Ph.D Thesis Das Trauma der „Opfertäter“ und die Psychoästhetik der Trauer in Günter Grass´ Novelle Im Krebsgang Heike Kreutz-Arnold Dissertation zur Erlangung des Grades Doctor of Philosophy (Ph.D) Queen Mary University of London April 2010 Eidesstattliche Erklärung Ich versichere hiermit, dass ich die Arbeit selbständig angefertigt habe und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt sowie die wörtlich oder inhaltlich übernommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Düsseldorf, 27. April 2010 Heike Kreutz-Arnold 2 Alles, was der Mensch beim Spiel der Pest und des Lebens gewinnen konnte, waren Erkenntnis und Erinnerung. Albert Camus, Die Pest 3 Inhaltsverzeichnis Synopse 8 Zur Einführung: Perpetuierungen in der Nachkriegsgeschichte 9 1. Kapitel: „Erinnern“ 37 DIE INDIVIDUELLE ERINNERUNG 39 Abschnitt „Trauma“ 40 Vorbemerkung Die schwierige Trauer im Werk von Günter Grass Die Erinnerung des Traumas Die Sprachlosigkeit des Traumas als Leitmotiv der Novelle Im Krebsgang Post-traumatische Belastungsstörungen als pathologische Folge des Traumas Das Trauma in der Novellenform Tullas Ambivalenz als Opfertäterin Das Tätertrauma des Bootsmanns Kourotschkin 41 43 55 60 63 76 82 85 Abschnitt „Verdrängung“ 87 Das untergegangene Schiff als Metapher für eine verdrängte Geschichte Verdrängte Flucht und Vertreibung Leben im Exil – Tullas Orientierungslosigkeit Städtebombardements Die „Verbotstafel“ des „Alten“ Pauls berufliche Entwicklung als Metapher für die drei Phasen der deutschen Erinnerungskultur seit 1945 Tulla als Kaschubin 89 95 103 106 109 116 122 4 DIE KOLLEKTIVEN ERINNERUNGEN Vorbemerkung 128 Ambivalente historische Identität als Vorbedingung für den Aufbruch des Verdrängten 128 Von der individuellen Erinnerung zur „sinnlich und kognitiv erfahrbaren“ Geschichte im Krebsgang 133 Abschnitt „Nationalsozialismus“ 144 Kontextualisierte Perspektiven im Krebsgang auf die Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland 1933-1945 145 Das Fundament: Globale historische Kontextualisierung vor 1933 Vorbemerkung Das Trauma entfesselter Zivilisation im 20. Jahrhundert Der Faschismus im Kontext der Moderne Der Erste Weltkrieg und die Angst vor dem Bolschewismus Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert 147 Die Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland 1933-1945 Die „Verführung“: Historische Kontextualisierung von NS-Ideologie und „Volksgemeinschaft“ („Freiwillige Beteiligung“) Der „Nazi“ Gustloff im Kontext seiner Epoche Der messianische „Führerkult“ um Hitler Die Außenpolitik des „General Unblutig“ Die gefühlten „Guten Jahre“ Die Arbeiter im „Wirtschaftswunder“ Das unpolitische Milieu der „Kleinen Leute“ „Das Volk singt und tanzt“ 161 147 148 151 155 159 163 164 167 172 174 176 181 183 Die „Gewalt“: Historische Kontextualisierung von NS-Diktatur, Staatsterror und Krieg („Angstgesteuerte Beteiligung“) 185Paul als imaginierter Journalist in der NS Epoche 185 Die Anfänge: Wahlen für Hitler 187 Der Tod von Tullas Bruder Konrad und die arische Rassepolitik 190 Deutsche Soldaten und die Wehrmacht 195 Flucht und Vertreibung als „Krieg gegen die eigene Bevölkerung“ 198 Der fast abwesende Widerstand im Krebsgang 201 Der Hitler-Stalin-Pakt als Zeugnis zeitgenössischen Zynismus 208 Tulla in der DDR 209 5 Abschnitt „Antisemitismus“ 212 Vorbemerkung Die Verteilung von Antisemitismus im Schweizer Gefängnis Der Antisemitismus als europäisch verteiltes Phänomen Die Geschichte vom feindlichen zum gewaltbereiten Antisemitismus im Krebsgang 213 214 222 2. Kapitel: „Wiederholen“ 224 234 Die transgenerationelle Übertragung von Schuldgefühlen und Traumata 235 Vorbemerkung Das Diktum der Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust seit 1945 bis in die Gegenwart der Dritten Generation Die Grenzverschiebung in der Novelle Im Krebsgang Das Sichtbarmachen des Traumas Das Gewesene im Sein Die Tradierung der Geschichte Das Schweigen der Eltern Der Auftrag aus dem transgenerationell übertragenen Trauma 3. Kapitel: „Durcharbeiten“ Erkenntnisgewinn als ein Prozess von Verdrängung und Melancholie hin zu einer Kultur „offener“ Trauerprozesse Die Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit als Erkenntnisprozess Ansätze von offenen Trauerprozessen