Sozial- und Paarungssysteme bei Blaumeisen

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Seite aus: Natura aktuell 6, ISBN: 3-12-043493-0
Autor: Hans-Peter Krull
Grafiken: Jörg Mair, Herrsching
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Sozial- und Paarungssysteme bei Blaumeisen
 Klassenstufe: 12/13
 Schwerpunkt: Soziobiologie
 Voraussetzungen: Evolutionsbiologie
Sachinformation
Sozialsysteme
Seit Mitte der 80er- bis in die späten 90er-Jahre
betrieb man u. a. in belgischen Waldgebieten
Forschungen an Blaumeisen (Parus caeruleus).
Inzwischen ist die Datenmenge so groß, dass es
sich lohnt, die Ergebnisse vorzustellen. Dies
insbesondere, da der Bedarf an Materialien zur
Soziobiologie gewachsen ist und das Beispiel
eine bekannte einheimische Tierart betrifft. Bei
den untersuchten Blaumeisenpopulationen
herrschte Weibchenüberschuss, weil einerseits
aus der Umgebung vermehrt Weibchen einwanderten und außerdem die Verluste unter den
Männchen größer waren als die Weibchensterblichkeit. Unter diesen Bedingungen muss ein Teil
der Weibchen auf Fortpflanzung verzichten oder
sich mit einem Männchen paaren, das schon eine
Partnerin hat.
Die Forscher beobachteten, dass rund 20 % der
Männchen und etwa 35 % der Weibchen an polygynen Paaren beteiligt waren. Sie unterschieden:
1. ganzjährige Polygynie: Ein Männchen tut
sich im frühen Winter mit zwei Weibchen zusammen und bleibt über ein Jahr mit ihnen
verpaart. Diese Männchen waren besonders
begehrt und erfolgreich. Alle ihre Weibchen
produzierten Jungtiere, die bis in die nächste
Brutsaison überlebten.
2. Sukzessive Polygynie: Ein monogames
Männchen erhält während der Brutsaison
durch Zuwanderung ein Sekundärweibchen.
Man unterscheidet zwei Formen:
– frühe sukzessive Polygynie: Das Sekundärweibchen erscheint, bevor das
Primärweibchen Eier gelegt hat.
– späte sukzessive Polygynie: Das Sekundärweibchen erscheint, nachdem das
Primärweibchen begonnen hat zu brüten.
Während normalerweise Weibchen unaufgefordert zuwandern, bemühen sich manche Männchen aktiv um weitere Partnerinnen. Sie beginnen
in der Nähe eines anderen Nistkastens zu singen.
Dies aber nur, wenn ihr eigenes Weibchen im
Vergleich zu den anderen früh mit dem Brüten
begonnen hat. Sie verhalten sich so, als ob sie
ihre Partnerin verloren hätten.
3. Ersatzpolygynie: Ein Männchen verschwindet und ein Nachbarmännchen übernimmt
sein Revier inklusive Weibchen mit.
Bruterfolg der Weibchen
Die Gelegegröße nimmt ab, je später im Jahr die
Weibchen mit dem Legen anfangen. Primärweibchen produzieren im Schnitt größere Gelege als
monogame Weibchen, da sie früher verpaart sind
und entsprechend früher legen. Sekundärweibchen legen am wenigsten Eier. Dies kann daran
liegen, dass sie später mit dem Brüten beginnen.
Primärweibchen ziehen im Schnitt genauso viele
Junge auf wie monogame, zahlen aber ihren
Preis, da sie weniger männliche Hilfe bekommen
und dies durch mehr eigene Brutpflegearbeit
ausgleichen müssen. Monogame Weibchen und
Primärweibchen erreichen aber mehr flügge
Jungtiere als Sekundärweibchen. Vollständige
Brutverluste nach dem Schlüpfen treten am häufigsten bei Sekundärweibchen auf.
Bruterfolg der Männchen
Polygyne Männchen erreichten im Jahr im Schnitt
13,1 (N = 12) Junge, während monogame Männchen durchschnittlich 7,5 Junge (N = 74) aufzogen.
Außer-Paar-Kopulationen (APK)
Um ihren Fortpflanzungserfolg zu maximieren
müssten Vogelweibchen ein Männchen als Partner auswählen, das ein Revier mit guten Ressourcen und „gute Gene“ besitzt, sowie intensiv in
den Nachwuchs zu investieren bereit ist. Da
einerseits nicht alle Männchen alle diese drei
Merkmale gut ausgebildet haben und andererseits die Weibchen um die besten Männchen
konkurrieren, ist ihre Wahlfreiheit eingeschränkt.
