digitale Wirtschaft, eGovernment und IuK
in Bildung, Forschung und im Gesundheitsbereich sind Schwerpunkte des neuen
Programms.
Die Informations- und Kommunikationsbranche ist nicht nur Schrittmacher für den Fortschritt
in der Wirtschaft insgesamt, sondern selbst ein wichtiger Kernbereich der deutschen
Wirtschaft. Die Entwicklung dieses Sektors wird nicht zuletzt durch die fortschreitende
Digitalisierung von Text, Grafik, Bild, Ton und Film vorangetrieben. Die Integration
verschiedener Speicher- und Präsentationstechnologien auf einer gemeinsamen Plattform lässt
neue interaktive "multimediale" Anwendungen entstehen.
Über das Internet als globales Netzwerk treffen Menschen aus aller Welt zusammen und
gehen vertragliche Beziehungen ein. Das wirft naturgemäß eine Reihe von rechtlichen
Fragestellungen auf, denen wir im Kapitel Medienrecht nachgehen.
Immer mehr Unternehmen in Deutschland machen inzwischen von den Möglichkeiten der
neuen Informations- und Kommunikationstechniken im elektronischen Geschäftsverkehr
Gebrauch. Auf unseren Seiten E-Business erhalten Sie ausführliche Informationen zu allen
Fragen des elektronischen Geschäftsverkehrs.
Die Nutzung der elektronischen Medien spielt aber nicht nur in der Wirtschaft, sondern
zunehmend auch im öffentlichen Sektor eine wichtige Rolle. Über die Aktivitäten des BMWA
auf diesem Gebiet informieren wir Sie unter E-Government. Mit der zunehmenden
Verbreitung des elektronischen Geschäftsverkehrs in Wirtschaft und Staat und der intensiver
werdenden Kommunikation über weltweite Kommunikationsnetze gewinnt das Thema
Sicherheit an Bedeutung.
Für das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit ist auch die Chancengleichheit und die
Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen bei der Nutzung der Neuen Medien ein Thema von
hoher Bedeutung. Wie gesellschaftliche Gruppen, die bislang keinen oder nur geringen
Zugang zum Internet haben, zum Mitmachen ermutigt werden sollen, erfahren Sie unter
"Digitale Integration".
Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit mit unseren Partnern in Europa und der Welt ein
wichtiger Bestandteil der Strategie der Bundesregierung.“
Auszüge aus der Zusammenfassung
„Die Informationsgesellschaft ist in Deutschland längst Wirklichkeit geworden. Seit dem Jahr
2001 gibt es in Deutschland mehr mobile als feste Telefonanschlüsse. Die Mobilfunkdichte
7
hat in Deutschland mit knapp 80% ein hohes Niveau erreicht und soll weiter steigen.
Innovative Anwendungen (z.B. MMS) und der Umstieg auf UMTS bieten Potenziale für
weiteres Wachstum der Mobilfunkdienste. (…)
Praktisch alle deutschen Unternehmen verfügen über einen Online-Anschluss. Für die
Mehrheit der Bevölkerung gehören Computer und Internet inzwischen zum Alltag. Die
meisten Verwaltungen sind online, über mehr als 700 Verwaltungsportale stellen Kommunen,
Länder und Bundesbehörden rund um die Uhr Informationen und Dienstleistungen bereit.“
(…) Für die kommenden Jahre sieht die Bundesregierung, in Übereinstimmung mit den
meisten Experten aus Unternehmen und Verbänden, die wesentlichen Herausforderungen in
den Handlungsfeldern:
-
Digitale Wirtschaft für Wachstum und Wettbewerbsfähtigkeit
-
Bildung, Forschung und Chancengleichheit
-
eGovernment, Sicherheit und Vertrauen im Internet
-
eHealth
Digitale Wirtschaft für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit
Im Jahr 2003 werden in Deutschland voraussichtlich erstmals über 100 Milliarden Euro in
eCommerce umgesetzt. Das Internet ist damit ein bedeutender Wirtschaftsfaktor und
Deutschland der mit Abstand bedeutetndste eCommerce-Markt in Europa.
Die IuK-Branche gehört heute mit rd. 130 Mrd. Euro Umsatz und etwa 750.000 Beschäftigten
zu den größten Wirtschaftssektoren in Deutschland. Nach dem Ende des „Internet-Hype“ und
Rückgängen bei Umsatz und Beschäftigung in 2002 ist die Talsohle mittlerweile
durchschritten. Ab 2004 wird die IuK-Branche wieder wachsen. (…)
Auf der Basis der bereits knapp 5 Mio. breitbandigen Internetanschlüsse wollen wir, in
Übereinstimmung mit dem EU-Programm zur Informationsgesellschaft eEurope 2005,
erreichen, dass Breitband bis 2005 die dominierende Zugangstechnologie wird. Bis 2010
sollen mehr als die Hälfte der deutschen Haushalte über einen Breitband-Internetanschluss
verfügen. (…)
Bis zum Jahr 2008 sollen 40% aller Unternehmen integrierte eBusiness-Lösungen für die
gesamte Wertschöpfungskette anwenden.
Bildung, Forschung und Chancengleichheit
Bildung ist die Basis für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Seit dem
Jahr 2001 ist jede Schule in Deutschland online. Mit dem Programm „Neue Medien in der
Bildung“ wurden die Voraussetzungen geschaffen, um Deutschland bei der Bildungssoftware
in eine international führende Position zu bringen. Nun gilt es, die Neuen Medien zum
Bildungsalltag werden zu lassen. (…)
Der Anteil der Internetnutzerinnen und –nutzer an der Bevölkerung ab14 Jahren soll bis 2005
auf 75% steigen. Zur Verbesserung der Gleichstellung von Männern und Frauen strebt die
Bundesregierung kurzfristig die gleiche und gleichwertige Internetbeteiligung an. Mittelfristig
soll der Anteil der Frauen an der IT-Berufsausbildungen und Informatikstudiengängen auf 40
Prozent gesteigert werden. (…)
Verwaltungsmodernisierung und Bürokoratieabbau durch eGovernment
8
Online-Angebote der öffentlichen Verwaltung sind wichtiger Eckpfeiler der
Informationsgesellschaft. Im September 2000 hat der Bund mit der Initiative Bund-Online
1005 systematisch damit begonnen, Verwaltungsdienstleistungen durch IT zu modernisieren
und zu entbürokratisieren. Heute sind 232 der über 440 onlinefähigen Dienstleistungen über
das Internet abrufbar.
Elektronische
Steuererklärung,
virtueller
Arbeitsmarkt,
Statistikportal
und
Zahlungsverkehrsplattform markieren einige der Meilensteine des eGovernment, die der Bund
bereits erreicht hat. (…)
eHealth für eine bessere Gesundheitsversorgung
Gesundheit gehört zu den Infrastruktur- und Dienstleistungsbereichen, die durch den Einsatz
von IT neu strukturiert werden. Bis zum 1.1.2006 wird die elektronische Gesundheitskarte
eingeführt. Sir wird der elektronische Schlüssel zur einrichtungsübergreifenden Kooperation
aller Beteiligten im Gesundheitswesen sein und eine wichtige Funktion beim Aufbau einer
Telematikinfrastruktur haben. (…)
IT-Sicherheit
Vertrauen in der Sicherheit und Zuverlässigkeit der modernen Informations- und
Kommunikationstechniken ist Voraussetzung für eine intensive Nutzung von IT und Internet.
Die Förderung von Open-Source-Software, der Einsatz von Biometrie sowie die
Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Sicherheitsrisiken des Internet
sind wichtige Eckpfeiler der IT-Sicherheitsstrategie der Bundesregierung.
Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik www.bsi.bund.de hat sich als ITSicherheitsdienstleister der Bundesregierung etabliert. Mit seiner umfassenden Kompetenz für
alle Fragen der IT-Sicherheit ist das BSI einzigartig in Europa und damit Vorbild für die
Gründung der Europäischen Agentur für Netz- und Informationssicherheit (ENISA).“
9
III. Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige
Wissensgesellschaft
Quelle: Heinrich-Böll-Stifung: http://www.worldsummit2003.de/
„Die „Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft“ fordert einen an
Nachhaltigkeitsprinzipien orientierten freizügigen und inklusiven Umgang mit Wissen und
Information. Die Herausforderung der Wissensgesellschaft besteht darin, den Menschen das
Wissen anderer über den Zugang zu Information offen zu halten und sie so auf einer sicheren
Grundlage handlungsfähig zu machen.
Die Charta setzt einen Akzent gegen die zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung
von Wissen und Information. Denn eine Gesellschaft, in der der Schutz von geistigem
Eigentum das Wissen zunehmend zum knappen Gut macht, ist nicht nachhaltig.
-
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Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn in ihr erstrittene Menschen- und
Bürgerrechte für die Zukunft elektronisch bestimmter Umwelten bewahrt und
gefördert werden.
Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn der Zugang zum Wissen freizügig und
inklusiv ist, und kooperative Formen der Wissensproduktion als Grundlage für die
Entfaltung von Innovation und Kreativität gefördert werden.
Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn in ihr gesichertes Wissen die Grundlage
für wirksame Maßnahmen für die Bewahrung unserer natürlichen Umwelt bildet.
Denn diese ist gerade auch durch den steigenden Ressourcenverbrauch bedroht, der
von der massenhaften Verbreitung von Informationstechnologien ausgeht.
Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft, wenn der Zugriff auf Wissen und Information
allen Menschen weltweit die Chance eröffnet, sich in ihrem privaten, beruflichen und
öffentlichen Leben selbstbestimmt zu entwickeln, und wenn er zukünftigen
Generationen den Zugang zu dem in medialer Vielfalt dargestellten Wissen der
Vergangenheit bewahrt.
Nachhaltig ist die Wissensgesellschaft dann, wenn die Entwicklungsmöglichkeiten
des Nordens nicht weiter zu Lasten des Südens und die Entwicklungsmöglichkeiten
von Männern nicht weiter zu Lasten von Frauen gehen.
Die „Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft“ proklamiert folgende
Werte und Rechte, die es für BürgerInnen in der globalen Wissensgesellschaft zu bewahren
und zu fördern gilt:
1. Wissen ist Erbe und Besitz der Menschheit und damit frei.
2. Der Zugriff auf Wissen muss frei sein.
3. Die Verringerung der digitalen Spaltung muss als Politikziel hoher Priorität anerkannt
werden.
4. Alle Menschen haben das Recht auf Zugang zu den Dokumenten öffentlicher und
öffentlich kontrollierter Stellen.
5. Die ArbeitnehmerInnenrechte müssen auch in der elektronisch vernetzten Arbeitswelt
gewährleistet und weiterentwickelt werden.
6. Kulturelle Vielfalt ist Bedingung für individuelle und nachhaltige gesellschaftliche
Entwicklung.
7. Mediale Vielfalt und das Angebot von Information aus unabhängigen Quellen sind
unerlässlich für den Erhalt einer aufgeklärten Öffentlichkeit.
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8. Offene technische Standards und offene Formen der technischen Produktion garantieren die
freie Entwicklung der Infrastrukturen und somit eine selbstbestimmte und freie
Kommunikation
9. Das Recht auf Achtung der Privatheit ist ein Menschenrecht und ist unabdingbar für die
freie und selbstbestimmte Entfaltung von Menschen in der Wissensgesellschaft
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IV. Dieter Klumpp: Informationsgesellschaft – nur eine
„symbolische“ Diskussion?
Quelle: D. Klumpp, H. Kubicek, A. Roßnagel Hg.: next generation information society?
Notwendigkeit einer Neuorientierung (Mössingen 2003) 25-51. (meine Hervorhebungen, RC)
„Analysiert man die über mehr als 30 Jahre laufende Debatte über die
Informationsgesellschaft in Deutschland, kann man zwar feststellen, dass es eine konsistente
und zielgerichtete Argumentation über dieses sehr umfängliche und komplexe Thema immer
wieder nur in Ansätzen gegeben hat. „Informationsgesellschaft“ ist aber dennoch als
Sammelüberschrift für eine große Schnittmenge von Aktivitäten ganz unterschiedlicher
Institutionen und Diskussionsarenen ein guter Begriff. Gewiss: über „die
Informationsgesellschaft“ herrscht feststellbar ein „Präambelkonsens“, will heißen, dass das
Ziel bzw. der Weg konkret genug ist, um in der ganzen Bandbreite des gesellschaftlichen
Spektrums – von Bundestagsfraktionen bis zu zivilgesellschaftlichen Bürgergruppen, vom
Arbeitgeberverband bis zur Gewerkschaft, von optimistischen Aktions-Initiativen bis zu eher
verzagten Ethik-Arbeitsgruppen – verwendet werden zu können. Der Präambelkonsens ist
aber zugleich nicht konkret genug, um Streit oder sogar Ablehnung hervorzurufen. Weil jede
Gruppe (um nicht zu sagen, jedes Individuum) zur Definition der Informationsgesellschaft
eine spezielle Mischung von Konnotationen bereithält, versteht jeder etwas anderes unter der
Überschrift und kann daher gut mit ihr umgehen.
So sind sich alle Diskutanten in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft heute auch
einig, dass die Diskussion einstens durch „technologische“ Impulse angestoßen wurde und
dass sie künftig „weniger technologieorientiert“ geführt werden müsse. In Deutschland
wird auch niemand heftig widersprechen, wenn man feststellt, das – bis hin zur
wissenschaftlichen Diskussion – die Vision „Information Society“ ein Importschlager aus
anderen Industrieländern (allen voran die USA) war und ist, auch wenn diese in Varianten als
„Infosociety“ (John Diebold), als „Information Highway“ (Al Gore) oder als „Network
Society“ (Manuel Castells) daherkam.
Die Informationsgesellschaft definierte sich in der Öffentlichkeit in Deutschland „eher durch
Konnotationen als durch den Begriff selbst. Und alle diese Konnotationen (…) tragen den
Bezeichner ‚mehr’: Innovation, Arbeitsplätze, Bildung, Wohlstand, Kultur, Identität,
Ressourcenschonung, Internationalismus, Demokratie, Bürgerrechte, Partizipation, Tempo,
Transparenz, Wissen und dann und wann ein wenig heile Welt“ (Vgl. D. Klumpp: Wissen in
der Informationsgesellschaft – was ist das Wert?, in: Bsirske, F.; Endl, H.; Schröder, L.;
Schwemmle, M. Hg.: Wissen ist was wert, Hamburg 2003).
Wandel der Konnotationen
Der Eindruck der „konsensuellen“ Überschrift „Informationsgesellschaft ändert sich
schlagartig, wenn man die „Unterüberschriften“ der deutschen Diskussion in der Rückschau
zu strukturieren versucht. Hier tauchen aus den Materialbergen Begriffe wie Modernisierung,
Arbeit, Technik, Infrastruktur, Medienreform, Wissen, Nachhaltigkeit, Globalisierung,
12
Demokratisierung, Sicherheit und Politikimage auf, die je für sich wieder Sammelbegriffe und
untrennbar ineinander verwoben sind. Aber fast jeder von ihnen hat in sich einen
tiefgreifenden Bedeutungswandel durchlaufen, alle unterlagen auch den Modeströmungen.
Ein Beispiel für Bedeutungswandel ist der Begriff „Reform“, der vor dreißig Jahren völlig
andere Assoziationen auslöste als heute. (…)
Anhand einiger ausgewählter Unterthemen lässt sich die Diskussion in groben Linien von
Schlagworten nachvollziehen, die – bei aller festgestellten Oberflächlichkeit in den Gazetten
und aller inwärts gerichteten Analyse der Wissenschaft – wichtige Schlussfolgerungen für
heute ermöglichen. Nachfolgend (siehe Abb. 1) seien zunächst einige Strömungen über die
drei Jahrzehnte hinweg dargestellt, wobei beachtet werden muss, dass über dieser Zeitachse
Sprünge zwischen den Einzelthemen die Regel waren.
Modernisierung
1970-1985: Wachstumsmodelle, EDV, Infrastrukturpolitik, Broadcast-Medien, Glasfaser,
Kabelmedien
1985-1995: Innovation, Markt Wettbewerb
1995-2005: Information Highway, Infrastruktur-Wettbewerb, Internet-Zugang, E-World,
Internet, Konvergenz Funkmedien, Ubiquitous Computing
Arbeit
1970-1985: Chance Diensleistung, Jobkiller Mikroelektronik, Chance Mikroelektronik,
Jobchance Betreiber
1985-2003: Chance Internet, Chance Wissen, Jobkiller Internet, Chance Dienstleistungen,
Chance Mobilität, Risiko Digitalisierung, Chance Telearbeit, Jobless Factory
2003-2005: virtuelle Büroarbeit, E-Government
Technikgestaltung
1970-1978: Industriegespräche, Standardisierung, Industriepolitik
1978-1992: F&E-Programme, Standardisierung, Technikfolgenabschätzung, Kommissionen,
Kartellkontrolle
1992-2005:
F&ERahmenprogramme,
Regulierung,
Wettbewerbsaufsicht,
Konvergenzvermutung, Benchmarking, Roadmapping, PPP, Open Source, Pay Content, Next
Generation Features
Infrastrukturen
1970-1985: Vorleistung Staat, Gebührenfinanzierung, Quersubventionen, Breitband Glasfaser
1985-2000: Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Verbraucherpreise, BreitbandKabel
2000-2005: RegTP, Regulierung, Wettbewerbsaufsicht, Marktpreise, Netz, Breitbandfunk
Medienreform
13
1970-1980: Redaktionsstatute, Zeitungen, Staatsfernsehen, öffentlich-rrechltiches Fernsehen
1980-1995:
Privatfernsehen,
Kabelfernsehen, Sat-TV
1995-2002:
TK-Regulierung
Landesmedienanstalten, KEF; KEK
Medienurknall,
Bund,
Kanalvielfalt,
Außenpluralismus,
Medien-Missbrauchsaufsicht
Länder,
2002-2005: Urheberrecht, Intellectual Property Rights, Zeitungssterben
Wissen
1970-1980: Schulfernsehen, Medienpädagogik, Bildung für alle
1980-1993: Computerisierung, Computerethik, Wissensgesellschaft, lebenslanges Lernen für
alle
1993-2005: Vernetzung, Knowledge Engineering, Data Mining, Medienkompetenz,
Computerführerschein, Digital Divide, lebenslanger Zugang für alle
Nachhaltigkeit
1970-1995: Energieersparnis, Substitution physischer Transport, ökologische Produktion,
Kreislaufwirtschaft
1995-2005: Energieeffizienz, Neue gerechte Weltordnung (WTO)
Globalisierung:
1970-1978: Global Village, Broadcast für alle
1978-1985: Telekommunikation für alle
1985-1992: Telekooperation für alle
1992-2005: Zivilgesellschaft, Open Source, Free Content, E-Inklusion, Internet-Zugang für
alle
Demokratie
1970-1982: Offener Kanal, Bürgerfernsehen
1982-1990: Überwachungsstaat, Citoyen
1990-2005: Nerds, E-Voting, Netizen, E-Governance, Cyber-Society
Sicherheit
1970-1980: Datenschutz (Mainframe), offene Netze, Inselnetze
1980-1990: Informationelle und kommunikative Selbstbestimmung, PC-Sicherheit
1990-2003: Datensicherheit, Überwachungsgesetze, Kryptoverbot
2003-2005: 11. September-Syndrom, geschlossene Netze, Wissensschutz, CERT für alle
Politiksymbolik
14
1970-1985: Symbol: Modernität: Reform-Instrument TK-Politik
1985-1995: Symbol: Medien (für Funktionsspitzen) Medienpolitik
1995-2005: Symbol: Internationalität, Medienpräsentz für Experten, Netzpolitik
Ausblick: Neuformierung einer Diskussion
Man könnte eigentlich meinen, dass die vor über 30 Jahren über wissenschaftliche Beiträge
entstandene Diskussion über die Informationsgesellschaft in Deutschland dort angekommen
ist, wo sie in den meisten Ländern Europas und vielen Ländern der Welt heute steht, nämlich
mitten in der Gesellschaftspolitik. Während in Europa und weltweit ein breites
Themenspektrum – von der Globalisierung über Modernisierung bis hin zur
Demokratisierung
–
unter
der
Überschrift
„Informationsgesellschaft“
bzw.
„Wissensgesellschaft“ geradezu identitätsstiftend zusammengefasst wird, hat sich in
Deutschland eine eher passive Routine in den recht fraktalisierten Zirkeln breit
gemacht. Ein von außen vorgegebener Anlass machte dies deutlich:
Als im Januar 2003 der für den Dezember des Jahres fixierte Genfer UNO-Weltgipfel zur
Informationsgesellschaft (WSIS) bei den verschiedenen – präsumptiv „zuständigen“ –
Akteurskreisen nach 14 Monaten etwas überraschend in den Terminkalendern auftauchte,
bekam er im Verlauf des üblichen informellen „Wichtigkeits-Screenings“ die Bewertung
„eigentlich wichtig“. „Eigentlich wichtig“ stell zusammen mit „eigentlich unwichtig“ die
mittlere Kategorie der Bewertung im Sinne von „tendenziellen Handlungsbedarf“ dar,
welcher allerdings in einem „Zuständigkeits-Screening“ sorgsam auf mögliche Ko-Akteure
hin abgeprüft wird. Die Kategorie „eigentlich wichtig“ beinhaltet in der deutschen
Diskussionsarena jedoch stets das „aber“, das jede denkbare Aktion in der Regel zu
Besinnungsaufsätzen und Sonntagsreden gerinnen lässt, schlimmstenfalls zu symbolischer
Politik, bestenfalls zu einem Routinehandeln im Sinne von „Wir haben die Hausaufgaben
gemacht“. Wenig überraschend ist, dass der für die GD Informationsgesellschaft der EUKommission zuständige Kommissar Liikanen das Thema schon seit dem UN-Beschluss für
sehr wichtig erachtete. Beruhigend – im Sinne von handlungsabstinenzlegitimierend – war,
dass das zuständige BMWA-Referat Informationsgesellschaft bereits an den
Vorbereitungssitzungen des Jahres 2002 teilgenommen hatte. Ebenso beruhigend ist auch die
Tatsache, dass sich die Heinrich-Böll-Stiftung (mit einem halben Dutzend alternativeigenständiger Initiativen zur Zivilgesellschaft) sowie die Handvoll aktivitäts-ligimitierter
international engagierter Ehrenamtlicher („IchGruppen“?) schon früh bereit fanden,
Aktivitäten zu entfalten und am WSIS-Prozess teilzunehmen. Die Bertelsmann-Stiftung hatte
mir der Frage „Was kommt nach der Informationsgesellschaft?“ bereits 2002 die beruhigende
Feststellung getroffen: „Die Zukunft wird nicht langweilig“. Die Friedrich-Ebert-Stiftung
führte im April 2003 eine ganztätige Konferenz zur Wissensgesellschaft durch, auf der
führende Regierungspolitiker und Wissenschaftler die „eigentliche Wichtigkeit“ des Themas
eindrucksvoll unterstrichen. (…)
Mit den Medien teilt die Politik die Einschätzung, dass das Thema – obzwar eigentlich
wichtig – nicht gerade dazu angetan ist, Grundsatzbedürfnisse beim Massenpublikum zu
befriedigen. Selbsttätige Impulse sind von einer „verbetriebswirtschaftlichten Gesellschaft“
nicht ohne weiteres zu erwarten. Viele – darunter etliche Plädoyers in diesem Band –
sprechen sich dafür aus, der untrennbar miteinander verflochtenen gesellschaftlichen,
ökonomischen und technischen Entwicklung unter einem – substantiell neu belegten –
Sammelbegriff „Informationsgesellschaft“ den Status des „Besonderen“ zuzuerkennen und
15
amit aus der wenig politik- und aktionsfähigen Ecke des sonntagsrednerischen, nur
„eigentlich“ Wichtigen herauszuhelfen. Ein erster Schritt dafür wäre, die symbolische
Diskussion als inhaltlich besetzte Diskussion neu aufzusetzen, die zahlreichen
Missverständnisse zu klären und vor allem die in der Praxis nicht brauchbaren Begriffe – wie
etwa die berüchtigt-allgemeinen „richtigen“ Rahmenbedingungen – für die Akteure des
gesamten Spektrums in einem Orientierungsrahmen zu konkretisieren. Die Zweifel vieler
Beobachter, dass es in Deutschland überhaupt noch breite gesellschaftspolitische
Diskussionen über den Weg zur Informationsgesellschaft gegen soll oder kann, lassen sich
nur durch eine große Anstrengung aller Akteursgruppen widerlegen.“
16
V. Friedemann Mattern: Ubiquitous Computing
Im Hinblick auf die Zukunft der Informationsgesellschaft prognostiziert Friedemann
Mattern (ETH Zürich: Research Group for Distributed Systems) den "Trend zur Vernetzung
aller Dinge". Er stellt die bisherige Entwicklung des Internets folgendermaßen dar:
"War das Internet in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts zunächst noch ein
Experimentier- und Forschungsnetz, das Programmierer im Wesentlichen für remote
login und Dateitransfer, also den entfernten Zugriff auf Computerressourcen,
verwendeten, so wurde es in den 80er-Jahren, vor allen in der Wissenschaft,
zunehmend als Kommunikationsmedium von Mensch zu Mensch benutzt - Email war
seinerzeit die dominierende Anwendung. Die 90er-Jahre brachten mit dem WWW
dann aber eine ganz andere Nutzungsform hervor: Nun kommunizieren Menschen via
Browser auf der einen Seite mit Maschinen, nämlich WWW-Servern, auf der
anderen Seite. Damit einher ging eine Vervielfachung des Datenverkehrs; gleichzeitig
stellte dies die Voraussetzung für die schnelle Kommerzialisierung und
Popularisierung des Internets dar.
Jetzt zeichnet sich indes ein weiterer Quantensprung ab: Das Internet wird in Zukunft
vor allem für die Kommunikation von Maschine zu Maschine - oder vielleicht besser
von Ding zu Ding - verwendet werden. Weiterhin werden zwar 'klassische'
Anwendungen wie Email und WWW eine wichtige Rolle spielen und sogar
umfänglicher als heute benutzt werden, allerdings wird die reine
Maschinenkommunikation dominant werden. Dafür sorgen werden viele in
Alltagsgegenstände eingebettete Prozessoren und Sensoren im Verbund mit neuen
technischen Möglichkeiten der Datenkommunikation." (Friedemann Mattern:
Ubiquitous Computing. In: Herbert Kubicek, Dieter Klumpp, Gerhard Fuchs,
Alexander Roßnagel Hrsg.: Internet @ Future. Technik, Anwendungen und Dienste
der Zukunft. Jahrbuch Telekommunikation und Gesellschaft 2001. Heidelberg: Hüthig
Verlag 2001, S. 53).
Demnach hätten folgende "Quantensprünge" die Entwicklung des Internet geprägt:
o
70er-Jahre: Experimentier- und Forschungsnetz (remote login, Datentransfer)
o
80er-Jahre: Kommunikationsmedium von Mensch zu Mensch (Email)
o
90er-Jahre: Kommunikationsmedium Mensch-Maschine (WWW-Server)
o
10er Jahre des 21.Jahrhunderts: Kommunikationsmedium Ding-Ding
(Alltagsgegenstände, Sensoren, ubiquitous computing, pervasive computing)
Zum Unterschied zwischen "ubiquitous computing" und "pervasive computing" schreibt
Mattern:
"Der in diesem Sinne zu verstehende Begriff 'ubiquitous computing' wurde bereits
vor über zehn Jahren von Mark Weiser, bis zu seinem frühen Tod 1999 leitender
Wissenschaftler am Forschungszentrum von XEROX in Palo Alto, geprägt (Weiser
1991). (...) Generell solle der Computer als Gerät nach Weisers Auffassung
17
verschwinden, dessen informationsverarbeitende Funktionalität aber (eben ganz im
wörtlichen Sinne des ubiquituous computing) überall verfügbar sein. Aufdringliche
Technik solle einer 'calm technology' Platz machen: "As technology becomes more
imbedded and invisible, it calms our lives by removing the annoyances (...) The most
profound technologies are those that disappear. They weave themselves into the fabric
of everyday life until they are indistinguishable from it." Die von Weiser hier
anvisierte 'verschwindende Technologie' hat übrigens in programmatischer Hinsicht und natürlich auch vom Namen her - maßgeblich die im Jahr 2001 gestartete
'Disappearing Computer'-Forschungsinitiative der EU zum ubiquitous computing
beeinflußt (www.i3net.org/ser_pub/services/dc/)
(...)
Während Weiser den Begriff '’ubiquitous computing' eher in akademisch-idealistischer
Weise als eine unaufdringliche, humanzentrierte Technikvision versteht, die sich erst
in der weiteren Zukunft realisieren lässt, hat die Industrie dafür inzwischen den Begriff
'pervasive computing' mit einer leicht unterschiedlichen Akzentuierung geprägt
(Hansmann u.a. 2001; Burkhardt u.a. 2001): Auch hier geht es um die überall
eindringende und allgegenwärtige Informationsverarbeitung, allerdings mit dem
primären Ziel, diese eher kurzfristig im Rahmen von Electronic-CommerceSzenarien und Web-basierten Geschäftsprozessen nutzbar zu machen (Mattern 2001).
In dieser pragmatischer Variante, bei der neben diversen mobilen Geräten (wie
Smartphones und PDAs) vor allem Kommunikationskonzepte und -protokolle (WAP,
Bluetooth, http etc.), Middlewarekonzepte (z.B. SOAP oder Jini) und Technik zur
anwendungsneutralen Datenrepräsentation (z.B. XML) eine Rolle spielen, beginnt das
ubiquitous computing in der Praxis bereits Fuß zu fassen." (F. Mattern, a.a.O. S. 5455)
Diese Auffassung von einer freundlichen und unaufdringlichen Technologie, die im Alltag
unsichtbar wird, ist mit der Auffassung von Terry Winograd und Fernando Flores verwandt,
die wiederum Anleihen bei Heideggers früher Technikauffassung machen.