Dadurch bekommen einige Weibchen relativ
„schlechte“ Männchen ab. Außer-Paar-Kopulationen können für diese Weibchen einen Ausweg
aus ihrem Problem darstellen. Weibchen könnten
Männchen mit einem guten Revier und einer
intensiven Brutpflege als Brutpartner wählen und
als Paarungspartner ein Männchen mit „guten
Genen“. Weibchen von „begehrten Männchen“
mit allen drei Eigenschaften müssten demzufolge
treu sein.
Über genetische Fingerabdrücke aller beteiligter
Brutpartner und Jungtiere der Population ließen
sich APKs der Weibchen nachweisen. Das APKVerhalten der Weibchen hatte folgende Merkmale:
– Nester enthielten entweder keine oder mehrere AP-Jungtiere (APJ).
– Meist waren die APJ von einem einzigen
Nachbarmännchen gezeugt.
– AP-Vaterschaften waren nie reziprok, d. h.
einige Männchen waren immer Verlierer, einige immer Gewinner.
– Gewinner wurden meist von mehreren Nachbarweibchen aufgesucht.
– Weibchen von Gewinnern waren treu.
– Weibchen suchten aktiv nach APKs und
drangen dazu in Nachbarreviere ein, ohne
dort jedoch nach Futter zu suchen.
– Wurde das eigene Gewinner-Männchen weggefangen, verweigerten die Weibchen Kopulationen mit nachrückenden fremden Männchen.
All diese Verhaltensweisen belegen eindeutig,
dass die Weibchen bestimmte Männchen als
Paarungspartner auswählen.
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Merkmale der AP-Jungtiere
Das Geschlechterverhältnis in Gelegen mit bzw.
ohne APJ war gleich (ungefähr 1:1). Befanden
sich jedoch APJ im Nest, waren erstaunlicherweise signifikant mehr Söhne vom AP-Männchen
gezeugt und vom eigenen Partner mehr Töchter.
Dies passt zu der Beobachtung, dass Weibchen
von „hochwertigen“ Männchen mehr Söhne produzierten als statistisch zu erwarten war. Verhungerte ein Teil der Jungtiere, überlebten die APJ
mit größerer Wahrscheinlichkeit. APJ waren
signifikant schwerer, was möglicherweise darauf
zurückzuführen war, dass es sich häufiger um
Männchen handelte.
Merkmale der AP-Männchen
Männchen aller Altersstufen konnten Vaterschaften verlieren. In 37 Paarvergleichen war der APKonkurrent in fünf Fällen jünger, 14-mal gleich alt
und 18-mal älter als der „Betrogene“. Männchen,
die fremden Nachwuchs im Nest hatten, besaßen
insgesamt eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit. AP-Männchen sangen im morgendlichen
Chorgesang längere Strophen als „betrogene“
Männchen. Lange Gesangsstrophen und gute
Überlebensfähigkeit sind bei Blaumeisenmännchen korreliert. Seitensprünge finden meistens
morgens nach dem Chorgesang statt. Dies legt
nahe, dass Weibchen am wahrscheinlichsten
nach der Strophenlänge auswählen.
Scheidungen bei Blaumeisen
Partner, die in einem Jahr zusammen brüten,
können dies auch im nächsten tun, d. h. treu
bleiben. Sie können sich aber auch trennen und
einen neuen Partner wählen (Scheidung). Die
Untersuchungen an fünf Populationen in Belgien
deckten Scheidungsraten zwischen 8 % und 85 %
auf. Vögel, die sich trennten, hatten im Jahr vor
der Trennung signifikant später mit dem Brüten
begonnen und weniger Junge großgezogen als
vergleichbare Paare, die zusammenblieben. Die
zuletzt genannten Meisen brüteten erfolgreicher
als der Populationsdurchschnitt.
Verglichen mit Paaren, die zusammenblieben, erhöht sich der Fortpflanzungserfolg der Weibchen
nach einer Scheidung, aber nicht derjenige der
geschiedenen Männchen. Die Scheidungsrate
nimmt mit zunehmendem Alter des Weibchens,
aber nicht mit dem des Männchens ab. Dies legt
nahe, dass Weibchen die Männchen verlassen
und nicht umgekehrt.
Die Forscher nehmen an, dass die unterschiedlichen Scheidungsraten in verschiedenen Populationen von den unterschiedlichen „Kosten“ abhängen, einen neuen Partner zu finden. Diese
sind wahrscheinlich wiederum auf die soziale
Organisation außerhalb der Brutsaison im Winter
zurückzuführen. In einigen Populationen überwintern die Partner in ihrem Territorium. Dadurch
sind die „Kosten“ für die Suche nach einem neuen
Partner hoch und die Scheidungsrate ist niedrig.
Ziehen die Vögel über Winter in kleinen, gemischtgeschlechtlichen Gruppen umher, sind die
Suchkosten gering und die Scheidungsraten
entsprechend hoch.
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Arbeitsblatt Seite 43
1. Da alle Weibchen von ganzjährig polygynen
Männchen besonders erfolgreich Junge großziehen, die bis zur nächsten Brutsaison überleben, ist Aggression zwischen den Weibchen
nicht nötig. Bei einer frühen sukzessiven Polygynie überlappen sich die fruchtbaren Perioden der Weibchen. Da das Männchen einen
Teil der Bruthilfe auf das Sekundärweibchen
überträgt, verliert das Primärweibchen väterliches Investment. Versuche, die Ansiedlung
des Sekundärweibchens zu verhindern, sind
daher stark. Dies gilt für späte sukzessive Polygynie nicht. Kommt es bei der Ersatzpolygynie zu starken Überlappungen der fruchtbaren
Perioden beider Weibchen, sind die Aggressionen entsprechend stark.
2. Primärweibchen beginnen im Schnitt etwas
früher mit dem Brüten als Monogame, Sekundärweibchen etwas später. Sekundärweibchen produzieren dadurch durchschnittlich
etwas kleinere Gelege und bekommen aufgrund der geringeren männlichen Hilfe weniger Junge groß. Primärweibchen können den
Verlust an väterlichem Investment durch Steigerung der eigenen Anstrengungen fast kompensieren. Es fällt auch besonders auf, dass
die Primärweibchen größere Gelege haben
als die Monogamen.
3. Verschwindet ein Weibchen, so wird es mit
großer Wahrscheinlichkeit noch bis zum Zeitpunkt der Eiablage durch ein neues unverpaartes ersetzt. Das liegt daran, dass es zu
diesem relativ frühen Zeitpunkt noch unverpaarte Weibchen (Überschuss) gibt. Freie
Männchen gibt es nur sehr früh, sodass
Weibchen schon bei einem Partnerverlust
während der Nestbauzeit auf verpaarte Nachbarmännchen zurückgreifen müssen.
Arbeitsblatt Seite 44
1. Nach der ersten Hypothese ist zu erwarten,
dass Weibchen ohne auszuwählen sich mit
möglichst vielen verschiedenen Männchen
paaren. Nach Hypothese 2 müssten viele
Weibchen einzelne, besonders attraktive
Männchen als Paarungspartner bevorzugen.
2. Ein attraktives Männchen, das häufig von
fremden Weibchen besucht wird, wird vom eigenen Weibchen selten verlassen. Männchen, die in einem Jahr betrogen werden, erleiden das gleiche Schicksal mit großer
Wahrscheinlichkeit im nächsten Jahr wieder.
Für nicht betrogene bleibt die Wahrscheinlichkeit, im nächsten Jahr wiederum nicht betrogen zu werden, dagegen etwas größer. Erfolgreiche Männchen können meist auch im
nächsten Jahr APJ zeugen.
3. Männchen, die APJ in ihren Nestern hatten,
besaßen eine geringere Überlebensrate, das
gilt nicht für Weibchen. Je größer die mittleren
Strophenlängen des Gesanges der Männchen
waren, desto geringer war der Anteil an APJ
im eigenen Nest. Da sich diese Gesangslänge
im Verlaufe des Lebens nicht ändert und sie
mit der Überlebensfähigkeit des Männ-
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chens korreliert ist, eignet sie sich als Beurteilungskriterium für die Weibchen.
4. Ein attraktives Männchen zeugt attraktive
Söhne, wodurch wiederum die Anzahl der Enkel maximiert werden kann (diese Überlegung
ist auch als Sexy-Son-Hypothese bekannt).
5. Da Weibchen eindeutig eine gezielte Auswahl
unter den Männchen treffen, kann nur Hypothese 2 gestützt werden.