Vgl. v.Vf.: Die Informatik und das hermeneutische Forschungsprogramm
Gute Technik ist eine Technik, die sich nicht „dazwischen stellt“. Vgl. v. Vf.: Informatics and
Hermeneutics. Ich nenne eine solche unsichtbare im Alltag verschwindende Technik in
Anschluß an Gianni Vattimo eine "schwache Technik".
Vgl. v.Vf.: Informatik von der Technokratie zur Lebenskunst
Zum Thema 'disappearing computing' siehe die EU-Websites:
o
The Disappearing Computer: http://www.disappearing-computer.net/
o
Future and Emerging Technologies: http://www.cordis.lu/ist/fet/dc.htm
18
VI. Rafael Capurro: Soziale, rechtliche, politische und ethische
Aspekte der Informationsgesellschaft
http://www.capurro.de/iwmodul8.html
Einführung
Vgl. Projekt "Identität und Geschichte der Informationswissenschaft" (Universität
Saarbrücken).
Zur aktuellen internationalen Debatte um die Informationsgesellschaft vgl. die Website der
WSIS (World Summit on the Information Society), die vom Netzwerk Neue Medien und von
der Heinrich Böll Stiftung initiiert wurde: worldsummit2003.de
Wir entwickeln uns von einer Informations- zu einer Wissensgesellschaft. Das heißt nicht,
dass die eine durch die andere ersetzt wird, sondern, dass Information und Wissen
zusammengehören. Was wir wissen ist immer schon das Ergebnis eines Informations- oder
Mitteilungsprozesses und umgekehrt, durch den Informationsprozeß wird Wissen allgemein
verfügbar gemacht. Beide Prozesse sind medialer Natur. Das älteste Informations- und
Wissensmedium ist der menschliche Leib selbst, vor allem in Form gesprochener Sprache.
Was aber genau unter Informations- bzw. Wissensgesellschaft zu verstehen ist, ist Gegenstand
kontroverser Debatten.
Einen Überblick über die verschiedenen Theorien der Informationsgesellschaft bietet:
Frank Webster: Theories of the information society (London 1995)
Grundlegend:
Manuel Castells: Das Informationszeitalter (Opladen 2004): Teil I: Der Aufstieg der
Netzwerkgesellschaft, Teil II: Die Macht der Identität, Teil III: Jahrhundertwende
8.1.1 Was bedeutet 'Informationsgesellschaft'?
Die Bezeichnung Informationsgesellschaft hat mehrere Wurzeln, die bis in die 60er Jahre
reichen. Webster analysiert fünf Definitionen, die in fünf verschiedenen aber aufeinander
wirkenden Bereichen angesiedelt sind. Dabei ist aber zu bemerken, dass jede menschliche
Gesellschaft eine Informationsgesellschaft ist, sofern nämlich Menschen miteinander
kommunizieren und Wissen austauschen. Was sie voneinander unterscheidet, ist nicht zuletzt
die Frage der unterschiedlichen Medien und der medialen (R-)Evolutionen (Capurro 2000).
8.1.1.1. Technologische Definition
Es ist üblich von Informationsgesellschaft in Zusammenhang mit der Wirkung des Computers
und der Telekommunikation auf die Gesellschaft zu sprechen. Die Informationsversorgung
19
wird mit der Elektrizitätsversorgung und die Computerrevolution mit der industriellen
Revolution verglichen. Es ist dann die Rede von der Transformation der Industriegesellschaft
in die Informationsgesellschaft bzw. von der dritten technologischen Revolution. In diesem
Zusammenhang gehört auch der sog. "Weinberg-Report" Science, Government, and
Information (1963) (dt. Wissenschaft, Regierung und Information, DGD Hrsg., Frankfurt a.M.
1964), der, verursacht durch den 'Sputnik-Schock', den Anstoß für die moderne
Dokumentation und für das Engagement des Staates in diesem Bereich gab.
Vgl. Peter Drucker: The Age of Discontinuity 1969
8.1.1.2. Ökonomische Definition
Wissenschaftler wie Fritz Machlup (The Production and Distribution of Knowledge in the
United States, 1962), Peter Drucker und Marc Porat (The Information Economy, 1977) haben
in den 60er und 70er Jahren auf die ökonomische Bedeutung der Wissensproduktion für die
Gesellschaft hingewiesen.
Vgl. die Theorie von der 'Aufmerksamkeitsökonomie' (M.H. Goldhaber, G. Frank). Siehe
dazu die Aufsätze in: Kunstforum, Bd. 148, Dez.1999/Januar 2000.
8.1.1.3. Arbeitsbezogene Definition
Demnach ist die Informationsgesellschaft durch eine Veränderung am Arbeitsmarkt
gekennzeichnet: Die 'alten' industriebezogenen Berufe werden durch die 'neuen' teilweise
abgelöst.
Vgl. Marc Porat: The Information Economy, 1977
Daniel Bell: The Coming of Post-Industrial Society, 1973.
8.1.1.4. Raum-zeitbezogene Definition
Sie bezieht sich auf die Informationsnetzwerke und auf ihren Einfluß auf die Umorganisation
von Raum und Zeit, insbesondere in bezug auf die vernetzte Ökonomie.
Vgl. Manuel Castells: The Informational City, 1989
Anthony Giddens: The Nation State and Violence 1985
Ulrich Beck: Risikogesellschaft, 1986
-: Was ist Globalisierung? 1997
8.1.1.5. Kulturelle Definition
Sie bezieht sich zunächst auf den Einfluß der (Massen-)Medien auf die Gesellschaft, zuletzt
aber, seit dem Aufkommen des Internet, auf die dadurch verursacheten kulturellen
Veränderungen.
Vgl. Anthony Giddens: The Transformation of Intimacy 1992
Florian Rötzer: Die Telepolis. Urbanität im digitalen Zeitalter 1995
-: Digitale Weltentwürfe, 1998
8.1.2 Theorien der Informationsgesellschaft (nach Webster)
8.1.2.1 "The information society as post-industralism: Daniel Bell"
Der amerikanische Soziologe Daniel Bell (1919-) entwickelte den Begriff der "postindustriellen Gesellschaft" ("post-industrial society") als eine Informationsgesellschaft in
seinem Buch: The Coming of Post-Industrial Society: A Venture in Social Forecasting (1973,
1976). Die Rolle von Information in Bells Theorie wird von Webster folgendermaßen
hervorgehoben:
20
"Why should Bell feel able to boldly state that 'the post-industrial is an information
society' (1976a: 467) and that a 'service economy' indicates the arrival of post
industrialism? It is not difficult to understand information's place in the theoretisation.
Bell explains with a number of connected observations. Crucially it involves the
character of life in different epochs. In pre-industrial society life is 'a game against
nature' where 'one works with raw muscle power' (Bell, 1976a: 126); in the industrial
era, where the 'machines predominates' in a 'technical and rationalized' existence, life
'is a game against fabricated nature' (ibid.). In contrast to both, life in a 'post-industrial
society (which) is based on services...is a game between persons' (p. 127). Here 'what
counts is not raw muscle power, or energy, but information." (Webster 1995: 36)
Fraglich bleibt dabei, ob Bells Gegenüberstellung zwischen einer Gesellschaft, die
Güter produziert und eine, die sich mit (Informations-)Dienstleistungen beschäftigt,
nicht eine Übersimplifizierung bedeutet. Die gegenwärtige Entwicklung des ECommerce zeigt, dass nicht nur der Handel mit, sondern auch die Produktion von
(materiellen) Gütern durch die IT weitgehend revolutioniert aber doch nicht ersetzt
wird oder werden kann.
Die Informationsgesellschaft, so der französische Kommunikationswissenschaftler
Armand Mattelart, entstand bei Daniel Bell als Kampfansage an die (politischen)
Ideologien (D. Bell: The End of Ideology, 1960). Demnach sollte die "post-industrielle
Gesellschaft" eine auf dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt gegründeten
Gesellschaft sein. Vgl. A. Mattelart: Comment est né le mythe d' Internet. In: Le
Monde diplomatique, August 2000, S. 26.
8.1.2.2 "Information, the Nation State and Surveillance: Anthony Giddens"
Anthony Giddens ist ein führender Sozialtheoretiker Großbritanniens. Für Giddens waren
moderne Gesellschaften, d.h. Nationalstaaten, von Anfang an "information societies". Er
schreibt:
"modern societies have been... 'information societies' since their inception. There is a
fundamental sense... in which all states have been 'information societies', since the
generation of state power presumes reflexively gathering, storage, and control of
information, applied to administrative ends. But in the nation state, with its peculiarly
high degree of administrative unity, this is brought to a much higher pitch than ever
before." (A. Giddens: The Social Theory and Modern Sociology, Cambridge 1987:
178; Zitat nach Webster 1995, 59).
Das gilt ganz besonders für die moderne Kriegsführung, die ebenfalls wesentlich eine
Informationskriegsführung ist. Der moderne Staat ist ein Überwachungsstaat. Giddens steht in
der Tradition kritischer Sozialtheoretiker wie Karl Marx, Emile Dürckheim und Marx Weber,
aber auch in intellektueller Nachbarschaft mit postmodernen Autoren wie Michel Foucault,
der Jeremy Benthams Metapher des Panoptikums als eines (informationellen)
Überwachungssystems übernimmt. Hier sind, wie Webster mit Recht bemerkt, deutliche
Anspielungen auch an G. Orwells "Big Brother" (Webster 1995, 73). Giddens hebt aber auch
die Chancen der Informationsgesellschaft hervor: Sie muß nicht nur dazu dienen, die
Kontrollmöglichkeiten staatlichen Managements zu stärken, sondern sie kann auch die
Wahlmöglichkeiten der Bürger mehren (A. Giddens: The Consequences of Modernity, 1990;
ders.: Modernity and Self-Identity 1991)
21
8.1.2.3 "Information and Advanced Capitalism: Herbert Schiller"
Herbert Schiller war ein berühmter Wirtschaftswissenschaftler und Professor für
Kommunikationswissenschaften an der University of San Diego in Kalifornien. Er steht in der
Marxistischen Tradition. Er schreibt:
"There is no doubt that more information is being generated now than ever before.
There is no doubt also that the machinery to generate this information to store,
retrieve, process and disseminate it, is of a quality and character never before
available. The actual infrastructure of information creating, storage and dissemination
is remarkable." (H. Schiller: The Communications Revolution: Who Benefits? In:
Media Development 1983; Zitat nach Webster 1995, 76)
Webster hebt die wichtigsten Argumente Schillers folgendermaßen hervor:
"The first draws attention to the pertinence of market criteria in informational
developments. In this view it is essential to recognise that information and
communication innovations are decisevily influenced by the market pressures of
buying, selling and trading in order to make profit. To Professor Schiller (and also to
his wife, Anita, a librarian who researches information trends) the centrality of market
principles is a powerful impulse towards the commodification of information, which
means that it is, increasingly, made available only on condition that it is saleable. (...)
The second argument insists that class inequalities are a major factor in the
distribution, access to and capacity to generate information. Bluntly, class shapes who
gets what information an what kind of information they may get. Thereby, depending
on one's location in the stratatification hierarchy, one may be a beneficiary or a loser
of the 'information revolution'.
The third key condition of Herbert Schiller is that the society which is undergoing
such momentous changes in the information and communication areas is one of
corporate capitalism (Williams, 1961)." (Webster 1995, 77)
Mit anderen Worten, für Schiller findet die moderne Informationsrevolution innerhalb der
Klassengesellschaft statt. Sie verfestigt und überbietet die vorhandenen ökonomischen
Unterschiede. Webster bemerkt aber zu Recht, dass Begriffe wie information rich und
information poor zu unscharf sind, um damit die Komplexität der modernen Gesellschaft
analysieren zu können. Die Informationsreichen sind nicht notwendigerweise die großen
Unternehmen (corporate capital), sondern der Zugang zur Bildung in öffentlichen
Einrichtungen (Universitäten, Bibliotheken etc.) spielt eine wichtige Rolle für eine
informationelle Chancengleichheit (Webser 1995, 98).
8.1.2.4 "Information Management and Manipulation: Jürgen Habermas and the Decline
of the Public Sphere"
Jürgen Habermas ist einer der führenden Sozialtheoretiker der Bundesrepublik. Webster
befaßt sich nicht mit dem ganzen umfangreichen Werk Habermas oder mit seinem
Hauptwerk: Theorie des kommunikativen Handelns (Frankfurt a.M. 1981, 2 Bde.), sondern
22
mit einer frühen aber sehr einflußreichen Schrift, nämlich: Strukturwandel der Öffentlichkeit.
Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Frankfurt a.M. 1962,
1990).
Habermas beschreibt dabei, wie die Presse durch das Aufkommen des bürgerlichen
Rechtsstaates im 19. Jahrhundert sich von einer Gesinnungs- in eine Geschäftspresse
wandelte. Hatte sie im 18. Jahrhundert unter dem Druck der Zensur entweder eine polemische
oder eine bloß nachrichtenvermittelnde Funktion, so wird sie durch die Legalisierung "vom
Gesinnungsdruck entlastet" (Habermas 1990, 278). Mit dem Aufkommen der Massenmedien
findet abermals eine Strukturveränderung der Öffentlichkeit statt. Habermas schreibt:
"Während die Presse früher das Räsonnement der zum Publikum versammelten
Privatleute bloß vermitteln und verstärken konnte, wird dies nun umgekehrt durch die
Massenmedien geprägt. Auf dem Wege vom Journalismus der schrifstellernden
Privatleute zu den öffentlichen Diensleistungen der Massenmedien verändert sich die
Sphäre der Öffentlichkeit durch das Einströmen privater Interessen, die in ihr
priveligiert zur Darstellung kommen -, obwohl sie keineswegs mehr eo ipso für die
Interessen der Privatleute als Publikum repräsentativ sind. (...) In dem Maße, in dem
aber die Öffentlichkeit für geschäftliche Werbung in Anspruch genommen wird,
wirken unvermittelt Privatleute als Privateigentümer auf die Privatleute als Publikum
ein. Dabei kommt, gewiß, die Kommerzialisierung der Presse der Verwandlung der
Öffentlichkeit in ein Medium der Werbung entgegen: umgekehrt wird jene aber auch
von Bedürfnissen einer Geschäftsreklame vorangetrieben, die autochton aus
ökonomischen Zusammenhängen entsprangen." (Habermas
1990, 284)
Die dadurch gebildete öffentliche Meinung hat, so Habermas, "mit der endlichen
Einstimmigkeit eines langwierigen Prozesses wechselseitiger Aufklärung im Ernst
nicht viel gemeinsam" (Habermas 1990, 291), d.h. die Massenmedien kehren letztlich
die demokratischen Verhältnisse um, indem sogar "der Staat seine Bürger wie
Verbraucher "ansprechen"" muß (Habermas 1990, 292). Die von den Massenmedien
beherrschte Öffentlichkeit, und mit ihr Politik, wird medial manipuliert oder, besser
gesagt, hergestellt. Habermas' Fazit lautet:
„Der Streit einer kritischen Publizität mit der zu manipulativen Zwecken bloß
veranstalteten ist offen; die Durchsetzung der sozialstaatlich gebotenen Öffentlichkeit
des politischen Machtvollzugs und Machtausgleichs gegenüber jener zu Zwecken der
Akklamation bloß hergestellten ist keineswegs gewiß; aber als eine Ideologie, wie die
Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit zur Zeit ihrer liberalen Entfaltung, läßt sie sich
nicht denunzieren: sie bringt allenfalls die Dialektik jener zur Ideologie herabgesetzten
Idee zu ihrem Ende." (Habermas 1990, 342)
Webster schreibt:
"Reading Jürgen Habemas on the history of the public sphere, it becomes impossible
to avoid the conclusion that its future is precarious. His account of its more recent
development is gloomy: capitalism is victorious, the capacity for critical thought is
minimal, there is no real space for a public sphere in an era of transnational media
conglomerates and a pervasive culture of advertising. As far as information is
concerned, communications corporations' overriding concern with the market means
that their product is dedicated to the goal of generating maximum advertising revenue
and supporting capitalist enterprise. As a result their content is chiefly lowest common
23
denominator diversion: action adventure, trivia, sensationalism, personalisation of
affairs, celebration of contemporary lifestyles. All this, appropriately hyped, appeals
and sells, but its informational quality is negligible. What it does is no more (and no
less) than subject its audiences 'to the soft compulsion of constant consumption
training' (Habermas, 1989: 192)." (Webster 1995, 104-105)
In diesem Zusammenhang macht aber Webster (erneut) auf die Funktion von
öffentlich zugänglichen Bibliotheken, Museen, Kunstgallerien etc. Habermas, so
Webster, macht letztlich das öffentliche (journalistische) Informationsmanagement für
den Niedergang der kritischen Öffentlichkeit verantwortlich. Ironischerweise ist aber
Informationsmanagement "vastly more expensive, much more intensive and much
more sophisticated applied in the 1990s" obwohl seine Existenz öfter nicht
angenommen werden möchte (Webster 1995, 106). Die Lage hat sich also, nach
Webster, weiter verschärft.
Inwiefern trifft aber dieser von Habermas und Webster beschriebene und kritisierte
Strukturwandel der Öffentlichkeit für den seit dem Internet einsetzenden Wandel einer
durch die hierarchische Struktur der Massenmedien dominierten Gesellschaft zu?
Inwiefern ist das Internet kein Massenmedium, sondern ein Medium für die Massen?
Inwiefern stellt das Internet die Dichotomie zwischen Individual- und Massenmedien
in Frage? Und wie ist in diesem Zusammenhang das Phänomen des digital divide zu
verstehen?
Vgl. dazu v.Vf.: Strukturwandel der medialen Öffentlichkeit (2000)
-: Ethical Challenges of the Information Society in the 21st Century (2000)
8.1.2.5 "Information and Restructuring: Beyond Fordism?"
In diesem Kapitel geht Webster auf das Phänomen der Massenproduktion und -konsum. Ford,
so Webster, war der Pionier jener Technologien die zwischen 1945 un 1973 den Prozeß der
industriellen Massenproduktion - begleitet durch staatliche Lenkung - ermöglichten.
Demgegenüber steht der Begriff der Globalisierung für die "post-Fordist era". Sie beinhaltet
die Expansion transnationaler Unternehmen. Zu der Globalisierung der Märkte, der
Produktion und der Ökonomie kam letztlich auch die der Kommunikation. Das Ergebnis
davon ist Flexibilisierung der Arbeit, der Produktion und des Konsums.
Webster Fazit lautet:
"It follows from these trends that we may observe in the post-Fordist era the decline of
mass production. In place of huge and centralised plant what emerges are globally
dispersed units employing in any one place only a few hundred people at the most,
though world-wide the organising corporation is likely to have many more locations
than before. (...)
Unfortunately, however, it is precisely this emphasis on radically 'new times' conjured
by the concept of post-Fordism that causes most difficulty. The suggestion is that
society has undergone deep, systemic, transformation. And, indeed, what else is one to
conclude when post-Fordism's characteristics are presented as so markedly different
from what has gone before? (cf. Hall and Jacques, 1989). (...)
24
Against this it is salutary to be reminded that, to the extent that private property,
market criteria, and corporate priorities are hegemonic, and these are acknowledged to
be such at least in Regulation School versions of post-Fordism, then a very familiar
form of capitalism still pertains. Hence it might be suggested that the term neoFordism, with its strong evocation of the primacy of continuities over change, is more
appropriate. Put in this way, the suggestion is that neo-Fordism is an endeavour to
rebuild and strengthen capitalism rather than to suggest its supersession." (Webster
1995, 151-153)
8.1.2.6 Information und Postmoderne
Postmoderne ist eine in den 80er Jahren entstandene, insbesondere von Nietzsche beeinflußte
Denkrichtung, die sich gegen totalisierende Denkansätze wendet. Gemeint sind dabei nicht
nur die politisch diskreditierten geschichtsphilosophischen Thesen des Marxismus, sondern
auch positivistische in der Aufklärung verwurzelte Auffassungen des 'wissenschaftlichen
Fortschritts'. Postmoderne Autoren, wie z.B. Jean-François Lyotard oder Michel Foucault
kritisieren dabei epistemologische und ethische Grundbegriffe wie 'Wahrheit' oder
'Authentizität'.
Was hat aber, fragt sich Webster, diese Denkrichtung mit Information zu tun?
"A first, and recurrent, response comes from the postmodern insistence that we can
know the world only through language. While Entlightenment thinkers subscribed to
the idea that language was a tool to describe an objective reality apart from words, the
postmodernist asserts that this is 'myth of transparency' (Vattimo, 1992: 18) because it
is blind to the fact that symbols and images (i.e. information) are the only 'reality' that
we have. We do not, in other words, see reality through language; rather, language is
the reality that we see. As Michel Foucault put it, 'reality does no exist... language is
all there is and what we are talking about is language, we speak within laguage'
(quoted in Macey 1994: 150)." (Webster 1995, 175)
Webster analysiert folgende Ansätze:
a) Jean Baudrillard
Unsere gegenwärtige Kultur ist für Baudrillard eine Kultur der Zeichen oder, genauer gesagt,
der Botschaften. Was uns gegenüber anderen Gesellschaften dabei auszeichnet ist die
ununterbrochene Zeichenzirkulation. Dies ist für Baudrillard nicht nur eine Frage der
Quantität. Während Autoren wie Herbert Schiller und Jürgen Habermas eine kritische
Einstellung demgegenüber einnehmen und nach einer authentischeren Lebensform suchen.
Das bedeutet, dass sie eine Realität hinter den Zeichen voraussetzen, die von ihnen in
entstellter Weise repräsentiert wird. Für Baudrillard gibt es eine solche Realität außerhalb der
Zeichen nicht. Diese sind nicht Repräsentationen, sondern Simulationen. Jedermann, und
nicht bloß die Intellektuellen, kann, so Webster über Baudrillard, erkennen, dass die Werbung
bloß Werbung, Simulation also, ist:
"Everybody, and not just intellectuals, knows that Coca-Cola does not 'teach the world
to sing', that Levi jeans won't transform middle-aged men into twenty-year-old hunks,
or that Wrigley's cheweing gum will not lead to thrilling sexual encounters. As such,
we ought not to get concerned about advertising since the 'silent majorities'
(Baudrillard, 1983a) are not much bothered by it." (Webster 1995, 178-79)
25
Während Habermas sich Sorgen über den Zerfall der modernen Demokratie durch die
Manipulation politischer Information macht, bedeutet für Baudrillard die Idee, dass Zeichen
eines Tages eine adäquate Repräsentation von Politik werden könnten nichts anderes als eine
Phantasie. Womit wir heute zu tun haben ist für Baudrillard ein Überangebot an Zeichen, die
nichts bedeuten. Solche bedeutungslose Zeichen sind bloß Gegenstand 'ästhetischer'
Anschauung, sie sind 'spektakulär'. Die moderne Suche nach Authentizität geht an dieser
Simulation vorbei. Zeichen sind für Baudrillard selbstreferentiell. Sie sind soziale Konstrukte,
die heute dies, morgen aber etwas anderes bedeuten. Der Verlust einer dauerhaften Referenz
in einer objektiven Realität führt uns, so Baudrillard, zu einer Hyper-Realität, oder, anders
ausgedrückt, für die Postmoderne verliert die Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und
dem Scheinbaren, oder zwischen dem Authentischen und dem Inauthetischen ihre Kraft. Was
folgt daraus?
"It follows that, where 'the real is abolished' (Baudrillard, 1983a: 99), the meaning of
signs is lost (it is 'imploded'). Nonetheless, we ought not to worry about this, because
we always have to recall the postmodern dictum that audiences are subversive of
messages anyway. A while ago modernists got themselves into a lather about 'couch
potato' television viewers and tourists who visited historical sites, took a photograph,
and then, having 'done it', were gone without appreciating the 'real thing'. But how
much this underestimates the creativities of ordinary folk - the TV viewer is in fact
constantly active, switching channels with enthusiasm, chatting to her pals, using the
telephone or shouting out irreverent and irrelevant comments, and the tourist is doing
all sorts of things when walking round the Natural History Museum, day-dreaming,
wondering why the guide reminds him of his brother, planning dinner, chatting up the
girls, musing whether diplodocus ever got toothache...Given such resistance, as it
were, to the intended signs, we can conclude that postmodern audiences are a far cry
from the 'cultural dopes' modernists so feared, so far indeed that they see and hear
nothing, just experience the spectacles which characterise the contemporary."
(Webster 1995, 181)
J. Baudrillard: Die Illusion und die Virtualität (Bern 1994)
b) Gianni Vattimo
Auch für den italienischen postmodernen Philosophen Gianni Vattimo haben die Medien das
Vertrauen in Kategorien wie 'Wahrheit', 'Realität' und 'Authetizität' erschüttert. Die Medien
haben uns gelehrt, dass es viele Sichtweisen gibt. Anstelle einer von den Medien
manipulierten Massengesellschaft haben wir, so Vattimo, eine Fülle von Minderheiten, die
sich jetzt durch die Medien (besser) artikulieren können. In diesem Sinne kritisert Vattimo
auch
die
(Habermassche)
Vorstellung
einer
'transparenten
Gesellschaft'.
Vgl. G. Vattimo: Das Ende der Moderne (Stuttgart 1990)
-: Die transparente Gesellschaft (Wien 1992)
Zu Vattimo vgl. v.Vf.: G. Vattimo, in: J. Nida-Rümelin Hrsg.: Philosophie der Gegenwart in
Einzeldarstellungen (Stuttgart 1999)
26
c) Mark Poster
Poster bezeichnet die Informationsgesellschaft mit dem Ausdruck 'mode of information'. Das
Zeitalter elektronischer Vermittlung ist, gegenüber der Epoche der Oralität und der des
schriftlichen Austauschs, durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet:
"the era of electronic mediation, when signs are matters of informational simulations,
with their non-representational character being critical. Here the self is 'decentred,
dispersed, and multiplied in continous instability' (Poster 1990, p. 6), swirlinging in a
'continuous process of multiple identity formation' (Poster, 1994: 174) since the 'flow
of signifiers' is the defining feature of the times rather than signs which indicate a
given object." (Webster 1995, 182-83)
Ähnlich wie für Baudrillard bedeutet für Poster die Überfülle der Zeichen zugleich eine Krise
der Repräsentation und mit ihr der Kategorien 'Wahrheit' und 'Authentizität.
Vgl. M. Poster: The Mode of Information: Poststructuralism and Social Context (Cambridge
1990)
d) Jean-François Lyotard
Für J.-F. Lyotard bedeutet das Aufkommen der postmodernen (Informations-)Gesellschaft,
dass Wissen und Information zu Waren werden. Ferner stellt Lyotard fest, dass die
Wissensentwicklung nicht mehr an den Universitäten, sondern in privaten
Forschungseinrichtungen stattfindet. Nicht 'Wahrheit', sondern Kriterien wie 'Effizienz' und
'Performativität' sind hier entscheidend. Das hat wiederum entscheidenden Einfluß auf das
Selbstverständnis der öffentlichen Bildungseinrichtungen, die sich immer mehr mit
utilitaristischen Kriterien messen müssen. Schließlich bedeutet diese Entwicklung, der
gebildete Mensch sich nicht mehr durch den Besitz von Wissen, sondern durch die Fähigkeit
auszeichnet, mit der er Wissen aus einem elektronischen Speicher wiedergewinnt:
"For a long while to be educated meant to be in possession of a certain body of
knowledge; with computerisation, however, it is more a matter of knowing how to
access approrpriate data banks than holding the information in one's head. In the
postmodern age performativity decrees that 'how to use terminals' is more important
than personal knowledge. Therefore, competencies such as 'keyboard skills' and
'information retrieval' will displace traditional conceptions of knowledge (and student
profiles will certify that these and other competencies have at least equivalent
recognition to more orthodox academic attainments) as 'data banks (become) the
Encyclopaedia of tomorrow' (Lyotard, 1993: 51)." (Webster 1995, 186)
Das führt, so Lyotard, zu einer Relativierung von Wissen oder zu dem, was er das Ende der
'"großen Erzählungen" nennt. Mit ihnen geht auch der traditionellen Eliten zu Ende: Ein
Professor ist nicht kompetenter für die Wissensvermittlung als eine Datenbank.
Vgl. J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen (Wien 1986)
27
e) Ignacio Ramonet
Für Ignacio Ramonet, Direktor der in Paris erscheinenden Monatszeitung für internationale
Politik "Le Monde diplomatique", bedeuten Informieren und Sich informieren
leistungsintensive Vorgänge. Er sieht die Qualität diese Vorgänge vor allem durch das
Aufkommen der audiovisuellen Medien, allem voran des Fernsehens, sowie durch den
Überfluss an Informationen bedroht. Aus Information wird Infotainment. In seinem Buch
"Die Kommunikationsfalle. Macht und Mythen der Medien" (Zürich 1999) schreibt er über
eine sich verbreitende Form von "demokratischer Zensur" Folgendes:
"Das Konzept der Zensur wird seit jeher mit einer autoritären Staatsmacht in
Verbindung gebracht, und in der Tat ist sie eines ihrer wesentlichen Bestandteile. Sie
bedeutet Unterdrückung, Verbot, Beschneidung und Vorenthalten von Information, da
in den Augen der Autorität eines der wichtigsten Machtmittel gerade darin besteht, die
Meinungsäußerung und die Kommunikation all jener zu kontrollieren, die unter ihrer
Herrschaft stehen. Das gilt für einen Diktator, das gilt für einen Despot, und das galt
auch für einen Richter der Inquisition. In einem freien Land zu leben heißt, unter
einem politischen Regime zu leben, das diese Form der Zensur nicht praktiziert und
das im Gegenteil das Recht des Bürgers respektiert, sich frei auszudrücken, eine
eigene Meinung zu haben, sich zusammenzuschließen, zu diskutieren und öffentlich
zu debattieren.