Arbeitsblatt Seite 45
1. Bei Nicht-adaptiven-Scheidungen ist zu erwarten, dass sich der Bruterfolg des überlebenden Partners nicht verbessert. Bei der Inkompatibilitätshypothese sollten beide Partner
im nächsten Jahr ihren Fortpflanzungserfolg
verbessern. Auch nach der Bessere-Möglichkeit-Hypothese müsste ein Tier mit einem
neuen Partner seinen Erfolg erhöhen.
2. Je später im Jahr ein Paar zu brüten beginnt,
desto größer wird die Scheidungsrate. Aus
Abb. 1 vom Arbeitsblatt „Sozialsysteme“ ist
bekannt, dass die Gelegegröße abnimmt, je
später der Brutbeginn ist. Dadurch wird der
Fortpflanzungserfolg geringer und die Scheidungsrate steigt.
3. Meisen, die im Winter in ihrem Revier verbleiben, lernen keine neuen Partner kennen. Verlassen des Reviers und Aufsuchen von Nachbarrevieren sind aber mit hohen „Kosten“
(Gefahren) verbunden. Meisen, die im Winter
in kleinen Gruppen umherwandern, lernen
leichter potenzielle Alternativen zum derzeitigen Partner kennen.
4. Während sich die angegebenen Brutparameter für Blaumeisenweibchen wesentlich verbessern, tun sie dies für die Männchen nur
unwesentlich oder verschlechtern sich sogar.
Dies passt zur Bessere-MöglichkeitHypothese. Danach ist zu erwarten, dass die
Weibchen ihre Männchen verlassen.
„Gen-shopping“
In 87 % von 46 Nestern mit APJ waren alle APJ
von einem einzigen Männchen gezeugt. In den
anderen Nestern (13 %) hatten die AP-Jungtiere
zwei verschiedene Väter. AP-Väter waren meist
die Nachbarn aus dem angrenzenden Territorium.
Die Weibchen suchten zum Teil aber auch Partner aus weiter entfernten Territorien auf.
Anzahl
der Fälle
30
25
20
15
10
5
0
1
2
3
4
5
Abstand der APK-Partner in Territorienzahl
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„Heiratsmarkt“
Die Abbildung gibt die Häufigkeit von Männchen
und Weibchen an, die mit Brutaktivitäten beschäftigt sind sowie die Häufigkeit von FloaterWeibchen und Floater-Männchen, die noch kein
Territorium und keinen Partner besitzen.
Anzahl
der Vögel
60
brütende Vögel
50
40
30
Floater
20
10
0
2 Feb. 1 März 2 März 1 April 2 April 1 Mai
Zeitraum (1. und 2. Monatshälften)
Die Zeiteinteilung der x-Achse beschreibt jeweils
die erste bzw. zweite Monatshälfte. Deutlich
erkennbar ist, dass es im Untersuchungsgebiet
schon ab Mitte März keine freien Männchen mehr
gibt. Ab Anfang April sind auch alle FloaterWeibchen verpaart, diese „späten“ Weibchen
werden zu Sekundärweibchen. Der schmale Pfeil
markiert die Anzahl der ganzjährig polygynen
Paare (hier etwa 40). Der offene Pfeil markiert
den ersten Fall von früher sukzessiver Polygynie,
der gefüllte den ersten späten Fall.
Literaturhinweise
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polygynous and monogamous Blue Tit Parus
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monogamous and polygynous blue tits: do
males follow a best-of-a-bad-job strategy?
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Sozialsysteme bei Blaumeisen
In der Nähe von Antwerpen untersuchte man in einem Waldstück mit aufgehängten Nistkästen das Brutverhalten
von Blaumeisen. Man stellte fest, dass in jedem Jahr rund 20 % der Männchen und etwa 35 % der Weibchen an
polygynen Partnerschaften beteiligt waren. Polygyne Männchen erreichten im Durchschnitt 13,1 flügge Jungtiere,
monogame dagegen nur 7,5. Die Forscher unterschieden mehrere Polygynie-Formen:
1. ganzjährige Polygynie: Ein Männchen tut sich im frühen Winter mit zwei Weibchen zusammen und bleibt über
ein Jahr bei ihnen. Diese Weibchen ziehen besonders erfolgreich Junge groß.
2. sukzessive Polygynie: Ein Männchen erhält durch Zuwanderung während der Brutsaison ein Sekundärweibchen. Wandert dieses zu, bevor das Primärweibchen Eier gelegt hat, spricht man von früher sukzessiver Polygynie, hat das Primärweibchen schon mit dem Brüten begonnen, ist es die späte Form.
3. Ersatzpolygynie: Ein Männchen erweitert sein Territorium und übernimmt ein verwitwetes Weibchen.
ganzjährige
Polygynie
frühe sukzessive
Polygynie
späte sukzessive
Polygynie
Ersatzpolygynie
Aggression der ♀
keine
stark
schwach
meist stark
getrennte Territorien
nein
normalerweise
nein
ja
Überlappung der
fruchtbaren Perioden
ja
ja
nein
ja
ja/nein
(beides möglich)
ja
nein
ja/nein
(beides möglich)
Männchen hilft dem
Sekundärweibchen
Tab. 1
Verhalten der Partner in den jeweiligen Polygynieformen
Monogam
Primärweibchen
Sekundärweibchen
durchschnittliche Eizahl im Gelege
10,6
11,4
10,1
durchschnittliche Anzahl flügger Jungtiere
7,5
7,3
5,4
Tab. 2
Bruterfolg verschiedener Weibchen
Gelegegröße
monogame Weibchen
Primärweibchen
Sekundärweibchen
16
14
12
8
10
6
8
4
2
3 März
1 April
2 April
3 April
1 Mai
0
Legebeginn (1/2/3= Monatsdrittel)
Abb. 1
nicht ersetzt
ersetzt durch:
unverpaartes /
verpaartes /
10
12
6
Anzahl
verschwundener
Tiere
14
Abhängigkeit der Gelegegröße vom Legebeginn
Abb. 2
nach der
Paarbildung
während des
nach der
während des
Nestbaus
Paarbildung
Nestbaus
Anzahlen ersetzter bzw. nicht ersetzter Partner
Aufgaben
1. Fassen Sie die Sachverhalte aus Text und Tabelle 1 zusammen und deuten Sie das Aggressionsverhalten der
Weibchen aus soziobiologischer Sicht.
2. Stellen Sie einen Zusammenhang zwischen den beiden Tabellen und Abb. 1 her.
3. Welche Unterschiede im Partnerersatz gibt es bei Männchen- bzw. Weibchenverlust (Abb. 2)? Geben Sie jeweils eine entsprechende Deutung.
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Außer-Paar-Kopulationen
Bei Blaumeisen wurden in vielen Nestern Junge nachgewiesen, die eindeutig nicht vom Partner des brütenden
Weibchens gezeugt worden waren. Man beobachtete, dass die Weibchen die fremden Männchen aktiv aufsuchen,
im fremden Revier aber weder Futter suchen noch Balzgeschenke o. Ä. erhalten. Sie können aus diesem Verhalten nur genetische Vorteile ziehen. Die Wissenschaftler haben 2 Hypothesen dazu aufgestellt:
– Hypothese 1: Erhöhung der genetischen Vielfalt unter den eigenen Nachkommen, um angesichts der Unwägbarkeiten der natürlichen Bedingungen das Überleben wenigstens einiger Nachkommen zu sichern.
– Hypothese 2: Verbesserung der genetischen Qualität (Gute-Gene-Hypothese). Die Jungen sollten vom erfolgreichsten Männchen stammen.
Ergebnis der Untersuchungen der Außer-Paar-Kopulationen:
1. Nester enthielten entweder keine oder viele Außer-Paar-Junge (APJ).
2. APJ verschiedener Weibchen waren meist von einem Männchen aus der Nachbarschaft gezeugt.
3. Erfolgreiche „Betrüger“ verloren nie Nachwuchs an den „Betrogenen“.
eigenes
Weibchen
im Nachbarrevier
(pro
Stunde)
0,6
0,5
0,4
0,3
0,2
0,1
0,0
0,0
0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
3,0
3,5
4,0
fremde Weibchen im eigenen Revier (pro Stunde)
Abb. 1
Besuche fremder Weibchen im eigenen Revier und Besuche des eigenen Weibchens im Nachbarrevier
Männchen verlor
Vaterschaft im Jahr x+1
nein
ja
Männchen verlor
nein
Vaterschaft im Jahr x ja
Tab. 1
6
1
10
5
Verteilung der Vaterschaftsverluste
Anteil Überlebender
mit APJ
0,8
beobachtete Fälle
ohne APJ
0,7
21 11 21 19 19 16
0,6
24 11 25 20 22 16
0,5
0,4
0,3
0,2
0,1
0,0
1
2
3
1
2
3
Beobachtungsjahre
Abb. 2
Überleben bis zur nächsten Brutsaison
Männchen zeugte
APJ im Jahr x+1
nein
Männchen zeugte
APJ im Jahr x
Tab. 2
nein
ja
15
1
ja
8
7
Fitnessgewinn durch APJ
Anteil an APJ im eigenen Nest
1,0
0,9
0,8
0,7
0,6
0,5
0,4
0,3
0,2
0,1
0,0
1,0
1,5
2,0
2,5
3,0
mittlere Strophenlänge im morgendlichen Chorgesang (sec)