Wir erleben diese Toleranz so sehr als ein Wunder, dass wir gar nicht wahrnehmen,
wie sich still und heimlich eine neue Form der Zensur eingenistet hat, eine Zensur, die
man "demokratische Zensur" nennen könnte. Im Gegensatz zur autokratischen Zensur
fußt sie nicht mehr auf der Unterdrückung und Beschneidung von Daten, auf deren
Kürzung oder dem Verbot, sie zu publizieren, sondern im Gegenteil auf der
Anhäufung, der Übersättigung und dem Überfluss von Informationen." (Ramonet
1999, S. 34-35)
Angesichts der herrschenden Informationsflut, ist aber, so Ramonet, nicht Resignation,
sondern eine erhöhte Verantwortung angebracht:
"Vor noch nicht allzu langer Zeit hieß informieren, nicht nur die genaue - und
überprüfte - Darstellung einer Tatsache oder eines Ereignisses zu liefern, sondern
gleichzeitig einen Komplex von Parametern aus deren Umfeld, die es dem Leser
ermöglichten, ihre tiefere Bedeutung zu verstehen. Informieren hieß, auf die
Grundfragen zu antworten: Wer hat was gemacht? Wann? Wo? Wie? Warum? Mit
welchen Mitteln? Unter welchen Umständen? Und welches werden die Folgen sein?
Unter dem Einfluss des Fernsehens, das heute in der Medienhierarchie ganz oben steht
und allgemein zum Modell geworden ist, hat sich das geändert. Die
Fernsehnachrichten haben mit ihrer Ideologie der "Live-Übertragung in Echtzeit"
allmählich eine ganz andere Vorstellung von Information durchgesetzt. Informieren
heißt fortan, "laufende Geschichte zu zeigen" oder, mit anderen Worten, die Leser
oder die Zuschauer an einem Ereignis teilnehmen zu lassen (wenn möglich live).
Hinsichtlich der Information handelt es sich um eine kopernikanische Revolution,
deren Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Denn es bedeutet, dass allein schon
das Bild des Ereignisses (oder seine Beschreibung) diesem seine ganze Bedeutung zu
verleihen vermag. Im Extremfall ist der Journalist in diesem Gegenüber von
Fernsehzuschauer-Geschichte sogar überflüssig. Das vorrangige Ziel des
28
Fernsehzuschauers und seine Befriedigung ist es nicht mehr, die Bedeutung eines
Ereignisses zu verstehen, sondern ganz einfach zuzuschauen, wie es sich vor seinen
Augen
abspielt.
Diese
Koinzidenz
wird
als
lustvoll
betrachtet.
So hat sich allmählich die Illusion festgesetzt, sehen bedeute verstehen; und jedes
Ereignis, so abstrakt es auch sein möge, habe eine sichtbare Seite, die am Fernsehen
gezeigt werden können. (...) Allmählich setzt sich in den Köpfen die Vorstellung fest,
die Bedeutsamkeit eines Ereignisses sei proportional zu seinem Bilderreichtum. (...)
Auch der Zeitbegriff der Information hat sich verändert. Internet verkürzt den
Informationszyklus. Der optimale Rhythmus der Medien ist heute die Unmittelbarkeit
(die Echtzeit), das Live, und dem vermögen nur Radio und Fernsehen zu folgen. (...)
Ein vierter Begriff schließlich aht sich verändert, der grundlegende Begriff des
Wahrheitsgehalts der Information. Ein Sachverhalt ist heute nicht mehr wahr, weil er
objektiven und strengen Kriterien genügt, die an der Quelle nachgeprüft worden sind,
sondern ganz einfach, weil andere Medien die gleichen Behauptungen wiederholen
und "bestätigen"...Repetition tritt an die Stelle von Beweisführung; Information wird
durch Bestätigung ersetzt. (...) Viele Bürger meinen, sie könnten sich seriös
informieren, indem sie , bequem auf dem Diwan ihres Salons sitzend, zuschauen, wie
auf dem Bildschirm eine eindrucksvolle Flut von Ereignissen vorüberzieht, die oft an
starken, brutalen und spektakulären Bildern aufgehängt sind. Das ist jedoch ein
völliger Irrtum, und zwar aus dreierlei Gründen: Erstens einmal sind die
Fernsehnachrichten wie eine Fiktion aufgebaut und dienen vorab nicht zur
Information, sondern zur Unterhaltung. Zweitens erzeugt die schnelle Abfolge von
kurzen, bruchstückhaften Nachrichten (etwa zwanzig pro Sendung) einen doppelten
negativen Effekt von Übereinformation und Desinformation (es gibt zu viele
Nachrichten, und es wird ihnen zu wenig Zeit gewidmet). Und drittens ist die Illusion,
man könne sich ohne Anstrengung informieren, ein reiner Mythos der Werbung. Sich
informieren ist anstrengend, und diesen Preis muss der Bürger zahlen für das Recht,
auf intelligente Weise am demokratischen Leben teilzunehmen." (Ramonet, 1999, S.
171-177)
Vgl. Die Aktivitäten des von "Le Monde diplomatique" und der Heinrich-Böll-Stiftung
untersützten World Social Forum.
8.1.2.7 "Information and Urban Change": Manuel Castells
Manuel Castells ist ein führender Theoretiker der Informationsgesellschaft. Er hat seine
intellektuellen Wurzeln im Marxismus und seine Position wird von Webster als 'PostMarxismus' bezeichnet. Castells unterscheidet zwischen den "kapitalistischen
Produktionsverhältnissen" ("capitalist mode of production") und den "informationellen
Entwicklungsverhältnissen" ("informational mode of development"). Letzteres ist für Castells
das "sozio-technische Paradigma", das unsere heutige Gesellschaft auszeichnet, nämlich
"the emergence of information processing as the core, fundamental activity
conditioning the effectiveness and productivity of all processes of production,
distribution, consumption, and management" (Castells, 1989, p. 17) (Zitat nach
Webster 1995, 194)
so Castells in seinem Buch The Informational City (1989). Gegenüber einem strengen
Marxistischen
Denken
betont
dabei
Castells,
dass
die
informationellen
29
Entwicklungsverhältnissen eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den kapitalistischen
Produktionsverhältnissen haben. Webster schreibt:
"Put vulgarly, 'you may look to a future beyond capitalism, but you're still going to
need computer systems to get by." (Webster 1995, 195)
Paradoxerweise, so Webster, stimmen Manuel Castells und Daniel Bell in dieser theoretischen
Sichtweise überein. Elektronische Informationsprozesse verändern wiederum die
Produktionsverhältnisse in der Weise wie sie Webster unter dem Stichwort 'post-Fordism'
beschrieben hat. Das bezeichnen wir heute wir heute als Globalisierung. Die Auswirkungen
nicht nur auf die Ökonomie, sondern auf die gesamte Kultur, auf die Art und Weise wie sich
unsere Städte (informational city) und mit ihnen unser Leben verändern, die Entstehung neuer
marginalisierter Gruppen etc. sind Phänomene mit denen sich Castells in einem dreibändigen
opus sich ausführlich auseinandersetzt.
Manuel
Castells:
Das
Informationszeitalter
(Opladen
2004,
3
Bde.)
(orig.: The Information Age - Economy, Society and Culture. Oxford (1996-1998): Vol. I: The
Rise of the Network Society (1996), xvii + 556 pp.; Vol.II: The Power of Identity (1997), xv
+ 461 pp.; Vol.III: End of Millennium (1998), xiv-418 pp.) Bd. 1: Der Aufstieg der
Netzwerkgesellschaft, Bd. 2: Die Macht der Identität, Bd. 3: Jahrtausendwende
M. Castells: Internet und die Netzgesellschaft: PowerPoint Präsentation (in Deutsch)
Ausblick
Webster's Kernfrage lautet dann, am Ende dieses hier nur skizzierten Weges, inwiefern und
mit welchem Recht die heutige durch die Informationstechnologien geprägte Gesellschaft
zwar in einer gewissen Kontinuität mit der Industriegesellschaft, sofern nämlich beide
kapitalistische Gesellschaften sind, steht, zugleich aber durch einen Systembruch ("system
break") gekennzeichnet werden soll, wodurch eben der Begriff Informationsgesellschaft steht.
Er schreibt:
"To repeat the two major complaints about such an approach: it at once singles out
technology/technique as the primum mobile of change (which is oversimplistic) while
simultaneously presuming that this technology/technique is aloof form the real of
values and beliefs. I do not think it has been difficult to demonstrate that it is a
misleading perception, but it will keep infecting analysis of informational
developments. Above all, it seems to me, it is an approach which misconceives social
change because it desocialises key elements of social change, persistently separating
technology/technique from the social world (where values and beliefs are found), only
to reinsert it by asserting that this autonomous force is the privileged mechanism for
bringing about change. Not surprisingly, those who envisage a dramatic but asocial
'information technology revolution' and/or radical shifts in technical efficiency, are
easily persuaded that these impact in such a manner as to bring about an entirely novel
form of society." (Webster 1995, 219)
Mit anderen Worten, was Webster kritisiert, ist die Dichotomie, die dadurch entsteht,
dass der technischen Entwicklung einer Selbständigkeit zugesprochen wird, wodurch
dann dann die Gesellschaft verändert werden soll, während es sich in Wahrheit
umgekehrt verhält, nämlich so, dass technologische Prozesse Teil eines komplexen
30
sozialen Wertegefüges sind, so dass erst dann wenn dieses Gefüge verändert wird, wir
mit recht von einer 'neuen' Gesellschaft sprechen können. Solange wir unter
Information nur ein quantifizierbares Phänomen verstehen und die semantische
Dimension vernachlässigen, solange bleibt die Rede vom qualitativen Einfluß der
'Information'(-stechnik) auf die Gesellschaft eine abstrakte Formel. Das Phänomen der
quantitativen Zunahme der Information ist zwar ein wichtiges Phänomen unserer
Gegenwart, aber, so Webster, dies kann nur dann adäquat verstanden werden, wenn
wir die heutige Situation aus der historischen Kontituität zu verstehen versuchen:
"It appears to me that those who explain informatisation in terms of historical
continuities give us a better way of understanding information in the world today.This
is not least because they refuse to start with abstract measures of the 'information
society' and of information itself. While of course they acknowledge that there has
been an enormous quantitative increase in information technologies, in information in
circulation, in information networks an what not, such thinkers turn away from such
social and deracinated concepts and back to the real world. And it is there, in the ruck
of history, that they are able to locate an information explosion that means something
substantive and that has discernible origins and contexts: that these types of
information, for those sorts of groups, with those sorts of interests are developing."
(Webster 1995, 219-220)
In diesem Zusammenhang ist auch der Ansatz von Jeremy Rifkin: The Age of Access: The
New Culture of Hypercapitalism Where All of Life is a Paid-For Experience (2000) (dt.
Access - das Verschwinden des Eigentums, Frankurt a.M. 2000) zu sehen.
Informationstechnologien und weltweite Vernetzung verändern, nach Rifkin, die klassischen
Eckwerte kapitalistischer Produktion, indem sie diese sozusagen überbieten. Dem Zeitalter
der Märkte folgt das Zeitalter der Netzwerke. Der Fall Napster und mit ihm der Kampf um die
Zugangsrechte im Netz sind deutliche Anzeichen dafür. Das Verhältnis Verkäufer/Kunde
verwandelt sich in ein Verhältnis zwischen Anbietern und Nutzern. Aus dem Streben nach
Eigentum, wird Streben nach Zugang. Nicht das materielle, sondern das geistige Eigentum hat
in der neuen Ökonomie den Vorrang. Das bedeutet aber letztlich, so Rifkin, dass alle Formen
kultureller Arbeit sich den Regeln des elektronischen Netzwerkes unterziehen. Diese Form
von Hyperkapitalismus birgt aber für eine große Gefahr: Die Geschichte der Menschheit
zeigt, so Rifkin, dass die Kultur dem Kommerz vorausgehen muß. Wenn alle Beziehungen
von Mensch zu Mensch nur unter dem Vorzeichen von Effizienz und Nützlichkeit gestaltet
werden, gerät die Gesellschaft und mit ihr auch die Ökonomie selbst aus dem Gleichgewicht.
8.1.3 Die Komplexität der Informationsgesellschaft und die Vertrauensfrage
8.1.3.1 Die Komplexität der Informationsgesellschaft
Für Gernot Wersig ist Komplexität der zentrale Hintergrund der Informationsgesellschaft. Er
schreibt:
"Abstrahiert man etwas von den im einzelnen untersciedlichen Gedankengängen, dann
werden weitere Ähnlichkeiten sichtbar. Bei allen Autoren spielt der Begriff der
31
Komplexität eine Rolle, Komplexität als ein wesentliches Merkmal unserer Zeit, die
mit Ungewißheit verbunden ist. Diese Ungewißheit wiederum führt zum Gefühl der
Überforderung.
o
Für Lyotard ist die Situation der Postmoderne die des Individuums: "Jeder ist
auf sich selbst zurückgeworfen. Und jeder weiß, daß dieses Selbst wenig ist. ...
Das Selbst is wenig, aber es ist nicht isoliert, es ist in einem Gefüge von
Relationen gefangen, das noch nie so komplex und beweglich war. Jung oder
alt, Mann oder Frau, reich oder arm, ist immer auf 'Knoten' des
Kommunikationskreislaufes gesetzt..." (Lyotard 1986, S. 54-55)
o
Im Habermas'schen Dualismus von Lebenswelt und System, in dem System
immer mehr Lebenswelt abstrahiert, liegt die Überkomplexität genau in diesem
Abstraktionsmechanismus: "Abstraktionen, die der Lebenswelt aufgenötigt
werden ... müssen innerhalb der Lebenswelt verarbeitet werden, obgleich sie
die
sinnlich
zentrierten,
räumlichen,
sozialen
und
zeitlichen
Komplexitätsgrenzen auch der weit ausdifferenzierten Lebenswelten
überschreiten." (Habermas 1981, Bd. 2, S. 580). Derart entsteht "die Paradoxie,
daß sich systematische Entlastungen, die durch die Rationalisierung der
Lebenswelt ermöglicht werden, in Überlastungen der kommunikativen
Infrastruktur dieser Lebenswelt verwandeln." (ebd. S. 554)
o
Für Beck ist die Dimension, die den Erfolg aber auch das Umkippen der
Moderne ausmacht, die "lineare Steigerung von Rationalität", die in sich "eine
unendliche Komplexität" entwickelt (Beck 1993, S.45). Nebenfolge der
Rationalitätssteigerung aber unterdessen Hauptfaktor ist die Individualisierung
als Auf- und Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen, für deren
Nachfolge es aber noch keine Selbstverständlichkeiten gibt. "Das Gejammere
über Individualisierung... sind meist Reaktionen auf erfahrene Unlebbarkeiten
einer Individualsierung, die anomische Züge annimt." (ebd. S.151)
o
Für Giddens taucht Komplexität in zweifacher Hinsicht als Wandlungsfaktor
auf: Einmal für die Individuen in der Risikogesellschaft: "Das Gemisch aus
Risiko und Chancen ist unter vielen der betreffenden Umstände derart
komplex, daß es für die einzelnen überaus schwierig ist zu wissen, in welchem
Maße man bestimmten Rezepten oder Systemen Vertrauen schenken und in
welchem Maße man es suspendieren sollte" (Giddens 1995), S. 183. Aber
Komplexität ist auch im größeren Maßstag für den Wandel verantwortlich: Zu
den unbeabsichtigten Konsequenzen, die den Wandel verursachen, zählt er vor
allem Planungs- und Bedienungsfehler, die wegen der Komplexität der
Systeme und Handlungen als solche unvermeidlich sind." (ebd. S. 189)
(Wersig, Die Komplexität der Informationsgesellschaft, S. 11)
8.1.3.2 Die Frage des Vertrauens
Für Rainer Kuhlen sind die Bildung zur "informationellen Autonomie" und die Frage des
Vertrauens die entscheidenden soziale und ethischen Herausforderungen der heutigen
Informationsgesellschaft. Er schreibt:
32
"Informationsarbeit wird immer mehr zu delegierter Arbeit. Delegation, darauf haben
wir hingewiesen, ist immer eine Sache des Vertrauens. (...) Nicht umsonst spielt das
Thema des Vertrauens auf den elektronischen Märkten der Gegenwart eine wichtige
Rolle. Konsequent haben sich auch im kommerziellen Bereich der
Informationswirtschaft
so
etwas
wie
Vertrauensmanagement
und
Vertrauenssicherungsssysteme
entwickelt.
Die
Anstrengungen
der
Informationswirtschaft sind beträchtlich, Vertrauen aufzubauen, in erster Linie mit
Blick auf die Sicherheit der elektronisch durchgeführten Transaktionen, dann aber
auch mit Blick auf eine offene Informationssammlungspolitik bzw. auf den Schutz der
in den elektronischen Interaktionen abgegebenen persönlichen Daten. Denn ist
Vertrauen in die Leistungen nicht vorhanden, wird das Publikum mißtrauisch die
Produkte verweigern. War Vertrauensmanagement erfolgreich, dann ist auf den
Märkten die Grundeinstellung vertrauensvoller Akzeptanz vorhanden. (...)
Entsprechend wissen wir, daß es kein informationelles Schlaraffenland geben wird, in
dem die Informationen, uns angemessen aufbereitet, direkt in unsere Gehirne fliegen
und dort zu Wissen werden. Information muß erarbeitet werden. Die Voraussetzungen
dafür, daß Inforamtion später genutzt werden kann, müssen gegeben sein. Das leistet
konstruktive Informationsarbeit. Ebenso müssen die Informationen, wenn sie denn
einmal in den vielfältigen Ressourcen auf den Informationsmärkten als potentiell zu
Informationen werdende Daten gespeichert sind, erarbeitet werden. Das haben wir
redaptive Informationsarbeit genannt. Informationen können nicht einfach per
Knopfdruck aus den jeweiligen Schubläden gezogen werden. Und schließlich bedeutet
Information erarbeiten, sie in ihrem Wahrheitswert, ihrer Handlungsrelevanz
einschätzen und in der aktuellen Situation effizient einsetzen zu können. Dies hat nur
als Basisvoraussetzung etwas mit Technik zu tun, erfordert vielmehr neben der
informationsmethodischen auch noch soziale und kommunikative Kompetenz. Ohne
eigene Informationsarbeit wird es also nicht gehen. Wir haben die Vermutung
geäußert, daß informationelle Urteilskraft dann riskiert, defizitär zu werden, wenn die
Fähigkeit, eine Information einschätzen zu können, sich nicht mehr durch die
Fähigkeit schulen läßt, die Information überhaupt erst zu erarbeiten.
Wir schließen uns keineswegs den Erwartungen an, die viele an die Entwicklung der
Informationsgesellschaft hegen, daß nämlich die Verfügung über Information nicht
mehr differenzierend wirken müsse, da alle auf dem gleichen Stand der Verfügung
und Nutzung seien. Information wäre dann kein Wettbewerbsvorteil mehr für
Unternehmen. Information wäre kein Karrieremittel mehr im persönlichen
Fortkommen, und Unterschiede zwischen informationsarmen und informationsreichen
Ländern gäbe es nicht mehr, bzw. wäre nicht mehr der Mangel an Information der
Grund für weiterbestehende Differenzen. Verfügung über Information und erworbenes
Wissen
werden
weiter
differenzierend
wirken.
Wie schon nicht alle informationell oder gar materiell oder im Einfluß gleich
geworden sind, weil ihnen im Prinzip alle Bücher und Zeitschriften direkt zur
Verfügung standen, so wird es auch informationelle Gleichheit selbst dann nicht
geben, wenn im Sinne einer informationelle Grundversorgung der Zugriff genauso von
der Öffentlichkeit garantiert ist, wie es heute der Fall mit den Bibliotheken ist. (...)
Die Herausforderung an die Gesellschaft besteht nicht darin, den Informationszugang
für alle gleich zu machen, sondern die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß jeder
die Chance hat, die Vorteile der möglichen Informationsleistungen zu nutzen.
Chancen geben heißt nichts anderes, als Bildung möglich zu machen. Informationelle
Chancengleichheit beruht auf informationeller Bildung, deren wesentliches Ziel, wie
33
wir es formuliert haben, informationelle Autonomie ist, nicht in dem Sinne, alles
schon selber zu wissen, sondern in der Lage zu sein, sich der vorhandenen Ressourcen
auf gewinnbringende Weise zu vergewissern. Ein Mensch in der
Informationsgesellschaft hat Chancen, ein autonomes, d.h. selbstbestimmtes
Individuum zu werden, wenn er informationskompetent ist. Dieser braucht vor den
Konsequenzen der technischen Informationsassistenten nicht bange zu sein."
(R. Kuhlen: Die Konsequenzen von Informationsyssistenten, Frankfurt a.M. 1999, S.
378-382)
Vgl. Tim Berners-Lee: Der Web-Report. München: Econ 1999
Zur Vertiefung:
R. Capurro: Ethik im Netz. Stuttgart 2003
-: Leben im Informationszeitalter, Berlin 1995, Kap. 3.
U. Maier-Rabler: Einführung in die Kommunikationstechnologien
8.1.4 Das Recht auf Kommunikation
Vgl. William J. McIver, William F. Birdsall: Technological Evolution and the Right to
Communication: The Implications for Electronic Democracy (2002) (pdf):
Prämoderne Entwicklung:
Die Entwicklung der Schrift und der frühen Post (2000 v.Chr. - 1793 nChr.):
-> Ursprünge der heutigen "Telekommunikation" (das Wort entsteht in Frankreich um 1930)
in Zusammenhang mit der Verbreitung von schriftlichen Botschaften (Boten, Tiere) bei den
Ägyptern (2000 v.Chr.), Chinesen (1000 v.Ch.), Assyrern (700 v.Chr.), Persern (500 v.Chr.).
-> Skriben als Kaste.
-> "Cursus publicus" als 'staatliches' System im römischen Imperium.
-> Im Frühen Mittelalter verschwinden die staatlichen Postdienste in Europa.
Vgl. C.H. Scheele: A Short History of the Mail Service. Washington 1970.
Moderne Entwicklung:
Im 18. und 19. Jh. stehen die Postdienste unter staatlicher Kontrolle. Um 1840: postalische
Reform in Großbritannien. Briefmarkensystem: bezahlt wird einheitlich und im voraus.
34
Internationalisierung der postalischen Kommunikation:
Universal Postal Union (UPU) 1874
Telegraphie (um 1830)
Telephonie (um 1876)
Rundfunk (um 1895)
ITU (International Telecommunications Union) (1934).
Ökonomische, soziale und kulturelle Rechte bei der elektronischen Telekommunikation
von 1948 bis heute:
o Die
Universal
Declaration
of
Human
Rights
(UDHR)
(1948):
Art. 19: "Everyone has the right to freedom of opinion and expression: this right
includes freedom to hold opinions without interference and to seek, receive and impart
information and ideas through any media and regardless of frontiers."
o Art. 27: "Everyone has the right freely to participate in the cultural life of the
community, to enjoy the arts and to share in scientific advancdement and its benefits."
Vgl. auch Art. 12 (privacy), Art. 18 (freedom of thought, conscience, and religion),
Art. 20 (freedom of peaceful assembly), Art. 26 (right to education).
o Bertolt Brecht: "Theorie des Rundfunks" (1932)
o Jean d'Arcy (Director of Radio and Visual Services der UN Office of Public
Information): "Direct Broadcast Satellites and the Right to Communicate" (1969)
o Massenmedien (Rundfunk und Fernsehen, Printmedien) als hierarchische "Ein-WegMedien", die eine Massenmedien-Metalität erzeugen vs. horizontale interaktive
Kommunikationsmedien (Brecht, d'Arcy): Unterschied zwischen Information und
Kommunikation.
o Von hier aus: unterschiedliche gesellschaftliche Entwürfe einschl. der Interpretation
der UDHR.
o Das Individuum wird immer weniger als passiver Empfänger von Information und
immer mehr als aktiver Teilnehmer in einer interaktiven globalen Kommunkation.
Recht auf Kommunikation: 1955 bis heute
o Die Bandung Conference der Non-Aligned Movement 1955
o Die ITU Plenipotentiary Conference, Montreux 1965.
o Das Scheitern der New World Information and Communication Order (NWICO) der
UNESCO aufgrund der internationalen Konflikte ("kalter Krieg") (um 1970-1980).
35
o Das Recht auf Kommunikation aufgrund der Weltvernetzung (Arpanet 1965):
partizipative Kommunikation, interaktive Kommunikation, horizontale Kommunikation,
mehrweg ("multiway") Kommunikation, Kommunikation und Demokratie
o World Summit on the Information Society (Geneva 2003 - Tunis 2005)
o "Charta der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgeselschaft" auf Initative der
Heinrich-Böll-Stiftung (2003). Folgende Bereiche und Ziele einer Wissens- und
Informationsgesellschaft unter dem Primat der Nachhaltigkeit werden vorgeschlagen:
1. Freier Zugriff auf Wissen
2. Wissen, ein öffentliches Gut im Besitz aller ("Commons")
3. Offenheit technischer Stardards und ofrene Organisationsformen
4. Sicherung der Privatheit beim Umgang mit Wissen und Information
5. Kulturelle und sprachliche Vielfalt
6. Sicherung medialer Vielfalt und öffentlicher Meinung
7. Langzeitbewahrung von Wissen
8. Überwindung der digitalen Spaltung
9. Informationsfreiheit als Bürgerrecht auf politische Beteiligung und transparente
Verwaltung
10. Sicherung der Informationsfreiheit in der Arbeitswelt
36
VII. Manuel Castells: Das Informationszeitalter
Auszüge aus: Manuel Castells: Das Informationszeitalter
3 Bde. (Copyright: Leske + Bulrich UTB 2004)
Band 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft:
Das Netzwerk-Unternehmen (I, Kap. 3, 173-228)
Die Kultur der realen Virtualität (I, Kap. 5, 375-429)
Band 2: Die Macht der Identität
Informationelle Politik (II, Kap. 6, 329-386)
Band 3: Jahrtausendwende
Die Entstehung der Vierten Welt (III, Kap. 2, 73-174)
Die Vereinigung Europas (III, Kap. 5, 356-385)
Schluß: Unsere Welt verstehen (III, 385-412)
(Die fettgedruckten Stellen im Text sind meine Hervorhebungen, RC)
I. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft
Das Netzwerk-Unternehmen
Die Kultur, die Institutionen und die Organisationen der informationellen
Ökonomie
„Die informationelle Ökonomie ist wie jede historisch abgrenzbare Form der Produktion
durch ihre spezifische Kultur und ihre Institutionen geprägt. Jedoch sollte Kultur in diesem
analytischen Bezugsrahmen nicht als System von Werten und Überzeugungen verstanden
werden, das mit einer bestimmten Gesellschaftsform verknüpft ist. Typisch für die
Verbreitung der informationellen, globalen Wirtschaftsform ist gerade ihr Auftauchen in sehr
unterschiedlichen kulturell/nationalen Zusammenhängen: in Nordamerika, Westeuropa, Japan
und Russland ebenso wie im „chinesischen Kulturkreis“ oder in Lateinamerika; hinzu kommt
ihre planetare Reichweite, die alle Länder erfasst und ein multikulturelles Bezugssystem
hervorbringt. (…)
Aber die Unterschiedlichkeit der kulturellen Kontexte, in denen die informationelle
Ökonomie in Erscheinung tritt und sich entwickelt, schließt die Existenz eines gemeinsamen
Grundmusters organisatorischer Formen in den Prozessen der Produktion, Konsumtion
und Distribution nicht aus. Ohne solche organisatorischen Vorkehrungen könnten
technologischer Wandel, staatliche Politik und Firmenstrategien nicht in ein neues
Wirtschaftssystem integriert werden. In Übereinstimmung mit einer wachsenden Zahl von
Wissenschaftlern behaupte ich, dass sich Kulturen grundlegend durch ihre Einbettung in
Institutionen und Organisationen manifestieren. Unter Organisation verstehe ich genau
definierte Systeme von Mitteln, die eindeutig definierte Ziele erreichen sollen. Unter
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Institutionen verstehe ich Organisationen, die mit der notwendigen Autorität ausgestattet
sind, um bestimmte Aufgaben im Namen der gesamten Gesellschaft wahrzunehmen. Die
Kultur, um die es bei der Konstituierung und Entfaltung eines bestimmten Wirtschaftssystems
geht, ist diejenige, die sich in einer Organisationslogik materialisiert (…)
Meine These ist: Die Entstehung der informationellen globalen Ökonomie ist durch die
Entwicklung einer neuen Organisationslogik charakterisiert, die zu dem gegenwärtigen
Prozess des technologischen Wandels in Beziehung steht, aber nicht von ihm abhängig ist.
(…) Jedoch manifestiert sich diese Organisationslogik in unterschiedlichen Formen und in
diversen kulturellen und institutionellen Kontexten. (…)
Organisatorische Entwicklungslinien in der Neustrukturierung des
Kapitalismus und im Übergang vom Industrialismus zum
Informationalismus
Die wirtschaftliche Neustrukturierung der 1980er Jahre führte in den Wirtschaftsunternehmen
zu einer Reihe von Reorganisationsstrategien. (…)
1. Seit Mitte der 1970er Jahre ist zu einschneidenden (industriellen oder sonstigen)
Veränderungen in der Organisation der Produktion und der Märkte in der
globalen Ökonomie gekommen – aus welchen Gründen auch immer und unabhängig
von der Genese der organisatorischen Transformation.
2. Die
organisatorischen
Veränderungen
und
die
Verbreitung
der
Informationstechnologie beeinflussten sich gegenseitig, aber sie waren im Großen
und Ganzen unabhängig voneinander und gingen im allgemeinen der Verbreitung der
Informationstechnologien in Wirtschaftsunternehmen voraus.
3. Grundsätzlich hatten die organisatorischen Veränderungen in ihren unterschiedlichen
Formen zum Ziel, die Flexibilität von Produktion, Management und Vermarktung zu
steigern und so die Ungewissheit zu meistern, die durch den rasanten Wandel im
wirtschaftlichen, institutionellen und technologischen Umfeld des Unternehmens
hervorgerufen wurde.
4. Viele der organisatorischen Veränderungen sollten Arbeitsprozesse und
Anstellungsverhältnisse durch die Einführung des Modells der schlanken Produktion
(lean production) neu bestimmen. Ziel war es, durch die Automatisierung von
Arbeitsvorgängen, die Eliminierung bestimmter Aufgaben und die Ausschaltung von
Management-Ebenen Arbeitskraft einzusparen.
5. Wissens-Management und Informationsverarbeitung sind für die Leistungsstärke
von Organisationen, die in der informationellen globalen Ökonomie operieren von
grundlegender Bedeutung.
(…)
Organisatorische Trends:
o Von der Massenproduktion zur flexiblen Fertigung: (…) vom „Fordismus“ zum
„Post-Fordismus“ (…) Dieser Prozess beruhte auf der Fließbandproduktion, die ein
standardisiertes Produkt erzeugte. Dies geschah unter den Bedingungen der Kontrolle
eines großen Marktes durch eine spezifische Organisationsform: den Großkonzern,
der nach den Grundsätzen der vertikalen Integration aufgebaut war und durch eine
institutionalisierte soziale und technische Arbeitsteilung. Diese Prinzipien waren
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eingebettet in Managementmethoden, di als „Taylorismus“ und „wissenschaftliche
Arbeitsorganisation“ bezeichnet werden und die sich sowohl Henry Ford als auch
Lenin zu eigen gemacht haben.
Als die Nachfrage nach Quantität und nach Qualität unvorhersagbar wurde, als sich
die Märkte weltweit diversifizierten und daher schwieriger zu kontrollieren waren und
als das Tempo des technologischen Wandels Einzweck-Maschinen in der Produktion
obsolet machte, erwies sich das System der Massenproduktion als zu starr und zu
kostspielig für die Anforderungen der neuen Wirtschaftsform. (…)
Die neuen Technologien ermöglichen es, die für die Großkonzerne charakteristischen
Fließbänder in leicht programmierbare Produktionseinheiten zu transformieren, die gut
auf Marktschwankungen und auf Veränderungen in den technologischen
Ausgangsbedingungen reagieren können. So gelingt es, Produktflexibilität und
Prozessflexibilität miteinander zu verbinden.
o Kleinunternehmen und die Krise des Großkonzerns: Mythos und Wirklichkeit
Ein zweiter, anders gearteter Trend, den Analytiker in den letzten Jahren
hervorgehoben haben, ist die Krise des Großkonzerns und die Rückkehr kleiner und
mittlerer Unternehmen als Träger von Innovation und Quellen zusätzlicher
Beschäftigung. (…)
Es stimmt also, das Organisationformen kleiner und mittlerer Unternehmen
anscheinend dem flexiblen Fertigungssystem der informationellen Ökonomie
besonders gut angepasst sind, und es ist gleichzeitig ebenso wahr, dass deren
wiederbelebte Dynamik unter die Kontrolle der Großkonzerne gerät, die sich auch in
den neuen globalen Ökonomie im strukturellen Zentrum wirtschaftlichen Macht
befinden. Wir werden nicht Zeugen des Untergangs der mächtigen Großkonzerne,
sondern wir beobachten die Krise des traditionellen Organisationsmodells der
Konzerne auf der Grundlage vertikaler Integration und eines hierarchischen,
funktionalen Managements: Das System von „Stab und Linie“ mit seiner strikten
technischen und sozialen innerbetrieblichen Arbeitsteilung.
o „Toyotismus“: Kooperation zwischen Management und Belegschaft,
multifunktionale Arbeitskraft, totale Qualitätskontrolle und Reduktion von
Ungewissheit
Eine dritte Entwicklung betrifft neue Management-Methoden, von denen die meisten
von japanischen Firmen ausgingen, obwohl mit einigen dieser Methoden auch
andernorts experimentiert wurde, etwa im Volvo-Werk im schwedischen Kalmar. Der
beträchtliche Erfolg, den die japanischen Autofirmen bezüglich Produktivität und
Konkurrenzfähigkeit erzielt haben, wurde weitgehend auf diese ManagementRevolution zurückgeführt. Deshalb wird in der Wirtschaftsliteratur auch der
„Toyotismus“ dem „Fordismus“ als die neue, der globalen Ökonomie und den
flexiblen Fertigungssystemen angepasste Gewinnformel gegenübergestellt. (…)
Einige Elemente dieses Modells sind gut bekannt: das kan-ban- (oder just in time)
System bei der Lagerhaltung, bei dem die Lagerbestände entweder ganz eliminiert
oder wesentlich reduziert wurden, indem die Lieferung an den Produktionsort genau
zum Zeitpunkt des tatsächlichen Bedarfs und mit den für die Produktionslinie
spezifisierten Charakteristika erfolgt; die „totale Produktivitätskontrolle“ der Produkte
im Produktionsprozess mit dem Ziel von nahezu null Fehlern und optimaler
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Ressourcennutzung; die Einbeziehung der Belegschaft in den Produktionsprozess
durch Teamwork, dezentralisierte Initiative, größere Entscheidungsautonomie an der
Produktionsstätte, Belohnungen für Team-Leistungen und eine flache ManagementHierarchie mit wenig Status-symbolen im Firmenalltag.
Kultur mag bei der Entstehung des „Toyotismus“ und vor allem des
konsensschaffenden, kooperativen Modells von Teamwork eine wichtige Rolle
gespielt haben, aber sie ist sicher kein bestimmendes Element bei dessen Anwendung.
Das Modell funktioniert genauso gut außerhalb Japans (…)
Tatsächlich haben westliche Managementexperten offenbar einige der wichtigsten
organisatorischen Mechanismen übersehen, die dem Produktivitätszuwachs in
japanischen Betrieben zugrunde liegen. So hat Ikujiro Nonaka auf der Grundlage
seiner Untersuchungen über japanische Großunternehmen ein einfaches und elegantes
Modell vorgelegt, um die Wissensproduktion in der Firma zu erklären. Das, was er
als „das wissenschaffende Unternehmen“ bezeichnet, beruht auf der
organisatorischen Interaktion zwischen „explizitem Wissen“ und „stillem Wissen“
an der Quelle der Innovation. Er meint, dass ein Großteil der in der Firma
auflaufenden Information Erfahrungswissen ist und von der Belegschaft bei
übermäßig formalisierten Managementabläufen nicht kommuniziert werden kann.
Aber die Quellen der Innovation vervielfachen sich, wenn die Organisation in der
Lage ist, Brücken zu bauen, um stilles Wissen in explizites Wissen umzuwandeln,
explizites in stilles Wissen, Stilles in Stilles und Explizites in Explizites. Auf diese
Weise wird nicht nur die Erfahrung der Belegschaft kommuniziert und verstärkt und
so die Menge an formalem Wissen innerhalb des Unternehmens erhöht, sondern es
kann auch Wissen, das in der Außenwelt entstanden ist, in die stillen Angewohnheiten
der Mitarbeiter einbezogen werden und sie so befähigen, ihre eigenen Anwendungen
zu erarbeiten und Standardverfahren zu verbessern.
In einem Wirtschaftssystem, in dem Innovation eine entscheidende Rolle spielt, wird
die organisatorische Fähigkeit, deren Quellen aus allen Formen des Wissens heraus zu
vermehren, zur Grundlage des innovativen Unternehmens. Dieser organisatorische
Prozess erfordert aber die vollständige Beteiligung der Belegschaft innerhalb des
Unternehmens, so dass sie ihr stilles Wissen nicht zu ihrem eigenen Vorteil für sich
allein behalten. Er erfordert auch die Stabilität der Belegschaft innerhalb des
Unternehmens, denn nur dann ist es für die Einzelnen rational, ihr eigenes Wissen an
das Unternehmen zu übertragen und andererseits für das Unternehmen, explizites
Wissen unter den Mitarbeitern zu verbreiten. Daher erfordert dieser scheinbar einfache
Mechanismus, dessen durchschlagende Konsequenzen bei der Förderung von
Produktivität und Qualität in einer Reihe von Fallstudien nachgewiesen worden sind,
in Wirklichkeit eine tiefgreifende Transformation der industriellen Beziehungen.
Wenn die Informationstechnologie auch in Nonakas „explizite Analyse“ keine große
Rolle spielt, so waren wir uns in unseren persönlichen Gesprächen doch einig, dass
Online-Kommunikation und computerisierte Speicherkapazitäten zu mächtigen
Werkzeugen geworden sind, um die Komplexität der organisatorischen
Verknüpfungen zwischen stillem und explizitem Wissen weiter zu entwickeln.
Jedoch ist diese Form der Innovation der Entwicklung der Informationstechnologien
vorausgegangen und stellte sogar während der letzten beiden Jahrzehnte ein „stilles
Wissen“ des japanischen Managements dar, das der Beobachtung ausländischer
Experten aus dem Managementbereich entzogen war. Aber es war bei der Steigerung
der Leistungsfähigkeit der japanischen Unternehmen in der Tat entscheidend.
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o Vernetzung zwischen Firmen
(…)
o Strategische Konzern-Allianzen
(…)
o Der horizontale Konzern und die globalen Geschäftsnetzwerke
(…)
o Die Krise des vertikalen
Unternehmensnetzwerke
Konzernmodells
und
die
Entstehung
der
(…)
o Vernetzung der Netzwerke: das Cisco-Modell
(…)
Die Informationstechnologie und das Netzwerk-Unternehmen
Unter diesen Umständen bieten Kooperation und Vernetzung die einzige Möglichkeit, Kosten
und Risiken zu teilen und zugleich mit der ständigen Aktualisierung von Informationen
Schritt zu halten. Aber die Netzwerke fungieren auch als gatekeeper. Innerhalb der Netzwerke
werden unablässig neue Möglichkeiten geschaffen. Außerhalb der Netzwerke wird dass
Überleben immer schwieriger. Unter den Bedingungen schnellen technologischen Wandels
sind Netzwerke, nicht Firmen zu den eigentlichen operativen Einheiten geworden. Mit
anderen Worten hat sich durch die Interaktion zwischen der Krise und dem Wandel der
Organisationsweise und den neuen Informationstechnologien eine neue für die
informationelle globale Ökonomie charakteristische Organisationsform herausgebildet: das
Netzwerk-Unternehmen.
(…)
Die erfolgreichen Organisationen sind diejenigen, die auf effiziente Weise Wissen und
Prozessinformation hervorbringen können; die sich an die variable Geometrie der globalen
Wirtschaft anpassen können; die flexibel genug sein können, um ihre Mittel ebenso schnell zu
wechseln, wie sich die Ziele unter dem Druck des schnellen kulturellen, technologischen und
institutionellen Wandels ändern; und die zur Innovation fähig sind, weil Innovation zur
entscheidenden Waffe im Wettbewerb wird. Diese Charakteristika sind nur in der Tat
Merkmale des neuen Wirtschaftssystems, das wir im vorhergehenden Kapitel analysiert
haben. In diesem Sinne macht das Netzwerk-Unternehmen die materielle Kultur der
informationellen globalen Ökonomie aus: Es transformiert Signale in Waren durch die
Verarbeitung von Wissen.
Kultur, Institutionen und ökonomische Organisation: Ostasiatische
Unternehmensnetzwerke:
o Eine Typologie ostasiatischer Unternehmensnetzwerke
o Japan
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o Korea
o China
o Kultur, Organisation und Institutionen: Asiatische Wirtschaftsnetzwerke und der
Entwicklungsstaat
Multinationale Unternehmen, transnationale Konzerne und internationale
Netzwerke
(…)
Der Geist des Internationalismus
„Erstmals in der Geschichte ist die Grundeinheit der Wirtschaftsorganisation kein Subjekt,
weder individuell (als Unternehmer oder Unternehmerfamilie), noch kollektiv (als
kapitalistische Klasse, Konzern oder Staat). Wie ich zu zeigen versucht habe, ist diese Einheit
das Netzwerk, das aus unterschiedlichen Subjekten und Organisationen besteht und unablässig
abgeändert wird in dem Prozess, durch den sich die Netzwerke an stützende Umgebungen und
Marktstrukturen anpassen. Was schweißt diese Netzwerke zusammen? Handelt es sich um
rein instrumentelle, zufällige Allianzen? Das mag für bestimmte Netzwerke zutreffen, aber
die vernetzte Organisationsform muss eine eigene kulturelle Dimension haben. Andernfalls
fände die Wirtschaftstätigkeit in einem sozialen und kulturellen Vakuum statt. Eine solche
Annahme kann von manchen Teilen der ultrarationalistischen Ökonomie aufrechterhalten
werden, aber sie wird durch die historische Erfahrung vollständig widerlegt. Was also ist
dieser „ethische Unterbau des Netzwerk-Unternehmens“, dieser „Geist des
Informationalismus“?
Es ist sicher keine neue Kultur im traditionellen Sinn eines Wertesystems, weil die Vielzahl
der Subjekte im Netzwerk und die Unterschiedlichkeit der Netzwerke eine solche
vereinheitlichende „Netzwerk-Kultur“ nicht zulassen. Es ist auch kein System von
Institutionen, denn wir haben die unterschiedliche Entwicklung des Netzwerk-Unternehmens
beobachtet und zwar in einer Reihe unterschiedlicher institutioneller Umgebungen bis zu dem
Punkt, an dem sie durch diese Umgebungen zu einem breiten Spektrum von Formen geprägt
wurden. Aber es gibt wirklich einen gemeinsamen kulturellen Code in den unterschiedlichen
Mechanismen des Netzwerk-Unternehmens. Er besteht aus vielen Kulturen, vielen Werten
und vielen Projekten, die den unterschiedlichen Beteiligten an den Netzwerken durch
den Kopf gehen und ihre Strategien bestimmen. Dabei wechseln die Strategien im gleichen
Tempo wie die Mitglieder des Netzwerkes und folgen der organisatorischen und kulturellen
Transformation der Einheiten des Netzwerkes. Es ist tatsächlich eine Kultur, aber eine Kultur
des Ephemeren, eine Kultur einer jeden strategischen Entscheidung, ein Flickenteppich von
Erfahrungen und Interessen, und keine Charta der Rechte und Pflichten. Es ist eine multifacettierte, virtuelle Kultur, wie in der visuellen Erfahrung von Computern im Cybespace, wo
die Realität neu zusammengesetzt wird. Diese Kultur ist kein Phantasiegebilde, sie ist eine
materielle Macht, weil sie in jedem Augenblick des Netzwerklebens machtvolle
Entscheidungen bestimmt und durchsetzt. Aber sie ist nicht von langer Dauer: Sie wird vom
Computer als Rohmaterial vergangener Erfolge und Misserfolge gespeichert. Das NetzwerkUnternehmen lernt, innerhalb dieser virtuellen Kultur zu leben. Jeder Versuch, die Position im
Netzwerk als kulturellen Code zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort
auszukristallisieren, verdammt das Netzwerk zur Obsoleszenz, weil es für die vom
Informationalismus benötigte variable Geometrie zu starr wird. Der „Geist des
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Informationalismus“ ist die Kultur der „kreativen Zerstörung“, di auf die Geschwindigkeit der
lichtelektronischen Schaltkreise beschleunigt wird, die ihre Signale verarbeiten. Schumpeter
trifft Weber im Cyberspace des Netzwerk-Unternehmens.
Was die möglichen gesellschaftlichen Konsequenzen dieser neuen Wirtschaftsgeschichte
angeht, so findet die Stimme des Meisters 100 Jahre später machtvollen Widerhall:
(Die) moderne, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanischmaschineller Produktion gebundene … Wirtschaftsordnung (bestimmt) … heute den
Lebensstil aller einzelnen, die in dies Treibwerk hineingeboren werden – nicht nur der
direkt ökonomisch Erwerbstätigen – mit überwältigendem Zwange… Nur wie „ein
dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte“, sollte… die Sorge um die
äußeren Güter um die Schultern (der) Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das
Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. … Heute ist (der) Geist (der Askese) …
aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er
auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr. … Niemand weiß noch,
wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren
Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken
und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte
Versteinerung, mit einer Art von krampfhaften Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann
allerdings könnte für die „letzten Menschen“ dieser Kulturentwicklung das Wort zur
Wahrheit werden: „Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies
Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu
haben.“ (Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In
ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. I, 1963, 203 f) (zuerst 190405)“
Die Kultur der realen Virtualität
„Um 700 v.Chr. wurde in Griechenland eine große Erfindung gemacht: das Alphabet. Nach
Ansicht führender Altertumswissenschaftler wie Havelock, war diese konzeptionelle
Technologie die Grundlage für die westliche Entwicklung der Philosophie und Wissenschaft,
wie wir sie heute kennen. Sie baute eine Brücke zwischen mündlicher Rede und Sprache.
Damit trennte sich das Gesprochene vom Sprecher und ermöglichte einen mit Begriffen
arbeitenden Diskurs. Dieser historische Wendepunkt wurde durch eine etwa 3.000 Jahre
dauernde Entwicklung oraler Tradition und nicht-alphabetischer Kommunikation vorbereitet,
bis die griechische Gesellschaft das erreichte, was Havelock als einen neuen
Bewußtseinszustand bezeichnet: den „alphabetischen Verstand“, der die qualitative
Transformation der menschlichen Kommunikation auslöste. Zu verbreiteter Alphabetisierung
kam es erst nach der Erfindung und Verbreitung der Druckerpresse und der Papierherstellung
viele Jahrhunderte später. Aber es war das Alphabet, das im Westen die geistige Infrastruktur
für kumulative, wissensbasierte Kommunikation schuf.
Die neue alphabetische Ordnung ermöglichte nun zwar den rationalen Diskurs, sie trennte
jedoch die schriftliche Kommunikation vom audiovisuellen System der Symbole und
Wahrnehmungen, das so entscheidend wichtig ist für einen voll entwickelten Ausdruck des
menschlichen Verstandes. Die implizite und explizite Festlegung einer sozialen Hierarchie
zwischen schriftlicher Schriftkultur und audiovisueller Kultur, die Gründung der
menschlichen Praxis auf den schriftlichen Diskurs, hatte ihren Preis. Es war die Verdrängung
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der Welt der Töne und Bilder in die Hintertreppenexistenz der Künste, die sich mit dem
privaten Bereich der Gefühle und mit der öffentlichen Welt der Liturgie berfassten. Natürlich
hat die audiovisuelle Kultur im 20. Jahrhundert historische Rache genommen, indem sie
zuerst mit Film und Radio und dann mit dem Fernsehen den Einfluss der schriftlichen
Kommunikation auf die Herzen und Seelen der meisten Menschen verschüttete. Und diese
Spannung zwischen der edlen alphabetischen Kommunikation und der sinnlichen, nicht
reflektierenden Kommunikation ist ja auch der Grund für die Frustration vieler Intellektueller
über den Einfluss des Fernsehens, und sie beherrscht noch immer die gesellschaftliche Kritik
an den Massenmedien.
Eine technologische Transformation ähnlichen historischen Ausmaßes findet 2.700 Jahre
später statt, nämlich die Integration verschiedener Kommunikationsweisen in ein interaktives
Netzwerk. Mit anderen Worten: die Herausbildung eines Hypertextes und einer MetaSprache, die erstmals in der Geschichte die schriftlichen, oralen und audiovisuellen Spielarten
der menschlichen Kommunikation in dasselbe System integriert. (…)
Von der Gutenberg-Galaxis zur McLuhan-Galaxis: der Aufstieg der Kultur
der Massenmedien
Die Verbreitung des Fernsehens während der drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg –
je nach Land zu verschiedenen Zeiten und mit wechselnder Intensität – schuf eine neue
Galaxis der Kommunikation, wenn ich mich hier der McLuhanschen Terminologie bedienen
darf. Nicht, dass die anderen Medien verschwunden wären, aber sie wurden umstrukturiert
und neu organisiert in ein System, dessen Herz aus Elektronikröhren bestand und dessen
anziehendes Gesicht ein Fernsehbildschirm war. Das Radio verlor seine zentrale Bedeutung,
gewann aber an Allgegenwärtigkeit und Flexibilität. Es passte seine Sendeformate und
Themen den Rhythmen des alltäglichen Lebens der Menschen an. Die Filme änderten sich
und wurden auf ein Fernsehpublikum zugeschnitten, mit Ausnahme der staatlich geförderten
Kunst und der Spezialeffekt-Shows auf großen Leinwänden. Zeitungen und Zeitschriften
spezialisierten sich, indem sie ihre Inhalte vertieften oder sich stärker an ihrem Publikum
orientierten und zugleich darauf achteten, strategische Information für das beherrschende
Medium TV zu liefern. Bücher blieben Bücher, obwohl hinter vielen Büchern der unbewusste
Wunsch stand, zum TV-Drehbuch zu werden; und die Beststellelisten füllten sich bald mit
Titeln, die sich auf TV-Figuren oder durch das Fernsehen populär gemachte Themen bezogen.
(…)
Das TV-beherrschte System konnte man zweifellos als Massenmedium charakterisieren. Eine
ähnliche Botschaft wurde von ein paar Sendern gleichzeitig für ein Publikum von Millionen
Empfängern ausgestrahlt. Deshalb wurden Inhalte und Format der Botschaften auf den
kleinsten gemeinsamen Nenner zugeschnitten. (…)
Man könnte annehmen, dass die weitverbreitete, machtvolle Präsenz solch unterschwellig
provozierender Botschaften aus Ton und Bild dramatische Folgen für das Sozialleben hat. Der
größte Teil der verfügbaren Forschung weist aber in die entgegengesetzte Richtung. (…)
Außerdem scheint der Dauerbeschuss mit Werbebotschaften durch die medien nur begrenzte
Auswirkungen zu haben. (…)
Das Schlüsselproblem besteht darin, dass die Massenmedien zwar ein EinbahnKommunikationssystem sind, dass aber der tatsächliche Kommunikationsprozesss dies nicht
ist. Er ist bei der Interpretation der Botschaft vielmehr abhängig von der Interaktion zwischen
Sender und Empfänger. Die Forschung hat Belege für die Bedeutung dessen gefunden, was
Wissenschaftler als „aktives Publikum“ bezeichnen. (…)
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Die Konsequenz dieser Analyse ist, dass „das einzige, was wir wissen ist, dass es keine
Massenkultur in dem Sinne gibt, wie sie die apokalyptischen Soziologen der
Massenmedien sich vorgestellt haben, weil das Massenmedienmodell sich mit anderen
Modellen überschneidet (etwa mit antiken Spuren, Klassenkultur, Aspekten der Hochkultur,
die über die Schule verbreitet wurden usw.)“ (Umberto Eco). Während dieser Aussage aus der
Sicht der Geschichtswissenschaft und der empirischen Medienwissenschaft eine
Alltagsweisheit ist, unterminiert dies doch, wenn es wir von mir ernstgenommen wird, einen
grundlegenden Aspekte der kritischen Sozialtheorie von Marcuse bis Habermas. Es ist eine
der Ironien der Ideegeschichte, dass gerade jene Denker, die für soziale Veränderung
eintreten, die Menschen oft lediglich als passive Aufnahmebehälter für ideologische
Manipulation betrachten, was eigentlich die Vorstellung von sozialen Bewegungen und
sozialer Veränderung ausschließt, es sei denn unter den Bedingungen außergewöhnlicher,
einmaliger Ereignisse, deren Ursprünge außerhalb des sozialen Systems liegen. (…)
Die Betonung der Autonomie des menschlichen Verstandes und der einzelnen kulturellen
Systeme beim Eintragen des eigentlichen Sinnes der empfangenen Botschaften soll jedoch
nicht bedeuten, die Medien seien neutrale Institutionen, oder ihr Einfluss sei
unerheblich. Die empirischen Studien zeigen, dass die Medien bei der Beeinflussung des
Verhaltens keine unabhängigen Variablen sind. Ihre expliziten oder unterschwelligen
Botschaften wrden von Individuen in spezifischen sozialen Zusammenhängen ausgestaltet
und weiterverarbeitet. Dadurch wird das, was der beabsichtigte Effekt der Botschaft war,
modifiziert. Aber die Medien und besonders die Audiovisuellen Medien in unserer Kultur,
sind in der Tat die Grundsubstanz von Kommunikationsprozessen. Wir leben inmitten einer
Medienwelt, und die meisten unserer symbolischen Stimuli kommen aus den Medien. (…)
Die wahre Macht des Fernsehens besteht, wie Eco und Postman gleichermaßen betont haben,
darin, dass es die Bühne für alle Prozesse schafft, die der Gesellschaft allgemein vermittelt
werden sollen, von der Politik über die Wirtschaft bis zu Sport und Kunst. Das Fernsehen
gestaltet die Sprache der gesellschaftlichen Kommunikation. (…)
Der Preis, der gezahlt werden muss, damit eine Botschaft ins Fernsehen kommt, besteht
jedoch nicht nur in Geld oder Macht. Er besteht darin, zu akzeptieren, dass man in einem
multisemantischen Text eingemengt wird, dessen Syntax äußerst nachlässig ist. So
verwischen sich in der Sprache des Fernsehens sämtliche Grenzen: von Information und
Unterhaltung, Bildung und Propaganda oder Entspannung und Hypnose. Weil der Kontext des
Zuschauens für die Zuschauer kontrollierbar und vertraut ist, werden alle Botschaften in den
beruhigenden Modus des Heims oder des Quasi-Heims (beispielsweise Sportbars als einer der
wenigen wahren noch vorhandenen erweiterten Familienzusammenhänge…) absorviert. (…)
In diesem grundlegenden Sinn hat das System der Massenmedien die meisten der
Perspektiven eingelöst, die McLuhan Anfang der 1960er Jahre skizziert hat: Es war die
McLuhan-Galaxis. Aber die Tatsache, dass das Publikum kein passives Objekt, sondern ein
interaktives Subjekt ist, eröffnete den Weg zu seiner Differenzierung und zur nachfolgenden
Transformation der Medien von der Massenkommunikation zur Segmentierung,
situationsbedingten Anpassung und Individualisierung von dem Moment an, als Technologie,
Konzerne und Institutionen so etwas erlaubten.
Die neuen Medien und die Differenzierung des Massenpublikums
Während der 1980er Jahre transformierten die neuen Technologien die Welt der Medien.
Zeitungen wurden geschrieben, redigiert und an entfernten Orten gedruckt. (…) Die Leute
fingen an, wichtige Ereignisse selbst aufzuzeichnen, angefangen vom Urlaub bis hin zu
Familienfeiern und stellten so über das Fotoalbum hinaus ihre eigenen Bilder her (…)
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Aber das entscheidende Ereignis, was zu verstärkter Differenzierung führte, war die
Vervielfachung von Fernsehkanälen. Die Entwicklung der Technologie des
Kabelfernsehens, die in den 90er Jahren durch Lichtleitertechnik und Digitalisierung
vorangebracht wurde, und der direkte Satellitenfunk erweiterten das Übertragungsspektrum
drastisch. (…)
Aufgrund der Vielfalt der Medien und der Möglichkeit, das Publikum gezielt anzusprechen,
können wir deshalb sagen, dass in dem neuen Mediensystem die Botschaft das Medium ist.
Das heißt: Die Eigenschaften der Botschaft formen die Eigenschaften des Mediums. Wenn
z.B. eine Botschaft darin besteht, für die musikalische Umgebung von Teenagern zu sorgen –
eine sehr explizite Botschaft – so wird MTV auf die Riten und die Sprache dieses Publikums
zugeschnitten, und zwar nicht nur bezüglich der Inhalte, sondern in der gesamten
Organisation des Senders sowie in der Technologie und dem Design der BildProduktion/Verbreitung. Dagegen erfordert die Produktion eines rund um die Uhr laufenden
weltweiten Nachrichtendienstes eine ganz andere Inszenierung, Programmierung und
Verbreitungsweise, etwa Wetterberichte globaler und kontinentaler Reichweite. Dies ist
tatsächlich die Gegenwart und die Zukunft des Fernsehens: Dezentralisierung,
Diversifizierung und Anpassung an Konsumentenbedürfnisse. Innerhalb der erweiterten
Parameter der Sprache McLuhans form die Botschaft das Medium – das immer noch als
solches funktioniert – unterschiedliche Medien für unterschiedliche Botschaften.