Abb. 3
APJ im Nest und Länge des Gesangs
Aufgaben
1. Welche unterschiedlichen Verhaltensweisen der Weibchen sagen die Hypothesen 1 und 2 vorher?
2. Was sagen die Tabellen und Abbildung 1 über das Wahlverhalten der Weibchen aus?
3. Stellen Sie einen Zusammenhang zwischen den Abbildungen 2 und 3 her.
4. Die AP-Jungtiere sind mit größerer Wahrscheinlichkeit männlich. Geben Sie diesem Sachverhalt eine
soziobiologische Deutung.
5. Welche der oben genannten Hypothesen wird durch das beobachtete Verhalten gestützt?
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Ursachen und Auswirkungen von Scheidungen
Wenn zwei Partner eines Paares bis zum nächsten Jahr überleben, können sie entweder wieder gemeinsam brüten (treu bleiben) oder beide einen anderen Partner wählen („Scheidung“). Scheidungen kommen bei Vögeln relativ häufig vor. Wissenschaftler haben unterschiedliche Hypothesen dazu aufgestellt.
Adaptive „Scheidungen“:
1. Inkompatibilitäts-Hypothese: Beide Partner sind gut, passen aber nicht zusammen und sind daher nicht erfolgreich mit der Brut.
2. Bessere-Möglichkeit-Hypothese: Ein Paarmitglied kann seinen Bruterfolg verbessern, wenn er seinen Partner
verlässt und einen besseren Partner bzw. ein besseres Territorium auswählt.
Nicht adaptive „Scheidungen“:
1. Unfall-Hypothese: Ein Paarmitglied geht z. B. auf der Wanderung verloren.
2. Hypothese der „erzwungenen Scheidung“: Ein Partner wird von einem Dritten mit Gewalt aus dem Brutgebiet
verjagt.
Merkmale des Paares
Partner getrennt
Partner treu
Legebeginn im gemeinsamen Jahr
spät
früh
Gelegegröße
unterdurchschnittlich
überdurchschnittlich
Anzahl flügger Nestlinge
unterdurchschnittlich
überdurchschnittlich
Fortpflanzungserfolg
gering
gut
Tab. 1
Merkmale von sich trennenden und von treuen Paaren
Scheidungswahrscheinlichkeit
1,0
0,8
B2
0,6
A,B,C = Populationen in 3 verschiedenen Habitaten
(1 = junge Weibchen im 1. Jahr der Fortpflanzung;
2 = ältere Weibchen)
B1
0,5
0,4
A1
C1
0,3
0,2
A2
getrennte
Tiere im
Folgejahr
0,1
0,4
C2
0,2
0,0
– 0,1
0,0
–2,5 –2,0 –1,5 –1,0 –0,5 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5
standardisiertes Legedatum
Abb. 1
standartisierte
Werte
Scheidungsraten in belgischen Brutgebieten
Ausgangspaar
– 0,2
Vorverlegung
des Brutbeginns
Abb. 2
Gelegegröße
Anzahl flügger
Nestlinge
Änderungen im Brutbeginn und Bruterfolg
Aufgaben
1. Erörtern Sie, welche Voraussagen die genannten Hypothesen über den zukünftigen Fortpflanzungserfolg der
betroffenen Paarungspartner zulassen.
2. Fassen Sie die Sachverhalte aus der Tabelle zusammen und analysieren Sie die Aussagen von Abbildung 1.
Welche Zusammenhänge gibt es?
3. In einigen Gebieten bleiben die Tiere im Winter in ihren Territorien, in anderen ziehen sie in gemischtgeschlechtlichen Gruppen umher. Forscher sehen in den unterschiedlichen „Kosten“ für die Suche nach einem
neuen Partner den Grund für die abweichenden Scheidungsraten. Erläutern Sie mögliche Zusammenhänge
(Abb. 1).
4. Beschreiben Sie die in Abbildung 2 enthaltenen Aussagen und vergleichen Sie sie mit den oben aufgestellten
Prognosen. Welche der Hypothesen wird gestützt?
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