Die Diversifizierung von Botschaften und Medien bedeutet für Großkonzerne und
Regierungen aber nicht den Verlust der Kontrolle über das Fernsehen. Vielmehr war während
des letzten Jahrzehnts das Gegenteil zu beobachten. Mit der Bildung von Mega-Gruppen und
strategischen Allianzen zur Sicherung von Marktanteilen in einem Markt, der sich
grundlegend veränderte, kam es zu einem kräftigen Zustrom von Investitionen in den
Kommunikationsbereich. (…)
Computervermittelte Kommunikation, institutionelle Kontrolle, soziale
Netzwerke und virtuelle Gemeinschaften
Die Geschichtsschreibung wird festhalten, dass die beiden ersten Experimente großen Stils im
Bereich dessen, was Ithiel de Sola Pool als „Freiheitstechnologien“ bezeichnet, vom Staat
ausgingen: der französische Minitel als Gerät, um Frankreich in die Informationsgesellschaft
zu lenken; und das amerikanische ARPANET, der Vorläufer des Internet, als militärische
Strategie, um es Kommunikationsnetzwerken zu ermöglichen, einen nuklearen Schlag gegen
die Kommando- und Kontrollzentren zu überstehen.
(…)
Die Minitel-Story: l’état et l’amour
(…)
Die Internet-Konstellation
(…) Trotz aller Anstrengungen, das Internet und seine zuleitenden Systeme zu regulieren, zu
privatisieren und zu kommerzialisieren sind das Internet und die CMC-Netzwerke innerhalb
und außerhalb des Internet durch ihre Allgegenwart, ihre vielgestaltige Dezentralisation und
ihre Flexibilität charakterisiert. Sie breiten sich aus wie Kolonien von Mikroorganismen. Sie
werden in zunehmendem Maße Ausdruck kommerzieller Interessen sein und ebenso die
Logik des Controlling der großen öffentlichen und privaten Organisationen auf den gesamten
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Bereich der Kommunikation ausdehnen. Aber im Unterschied zu den Massenmedien der
McLuhan-Galaxis besitzen sie technologisch und kulturell eingebettete Eigenschaften von
Interaktivität und Individualisierung. Aber übersetzen sich diese Möglichkeiten in neue
Formen der Kommunikation? Was sind die kulturellen Attribute, die sich aus dem Prozess der
elektronischen Interaktion ergeben? Wenden wir uns der Untersuchung des dürftigen
empirischen Materials zu diesen Fragen zu.
Die interaktive Gesellschaft
Die durch das Internet vermittelte Kommunikation ist ein allzu neues gesellschaftliches
Phänomen, als dass die wissenschaftliche Forschung schon zu festen Schlussfolgerungen über
ihre gesellschaftliche Bedeutung hätte kommen können. (…)
Howard Rheingold hat in seinem wegweisenden Buch Virtual Communities den Ton der
Debatte vorgegeben und entschieden für die Geburt einer neuen Form von Gemeinschaft
argumentiert, die Menschen online um gemeinsame Werte und Interessen zusammenführt.
(…)
Der legendäre John Perry Barlow, Rocksänger, Mitbegründer der libertären Electronic
Frontier Foundation, Internet-Prophet und Verfechter humanitärer Ziele, hoffte, das „wir jetzt
einen Raum schaffen, in dem die Menschen des Planeten (eine neue) Art von kommunikativer
Beziehung haben können: Ich möchte in der Lage sein, vollständig mit dem Bewusstsein zu
kommunizieren, das versucht, mit mir zu kommunizieren.“ (…)
Auf der anderen Seite haben Sozialkritiker wie Mark Slouka die Enthumanisierung der
sozialen Beziehungen gegeißelt, die durch die Computer bewirkt wird, da das Leben online
als einfacher Fluchtweg aus den wirklichen Leben erscheint. (…)
In einem Versuch, die verwirrende Unterschiedlichkeit des Materials zu ordnen, haben Barry
Wellman, der führende empirische Sozialforscher auf dem Gebiet der Soziologie des Internet,
und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in einer Artikelserie 1996-1999 die wesentlichen
Ergebnisse zur Entstehung virtueller Gemeinschaften im Internet anhand einer großeen
Vielfalt von Quellen analysiert. Wellman will uns mit seinem zentralen Argument daran
erinnern, dass „virtuelle Gemeinschaften“ „physischen Gemeinschaften“ nicht notwendig
entgegengesetzt sind: Sie sind unterschiedliche Formen von Gemeinschaft mit spezifischen
Regeln und Dynamiken, die mit anderen Gemeinschaftsformen interagieren. Zudem bezieht
sich die Sozialkritik allzu oft implizit auf eine idyllische Vorstellung von Gemeinschaft als
eng begrenzte, räumlich definierte Kultur von Unterstützung und Zugehörigkeit, die
vermutlich in der ländlichen Gesellschaft nie existiert hat und in den fortgeschrittenen
industrialisierten Ländern sicherlich verschwunden ist. (…)
Wellman und Gulia zeigen, dass ebenso wie in physischen, personellen Netzwerken die
meisten Verbindungen in virtuellen Gemeinschaften spezialisiert und diversifiziert sind,
weil die Leute ihre eigenen „persönlichen Ordner“ aufbauen. Internetnutzern schließen sich
Netzwerken und Online-Gruppen auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und Werte an,
und weil sie vieldimensionale Interessen haben, sind auch ihre Online-Mitgliedschaften
vielfältig. Mit der Zeit leisten dann jedoch viele Netzwerke, die instrumentell und spezialisiert
angefangen haben, auch persönliche, materielle und affektive Unterstützung. (…)
Eine zentrale Unterscheidung in der Analyse von Soziabilität ist die zwischen schwachen
und starken Verbindungen. Das Netz eignet sich besonders gut zur Entwicklung einer
Vielzahl schwacher Verbindungen. Schwache Verbindungen sind nützlich, um zu niedrigen
Kosten Informationen bereitzustellen und Chancen zu eröffnen. Der Vorzug des Netzes
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besteht darin, dass es die Herstellung schwacher Verbindungen zu Fremden im Rahmen eines
egalitären Interaktionsmusters erlaubt, in dem soziale Charakteristika weniger Einfluss haben,
wenn es darum geht, den Rahmen der Kommunikation abzustecken oder sie gar zu
blockieren. Tatsächlich fördern schwache Verbindungen offline wie online Kontakte
zwischen Menschen mit unterschiedlichen sozialen Eigenschaften und erweitern so die
Reichweite der Soziabilität bis jenseits der gesellschaftlich definierten Grenzen von IchIdentifikationen. In diesem Sinne kann das Internet durchaus beitragen, soziale Bindungen in
einer Gesellschaft auszuweiten, die sich in einem schnellen Prozess der Individualisierung
und des Rückgangs öffentlichen Engagements zu befinden scheint. Die virtuellen
Gemeinschaften scheinen stärker zu sein, als ihnen das von Beobachtern gewöhnlich
zugetraut wird. (…)
Was die Auswirkungen der Kommunikation über das Internet für die physische Intimität und
Soziabilität angeht, so meinen Wellman und seine Arbeitsgruppe, die Befürchtungen über
eine Verarmung des sozialen Lebens seien fehl am Platze. Sie verweisen auf die Tatsache,
dass es kein Nullsummenspiel gibt und dass in Wirklichkeit in einigen der von ihnen
untersuchten Netzwerke mehr Internet zu mehr Verbindungen, einschließlich physischer
Verbindungen führt. (…)
Sind also am Ende virtuelle Gemeinschaften wirkliche Gemeinschaften? Ja und nein. Sie sind
Gemeinschaften, aber keine physischen, und sie folgen nicht denselben Mustern von
Kommunikation und Interaktion wie physischen Gemeinschaften. Aber sie sind nicht
„unwirklich“, sie funktionieren vielmehr auf einer anderen Wirklichkeitsebene. Sie sind
interpersonelle Sozialnetzwerke, die zumeist auf schwachen Verbindungen beruhen,
hochgradig diversifiziert und spezialisiert sind, es aber immer noch schaffen, durch die
Dynamik anhaltender Interaktion Gegenseitigkeit und Unterstützung hervorzubringen. In der
Formulierung von Wellman sind sie nicht Imitate anderer Lebensformen, sondern haben ihre
eigene Dynamik: Das Netz ist das Netz. Sie überwinden Entfernungen zu niedrigen Kosten,
sie sind gewöhnlich asynchroner Natur, sie kombinieren die schnellen
Verbreitungsmöglichkeiten der Massenmedien mit der durchgängigen Präsenz persönlicher
Kommunikation und sie ermöglichen Mitgliedschaft in vielen Teilgemeinschaften. Übrigens
existieren sie nicht in Isolation von anderen Formen von Sozialität. Sie verstärken die
Tendenz zur „Privatisierung der Soziabilität“ – also zum Umbau der Sozialnetzwerke um die
Einzelpersonen herum, zur Entwicklung personeller Gemeinschaften in physischer Form
ebenso wie online. Cyberlinks geben Menschen die Gelegenheit zu persönlichen Kontakten,
die sonst ein begrenzteres gesellschaftliches Leben hätten, weil ihre Familien- und
Freundschaftsbindungen zunehmend räumlich verstreut sind.
(…)
Die große Fusion: Multimedia als symbolische Umwelt
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre begann die Herausbildung eines neuen
Kommunikationssystems aus der Fusion der globalisierten, maßgeschneiderten
Massenmedien und der computervermittelten Kommunikation. Wie ich oben erwähnt habe,
ist das neue System durch die Integration unterschiedlicher Medien und durch sein
interaktives Potenzial gekennzeichnet. Multimedia, wie das neue System hastig etikettiert
wurde, erweiterte dass Gebiet der elektronischen Kommunikation auf den gesamten Bereich
des Lebens, vom Heim bis zum Arbeitsplatz, von den Schulen bis zu den Krankenhäusern,
von der Unterhaltung bis zum Reisen. (…)
48
Insgesamt scheint Multimedia in Europa wie in Amerika und Asien in seinem frühen Stadium
ein soziales/kulturelles Raster zu stützen, das durch die folgende Merkmale gekennzeichnet
ist. Erstens weitverbreitete soziale und kulturelle Differenzierung, was zur Segmentierung
der Nutzer/Betrachter/Leser/Hörer führt. Die Botschaften sind nicht nur entsprechend den
Senderstrategien nach Märkten segmentiert, sondern sie werden auch in steigendem Maße
von den Nutzern der Medien, unter Ausschöpfung der interaktiven Möglichkeiten gemäß
ihren Interessen diversifiziert. Wie einige Experten es formulieren, gilt in dem neuen System
“prime time is my time“. Die Herausbildung virtueller Gemeinschaften ist nur eine der
Ausdrucksformen dieser Differenzierung.
Zweitens zunehmende Stratifikation zwischen den Nutzern. Nicht nur wird die Wahl der
Multimedia für diejenigen beschränkt sein, die Zeit und Geld für den Zugang haben, sowie
auf Länder und Regionen mit ausreichendem Marktpotenzial, sondern die Unterschiede nach
Kultur/Bildung werden entscheidend dafür sein, wie jeder Nutzer das Medium zu seinem
Vorteil einsetzen kann. (…)
Drittens führt die Kommunikation von Botschaften aller Art innerhalb desselben Systems
selbst dann, wenn das System interaktiv und selektiv ist – sogar eben aus diesem Grund – zur
Integration aller Botschaften in ein gemeinsames kognitives Raster. Der Zugriff auf
audiovisuelle Nachrichten, Bildung und Unterhaltung über dasselbe Medium, wenn auch aus
unterschiedlichen Quellen, treibt das Verschwimmen der Inhalte, zu dem es bereits im
Massenfernsehen gekommen ist, noch einen Schritt weiter. Aus der Perspektive des Mediums
tendieren unterschiedliche Kommunikationsweisen dazu, Codes voneinander auszuborgen:
Interaktive Bildungsprogramme sehen aus wie Videospiele; Nachrichtensendungen sind
aufgebaut wie audiovisuelle Shows; Übertragungen von Gerichtsverhandlungen werden wie
Seifenopern gesendet; Popmusik wird für MTV komponiert; Sportereignisse werden
choreografisch für die dem Spielort fernen Zuschauer gestaltet, so dass ihre Botschaften sich
immer weniger von actionreichen Spielfilmen unterscheiden lassen; und Ähnliches mehr. Aus
der Nutzerperspektive (in einem interaktiven System sowohl als Sender wie als Empfänger)
reduziert
die
Auswahl
zwischen
verschiedenen
Botschaften
in
derselben
Kommunikationsweise mit leichtem Hinundherwechseln von einer zur anderen die mentale
Distanz zwischen verschiedenen Quellen kognitiver und sensorischer Beteiligung. Hier geht
es nicht darum, dass das Medium die Botschaft wäre: Die Botschaften sind die Botschaften.
Und weil sie ihre Unterschiedlichkeit als Botschaften beibehalten, aber in ihrem symbolischen
Kommunikationsprozess miteinander vermengt sind, verwischen sie dabei ihre Codes und
schaffen so einen semantischen Kontext, der mit seinen vielfältigen Facetten aus einer
zufälligen Mischung verschiedener Bedeutungen besteht.
Schließlich ist es vielleicht der wichtigste Charakterzug von Multimedia, dass sie in ihrem
Bereich die meisten kulturellen Ausdrucksformen in all ihrer Verschiedenheit einfangen. Ihr
Auftreten ist gleichbedeutend mit dem Ende der Trennung oder selbst der Unterscheidung
zwischen audiovisuellen und gedruckten Medien, populärer und gelehrter Kultur,
Unterhaltung und Information, Bildung und Überredung. Jede kulturelle Ausdrucksform, von
der Schlechtesten bis zur Beten, von der Allerelitärsten bis zur Populärsten kommt in diesem
digitalen Universum zusammen, das vergangene, gegenwärtige und zukünftige
Manifestationen des kommunikativen Verstandes zu einem gigantischen, nicht-historischen
Hypertext verbindet. Auf diese Weise bauen sie eine neue symbolische Umwelt auf. Sie
machen die Virtualität zu unserer Wirklichkeit.
49
Die Kultur der realen Virtualität
Kulturen bestehen aus Kommunikationsprozessen. Und wie uns Roland Barthes und Jean
Baudrillard vor vielen Jahren gelehrt haben, beruhen alle Formen der Kommunikation auf der
Produktion und Konsumtion von Zeichen. Es gibt daher keine Trennung zwischen der
„Wirklichkeit“ und ihrer symbolischen Repräsentation. In allen Gesellschaften hat die
Menschheit in einer symbolischen Umwelt existiert und durch sie gehandelt. Das historisch
spezifische an dem neuen Kommunikationssystem, das uns die elektronische Integration aller
Kommunikationsweisen von der typografischen bis zur multisensorischen herum organisiert
ist, ist daher nicht die Einführung einer virtuellen Realität, sondern die Konstruktion realer
Virtualität. Ich will das mit Hilfe des Wörterbuches erklären, demzufolge bedeutet „virtuell:
etwas ist so in der Praxis, jedoch nicht in striktem Sinne oder dem Namen nach“, und „real:
tatsächlich existierend“. (Oxford Engish of Current English (1992); vgl. die Definition im
„Deutschen Wörterbuch (=Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 32, 1981): „virtuell:
entsprechen seiner Anlage als Möglichkeit enthalten, die Möglichkeit zu etwas in sich
begreifend“; d.Ü.). Deshalb war die erfahrene Wirklichkeit immer virtuell, weil sie immer
durch Symbole wahrgenommen wurde, die der Praxis einen Sinn vorgeben, welcher sich einer
strikten semantischen Definition entzieht. Es ist genau diese Fähigkeit aller Formen der
Sprache, Zweideutigkeit in ihrem Code auszudrücken und verschiedene Interpretationen zu
ermöglichen, die kulturelle Ausdrucksformen vom formalen/logischen/mathematischen
Schließen unterscheidet. Gerade durch den polysemen Charakter unserer Diskurse
manifestieren sich die Komplexität und selbst die Widersprüchlichkeit der Botschaften des
menschlichen Verstandes. Diese Bandbreite kultureller Variation der Bedeutung von
Botschaften ermöglicht es uns, miteinander in einer Vielzahl von expliziten und impliziten
Dimensionen zu interagieren. Wenn also Kritiker der elektronischen Medien argumentieren,
die neue symbolische Umwelt repräsentiere keine „Realität“, so beziehen sie sich implizit auf
eine in absurder Weise primitive Vorstellung von einer „uncodierten“ realen Erfahrung, die es
nie gegeben hat. Alle Wirklichkeiten werden durch Symbole kommuniziert. Und in der
menschlichen, interaktiven Kommunikation sind unabhängig vom Medium alle Symbole im
Hinblick auf den ihnen zugeschriebenen semantischen Sinn etwas verschoben. In gewiser
Weise wird jede Realität virtuell wahrgenommen.
Was ist das nun für ein Kommunikationssystem, das im Unterschied zu früherer historischer
Erfahrung reale Virtualität hervorbringt? Es ist ein System, in dem die Wirklichkeit selbst
(d.h. die materielle/symbolische Existenz der Menschen) vollständig eingefangen ist, völlig
eingetaucht in eine Umgebung virtueller Bilder, in der Welt des Glaubenmachens, in der
die Erscheinungen nicht nur bloß auf dem Bildschirm sind, durch den die Erfahrung
kommuniziert wird, sondern in der sie die Erfahrung werden. Alle Botschaften aller Art
werden in das Medium eingeschlossen, weil das Medium so umfassend, so diversifiziert, so
formbar geworden ist, dass die ganze menschliche Erfahrung in denselben Multimedia-Text
absorbiert, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie in jenen einzigen Punkt des
Universums, den Jorge Borges „Aleph“ genannt hat. (…)
Was das neue, auf der digitalisierten, vernetzten Integration multipler Kommunikationsweisen
beruhende Kommunikationssystem charakterisiert, ist seine umfassende Einbeziehung
jeglicher kultureller Ausdrucksform. Wegen seiner Existenz funktionieren alle Arten von
Botschaften in dem neuen Gesellschaftstyp nach einem binären Code: Präsenz/Absenz im
Multimedia-Kommunikationssystem. Nur die Präsenz in diesem integrierten System erlaubt
die Kommunizierbarkeit und die Sozialisierung der Botschaft. Alle anderen Botschaften
werden auf die individuelle Vorstellung oder auf zunehmend marginalisierte, auf persönlichen
Kontakten beruhende Subkulturen reduziert. Aus der Perspektive der Gesellschaft ist die
Kommunikation auf elektronischer Grundlage (typografisch, audiovisuell oder
50
computervermittelt) gleichbedeutend mit Kommunikation. Daraus folgt jedoch nicht, dass
es zu einer Homogenisierung der kulturellen Ausdrucksformen und zu einer vollständigen
Herrschaft einiger weniger zentraler Sender über die Codes kommt. Das neue
Kommunikationssystem ist ja gerade wegen seiner Diversifizierung, seiner Multimodalität
und seiner Vielseitigkeit in der Lage, alle Formen des Ausdrucks ebenso zu umfassen und zu
integrieren, wie die Vielfalt von Interessen, Werten und Vorstellungen, einschließlich des
Ausdrucks sozialer Konflikte. Aber der Preis, den es kostet, in das System einbezogen zu
werden, besteht in der Anpassung an seine Logik, an seine Sprache, an seine Eingangspunkte,
an seine Kodierung und Dekodierung. Deshalb ist es im Hinblick auf soziale Folgen
unterschiedlicher Art so wichtig, dass es zur Entwicklung eines horizontalen
Kommunikationsnetzwerkes mit vielen Knoten vom Typus des Internet kommt und nicht zu
einem zentral gesendeten Multimedia-System wie in der Konfiguration des Video-ondemand. Das Installieren von Eingangsbarrieren zu diesem Kommunikationssystem und das
Einrichten von Passwörtern für die Zirkulation und Verbreitung von Nachrichten innerhalb
des gesamten Systems sind für die neue Gesellschaft kulturelle Entscheidungsschlachten.
Deren Ergebnis ist vorentscheidend für das Schicksal der symbolisch vermittelten Konflikte,
die in Zukunft in dieser neuen historischen Umwelt ausgetragen werden. Die Entscheidung
darüber, wer in der von mir oben erläuterten Terminologie, die Interagierenden und wer die
Interagierten in diesem neuen System sind, wird weitgehend den Rahmen für das
Herrschaftssystem und für die Prozesse der Befreiung in der informationellen Gesellschaft
bestimmen.
Die Einbeziehung der meisten kulturellen Ausdrucksformen in das integrierte
Kommunikationssystem, das auf digitalisierter elektronischer Produktion, Distribution und
Austausch von Signalen beruht, hat einschneidende Folgen für die gesellschaftlichen Formen
und Prozesse. Auf der einen Seite schwächt dies beträchtlich die symbolische Macht
traditioneller Sender, die außerhalb des Systems stehen und sich auf dem Weg über historisch
codierte gesellschaftliche Gewohnheiten einschalten: Religion, Moral, Autorität,
traditionelle Werte, politische Ideologie. Nicht dass sie ganz verschwänden, aber sie werden
geschwächt, es sei denn, sie codieren sich neu innerhalb des neuen Systems, wo ihre
Durchschlagskraft sich durch die elektronische Materialisierung spirituell übertragener
Angewohnheiten vervielfacht: Elektronische Prediger und interaktive fundamentalistische
Netzwerke sind in unseren Gesellschaften eine effizientere und durchdringendere Form der
Indoktrination, als die von Person zu Person verlaufende Vermittlung einer fernen,
charismatischen Autorität. Aber weil sie die Koexistenz der transzendentalen Botschaften mit
Pornografie on-demand, Seifenopern und chat-lines innerhalb desselben Systems zulassen
müssen, erobern überlegene spirituelle Mächte zwar immer noch Seelen, aber sie verlieren
ihren übermenschlichen Status. Der letzte Schritt der Säkularisierung der Gesellschaft folgt,
auch wenn er manchmal die paradoxe Form des demonstrativen Konsums von Religion unter
allen möglichen Gattungs- und Markennamen annimmt. Die Gesellschaften sind endgültig
und wahrhaft entzaubert, weil alle Wunder online zu haben sind und zu selbst-konstruierten
Vorstellungswelten kombiniert werden können.
Andererseits transformiert das neue Kommunikationssystem Raum und Zeit, die
fundamentalen Dimensionen des menschlichen Lebens radikal. Örtlichkeiten werden
entkörperlicht und verlieren ihre kulturellen, historische und geografische Bedeutung. Sie
werden in funktionale Netzwerke integriert, oder auch in Collagen von Bildern. Dadurch
entsteht ein Raum der Ströme anstelle eines Raums der Orte. Die Zeit wird in dem neuen
Kommunikationssystem ausradiert,
wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
programmiert werden können, um miteinander in ein und derselben Botschaft zu interagieren.
Der Raum der Ströme und die zeitlose Zeit sind die materiellen Grundlagen einer neuen
Kultur, welche die Verschiedenheit der historisch überkommenen Systeme der Repräsentation
51
überschreitet und in sich einschließt: die Kultur der realen Virtualität, wo Glaubenmachen
Glauben an das Machen ist.
(…)
„Wir sind gerade eben im Begriff, in ein neues Stadium einzutreten, in dem die Kultur sich
auf Kultur bezieht, nachdem die Natur bis zu einem Punkt verdrängt worden ist, dass Natur
künstlich als kulturelle Form wiederbelebt(„bewahrt“) wird: Dies ist die eigentliche
Bedeutung der Umweltbewegung: Die Natur als eine ideale kulturelle Form zu
rekonstruieren. Wegen der Konvergenz zwischen historischer Evolution und technologischem
Wandel sind wir in ein rein kulturelles Muster sozialer Interaktion und gesellschaftlicher
Organisation eingetreten. Dies ist der Grund, warum Information als ein Schlüsselelement
unserer gesellschaftlicher Organisation ist und warum Ströme von Botschaften und Bildern
zwischen Netzwerken den roten Faden unserer Gesellschaftsstruktur bilden. Das soll
nicht heißen, die Geschichte sei in der glücklichen Versöhnung der Menschheit mit sich selbst
an ihr Ende gelangt. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Die Geschichte beginnt gerade erst,
wenn wir Geschichte als den Augenblick verstehen, zu dem nach Jahrtausenden einer
vorgeschichtlichen Schlacht mit der Natur – erst ums Überleben, dann um ihre Unterwerfung
– unser Gattung das Niveau an Wissen und sozialer Organisation erreicht hat, das es uns
erlauben wird, in einer vorwiegend gesellschaftlichen Welt zu leben. Es ist der Anfang einer
neuen Existenz und wahrhaftig der Anfang eines neuen Zeitalters, des
Informationszeitalters. Es ist gekennzeichnet durch die Autonomie der Kultur gegenüber
den materiellen Grundlagen unserer Existenz. Aber das ist nicht zwangsläufig ein
vergnüglicher Augenblick. Denn endlich allein in unserer menschlichen Welt, werden wir uns
selbst im Spiegel der historischen Wirklichkeit betrachten müssen. Und es könnte sein, dass
uns dieser Anblick nicht gefällt.“ (S. 536)
II. Die Macht der Identität
Informationelle Politik und die Krise der Demokratie
Das Verschwimmen der Grenzen des Nationalstaates bringt Unklarheiten für die Definition
von Staatsbürgerschaft mit sich. Das Fehlen eines eindeutigen Sitzes der Macht verwässert die
soziale Kontrolle und lässt die politischen Herausforderungen diffus erscheinen. Der Aufstieg
des Kommunalismus in seinen unterschiedlichen Formen schwächt des Prinzip des
politischen Teilens, auf dem die demokratische Politik beruht. Die zunehmende Unfähigkeit
des Staates, die Kapitalströme zu kontrollieren und soziale Sicherheit zu garantieren
vermindert seine Bedeutung für die durchschnittlichen Bürgerinnen und Bürger. Die
Bevorzugung lokaler Institutionen des Regierens vergrößert die Distanz zwischen den
Mechanismen politischer Kontrolle und der Handhabung globaler Probleme. Die Entleerung
des Gesellschaftsvertrages zwischen Kapital, Arbeit und Staat entlässt alle Beteiligten in den
Kampf für ihre individuellen Interessen, wobei sie ausschließlich auf ihre eigenen Kräften
zählen. (…)
Die Transformation der Politik und der demokratischen Prozesse in der Netzwerkgesellschaft
geht noch tiefer, als es in diesen Analysen dargestellt wird. Denn zusätzlich zu den oben
angeführten Prozessen benenne ich einen weiteren wesentlichen Faktor, der zur
52
Transformation
beiträgt:
die
unmittelbaren
Konsequenzen
der
neuen
Informationstechnologien für die politische Auseinandersetzung und für
Machtstrategien. Diese technologische Dimension steht in Wechselwirkung mit den übrigen
Tendenzen, die für die Netzwerkgesellschaft kennzeichnend sind, und auch mit den
kommunalen Reaktionen auf die herrschenden Prozesse, die sich aus dieser
Gesellschaftsstruktur ergeben. Aber sie verleiht dieser Transformation zusätzlich eine
folgenreiche Wendung, will sie zu dem führt, was ich informationelle Politik nenne. (…)
Der springende Punkt ist, dass die elektronischen Medien (zu denen nicht nur Fernsehen und
Radio gehören, sondern alle Formen der Kommunikation, auch Zeitungen und Internet) zum
privilegierten Raum der Politik geworden sind. (…)
Um der Klarheit willen möchte ich die Leserin und den Leser gleich zu Anfang vor zwei allzu
vereinfachten, verfehlten Versionen der These warnen, nach der die elektronischen Medien
die Politik beherrschen. Einerseits wird manchmal behauptet, die Medien zwängen der
öffentlichen Meinung ihre politischen Vorlieben auf. Das stimmt nicht, denn, wie ich unten
ausführe, sind die Medien äußerst unterschiedlich. Ihre Verbindungen zu Politik und
Ideologie sind höchst komplex und indirekt. (…)
Mit der wichtigen Rolle der elektronischen Medien in der gegenwärtigen Politik meine ich
etwas anderes. Ich sage, dass die politische Kommunikation und Information im
Wesentlichen im Raum der neuen Medien gefangen sind, weil die traditionellen
politischen Systeme und die drastisch verstärkte Allgegenwart der neuen Medien in ihren
Konsequenzen miteinander zusammenwirken. Außerhalb der medialen Sphäre gibt es nur
politische Marginalität. Was in diesem medienbeherrschten politischen Raum geschieht, ist
nicht durch die Medien determiniert: Es ist ein offener sozialer Prozess. Aber die Logik und
die Organisation der elektronischen Medien geben der Politik Rahmen und Struktur. (…)
Die Medien als Raum der Politik im Informationszeitalter
Politik und Medien: Die Bürger Verbindung
Ich fasse meine Argumentation kurz zusammen, bevor ich sie empirisch ausführe. Im Kontext
demokratischer Politik ist der Zugang zu staatlichen Institutionen von der Fähigkeit abhängig,
die Mehrheit der Wählerstimmen zu gewinnen. In den gegenwärtigen Gesellschaften erhalten
die Menschen im Wesentlichen durch die Medien und in allererster Linie über das Fernsehen
Informationen und bilden so ihre Meinung. (…)
Aber wer sind die Medien? Was ist die Quelle ihrer politischen Autonomie? Und wie
gestalten sie Politik? In demokratischen Gesellschaften sind die weit verbreiteten Medien im
Wesentlichen Wirtschaftsgruppen, die zunehmend konzentriert und global miteinander
verbunden sind. Freilich sind sie gleichzeitig hochgradig diversifiziert und auf segmentierte
Märkte eingestellt. (…)
Der entscheidende Punkt ist jedoch, das politische Vorschläge und Kandidaturen ohne aktive
Medienpräsenz keine Chance haben, Unterstützung zu bekommen. Medienpolitik ist nicht die
gesamte Politik, aber jegliche Politik muss über die Medien gehen, um Entscheidungen zu
beeinflussen. Wenn sie das tut, ist die Politik fundamental in ihrer Substanz, ihrer
Organisation, ihrem Prozess und ihrer Führungsgruppe in den Rahmen der immanenten Logik
des Mediensystems eingebunden, vor allem der neuen elektronischen Medien.
53
Show-Politik und Politik-Marketing: das amerikanische Modell
Die Transformation der amerikanischen Politik während der letzten drei Jahrzehnte des 20.
Jahrhunderts resultiere aus drei miteinander verknüpften Prozessen: (a) dem Niedergang der
politischen Parteien und ihrer Rolle bei der Auswahl von Kandidatinnen und Kandidaten; (b)
der Entstehung eines komplexen Mediensystems, das im Fernsehen verankert ist, aber eine
zunehmende Vielfalt flexibler Medien aufweist, die elektronisch miteinander verbunden sind;
und (c) der Entwicklung des Politik-Marketing mit ständigen Meinungsumfragen,
Rückkoppelungssystemen zwischen Umfragen und politischer Praxis, mit Nebenschauplätzen
in den Medien, computergesteuerter Direktwerbung und phone banks (= Telefonzentralen für
Wählermotivation und Umfragen) sowie der Anpassung von Kandidaten, Kandidatinnen und
Programmen in Echtzeit an das Format, das Siegeschancen besitzt. (…)
Die Rahmensetzung für politische Nachrichten weitet sich aus zur Rahmensetzung für die
Politik selbst, wenn die Strategen in und gemeinsam mit den Medien um Einfluss bei der
Wählerschaft spielen. So konzentrieren sich die politische Werbung, weil nur schlechte
Nachrichten Nachrichten sind, auf die negativen Botschaften, die darauf abzielen, die
Vorschläge des Gegners zu desavouieren, während das eigene Programm nur in sehr
allgemeiner Form dargestellt wird. (…)
Wird die europäische Politik „amerikanisiert“?
Nein und ja. Nein, denn die europäischen politischen Systeme beruhen in einem viel größeren
Ausmaß auf politischen Parteien mit einer langen, fest etablierten Tradition und tiefen
Wurzeln in der jeweils spezifischen Geschichte, Kultur und Gesellschaft. Nein, denn
nationale Kulturen haben eine Bedeutung, und was in Amerika zulässig ist, wäre im größten
Teil Europas unzulässig und würde sogar auf den möglichen Angreifer zurückschlagen (…)
Andererseits wird über Kandidaturen und Programme zwar von den Parteien entschieden,
doch sind die Medien inzwischen in Europa eben so wichtig wie in Amerika, wenn es um
politische Bewerbungen geht. Die Medien und vor allem das Fernsehen sind die grundlegende
Quelle, aus der die Menschen politische Informationen und Meinungen beziehen, und die
wichtigsten Merkmale der informationellen Politik, die in Amerika identifiziert wurden,
kennzeichnen auch die europäische Politik: Vereinfachung der Botschaften, professionelle
Werbung und Meinungsforschung als politische Werkzeuge, Personalisierung der Optionen,
Negativismus als vorherrschende Strategie, Indiskretion über nachteilige Informationen als
politische Waffe, Imagebildung und die Wirkungskontrolle als unverzichtbare Mechanismus
zur Erringung und Wahrung der Macht. (…)
Boliviens elektronischer Populismus: compadre Palenque und das Kommen des Jach’a
Uru
Die informationelle Politik in der Praxis: die Politik des Skandals
Die Krise der Demokratie
(…) Was die Zukunft auch bringen mag, die Beobachtung der Gegenwart scheint darauf
hinzuweisen, dass wir in verschiedenen Formen und durch die Vielfalt der Prozesse hindurch,
die ich umrissen habe, die Fragmentierung des Staates beobachten, die Unvorhersehbarkeit
54
des politischen Systems und die Singularisierung der Politik. Politische Freiheit kann es nach
wie vor geben, weil die Menschen weiter darum kämpfen werden. Aber die politische
Demokratie, so wie sie in den liberalen Revolutionen des 18. Jahrhunderts konzipiert und im
20. Jahrhundert über die ganze Welt verbreitet wurde, ist zu einer leeren Hülle geworden.
Nicht dass es sich nur um „formale Demokratie“ handelte: Die Demokratie lebt gerade aus
diesen „Formen“ heraus, wie geheime allgemeine Wahlen und Achtung der bürgerlichen
Freiheiten. Aber die neuen institutionellen, kulturellen und technologischen Bedingungen,
unter denen die Demokratie ausgeübt wird, haben das bestehende Parteiensystem und das
gegenwärtige Regime der politischen Konkurrenz obsolet werden lassen. Dies sind in der
Netzwerkgesellschaft nicht mehr die adäquaten Mechanismen politischer Vertretung. Die
Menschen wissen es und fühlen es, aber sie wissen in ihrem kollektiven Gedächtnis auch, wie
wichtig es ist, Tyrannen daran zu hindern, den schwindenden Raum der demokratischen
Politik ihrerseits zu besetzen. Bürger sind noch immer Bürger, aber sie wissen nicht mehr
sicher, welcher „Burg“ sie sich zurechnen sollen, und auch nicht, wem diese „Burg“ gehört.
Schluss: Die Rekonstruktion der Demokratie?
Das sind nun wirklich alarmierende Worte. Es wäre reizvoll, hier die Gelegenheit zu nutzen,
Ihnen einen Vortrag über mein persönliches Modell einer informationellen Demokratie zu
halten. Keine Angst. Aus Gründen, die ich in der übergreifenden Schlussbetrachtung zu
diesem Buch (in Bd. III) darlegen werden, habe ich mir normative Rezepturen und politische
Ermahnungen untersagt. Um der politischen Hoffnung aber unbedingt Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen, schließe ich meine Überlegungen ab, indem ich etwas zu den
möglichen Wegen der demokratischen Rekonstruktion sage, wie sie in der beobachtbaren
Praxis der Gesellschaften Mitte der 1990er Jahre zum Ausdruck kommen. Dies geschieht
ganz unabhängig von meinen persönlichen Ansichten darüber, ob diese Prozesse nun gut oder
schlecht sind. Weil die Embryonen einer neuen demokratischen Politik auf der ganzen Welt
glücklicherweise zahlreich und vielgestaltig sind, beschränke ich meine Bemerkungen auf
drei Tendenzen, die ich für die Zukunft der informationellen Politik für besonders bedeutsam
halte.
Die erste ist die Wieder-Erschaffung des lokalen Staates. In vielen Gesellschaften auf der
ganzen Welt scheint die lokale Demokratie aus Gründen, die in Kapitel 5 dargestellt sind, in
Blüte zu stehen, wenigstens im Verhältnis zur politischen Demokratie auf nationaler Ebene.
Das gilt vor allem dann, wenn regionale und lokale Regierungsorgane miteinander
kooperieren und wenn sie ihre Reichweite soweit ausdehnen, dass es zur Dezentralisierung
auf der Ebene von Stadtvierteln und zur Bürgerbeteiligung kommt. Wenn elektronische
Hilfsmittel wie computervermittelte Kommunikation oder lokale Radio- und Fernsehstationen
hinzu kommen und die Partizipation und Konsultation der Bürgerinnen und Bürger ausweiten,
so tragen die neuen Technologien zur verstärkten Partizipation in der Lokalverwaltung bei.
Beispiele sind Amsterdam oder die Präfektur Fukuoka. Erfahrungen mit lokaler
Selbstverwaltung, etwa in der Form, wie sie in der Stadt Cuiaba im brasilianischen
Bundesstaat Mato Grosse entwickelt wurde, zeigen die Möglichkeit des Neuaufbaus von
Verbindungen, mit denen die Herausforderungen der wirtschaftlichen Globalisierung und der
politischen Unwägbarkeit geteilt (wenn schon nicht kontrolliert) werden können. Dieser
Lokalismus stößt auf offenkundige Grenzen, weil er die Fragmentierung des Nationalstaates
noch verstärkt. Aber wenn wir uns strikt an die Beobachtung halten, so finden sich stärksten
Tendenzen zur Legitimierung der Demokratie Mitte der 1990er Jahre weltweit auf der lokalen
Ebene.
Eine zweite Perspektive, die in der Literatur und auch in den Medien häufig diskutiert wird,
betriff die Chancen, die die elektronische Kommunikation für die Stärkung der politischen
55
Demokratie und der horizontalen Kommunikation unter den Bürgerinnen und Bürger bietet.
Der Zugang zu Informationen on-line und die computervermittelte Kommunikation
erleichtern auch Verbreitung und Verfügbarkeit von Informationen. Sie schaffen
Möglichkeiten der Interaktion und Debatte in einem autonomen, elektronischen Forum und
umgehen dabei die Kontrolle der Medien. Probeabstimmungen über eine Vielzahl von Fragen
könnten zu einem nützlichen Instrument werden, wenn es vorsichtig eingesetzt wird, ohne
sich dem allzu vereinfachenden Bezugsrahmen der Referendum-Politik zu unterwerfen.
Wichtiger ist die Möglichkeit, die auch schon genutzt wird, dass Bürgerinnen und Bürger ihre
eigenen politischen und ideologischen Konstellationen bilden und damit die etablierten
politischen Strukturen umgehen. So entsteht ein flexibles, anpassungsfähiges politisches Feld.
Die Aussichten für eine digitale Demokratie lassen sich jedoch auch ernsthaft kritisieren, und
dies ist bereits geschehen. Einerseits würde diese Form demokratischer Politik, wenn sie sich
als wichtiges Instrument der Debatte, Repräsentation und Entscheidungsfindung erweisen
sollte, sicherlich auf nationaler wie auf internationaler Ebene so etwas wie eine Form
„attischer Demokratie“ institutionalisieren. Das bedeutet, dass eine relativ kleine, gebildete
und wohlhabende Elite in ein paar Ländern und großen Städten Zugang zu einem
außerordentlichen Werkzeug der Information und politischen Partizipation hätte, das
tatsächlich eine Verstärkung der bürgerlichen Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten
bedeuten würde. Aber die ungebildeten, abgeschalteten Massen der Welt und des Landes
würden aus dem neuen demokratischen Kernbereich ausgeschlossen bleiben, wie die Sklaven
und Barbaren am Beginn der Demokratie in Griechenland. Andererseits würde die
Unbeständigkeit des Mediums zu einer Verstärkung der „Show-Politik“ führen. Moden und
Mythen würden aufflammen, wenn erst die rationalisierende Macht der Parteien und
Institutionen durch die Ströme plötzlich konvergierender und divergierender politischer
Stimmungen umgangen würde. Mit anderen Worten könnte die on-line-Politik die
Individualisierung der Politik und der Gesellschaft weiter vorantreiben. Dabei könnte ein
Punkt erreicht werden, an dem es in gefährlicher Weise schwierig würde, Integration,
Konsens und den Aufbau von Institutionen zu bewerkstelligen.
(…)
Die Entwicklung der symbolischen Politik und der politischen Mobilisierung durch
„nicht-politische“ Anliegen, ob auf elektronischem Wege oder anders, ist die dritte
Tendenz, die beim Prozess der Rekonstruktion der Demokratie in der Netzwerkgesellschaft
eine Rolle spielen könnte. Humanitäre Anliegen wie diejenigen, die von Amnesty
International, Médecins sans frontières, Greenpeace, Oxfam, Food First sowie Tausenden
und Abertausenden von Aktivistengruppen und Nichtregierungsorganisationen auf der
ganzen Welt unterstützt werden, sind der machtvollste Mobilisierungsfaktor in der
informationellen Politik, von dem auch die meisten Initiativen ausgehen. Diese
Mobilisierungsansätze entwickeln sich zu Forderungen, die auf einen breiten Konsens stoßen
und nicht zwingend mit bestimmten politischen Parteien verbunden sind. Ihren offiziellen
Positionen nach unterstützen die meisten politischen Parteien anscheinen den Großsteil dieser
Anliegen. Weiter verzichten die meisten humanitären Organisationen darauf, außer in
besonderen Fragen und zu besonderen Zeitpunkten eine bestimmte politische Partei zu
unterstützen. Die meisten dieser Mobilisierungen bewegen sich im Mittelbereich zwischen
sozialen Bewegungen und politischen Aktionen, weil sie sich an Bürgerinnen und Bürger
wenden und Menschen auffordern, Druck auf öffentliche Institutionen oder private
Unternehmen auszuüben, die für das spezifische Ziel der Mobilisierung von Bedeutung sein
können. In anderen Fällen appellieren sie unmittelbar an die Solidarität der Menschen.
Letztlich bewegen sie sich in dem Horizont der Einwirkung auf den politischen Prozess; d.h.
Einfluss auf das Management der Gesellschaft durch die Repräsentanten der Gesellschaft zu
nehmen. Aber sie benutzen dazu nicht unbedingt und sogar recht selten die Kanäle der
56
politischen Repräsentation und Entscheidungsfindung, etwa durch die Wahl ihrer
Kandidatinnen und Kandidaten in politische Ämter. Diese Formen der politischen
Mobilisierung lassen sich als problemorientierte, nicht-parteigebundene Politik definieren.
Sie scheinen in allen Gesellschaften zunehmend an Legitimität zu gewinnen und die Regeln
und Ergebnisse der formalen politischen Konkurrenz wesentlich zu beeinflussen. Sie relegitimieren in den Köpfen und im Leben der Menschen die Sorge um öffentliche
Angelegenheiten. Sie tun das, indem sie neue politische Prozesse und neue politische Fragen
einführen und so die Krise der klassischen liberalen Demokratie vorantreiben. Zugleich aber
fördern sie die Entstehung der informationellen Demokratie, die es erst noch zu entdecken
gilt.
III. Jahrtausendwende
Die Enstehung der Vierten Welt: Informationeller Kapitalismus,
Armut und soziale Exklusion
Die Entstehung des Informationalismus an der Jahrtausendwende ist mit zunehmender
Ungleichheit und sozialer Exklusion auf der ganzen Welt verflochten. In diesem Kapitel
versuche ich, den Gründen und Ausformungen dieser Erscheinungen auf die Spur zu kommen
und dabei ein paar Schnappschüsse von den neuen Gesichtern menschlichen Leidens zu
präsentieren. Der Prozess der kapitalistischen Neustrukturierung mit seiner gehärteten Logik
wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit hat damit viel zu tun. Aber die neuen technologischen
und organisatorischen Bedingungen des Informationszeitalters, wie sie in diesem Buch
analysiert werden, geben dem alten Muster eine neue Wendung, nach dem die Profitmacherei
Vorrang gegenüber der Seelenerforschung genießt.
Die Belege für die tatsächliche Not von Menschen auf der ganzen Welt sind jedoch
widersprüchlich, und daraus ergibt sich eine ideologisch aufgeladene Debatte. Schließlich ist
das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts Zeuge geworden, wie –zig Millionen Chinesen,
Koreaner, Inder, Malaysier, Thai, Indonesier, Chilenen, Brasilianer, Mexikaner,
Argentinier und geringere Zahlen in anderen Ländern Zugang zu Entwicklung,
Industrialisierung und Konsum bekamen – selbst wenn man die Schicksalsschläge
berücksichtigt, die einige Millionen als Folge der Finanzkrise in Asien 1997-1998 und ihren
Nachgeben in anderen Teilen der Welt erlitten haben. Die große Masse der Bevölkerung in
Westeuropa erfreut sich noch immer des höchsten Lebensstandards auf der Welt und in der
Weltgeschichte. Und in den Vereinigten Staaten haben die Reallöhne für männliche
Arbeitskräfte zwar bis 1996 mit Ausnahme der obersten Gruppe von College-Absolventen
über zwei Jahrzehnte lang stagniert oder sich zurückgegangen, aber die massenhafte
Einbeziehung von Frauen in die bezahlte Arbeit hat zusammen mit der relativen Schließung
der Lohnlücke zu den Männern insgesamt dazu geführt, dass ein annehmbarer Lebensstandard
beibehalten werden konnte – unter der Bedingung ausreichender Gerechtigkeit, um den
Haushalt mit zwei Einkommen aufrecht zu erhalten, und ferner der Bereitschaft, sich mit
verlängerten Arbeitszeiten abzufinden. Gesundheits-, Bildungs- und Einkommensstatistiken
auf der ganzen Welt zeigen gegenüber historischen Standards im Durchschnitt erhebliche
Verbesserungen. Für die Bevölkerung insgesamt haben während der letzten zehn Jahre
57
tatsächlich nur die ehemalige Sowjetunion nach dem Zusammenbruch des Etatismus und
das subsaharanische Afrika nach seiner Marginalisierung gegenüber dem Kapitalismus eine
Verschlechterung der Lebensverhältnisse und in einigen Ländern auch eine Verschlechterung
der Indikatoren für Lebenserwartung, Sterblichkeit und Geburtenraten erfahren (obwohl der
größte Teil Lateinamerikas in den 1980er Jahren Rückschläge erlitten hat). (…)
Aus diesem Grund müssen wir bei der Beurteilung der sozialen Dynamik des
Informationalismus zwischen verschiedenen Prozessen der sozialen Differenzierung
unterscheiden: Einerseits beziehen sich Ungleichheit, Polarisierung, Armut und Elend
durchweg auf den Bereich der Distributions- und Konsumtionsverhältnisse oder der
differenziellen Aneignung von Reichtum, der durch kollektive Anstrengung geschaffen
worden ist. Andererseits sind Individualisierung der Arbeit, Überausbeutung von
Arbeitskräften, soziale Exklusion und perverse Integration charakteristisch für vier
spezifische Prozesse, die sich auf die Produktionsverhältnisse auswirken.
Ungleichheit bezieht sich auf die differenzielle Aneignung von Reichtum (Einkommen und
Vermögen) durch unterschiedliche Individuen und gesellschaftliche Gruppen im Verhältnis
zueinandere.
Polarisierung ist ein spezifischer Prozess der Ungleichheit, zu dem es kommt, wenn sowohl
die Spitze wie auch das untere Ende der Einkommens- oder Reichtumsskala schneller
zunehmen als die Mitte, wodurch die Mitte schrumpft und sich die sozialen Unterschiede
zwischen den beiden extremen Bevölkerungssegmenten verschärfen.
Armut ist eine institutionell definierte Norm, die ein Niveau der Ausstattung mit Ressourcen
bezeichnet, unterhalb dessen es nicht möglich ist, den Lebensstandard zu erreichen, der in
einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als Minimalnorm angesehen wird
(gewöhnlich ein Einkommensniveau bezogen auf eine bestimmte Anzahl von
Haushaltsmitgliedern, das durch Regierungen oder autorisierte Institutionen festgelegt wird).
Elend, ein Begriff den ich vorschlagen möchte, bezieht sich auf das, was in der Sozialstatistik
als „extreme Armut“ bezeichnet wird, also das unterste Niveau der Verteilung von
Einkommen und Vermögen, oder was manche Experten als „Deprivation“ bezeichnen,
wodurch ein breiteres Spektrum sozialer und wirtschaftlicher Benachteiligung berücksichtigt
wird. In den Vereinigten Staaten werden diejenigen Haushalte als extrem arm bezeichnet,
deren Einkommen unterhalb von 50% des Einkommensniveaus liegt, das die Armutsgrenze
definiert.
Es ist offenkundig, dass alle diese Definitionen – mit ihren gewaltigen Folgen bei der
Kategorisierung von Bevölkerungsteilen und der Definition von Sozialpolitik und
Ressourcenzuteilung – statistisch relativ und kulturell bestimmt und außerdem politisch
manipuliert sind. Sie erlauben uns jedoch zumindest, exakt zu wissen, worüber wir sprechen,
wenn wir die soziale Differenzierung im informationellen Kapitalismus beschreiben und
analysieren.
Die zweite Gruppe von Prozessen und ihre Kategorisierung beziehen sich auf die Analyse der
Produktionsverhältnisse. So beziehen sich Beobachter, die sich gegen „prekäre“
Arbeitsverhältnisse wenden, gewöhnlich auf die Individualisierung der Arbeit und auf die
dadurch bewirkte Instabilität der Beschäftigungsmuster. Oder anders bezeichnet der Diskurs
über soziale Exklusion die zu beobachtende Tendenz, bestimmte Kategorien der Bevölkerung
dauerhaft vom Arbeitsmarkt auszuschließen. Diese Prozesse haben grundlegende
Auswirkungen für Ungleichheit, Polarisierung, Armut und Elend. Aber die beiden Ebenen
müssen analytisch und empirisch auseinandergehalten werden, um ihre kausalen Beziehungen
58
feststellen zu können und so den Weg für ein Verständnis der Dynamik der sozialen
Differenzierung, Ausbeutung und Ausschließung in der Netzwerkgesellschaft zu ebnen.
Unter Individualisierung der Arbeit verstehe ich den Prozess, durch den der Arbeitsbeitrag
zur Produktion spezifisch für jede individuelle Arbeitskraft und für jeden einzelnen ihrer
Beiträge bestimmt wird, entweder in der Form der Selbstständigkeit oder als individuell
eingegangenes, weitgehend unreguliertes Lohnarbeitsverhältnis. (…)
Ich benutze den Terminus Über-Ausbeutung, um Arbeitsarrangements zu bezeichnen, die es
dem Kapital erlauben, Bezahlung bzw. Ressourcenallokation systematisch zurückzuhalten
oder bestimmten Typen von Arbeitskräften härtere Arbeitsbedingungen aufzuzwingen, die
unterhalb der Norm oder Regelung auf einem bestimmten Arbeitsmarkt zu einer bestimmten
Zeit und an einem bestimmten Ort liegen. Dabei geht es um Diskriminierung von
Immigranten, Minderheiten, Frauen, jungen Leuten, Kindern und andere Kategorien
diskriminierter Arbeitskräfte, die durch Regulationsbehörden toleriert oder sanktioniert
werden. In diesem Zusammenhang ist ein besonders bedeutsamer Trend das Wiederaufleben
der Kinderarbeit auf der ganzen Welt, unter Bedingungen extremer Ausbeutung,
Hilflosigkeit und Missbrauch. Dadurch wird das historische Muster des sozialen Schutzes für
Kinder umgekehrt, das im späten Industriekapitalismus und auch im industriellen Etatismus
und in traditionellen Agrargesellschaften bestanden hat.
Soziale Exklusion ist ein Begriff, der von den sozialpolitischen Denkfrabriken der
Europäischen Kommission vorgeschlagen wurde und vom Internationalen Arbeitsamt (ILO)
der Vereinten Nationen übernommen worden ist. Nach der Observatory on National Policies
to Combat Social Exclusion der Europäischen Kommission bezieht sich dieser Begriff auf
„die sozialen Anrechte der Bürgerinnen und Bürger … auf einen gewissen minimalen
Lebensstandard und auf Teilhabe an den wesentlichen gesellschaftlichen und beruflichen
Chancen der Gesellschaft.“ Ich will versuchen, präziser zu sein und definiere soziale
Exklusion als den Prozess, durch den bestimmten Individuen und Gruppen systematisch der
Zugang zu Positionen verstellt wird, die sie zu einem autonomen Auskommen innerhalb der
gesellschaftlichen Standards befähigen würden, die in einem bestimmten Kontext durch
Institutionen und Werte abgesteckt werden. Unter normalen Bedingungen ist im
informationellen Kapitalismus eine solche Position gewöhnlich mit der Möglichkeit des
Zugangs zu relativ regelmäßiger, bezahlter Arbeit für mindestens ein Mitglied eines stabilen
Haushaltes verbunden. Soziale Exklusion ist dann der Prozess, der die Person als Arbeitskraft
im Kontext des Kapitalismus entrechtet. In Ländern mit einem gut entwickelten
Wohlfahrtsstaat kann soziale Inklusion auch großzügige Ausgleichzahlungen im Fall von
Langzeitarbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit bedeuten, obwohl dies immer mehr zur
Ausnahme wird. (…)
Auf dem Weg zu einer polarisierten Welt? Ein allgemeiner Überblick
(…)
Zur strukturellen Dauerhaftigkeit der Armut in allen Regionen der Welt kommt noch die
plötzliche Verursachung von Armut durch Wirtschaftskrisen hinzu, die mit den
Schwankungen der globalen Finanzmärkte in Verbindung stehen.
(…)
Demnach ist insgesamt der Aufstieg des informationellen Kapitalismus tatsächlich durch
simultane wirtschaftliche Entwicklung und Unterentwicklung gekennzeichnet, durch soziale
Inklusion und Exklusion, und dieser Prozess kommt im Großen und Ganzen in komparativen
59
Statistiken zum Ausdruck. Es gibt die Polarisierung der Verteilung von Reichtum auf
globaler Ebene, die unterschiedliche Entwicklung der Einkommensungleichheit innerhalb
einzelner Länder, wenn auch mit einem vorherrschenden Trend zur Steigerung der
Ungleichheit, und die erhebliche Zunahme von Armut und Elend auf der Welt insgesamt und
in den meisten – aber nicht in allen – Ländern, in den entwickelten wie in den sich
entwickelnden.
Die Ent-Menschlichung Afrikas
Die Entstehung des informationellen/globalen Kapitalismus während des letzten Viertels des
20. Jahrhunderts ist mit dem Kollaps der Volkswirtschaften Afrikas zusammengefallen, mit
der Desintegration vieler seiner Staaten und dem Zusammenbruch der meisten seiner
Gesellschaften. Infolgedessen sind an dieser Jahrtausendwende Hungersnöte, Epidemien,
Gewalt, Bürgerkriege, Massaker, ein Massen-Exodus sowie soziales und politisches Chaos
herausragende Merkmale des Landes, das einst der Nährboden für die Geburt von Lucy
gewesen ist, vielleicht die gemeinsame Großmutter der Menschheit. Ich behaupte, dass
diesem Zusammentreffen eine strukturelle, gesellschaftliche Kausalität zugrunde liegt. Und
ich werde auf den folgenden Seiten versuchen, das komplexe Zusammenspiel zwischen
Wirtschaft, Technologie, Gesellschaft und Politik, das zu dem Prozess geführt hat, der den
Menschen Afrikas ihre Menschlichkeit verweigert, aber auch uns allen in unserem inneren
Ich.
Marginalisierung und selektive Integration des subsharanischen Afrika in die
informationelle-globale Wirtschaft
(…)
1950 erbrachte Afrika über 3% der Weltexporte; 1990 etwa 1,1%.
1980 gingen 3,1%der weltweiten Exporte nach Afrika; 1995 nur 1,5%
Die weltweiten Importe aus Afrika sanken von 3,7% 1980 auf 1,4% 1995.
Ferner blieben die afrikanischen Exporte auf Rohstoffe beschränkt (92% aller Exporte)
und vor allem auf landwirtschaftliche Exportgüter (etwa 76% der Exporterlöse 1980-1990).
Es besteht auch eine zunehmende Konzentration dieser landwirtschaftlichen Exporte auf
wenige Anbauprodukte wie Kaffee und Kakao, die 1989-1990 40% der Exporterlöse
erbrachten.
(…)
Afrika ist jedoch nicht durchgängig an den Rand der globalen Netzwerke gedrängt. Wertvolle
Rohstoffe wie Erdöl, Gold, Diamanten und Metalle werden weiterhin exportiert; dies
bewirkt ein deutliches Wirtschaftswachstum in Botswana und sorgt in anderen Ländern wie in
Nigeria für erhebliches Einkommen. Das Problem liegt in der Verwendung des Einkommens
aus diesen Ressourcen und ebenso die Mittel, die die Regierungen als internationale Hilfe
erhalten. Die kleine, aber wohlhabende bürokratische Klasse weist in vielen Ländern ein
hohes Niveau beim Konsum kostspieliger Importgüter, einschließlich westlicher
Nahrungsmittel und internationaler Modeartikel. Kapitalströme aus afrikanischen Ländern auf
persönliche Konten und in profitträchtige internationale Investitionen auf der ganzen Welt,
allein zum Nutzen weniger reicher Einzelpersonen, sind der Beleg für eine erhebliche private
60
Kapitalakkumulation, die aber nicht wieder in dem Land reinvestiert wird, in dem dieser
Reichtum geschaffen wurde. (…)
Afrikas technologische Apartheid am Anbruch des Informationszeitalters
Die Informationstechnologie und die Fähigkeit, sie zu nutzen und anzupassen, sind in unserer
Zeit die entscheidenden Faktoren, um Reichtum, Macht und Wissen hervorzubringen und
Zugang dazu zu erhalten (s. Bd. I, Kap. 2, 3). Afrika ist – mit der wesentlichen Ausnahme
Südafrikas – gegenwärtig von der Informationsrevolution ausgeschlossen, wenn wir ein
paar Knotenpunkte der Finanzen und des internationalen Managements ausnehmen, die
unmittelbar und unter Umgehung der afrikanischen Volkswirtschaften und Gesellschaften an
die globalen Netzwerke angeschlossen sind.
Nicht nur ist Afrika die bei weitem an wenigsten computerisierte Region der Welt, es verfügt
nicht einmal über die minimale Infrastruktur, die nötig ist, um Computer zu nutzen. Daher
sind viele Unternehmungen unsinnig, Länder und Organisationen mit elektronischen Geräten
auszustatten. Vielmehr braucht Afrika erst eine zuverlässige Stromversorgung, bevor es die
Elektronik übernehmen kann (…)
Es gibt in Manhattan oder Tokyo mehr Telefonleitungen als im ganzen
subsaharanischen Afrika. 1991 gabt es in Afrika eine Telefonleitung auf 100 Einwohner,
gegenüber 2,3 in allen Entwicklungsländern zusammen und 37,2 in den Industrieländern.
1994 besaß Afrika nur etwa 2% der Telefonleitungen der Welt. (…)
Der Räuberstaat
(…)
Zaire: Die persönliche Aneignung des Staates
(…)
Nigeria: Öl, Ethnizität und militärisches Raubsystem
(…)
Ethnische Identität, wirtschaftliche Globalisierung und Staatsbildung in Afrika
(…)
Die Not Afrikas
(…)
Die Hoffnung Afrikas? Die südafrikanische Verbindung
.(…)
Jenseits von Afrika oder zurück nach Afrika? Die Politik und die Ökonomie der selfreliance
(…) In der Tat fordert eine zunehmende Anzahl von Stimmen in der intellektuellen und
politischen Welt Afrikas oder unter denen, denen Afrika am Herzen liegt, die Rekonstruktion
der afrikanischen Gesellschaften auf der Basis einer unabhängigen Selbstständigkeit, der
61
self-reliance. Das würde nicht bedeuten, die Bindung an primitive Wirtschaften und
traditionelle Gesellschaften aufrecht zu erhalten, sondern von unten nach oben neu zu bauen
und so auf einem anderen Weg Zugang zur Modernität zu finden, wobei die Werte und
Zielsetzungen des globalen Kapitalismus von heute grundsätzlich verworfen werden. Für
diese Position lassen sich starke Argumente in der technologisch/wirtschaftlichen
Marginalisierung Afrikas finden, in der Entstehung des Räuberstaates und im wirtschaftlichen
ebenso wie sozialen Fehlschlag der von IWF/Weltbank inspirierten Anpassungsprogramme.
Ein alternatives Entwicklungsmodell, eines, das auch sozial und ökologisch nachhaltiger
wäre, ist keine Utopie, und es gibt in einer Reihe von Ländern eine Fülle realistischer,
technisch solider Vorschläge für Entwicklungsmodelle nach den Kriterien der self-reliance,
und ferner auch Strategien für eine auf Afrika zentrierte Regionalkooperation. In den meisten
Fällen gehen sie von der partiellen Abkoppelung der afrikanischen Volkswirtschaften von den
globalen Netzwerken der Kapitalakkumulation aus. Dies berücksichtigt die Folgen der
gegenwärtigen, asymmetrischen Verknüpfungen, wie sie in diesem Kapitel dargestellt
wurden.
Es besteht jedoch ein grundlegendes Hindernis für die Verwirklichung der self-reliance: die
Interessen und Wertvorstellungen der Mehrheit der politischen Eliten Afrikas und ihre
Patronagenetzwerke. Ich habe gezeigt, wie und darum das, was für die meisten Afrikaner
eine menschliche Tragödie ist, für die Eliten nach wie vor eine Quelle von Reichtum und
Privilegien darstellt. Dieses pervertierte politische System ist historisch von den
europäischen/amerikanischen Mächten und durch die fragmentarische Einbeziehung Afrikas
in die globalen kapitalistischen Netzwerke geschaffen worden und wird weiter von ihnen
aufrechterhalten. Es ist genau diese selektive Anbindung von Eliten und wertvollen
Ressourcen zusammen mit der sozialen Exklusion der meisten Menschen und der
wirtschaftlichen Entwertung der meisten natürlichen Ressourcen, was das Spezifische an der
jüngsten Ausdruckform der afrikanischen Tragödie ausmacht. (…)
Das neue amerikanische Dilemma: Ungleichheit, städtische Armut und
soziale Exklusion im Informationszeitalter
(…)
Das duale Amerika
(…)
Das innerstädtische Ghetto als System sozialer Exklusion
(…)
Wenn die Unterschicht zur Hölle fährt
(…)
Globalisierung, Überausbeutung und soziale Exklusion: Die Perspektive
der Kinder
(…)
Die sexuelle Ausbeutung von Kindern
62
(…)
Das Töten von Kindern: Kriegsmassaker und Kindersoldaten
(…)
Warum Kinder zugrunde gerichtet werden
(…) Was hat nun der informationelle Kapitalismus mit all diesem Horror zu schaffen? Sind
Kinder nicht wohl oder übel im ganzen Verlauf der Geschichte missbraucht worden? (…)
Der Unterschied besteht darin, dass wir im Gefolge der im großen Stil durchgeführten
Deregulierung und als Folge der Umgehung von Staaten und Regierungen durch globale
Netzwerke eine drastische Umkehr sozialer Errungenschaften und auch der Kinderrechte
erleben, die in den reifen industriellen Gesellschaften durch Sozialreform erreicht worden
waren. Der Unterschied besteht in der Desintegration der traditionellen Gesellschaften auf
der ganzen Welt, wodurch Kinder ungeschützt in den Slums der Mega-Städte ausgesetzt
werden. Der Unterschied besteht darin, das Kinder in Pakistan Teppiche herstellen, die
weltweit durch Lieferantennetzwerke an Warenhäuser in den Wohlstandsmäkrten exportiert
werden. Neu ist der globale, massenhafte Tourismus mit dem zentralen Interesse an
Pädophilie. Neu ist die elektronische Kinderpornographie, die weltweit im Netz steht. Neu ist
di Auflösung des Patriarchalismus, der nicht durch ein System ersetzt worden ist, in dem die
Kinder durch neue Familien oder durch den Staat geschützt würden. Und neu ist auch die
Aufweichung der Institutionen zur Absicherung der Rechte von Kindern wie Gewerkschaften
oder Sozialpolitik, die durch moralische Aufrufe zur Wahrung der Familienwerte ersetzt
werden. Außerdem ist der informationelle Kapitalismus kein Ding. Er ist die spezifische
Gesellschaftsstruktur mit eigenen Regeln und eigener Dynamik, die durch die in diesem
Kapitel nachgewiesenen Prozesse in einem systemischen Zusammenhang zur Überausbeutung
und zum Missbrauch von Kindern stehen, wenn nicht bewusstes politisches Handeln sich
diesen Tendenzen entgegenstellt.
An den Wurzeln der Ausbeutung von Kindern befinden sich die Mechanismen, die weltweite
Armut und soziale Exklusion hervorbringen, vom subsaharanischen Afrika bis zu den
Vereinigten Staaten von Amerika. (…)
Schluss: Die schwarzen Löcher des informationellen Kapitalismus
(…) Der Informationalismus schafft eine scharfe Trennlinie zwischen wertvollen und
wertlosen Menschen und Örtlichkeiten. Die Globalisierung erfolgt selektiv, sie schließt
Segmente von Volkswirtschaften und Gesellschaften in die Netzwerke von Information,
Reichtum und Macht ein, die das neue herrschende System kennzeichnen, und sie schließt
andere aus. (…)
An dieser Jahrtausendwende hat sich das, was einmal als Zweite Welt bezeichnet wurde (das
etatistische Universum) aufgelöst, weil es nicht in der Lage war, die Kräfte des
Informationszeitalters zu meistern. Zur selben Zeit ist die Dritte Welt als bedeutsame Größe
verschwunden; sie ist in ihrer geografischen Bedeutung entleert und hat sich in ihrer
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung außerordentlich stark differenziert. Doch
die Erste Welt ist nicht zu dem allumfassenden Universum geworden, von dem die
neoliberale Mythologie handelt. Denn es ist eine neue Welt, die Vierte Welt entstanden, die
aus vielfältigen schwarzen Löchern sozialer Exklusion besteht und die auf der ganzen
Erde zu finden sind. Die Vierte Welt umfasst große Gebiete des Globus, etwa den Großteil
des subsaharanischen Afrika und verarmte ländliche Gebiete in Lateinamerika und Asien. Sie
63
ist in dieser neuen Geografie sozialer Exklusion aber auch buchstäblich in jedem einzelnen
Land, in jede einzelnen Stadt vorhanden. Sie besteht aus den innerstädtischen Ghettos
Amerikas, aus den Enklaven der massenhaften Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, aus den
französischen Banlieus, in denen Nordafrikaner eingepfercht leben, aus den japanischen
Yoseba-Vierteln und den Wellblechstädten der asiatischen Mega-Städte. Und sie ist bevölkert
von Millionen obdachloser, eingesperrter, kriminalisierter, misshandelter, stigmatisierter,
kranker und analphabetischer Menschen. Sie bilden in manchen Gegenden die Mehrheit, in
anderen eine Minderheit und in wenigen privilegierten Zusammenhängen eine winzige
Minderheit. Überall ist ihre Zahl im Wachsen und ihre Sichtbarkeit nimmt in dem Maße zu,
wie der selektive Ausleseprozess des informationellen Kapitalismus und der politische
Zusammenbruch des Wohlfahrtsstaates die soziale Exklusion intensivieren. Im
gegenwärtigen historischen Kontext ist die Entstehung der Vierten Welt von der
Entstehung des informationellen Kapitalismus nicht zu trennen.
Die Vereinigung Europas: Globalisierung, Identität und der
Netzwerkstaat
Die Vereinigung Europas als Abfolge defensiver Reaktionen
Die Vereinigung Europas wird, wenn und falls sie um die Wende zum 21. Jahrhundert herum
vollendet wird, eine der wichtigsten Tendenzen sein, die unsere neue Welt bestimmen. Sie ist
vor allem deshalb wichtig, weil sie wahrscheinlich (aber nicht mit Sicherheit) den
jahrtausendlangen Kriegen ein Ende setzen wird, die die großen europäischen Mächte
gegenüber geführt haben. (…)
Sie ist auch wichtig, weil ein vereintes Europa mit seiner wirtschaftlichen und
technologischen Macht und seinem kulturellen und politischen Einfluss zusammen mit dem
Aufstieg der asiatischen Pazifikregion das weltweite Machtsystem in einer polyzentrischen
Struktur verankern und so trotz anhaltender militärischer (und technologischer)
Überlegenheit der Vereinigten Staaten die Existenz einer hegemonialen Supermacht
ausschließen wird. Und ich behaupte, dass sie außerdem als Quelle institutioneller Innovation
bedeutsam ist, die Antworten auf die Krise des Nationalstaates liefern könnte. Denn im
Rahmen des Prozesses, in dem sich die Europäische Union herausbildet, entstehen auf
europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene neue Formen des Regierens und neue
staatliche Institutionen, die zu einer neuen Staatsform führen. Ich schlage vor, sie als
Netzwerkstaat zu bezeichnen.
Es ist jedoch nicht immer recht deutlich, was der eigentliche Inhalt dieser Vereinigung ist und
welches ihre Akteure sind, und das wird auch noch eine Zeit lang so bleiben. Gerade diese
Zweideutigkeit macht die Vereinigung möglich und kennzeichnet ihren Prozess eher als eine
Debatte denn einen fertigen Plan.
(…)
Bilanz nach einem halben Jahrhundert
(…)
64
Globalisierung und europäischer Integration
Die europäische Integration ist zu ein und derselben Zeit eine Reaktion auf den Prozess der
Globalisierung und seine am weitesten fortgeschrittene Ausdrucksform. Sie ist auch der
Beweis dafür, dass die globale Wirtschaft kein undifferenziertes System aus Firmen und
Kapitalströmen ist, sondern eine regionalisierte Struktur, in der alte nationale Institutionen
und neue supranationale Instanzen noch immer eine wichtige Rolle dabei spielen, den
wirtschaftlichen Wettbewerb zu organisieren und seine Früchte zu ernten oder zu verderben.
Daraus folgt jedoch nicht, dass Globalisierung nur Ideologie wäre. (…)
Die offenkundigste Dimension im Globalisierungsprozess sind die Finanz- und
Devisenmärkte. Sie sind wahrhaft global und haben die Möglichkeit, mit Hilfe von
elektronischen Strömen als Einheit in Echtzeit zu arbeiten und staatliche Kontrollen zu
übergehen und zu überwältigen. (…)
Die Globalisierung hat eine zweite wichtige Dimension: die Informationstechnologie, den
Kern der produktiven Fähigkeit der Volkswirtschaften und der Militärmacht der Staaten. (…)
Die Globalisierung von Kapital und Informationstechnologie zwingt uns, das klassische
Thema der Integration von Handel und Investition aus neuer Perspektive zu betrachten. Wenn
über Europa und Globalisierung debattiert wird, so ist der mögliche Niedergang der
europäischen Wettbewerbsfähigkeit in einem wahrhaft globalen Markt ein wichtiges Thema,
weil sie von oben durch die amerikanische und japanische Technologie und von unten durch
die niedrigeren Produktionskosten der neu industrialisierten Länder in die Zange genommen
wird. (…)
Kulturelle Identität und europäische Vereinigung
Der Wirbelwind der Globalisierung ruft auf der ganzen Welt Abwehrreaktionen hervor, in
deren Zentrum häufig Prinzipien der nationalen und territorialen Identität stehen. (…)
Das Streben nach Identität als Gegengift gegen wirtschaftliche Globalisierung und politische
Entrechtung dringt auch unterhalb der Ebene des Nationalstaates vor und verleiht Regionen
und Städten in ganz Europa eine neue Dynamik. (…)
Die Institutionalisierung Europas: Der Netzwerkstaat
Wenn wir die widersprüchlichen Visionen und Interessen im Zusammenhang mit der
Vereinigung Europas bedenken und den Mangel an Enthusiasmus unter den Bürgerinnen und
Bürgern der meisten Länder berücksichtigen, dann scheint es ein Wunder, dass dieser
Integrationsprozess zur Jahrtausendwende so weit gekommen ist, wie es tatsächlich der Fall
ist. Ein Teil der Erklärung für diesen unwahrscheinlichen Erfolg ist in der Tatsache zu suchen,
dass die Europäischen Union die bestehenden Nationalstaaten nicht ersetzt, sondern im
Gegenteil ein grundlegendes Element für ihr Fortbestehen unter der Bedingung ist, dass sie
Teile ihrer Souveränität im Austausch gegen größeren Einfluss auf internationale ebenso wie
eigenstaatliche Angelegenheiten im Globalisierungszeitalter abgeben. Aber diese
Interessenkonvergenz musste, um wirksam zu werden, noch immer einen institutionellen
Ausdruck finden. (…)
In ihren Überlegungen zur zunehmenden Komplexität und Flexibilität des europäischen
politischen Prozesses schlagen Keohane und Hoffman vor, davon auszugehen, dass die
Europäischen Union „im wesentlichen als Netzwerk organisiert ist, in dem Souveränität
zusammengeführt und geteilt, nicht aber auf eine höhere Ebene übertragen wird.“ Diese
65
Analyse, die Waever weiter entwickelt und theoretisch ausgearbeitet hat, nähert den
europäischen Vereinigungsprozess stärker der Charakteristik von Institutionen unter der
Prämisse eines neuen Mittelalters an; das bedeutet eine Mehrzahl einander überlappender
Machtinstanzen, wie es ähnlich vor Jahren von Hedley Bull formuliert und von einer Reihe
europäischer Analytiker wie Alain Minc aufgegriffen worden ist.
Obwohl Historiker gegenüber einer solchen Parallele vielleicht Einwände haben werden,
illustriert dieses Bild eindringlich die neue Staatsform, die konzentriert in den europäischen
Institutionen zum Ausdruck kommt: den Netzwerkstaat. Es ist ein Staat, der durch die
Teilung von Kompetenzen (d.h. in letzter Instanz der Macht, legitime Gewalt auszuüben)
innerhalb eines Netzwerkes gekennzeichnet ist. Ein Netzwerk hat definitionsgemäß Knoten
und kein Zentrum. Die Knoten können unterschiedlich groß und durch asymmetrische
Beziehungen innerhalb des Netzwerkes miteinander verbunden sein, sodass der Netzwerkstaat
das Bestehen politischer Ungleichheiten unter seinen Mitgliedern nicht ausschließt. Und in
der Tat sind im europäischen Netzwerk nicht alle staatlichen Institutionen gleich. Nicht nur
konzentriert sich noch immer ein Großteil der Entscheidungsgewalt bei nationalen
Regierungen, sondern es bestehen auch große Machtunterschiede zwischen den
Nationalstaaten, obwohl die Machthierarchie in unterschiedlichen Dimensionen variiert:
Deutschland ist die wirtschaftliche Hegemonialmacht, aber Großbritannien und Frankreich
besitzen weit größere militärische Macht und mindestens gleichwertige technologische
Kompetenz. Und Spanien kontrolliert die wertvollste Dienstleistung für viele Europäer: ihren
Urlaub. (…)
Europäische Identität oder europäisches Projekt?
(…) Im Großen und Ganzen gibt es also keine europäische Identität. Aber sie könnte
geschaffen werden, nicht im Gegensatz, sondern komplementär zu den nationalen, regionalen
und lokalen Identitäten.
Schluss: Unsere Welt verstehen
Die Genese einer neuen Welt
(…) Die informationstechnologische Revolution führte zum Aufkommen des
Informationalismus als der materiellen Grundlage einer neuen Gesellschaft. Unter dem
Informationalismus gerieten die Schaffung von Reichtum, die Ausübung von Macht und die
Schöpfung kultureller Codes in Abhängigkeit von der technologischen Kompetenz der
Gesellschaften und Individuen, und im Zentrum dieser Kompetenz steht die
Informationstechnologie. Die Informationstechnologie wurde zum unverzichtbaren Werkzeug
für die effektive Durchführung der Prozesse sozioökonomischer Neustrukturierung.
Besonders bedeutsam war dabei ihre Rolle, Vernetzung als dynamische, selbstexpandierende Organisationsform menschlicher Tätigkeit zu ermöglichen. Diese
vorherrschende Netzwerklogik prägt alle Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Lebens.
(…)
66
In dieser globalen, interdependenten Wirtschaft begannen neue Konkurrenten, Unternehmen
und Länder einen steigenden Anteil an Produktion, Handel, Kapital und Arbeit zu
beanspruchen.
(…)
Die Kapital-, Arbeits-, Informations- und Marktnetzwerke verbanden durch Technologie
wertvolle Funktionen, Menschen und Lokalitäten auf der ganzen Welt miteinander,
schalteten aber diejenigen Bevölkerungen und Territorien von ihren Netzwerken ab, die
für die Dynamik des globalen Kapitalismus keinen Wert und kein Interesse mehr besaßen.
Daraus folgten die soziale Exklusion und die ökonomische Bedeutungslosigkeit von
gesellschaftlichen Segmenten, Stadtgebieten, Regionen und ganzen Ländern, die das
ausmachen, was ich als „Vierte Welt“ bezeichne. Die verzweifelten Versuche einiger diesr
gesellschaftlichen Gruppen und Territorien, Anschluss an die globale Ökonomie zu finden
und der Marginalität zu entrinnen, führten zu dem, was ich als die „perverse Koppelung“
bezeichne. Hier hat das organisierte Verbrechen auf der ganzen Welt sich die Not der
„Vierten Welt“ zunutze gemacht, um die Entwicklung einer globalen kriminellen Ökonomie
voranzutreiben. Sie hat das Ziel, verbotene Gelüste zu befriedigen und die endlose
Nachfrage von wohlhabenden Gesellschaften und Individuen nach illegalen Waren zu
befriedigen.
(…)
Die Neustrukturierung des Etatismus erwies sich als schwieriger, zumal für die
beherrschende etatistische Gesellschaft der Welt, die Sowjetunion, das Zentrum eines breiten
Netzwerkes von etatistischen Staaten und Parteien.
(…)
Nach dem Ende des Etatismus als Systems blüht der Kapitalismus auf der ganzen Welt und
dringt vertieft in Länder, Kulturen und Lebensbereiche ein. Trotz einer höchst vielgestaltigen
gesellschaftlichen und kulturellen Landschaft ist der ganze Planet erstmals in der Geschichte
um einen weitgehend gemeinsamen Satz von ökonomischen Regeln organisiert. Doch es ist
eine andere Art von Kapitalismus als derjenige, der während der Industriellen Revolution
geprägt wurde, oder derjenige, der während der Industriellen Revolution geprägt wurde, oder
derjenige, der während der Depression der 1930er Jahre und des Zweiten Weltkrieges in der
Form von Keynesianismus und sozialer Sicherung aufgetreten ist. Es ist die Form eines
Kapitalismus, der in seiner Zielsetzungen gehärtet, aber in seinen Mitteln unvergleichlich
flexibler ist als alle seine Vorgänger. Es ist der informationelle Kapitalismus, der sich auf
innovationsbedingte Produktivität und auf globalisierungsorientierte Wettbewerbsfähigkeit
stützt, um Reichtum hervorzubringen und ihn selektiv anzueignen. Er ist mehr den je in
Kultur eingebettet und mit Technologie ausgerüstet. Aber diesmal sind beide, Kultur und
Technologie, von der Fähigkeit des Wissens und der Information abhängig, in einem sich
immer erneuernden Netzwerk globalen Austauschs auf Wissen und Information einzuwirken.
Doch sind Gesellschaften nicht einfach das Resultat technologischer und wirtschaftlicher
Transformation, und sozialer Wandel lässt sich auch nicht auf institutionelle Krisen und
Anpassungen eingrenzen. Etwa zur selben Zeit, als diese Entwicklungen Ende der 1960er
Jahre einsetzten, brachen fast gleichzeitig in der gesamten industrialisierten Welt starke
soziale Bewegungen aus (…)Als Teilnehmer dieser sozialen Bewegungen (ich war 1968
Assistenzprofessor für Soziologie auf dem Campus Nanterre der Universität von Paris) kann
ich ihre libertäre Haltung bezeugen. Zwar griffen ihre militanten Avantgarden häufig
marxistische ideologische Ausdrucksformen auf, aber sie hatten mit dem Marxismus und
67
übrigens auch mit der Arbeiterklasse wenig zu schaffen. Es waren im Wesentlichen kulturelle
Bewegungen, die das Leben ändern, aber nicht die Macht ergreifen wollten. Sie wussten
intuitiv, das Zugang zu den staatlichen Institutionen dazu führt, von ihnen kooptiert zu
werden, während die Schaffung eines neuen, revolutionären Staates die Perversion der
Bewegung darstellte. Ihr Ehrgeiz bestand in der multidimensionalen Reaktion auf willkürliche
Autorität, einer Revolte gegen Ungerechtigkeit und einem Streben nach experimentellen
Leben. Ihre Akteure waren zwar häufig Studierende, aber es waren keinesfalls
Studentenbewegungen, denn sie durchdrangen die gesamte Gesellschaft, von allem junge
Leute. Und ihre Wertvorstellungen fanden in allen Lebenssphären ihren Widerhall.
(…)
Die technologische Revolution, die Neustrukturierung der Wirtschaft und die Kritik an der
Kultur flossen in einer historischen Neudefinition der Beziehungen zwischen Produktion,
Macht und Erfahrung zusammen, auf denen die Gesellschaften beruhen.
Eine neue Gesellschaft
Eine neue Gesellschaft entsteht, sobald und im Falle, dass eine strukturelle Transformation in
den Produktionsverhältnissen, in den Machtbeziehungen und in den Verhältnissen der
Erfahrung zu beobachten ist. Diese Transformationen führen zu einer ebenso eingreifenden
Transformation bei den gesellschaftlichen Formen von Raum und Zeit und zum Auftreten
einer neuen Kultur.
(…)
Die Produktionsverhältnisse sind sowohl gesellschaftlich wie auch technologisch
transformiert worden. Natürlich sind sie kapitalistisch, aber sie gehören zu einer historisch
anderen Sorte von Kapitalismus, die ich als informationellen Kapitalismus bezeichne.
(…)
Unter diesem neuen Produktionssystem wird die Rolle der Arbeit als Produzent neu definiert
und scharf nach den Charakteristika des jeweiligen Arbeiters oder der Arbeiterin differenziert.
Ein wichtiger Unterschied bezieht sich auf das, was ich als generische Arbeit im Gegensatz
zu selbst-programmierbarer Arbeit bezeichne. Die entscheidende Qualität, die den
Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Arbeit ausmacht, sind Bildung und die
Fähigkeit des Zugangs zu höheren Bildungsstufen; also verkörpertes Wissen und
Information.
Der Begriff Bildung ist von Fertigkeiten zu unterscheiden. Fertigkeiten können durch
technologische und organisatorische Veränderungen schnell obsolet werden. Bildung (im
Unterschied zur Verwahrung von Kindern und Studierenden) ist der Prozess, durch den
Menschen, also Arbeitskräfte, die Fähigkeit erwerben, beständig die notwendigen
Fertigkeiten für eine bestimmte Aufgabe neu zu bestimmen und sich Zugang zu den
Quellen zu verschaffen, um diese Fertigkeiten zu erwerben. Wer immer gebildet ist und
sich im richtigen organisatorischen Umfeld befindet, kann sich für die endlosem Wandel
unterliegenden Anforderungen des Produktionsprozesses neu programmieren.
Andererseits wird generischer Arbeit eine bestimmte Aufgabe ohne Fähigkeit zur
Neuprogrammierung übertragen, und sie hat nicht die Verkörperung von Information und
Wissen zur Voraussetzung, die über die Fähigkeit zum Empfang von Signalen und die
Durchführung entsprechender Handlungen hinausgeht. Diese „menschlichen Terminals“
lassen sich natürlich durch Maschinen oder durch jeden anderen Körper ersetzen, der sich in
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der Stadt, im Land oder in der Welt findet, ganz nach unternehmerischen Entscheidungen.
Zwar sind sie kollektiv für den Produktionsprozess unverzichtbar, aber sie können individuell
ersetzt werden, weil der von Einzelnen zugefügte Wert nur einen kleinen Bruchteil dessen
darstellt, was durch und für die Organisation erzeugt wird. Maschinen und generische Arbeit
aus unterschiedlichen Quellen und Orten bevölkern gemeinsam die niederen Kreisläufe des
Produktionssystems.
Flexibilität die organisatorisch durch das Netzwerkunternehmen realisiert wird, erfordert
Vernetzter, flexible Arbeit sowie eine breite Palette von Arbeitsarrangements, zu denen auch
Selbstständigkeit und wechselseitige Beziehungen durch Subunternehmertum gehören. Die
variable Geometrie dieser Arbeitsarrangements führt zur koordinierten Dezentralisierung der
Arbeitsverrichtungen und zur Individualisierung der Arbeit.
Die informationelle /globale Wirtschaft ist kapitalistisch, und das mehr als jede andere
Wirtschaft in der Geschichte. Aber das Kapital ist in dieser neuen Wirtschaftsform genauso
transformiert wie die Arbeit. Die Regel lautet noch immer: Produktion um des Profits und
der privaten Aneignung des Profits willen auf der Grundlage von Eigentumsrechten.
Das ist das Wesen des Kapitalismus. Aber wie kommt es zu dieser Aneignung des Profits?
Wer sind die Kapitalisten? Um diese grundlegende Frage zu beantworten, gilt es drei
unterschiedliche Ebenen zu berücksichtigen. Lediglich die dritte Ebene ist eine Besonderheit
des informationellen Kapitalismus
Die erste Ebene betriff die Besitzer von Eigentumsrechten. Sie lassen sich im Wesentlich in
drei Gruppen einteilen: (a) Aktienbesitzer von Unternehmen (…) (b) Eigentümer von
Familienbetrieben, vor allem in der asiatischen Pazifikregion noch immer eine wichtige Form
des Kapitalismus; und (c) individuelle Unternehmen, Eigentümer der eigenen
Produktionsmittel (wobei ihr Verstand ihr wichtigstes Vermögen ist), Risikoträger und
Eigentümer der eigenen Profitschöpfung. Diese letzte Kategorie, die für die Ursprünge des
industriellen Kapitalismus von grundlegender Bedeutung gewesen ist, hat sich im
informationellen Kapitalismus eindrucksvoll zurückgemeldet und dabei die vorrangige
Bedeutung von Innovation und Flexibilität eingesetzt, der wesentlichen Merkmale des
neuen Produktionssystems.
Die zweite Ebene der kapitalistischen Formen betrifft die Managerklasse, also diejenigen, die
im Namen der Aktienbesitzer die Kontrolle über das Kapitalvermögen ausüben. Diese
Manager, deren vorrangige Bedeutung Berle und Means bereits in den 1930er Jahren
aufgezeigt haben, bilden unter dem Informationalismus vor allen in den multinationalen
Konzernen noch immer das Herz des Kapitalismus. (…)
Die dritte Ebene im Prozeß der Profitaneignung durch das Kapital ist sowohl ein alter Hut wie
ein Grundzug des informationellen Kapitalismus. Der Grund liegt in der Natur der globalen
Finanzmärkte. In diesen Märkten fließen letztlich die Profite aus allen Quellen auf der Suche
nach größerem Profit zusammen. Und die Gewinnmargen auf dem Aktienmarkt, auf dem
Markt für Schuldverschreibungen, auf dem Devisenmarkt, bei Futures, Optionsscheinen,
Derivaten und insgesamt auf den Finanzmärkten sind im Durchschnitt wesentlich höher als
bei den meisten Direktinvestitionen, nimmt man wenige Fälle von Spekulation einmal aus.
Das liegt nicht an der Natur des Finanzkapitals, der historisch ältesten Form des Kapitals. Es
liegt vielmehr an den historischen Bedingungen, unter denen es im informationellen
Kapitalismus operiert. Nämlich der Vernichtung von Raum und Zeit mit Mitteln der
Technologie. Seine technologische und informationelle Fähigkeit, unablässig den gesamten
Planeten nach Investitionsmöglichkeiten abzusuchen und innerhalb von Sekunden von einer
Option zur nächsten zu wechseln, bringt das Kapital in beständige Bewegung, wobei es in
dieser Bewegung mit Kapital von allen Seiten verschmilzt wie etwa bei gemeinsamen
69
Investmentfonds. (…) Deshalb sind die globalen Finanzmärkte und ihre
Managementnetzwerke tatsächlich der kollektive Kapitalist, die Mutter aller Akkumulation.
(…) In dieser spezifischen Form sind die globalen Finanznetzwerke das Nervenzentrum des
informationellen Kapitalismus. (…)
Eine zweite Bedeutung der Klassenverhältnisse bezieht sich auf soziale Exklusion. Damit
meine ich die Entkoppelung zwischen Menschen als Menschen und Menschen als
Arbeitskräften/Konsumenten, die von der Dynamik des informationellen Kapitalismus auf
globaler Ebene bewirkt wird. (…) Die Grenzlinie zwischen sozialer Exklusion und
alltäglichem Überlegen verwischt für eine wachsende Zahl von Menschen in allen
Gesellschaften zusehends. Der Verlust des Sicherheitsnetzes bedeutet vor allem für die neuen
Generationen der Ära nach dem Wohlfahrtsstaat, wenn sie bei der beständigen Aktualisierung
ihrer Fertigkeiten nicht mehr mithalten können und im Konkurrenzwettlauf zurückfallen, dass
sie sich für die nächste Runde einreihen müssen, bei der jene schrumpfende Mitte, die
während des Industriezeitalters einmal die Stärke der fortgeschrittenen kapitalistischen
Gesellschaften ausgemacht hat, einem erneuten downsizing unterzogen wird. Prozesse
sozialer Exklusion erfassen daher nicht allein die „wahrhaft Benachteiligten“, sondern
diejenigen Einzelpersonen und gesellschaftlichen Kategorien, die ihr Leben auf einen
beständigen Kampf darum gründen, dem Absturz in eine stigmatisierte Unterwelt
abgewerteter Arbeitskraft und sozial untauglich gewordener Menschen zu entgehen.
Eine dritte Möglichkeit, die neuen Klassenverhältnisse diesmal in der Marxschen Tradition zu
verstehen, fragt danach, wer die Produzenten sind und wer sich das Produkt ihrer Arbeit
aneignet. Wenn Innovation die Hauptquelle der Produktivität ist, wenn Wissen und
Information entscheidende Materialien des neuen Produktionsprozesses sind, und wenn
Bildung die Schlüsselqualität der Arbeit ist, dann sind die neuen Produzenten des
informationellen
Kapitalismus
diejenigen
Wissensgeneratoren
und
Informationsprozessoren, deren Beitrag für das Unternehmen, die Region und die
Volkswirtschaft am wertvollsten ist. Aber Innovation findet nicht isoliert statt. Sie ist Teil
eines Systems, in dem das Management von Organisationen, die Verarbeitung von Wissen
und Information sowie die Produktion von Gütern und Dienstleistungen miteinander
verflochten sind.
Nach dieser Definition umfasst diese Kategorie der informationellen Produzenten eine sehr
große Gruppe von Managern, Experten und Technikern, die einen „Kollektivarbeiter“
bilden; also eine Produzenteneinheit, die aus der Kooperation zwischen unterschiedlichen,
voneinander nicht abtrennbaren Arbeitskräften besteht. In den OECD-Ländern dürfte sie etwa
ein Drittel der beschäftigten Bevölkerung ausmachen. Die meisten anderen Arbeitskräfte
dürften sich in der Kategorie der generischen Arbeit befinden, sind potenziell durch
Maschinen oder andere Mitglieder der generischen Arbeiterschaft ersetzbar. Sie benötigen die
Produzenten, um ihre Verhandlungsmacht zu schützen. Aber die informationellen
Produzenten haben sie nicht nötig. Das ist die grundlegende Kluft im informationellen
Kapitalismus, die zur allmählichen Auflösung der Reste der Klassensolidarität aus der
Industriegesellschaft führt.
Wer aber eignet sich einen Teil der Arbeit der informationellen Produzenten? In einer
Hinsicht hat sich gegenüber dem klassischen Kapitalismus nichts geändert: Es sind
diejenigen, die die Produzenten anheuern, und das ist auch der Grund, warum sie das in erster
Linie tun. Doch andererseits ist der Mechanismus der Überschussaneignung weit
komplizierter. Erstens sind die Beschäftigungsverhältnisse tendenziell individualisiert, was
bedeutet jeder einzelne Produzent anders bezahlt wird. Zweitens kontrolliert ein zunehmender
Teil der Produzenten seinen Arbeitsprozess selbst und schafft sich spezifische horizontale
70
Arbeitsbeziehungen, sodass in hohem Maße selbstständige Produzenten auftreten, die den
Marktkräften unterliegen, aber selbst Marktstrategien verfolgen. Drittens geht ihr Verdienst
häufig in den Wirbelwind der globalen Finanzmärkte, die ja gerade aus dem wohlhabenden
Teil der globalen Bevölkerung gespeist werden. (…)
Die wirklich grundlegenden sozialen Bruchlinien im Informationszeitalter sind: erstens
die interne Fragmentierung der Arbeitskräfte zwischen informationellen Produzenten und
ersetzbarer generischer Arbeit. Zweitens die soziale Exklusion eines bedeutenden Segments
der Gesellschaft, das aus ausrangierten Individuen besteht, deren Wert als
Arbeitskräfte/Konsumenten aufgebraucht ist und deren Bedeutung als Menschen ignoriert
wird. Und drittens die Trennung zwischen der Marktlogik der globalen Netzwerke der
Kapitalströme und der menschlichen Erfahrung des Arbeitslebens.
Die Machtbeziehungen werden durch den gesellschaftlichen Prozess, den ich in diesem Buch
konstatiert und analysiert habe, ebenfalls verändert. Die wichtigste Transformation betriff die
Krise des Nationalstaates als souveräne Einheit und die damit zusammen hängende Krise der
politischen Demokratie, wie sie während der letzten beiden Jahrhundert entstanden ist. Weil
staatliche Befehle nicht vollständig durchgesetzt werden und weil einige der grundlegenden
Versprechen, die im Wohlfahrtsstaat verkörpert sind, nicht eingehalten werden können, sind
die Autorität ebenso wie die Legitimität des Staates in Frage gestellt.
(…)
Unter derartigen Bedingungen passt sich informationelle Politik, die vor allem durch
Symbolmanipulation im Medienraum erfolgt, gut in die sich ständig wandelnde Welt der
Machtbeziehungen ein. Strategische Spiele, maßgeschneiderte Vertretung und personalisierte
Führerschaft ersetzen Klassenbasis, ideologische Mobilisierung und Parteikontrolle, die für
die Politik im Industriezeitalter charakterisiert waren.
Weil die Politik zum Theater wird und die politischen Institutionen Verhandlungsagenturen
anstatt Orte der Macht werden, reagieren die Staatsbürger auf der ganzen Welt defensiv und
gehen eher zur Wahl, um den Staat vor Schaden zu bewahren, als ihn mit ihren Aufträgen zu
betrauen. In gewissem Sinne ist das politische System von Macht entleert, freilich nicht von
Einfluss.
Macht verschwindet jedoch nicht. In einer informationellen Gesellschaft wird sie grundlegend
in die kulturellen Codes eingeschrieben, mittels derer Menschen und Institutionen das Leben
abbilden und Entscheidungen, auch politische Entscheidungen fällen.
(…)
Kulturelle Schlachten sind Schlachten um die Macht im Informationszeitalter. Sie werden vor
allem in und von den Medien ausgefochten, aber die Medien sind nicht die Machthaber.
Macht als die Fähigkeit, Verhalten zu erzwingen, liegt in den Netzwerken des
Informationsaustauschs und der Symbolmanipulation, die soziale Akteure, Institutionen und
kulturelle Bewegungen durch Ikonen, Sprecher sowie intellektuelle Verstärker miteinander in
Beziehung setzen.
Langfristig ist es nicht wirklich wichtig, wer an der Macht ist, weil die Verteilung politischer
Rollen sich stark ausbreitet und rotiert. Es gibt keine stabilen Machteliten mehr. Es gibt
jedoch von Macht abgeleitete Eliten, das sind Eliten, die sich während ihrer in der Regel
kurzen Zeit als Machthaber gebildet haben, wenn sie ihre privilegierte politische Position
nutzen, um dauerhafteren Zugang zu materiellen Ressourcen und gesellschaftlichen
71
Verbindungen zu gewinnen. Kultur als Quelle von Macht und Macht als Quelle von Kapital
liegen der neuen gesellschaftlichen Hierarchie im Informationszeitalter zugrunde.
Die Transformation der Verhältnisse der Erfahrung dreht sich vor allem um die Krisedes
Patriarchalismus,
die
einer
tiefgreifenden
Neudefinition
von
Familie,
Geschlechterbeziehungen, Sexualität und damit der Persönlichkeit zugrunde liegt. (…) Die
grundlegendsten Transformation der Verhältnisse von Erfahrung im Informationszeitalter
besteht in ihrem Übergang zu einem Muster sozialer Interaktion, das in erster Linie durch die
tatsächliche Erfahrung der Beziehung konstruiert wird. Heutzutage produzieren die
Menschen Formen von Geselligkeit und befolgen keine Verhaltensmodelle mehr.
Die Veränderungen in den Verhältnissen von Produktion, Macht und Erfahrung konvergieren
zur Transformation der materiellen Grundlagen von gesellschaftlichen Leben, Raum und Zeit.
Der Raum der Ströme des Informationszeitalters beherrscht den Raum der Orte
menschlicher Kulturen. Die zeitlose Zeit überlagert als die gesellschaftliche Tendenz zur
Vernichtung der zeit durch Technologie die Logik der Uhrenzeit des Industriezeitalters. Das
Kapital zirkuliert, die Macht regiert und die elektronische Kommunikation wirbelt durch
Ströme von Austauschakten zwischen ausgewählten, voneinander entfernten Orten, während
die fragmentierte Erfahrung auf Orte beschränkt bleib. Die Technologie komprimiert die Zeit
zu wenigen, willkürlichen Augenblicken und zerstört so gesellschaftliche Abfolgen und
enthistorisiert die Geschichte. Indem die Macht im Raum der Ströme abgetrennt wird, es dem
Kapital ermöglicht wird, der Zeit zu entrinnen und die Geschichte in der Kultur des
Ephemeren aufgelöst wird, entkörperlicht die Netzwerkgesellschaft die gesellschaftlichten
Beziehungen und führt die Kultur der realen Virtualität ein.
(…)
Diese Virtualität ist unsere Realität, weil wir im Bezugsrahmen dieser zeitlosen, ortslosen
Symbolsysteme die Kategorien konstruieren und die Bilder aufrufen, die Verhalten
bestimmen, Politik anregen, Träume nähren und Alpträume auslösen.
Die ist die neue Gesellschaftsstruktur des Informationszeitalters, die ich
Netzwerkgesellschaft nenne, weil sie aus Netzwerken von Produktion, Macht und Erfahrung
besteht, die eine Kultur der Virtualität in den globalen Strömen konstruieren, die Zeit und
Raum überschreiten. Nicht alle Dimensionen und Institutionen der Gesellschaft folgen der
Logik der Netzwerkgesellschaft. Genauso haben die Industriegesellschaften lange Zeit viele
vorindustrielle menschliche Existenzformen enthalten. Aber alle Gesellschaften sind im
Informationszeitalter sehr wohl, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität von der
allgegenwärtigen Logik der Netzwerkgesellschaft durchdrungen, deren dynamische
Expansion allmählich die zuvor bestehenden gesellschaftlichen Formen absorbiert und sich
unterwirft.
Die Netzwerkgesellschaft ist wie jede andere Gesellschaftsstruktur nicht ohne Widersprüche,
soziale Konflikte und Herausforderungen durch andere Formen gesellschaftlicher
Organisation. Aber diese Herausforderungen gehen von den Charakteristika der
Netzwerkgesellschaft aus und unterscheiden sich daher deutlich von denen des
Industriezeitalters. Demnach werden sie von anderen Subjekten verkörpert, obwohl diese
Subjekte häufig mit historischem Material arbeiten, die aus den Werten und Organisationen
stammt, die vom Industriekapitalismus und Etatismus ererbt wurden.
(…)
72
Die neuen Wege gesellschaftlicher Veränderung
(…) Die Gesellschaften des Informationszeitalters lassen sich nicht auf die Struktur und die
Dynamik der Netzwerkgesellschaft reduzieren. Meiner Durchsicht unserer Welt zufolge
scheint es, dass unsere Gesellschaften durch die Interaktion zwischen dem „Netz“ und dem
„Ich“ konstituiert werden, zwischen der Netzwerkgesellschaft und der Macht der Identität.
Doch das fundamentale Problem, das durch Prozesse gesellschaftlicher Veränderung, die
primär den Institutionen und Werten der bestehenden Gesellschaft äußerlich sind,
aufgeworfen wird, besteht darin, dass sie die Gesellschaft fragmentieren könnten, anstatt sie
neu zu konstituieren. Anstelle transformierter Institutionen hätten wir Kommunen aller Art.
Anstelle soziale Klassen würden wir die Entstehung von Stämmen beobachten. Und Anstelle
der konfliktiven Interaktion zwischen den Funktionen des Raumes der Ströme und dem Sinn
des Raumes der Orte würden wir den Rückzug der herrschenden globalen Eliten in die
immateriellen Paläste beobachten, die aus Kommunikationsneztwerken und
Informationsströmen gemacht sind. Inzwischen würde die Erfahrung der Menschen sich
weiterhin auf vielfältige, segregierte Orte beschränken, deren Existenz bedrückt und deren
Bewusstsein bruchstückhaft wäre. Wenn es keinen Winterpalast zu erstürmen gibt, könnten
Ausbrüche der Revolte in sich zusammenfallen und wären in alltägliche, sinnlose Gewalt
verwandelt.
Die Rekonstruktion der Institutionen der Gesellschaft durch kulturelle soziale Bewegungen,
die die Technologie unter die Kontrolle der Bedürfnisse und Wünsche der Menschen
bringt, scheint einen langen Marsch zu erfordern: von den um Widerstandsidentität gebauten
Kommunen zu den Höhen neuer Projektidentitäten, die aus den Werten erwachsen, die von
diesen Kommunen gehegt werden.
Beispiele für solche Prozesse, die in gegenwärtigen sozialen Bewegungen und
gesellschaftlichen Politik zu beobachten sind, sind der Aufbau neuer, egalitärer Familien;
die weitgehende Anerkennung des Konzeptes der nachhaltigen Entwicklung, durch das die
Solidarität zwischen den Generationen in das neue Modell des Wirtschaftswachstums
eingebaut wird; und die universelle Mobilisierung zur Verteidigung der Menschenrechte,
wann immer diese Kampf aufgenommen worden ist. Damit dieser Übergang von der
Widerstandsidentität zur Projektidentität unternommen wird, wird es nötig sein, das eine
neue Form des Politikmachens entsteht. Das wird eine kulturelle Politik sein, die von der
Voraussetzung ausgeht, dass sich die informationelle Politik überwiegend im Medienraum
vollzieht und den Kampf mit Symbolen führt, jedoch den Anschluss an Werte und Probleme
sucht, die aus der Lebenserfahrung der Menschen in Informationszeitalter entspringen.
Jenseits dieses Jahrtausends
(…) Die informationstechnologische Revolution wird ihr Transformationspotenzial noch
deutlicher zum Ausdruck bringen. Das 21. Jahrhundert wird von der Vollendung einer
globalen Super-Datenautobahn und durch mobile Telekommunikations- und
Computerkapazitäten gekennzeichnet sein, wodurch die Macht der Information
dezentralisiert und weiter ausgebreitet wird, als Einlösung des Versprechens von Multimedia
und Steigerung des Vergnügens an interaktiver Kommunikation. Elektronische
Kommunikationsnetzwerke werden zum Rückgrat unseres Lebens werden. Außerdem wird es
das Jahrhundert der vollen Blüte der gentechnischen Revolution. Unsere Gattung wird
erstmals zu den Geheimnissen des Lebens vordringen und in der Lage sein, einschneidende
Manipulationen an lebender Materie vorzunehmen. Dies wird sicher eine dramatische Debatte
über die Folgen dieser Fähigkeit für Gesellschaft und Umwelt auslösen, aber die uns damit
offen stehenden Möglichkeiten sind wahrhaft außerordentlich. Bei kluger Verwendung kann
73
die gentechnische Revolution heilen, Umweltverschmutzung bekämpfen, das Leben
verbessern und Zeit und Anstrengung zum Überleben sparen, um uns die Chance zu geben,
die weitgehend unbekannten Grenzregionen der Spiritualität zu erforschen. Wenn wir jedoch
dieselben Fehler wie im 20. Jahrhundert begehen und Technologie und Industrialisierung
einsetzen, um uns gegenseitig in grauenhaften Kriegen niederzumetzeln, könnten wir mit
unserer neuen technologischen Macht sehr wohl dem Leben auf dem Planeten ein Ende
setzen. Es hat sich als relativ einfach erwiesen, vor dem nuklearen Holocaust Halt zu machen,
weil die Kontrolle über Atomkraft und Nuklearwaffen zentralisiert war. Aber die neuen
Gentechnologien sind überall, ihre Auswirkungen auf Mutationen sind nicht vollständig
kontrollierbar und ihre institutionelle Kontrolle ist viel stärker dezentralisiert. (…)
Die globale Wirtschaft wird im 21. Jahrhundert expandieren und sich dabei die Macht der
Telekommunikation und der Informationsverarbeitung zunutzen machen. Sie wird, während
sie unablässig den gesamten Planeten nach neuen Möglichkeiten des Profitmachens absucht,
alle Länder, alle Territorien, alle Kulturen, alle Kommunikationsflüsse und alle
Finanznetzwerke durchdringen. Aber sie wird das selektiv tun und wertvolle Segmente
zusammenschließen, während verbrauchte oder irrelevante Orte und Menschen
ausrangiert werden. Die territoriale Uneinheitlichkeit der Produktion wird zu einer
außerordentlichen Geografie unterschiedlicher Wertschöpfung führen, die scharfe Kontraste
zwischen Ländern, Regionen und Ballungsgebieten mit sich bringt. Wertvolle Orte und
Menschen werden, wie in diesem Band dargelegt, überall gefunden werden, selbst im
subsaharanischen Afrika. Aber auch abgeschaltete Territorien und Menschen wird es überall
geben, wenn auch in unterschiedlichen Proportionen. Die Erde wird gerade in deutlich
unterschiedliche Räume segmentiert, die durch unterschiedliche Zeitregime definiert sind.
Von den ausgeschlossenen Segmenten der Menschheit sind zwei unterschiedliche
Reaktionsweisen zu erwarten. Einerseits wird es einen steilen Anstieg in dem Bereich geben,
den ich als „perverse Koppelung“ bezeichne, was gleichbedeutend damit ist, das Spiel des
globalen Kapitalismus mit anderen Regeln zu spielen. Die globale kriminelle Wirtschaft,
deren Profil und Dynamik ich in Kapitel 3 dieses Bandes darzustellen versucht habe, wird ein
grundlegendes Merkmal des 21. Jahrhunderts sein, und ihr wirtschaftlicher, politischer und
kultureller Einfluss wird alle Lebensbereiche durchdringen. (…)
Es gibt noch eine andere Reaktion auf soziale Exklusion und wirtschaftliche Irrelevanz, und
ich bin davon überzeugt, dass sie im 21. Jahrhundert eine wesentliche Rolle spielen wird: die
Exklusion der Ausschließenden durch die Ausgeschlossenen. Weil die gesamte Welt nach
der Logik der Netzwerkgesellschaft in ihren grundlegenden Lebensstrukturen miteinander
verflochten ist und sich dies sogar noch steigern wird, wird die Option für den Ausstieg für
Menschen und Länder nicht im friedlichen Rückzug bestehen können. Sie nimmt die Form
der fundamentalistischen Behauptung eines alternativen Systems von Werten und
existenziellen Prinzipien an, und das wird auch so weiter gehen. (…)
Das 21. Jahrhundert wird nicht finsteres Mittelalter sein. Und es wird den meisten Menschen
auch nicht all das Gute bringen, das die außerordentlichste technologische Revolution der
Geschichte verheißen hat. Es könnte vielmehr durchaus von informierter Verwirrung
geprägt sein.
Was tun?
Jedes Mal, wenn ein Intellektueller versucht hat, diese Frage zu beantworten und die Antwort
ernsthaft in die Tat umzusetzen, ist es zur Katastrophe gekommen. Das galt vor allem für
74
einen gewissen Uljanov im Jahr 1902. Obowohl ich mich sicherlich nicht anheischig mache,
diesen Vergleich auszuhalten, werde ich mich deshalb enthalten, irgendwelche Heilmittel für
unsere Welt vorzuschlagen. (…)
Ich habe jedoch so viele fehlgeleitete Opfer gesehen, so viele von Ideologien hervorgerufene
Sachgassen und solchen Schrecken, hervorgerufen von den künstlichen Paradiesen
dogmatischer Politik, dass ich einen heilsamen Widerwillen gegen den Versuch vermitteln
möchte, politische Theorie an einer Gesellschaftstheorie auszurichten oder natürlich
auch an einer Ideologie. Theorie und Forschung sollten allgemein genauso wie in diesem
Buch als Mittel zum Verständnis unserer Welt betrachtet und ausschließlich aufgrund ihrer
Genauigkeit, Strenge und Relevanz beurteilt werden. Wie und zu welchem Zweck diese
Instrumente benutzt werden, sollte allein Sache der gesellschaftlichen Akteure selbst, in ihrem
spezifischen sozialen Zusammenhang und im Namen ihrer Werte und Interessen sein.
Keine Meta-Politik mehr, keine „Meisterdenken“ und keine Intellektuellen, die vorgeben,
solche zu sein. Die grundlegendste politische Befreiung besteht darin, dass sich die Menschen
vom unkritischen Festhalten an theoretischen oder idologischen Schemata befreien und
ihre Praxis auf die Grundlage ihrer eigenen Erfahrung stellen, wobei sie jegliche Information
oder Analyse nutzen, die ihnen aus vielfältigen Quellen zur Verfügung steht.
Im 20. Jahrhundert haben Philosophen versucht, die Welt zu verändern. Im 21.
Jahrhundert ist es Zeit, sie unterschiedlich zu interpretieren. Deshalb meine Vorsicht, die
keine Gleichgültigkeit gegenüber einer Welt ist, die von ihren eigenen Versprechen
beunruhigt ist.
Finale
Das Versprechen des Informationszeitalters besteht in der Entfesselung einer nie da
gewesenen produktiven Fähigkeit durch die Macht des Geistes. Ich denke, also produziere
ich. Dabei werden wir die Muße haben, mit Spiritualität zu experimentieren und die
Gelegenheit, uns mit der Natur auszusöhnen, ohne das materielle Wohlergehen unserer
Kinder zu opfern. Der Traum der Aufklärung, dass Vernunft und Wissenschaft die Probleme
der Menschheit lösen, ist greifbar nahe. Es besteht jedoch eine außerordentliche Kluft
zwischen unserer technologischen Überentwicklung und unserer sozialen
Unterentwicklung. (…)
Dieser Zustand muss nicht sein. Es gibt kein ewig Böses in der menschlichen natur. Es gibt
nichts, was nicht durch bewusstes, zielgerichtetes Handeln verändert werden könnte,
dem Information zur Verfügung steht und das sich auf Legitimität stützen kann. Wenn
die Menschen informiert und aktiv sind und über die ganze Welt hinweg miteinander
kommunizieren; wenn die Wirtschaft soziale Verantwortung übernimmt; wenn die Medien
zu Boten werden, anstatt Botschaften zu sein; wenn sich politisch Handelnden gegen den
Zynismus wenden und den Glauben an die Demokratie wieder herstellen; wenn die Kultur aus
der Erfahrung wieder hergestellt wird; wenn die Menschheit die Solidarität der Gattung auf
dem gesamten Globus spürt; wenn wir mit der Solidarität zwischen den Generationen Ernst
machen, indem wir mit der Natur in Harmonie leben; wenn wir zur Erforschung unseres
inneren Ich aufbrechen, nachdem wir miteinander Frieden geschlosssen haben. Wenn all dies
durch unsere informierte, bewusste, gemeinsame Entscheidung möglich wird, während es
noch Zeit ist, werden wir vielleicht endlich in der Lage sein, zu leben und leben zu lassen, zu
lieben und lieben zu lassen.
75
VIII. ICIE Symposium
http://icie.zkm.de/congress2004
INTERNATIONAL ICIE SYMPOSIUM 2004
Localizing the Internet:
Ethical Issues in Intercultural Perspective
Venue
Center for Art and Media Karslruhe (ZKM), Medientheater
Lorenzstr. 19, D-76135 Karlsruhe, Germany
4-6 October, 2004
ORGANIZERS
On Behalf of ICIE: Rafael Capurro, Thomas Hausmanninger, Rupert Scheule
Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM), Karlsruhe
Karlsruher Forum für Ethik in Recht und Technik e.V.
CALL FOR PAPERS
The ongoing debate on the impact of the Internet at a global and local levels is at the
core of today's and tomorrow's political decision-making, particularly in a world that
turns more and more unified – and divided. It is also at the core of academic research on
what has been called Information Ethics. The leading ethical question is how embodied
human life is possible within local cultural traditions and the horizon of a global digital
environment. The first international symposium of the International Center for
Information Ethics (ICIE) will deal with this question from three perspectives:
- Internet for Social and Political Development: Community Building
- Internet for Cultural Development: Restructuring the Media
- Internet for Economic Development: Empowering the People
The ethical perspective on intercultural aspects of the global digital network is a
normative as well as a formative one. The symposium addresses the question of how
people with different cultural backgrounds integrate the Internet in their lives. This
concerns in the first place community building. How far does the Internet affect, for
better or worse, local community building? How far does it allow democratic consultation?
How do people construct their lives within this medium? How does it affect their customs,
languages, and everyday problems? The question about information justice is thus not
just an issue of giving everybody access to the global network (a utopian goal?), but
rather an issue on how the digital network helps people to better manage their lives
while avoiding the dangers of exploitation and discrimination.
It deals, secondly, with the changes produced by the Internet on traditional media, such
as oral and written customs, newspapers, radio and TV, the merger of mass media, the
telephone and the internet, and the impact of the Internet on literary culture. The
symposium also reflects on the next generation of information and communication
76
technologies such as ubiquitous computing and on what might be called the post-internet
era. This aspect of the ethical question focuses on new methods of manipulation and
control made possible or aggravated by the Internet.
Finally, it deals with the economic impact of the Net. Is it a medium that helps people to
better opportunities for economic development? Or is it an instrument of oppression and
colonialism? What is the impact of this technology on the environment? How does it
affect what has been called cultural memory or cultural sustainability?
The symposiuim offers a platform for an academic exchange on these issues, to be
addressed by keynote speakers and discussed in working groups focused on Asia, Africa,
Latin America/Caribbean, and USA/Europe. Group discussions will aim at addressing
problems as well as best-practice experiences. Although the organisers will do their best
for providing necessary conditions for relaxed yet engaged dialogue, the success of the
symposium will reflect the contributions and enthusiasm of the participants to make it
work.
The symposium is a contribution to the international debate on the information society at
the World Summit on the Information Society (WSIS) being held in Geneva (2003) and
Tunis (2005).
A selection of the papers will be published in the ICIE Series at Fink Verlag (Munich) in a
volume edited by Rafael Capurro, Thomas Hausmanninger and Rupert Scheule. All
accepted extended abstracts (500-700 words) will be published at the website of the
symposium. They should be sent per e-mail to Rafael Capurro: [email protected]
Deadline for submission: April 30, 2004.
In case an extended abstract has been submitted and accepted it can be discussed on
the basis of a short presentation (no more than 15 minutes) in the working groups.
Active participation in the working groups is only permitted in case the participant has
sent previously (deadline June 30, 2004) an e-mail to the organizing committee:
[email protected]
Fees: € 30,- (Students: € 15,-) or € 10,- per day (Students: € 5,-) to be paid at the
bureau of the symposium.
PRELIMINARY PROGRAMME
Monday, October 4
10:00 Welcome Address
I. Internet for Social Development: Community Building
11:00 - 12:00 Daniel Pimienta (President, Fundación Funredes, Dominican Republic): At
the boundaries of ethics and cultures: virtual community as an open ended process
carrying the will for social change
12:00 - 13.15 Lunch
13.30 - 15:00 Vikas Nat (Policy Analyst, UN Development Programme): Weaving
Politically-relevant and Inclusive Community networks: How Internet is Changing
Information Flows In Developing Countries. With case-studies from Asian Communities
Makoto Nakada (University of Tsukuba, Japan): Closed community consciousness: The
relationship between „shared world“ orientation and people's attitudes concerning
information media in Japan
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Susana Finquelievich (Universidad de Buenos Aires, Argentina):A Toolkit to Empower
Communities in Latin America
15:15 - 16:45 Working groups
17:00 - 18:45 Forum: Reports from the working groups, discussion
19:00 Reception
Tuesday, October 5
II. Internet for Cultural Development: Restructuring the Media
9:30 - 10:30 Issiake Mandé (Paris/Burkina Faso): „New Technologies“ and „Ancient
Africa“: the Impact of New Information and Communication Technologies in SubSaharian Africa.
10:30 - 12:00 Working groups
12:00 - 13:15 Lunch
13:30 - 14:30 Charles Ess (Drury University, USA): Can the Local Reshape the Global?
Ethical Imperatives for Humane Intercultural Communication Online - Views from the
Centers and the Margins
Wolfgang Coy (Humboldt-Universität zu Berlin): On Sharing Intellectual Properties in
Global Communities
14:30 - 16:00 Working groups
16:00 - 16:30 Coffee break
16:30 - 18:30 Forum: Reports from the working groups, discussion
19:00 Dinner
Wednesday, October 6
III. Internet for Economic Development: Empowering the People
9:30 - 10:30 Michel Menou (Paris/City University, London, UK): Buzzwords and indicators
about the networked society: metaphor, vacuity or fraud?
10:30 - 12:00 Working groups
12:00 - 13:00 Forum: Reports from the working groups, discussion
13:00 Final Address
78
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