im Krebsgang Tullas Hausaltar als Symbol der Unüberwindbarkeit des Traumas Das zerstörte Mahnmal als Ursache für Tullas gescheiterte Trauer Der Übertrag des Traumas an Konny Diskrepanzen zwischen öffentlicher und privater Erinnerungskultur Das unheilverkündende Ende der Novelle Im Krebsgang Perpetuierende Gewalt und Gegengewalt als Resultat nicht gewonnener Erkenntnis Die Ambivalenz Konnys als Trauerprozess der nachfolgenden Generationen Die „68er“ im Spiegelbild des romantischen Nihilismus Die „tragische“ Schuld der Protagonisten Die biblische Wirkungsgeschichte des Apostel Paulus als Horizonterweiterung zu den Opferanteilen der Protagonisten Jennys Vergebung gegenüber Tulla Die vergebende „Bewegung“ des Heinz Schön 237 239 249 253 257 260 264 268 277 279 285 289 297 306 310 317 325 330 339 349 354 367 370 377 6 Gewalt als Auslöser des Traumas – eine Schlussbetrachtung 385 Anhang 400 Bibliographie 7 Synopse Erstmals hat Günter Grass, dessen bisheriges Werk eine Beschäftigung mit den Fragen um Schuld und Scham verfolgte, in seiner Novelle Im Krebsgang die Ambivalenz der „Opfertäter“ aus Mitwissern, Mitläufern und Mittätern von NS-Regime und Holocaust einerseits und als traumatisierte Opfer von Krieg, Flucht und Vertreibung andererseits behandelt. Indem der Untergang des „Kraft durch Freude“-Schiffes Wilhelm Gustloff in den Kontext der Geschichte, dem Vorher und dem Nachher der Katastrophe gesetzt wird, rücken die historischen Prozesse in den Blickpunkt, die zu diesem Ereignis geführt haben und die Folgen, die daraus entstanden sind. Dieser „kontextualisierte Ansatz“ erfährt insofern eine Beschränkung, als er durch die Perspektive der traumatisierten Opfertäter erfolgt. Durch die Erweiterung des Figurenensembles um eine neue Generation - Konny Pokriefke und Wolfgang Stremplin als Repräsentanten der dritten Nachkriegsgeneration - richtet die Novelle den Blick auf die Gegenwart und Zukunft aus der Vergangenheit und somit implizit auf die historische Verantwortung als Aufgabe für die nachfolgenden Generationen. Seit 1980 hat Grass mit dem Begriff der „Vergegenkunft“ gearbeitet, einer Vergangenheit, die ihre Schatten auf die Gegenwart und die Zukunft werfe. Die zunächst durch Schuld und Scham besetzte Vergangenheit wird im Krebsgang erweitert um die Wahrnehmung des Traumas und seiner pathologischen Wirkung. Durch die Einführung der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration in der Narration gewinnt die aus der Vergangenheit überschattete Gegenwart und Zukunft eine Form, die die traumabedingten Brüche der Identität als Grund für die Unmöglichkeit der Trauer offenbart. Der Stillstand der Protagonisten, der sich als Wiederholung im finalen Moment des Mordes an Wolfgang Stremplin alias David Frankfurter offenbart, entspringt im Krebsgang nicht einer melancholischen Unfähigkeit zu trauern, weil die Schuld- und Schamgefühle übermächtig sind. Vielmehr scheint das Erstarren der Protagonisten in ihren unmittelbaren und mittelbaren traumatischen Erfahrungen begründet zu sein, die sie in ihrem Bann gefangen halten. Es sind die vermeintlichen Schuld- und Schamgefühle der Nebenprotagonisten, die eine Bearbeitung des Traumas als Vorbedingung der Trauer unmöglich machen. 8 Zur Einführung: Perpetuierungen in der Nachkriegsgeschichte 9 (…) to reimagine the possibilities and the ambiguities of how we identify with others: the emphasis here is on reimagining, on going back over ground we took for granted, perhaps the work human beings undertake with most reluctance. Without the element of aesthetic pleasure, we might not undertake it at all. Daniel Karlin, Rezension zu Sophie Ratcliffe: On Sympathie 10 Die epochalen Umwälzungen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts haben tiefe Einschnitte in der kulturellen Entwicklung Europas hinterlassen. Das gilt insbesondere für die Deutschen mit einer Geschichte, die zur unauflöslichen Ambivalenz von Tätern und Opfern geführt hat: dem Ersten Weltkrieg als traumatische Erfahrung in der Moderne folgt die ideologische Selbstverblendung des Nationalsozialismus, die Position als Aggressor des Zweiten Weltkrieges mit den grausamen Höhepunkten im Osten Europas und schließlich der „Zivilisationsbruch“1 Auschwitz. Dieser Dimension der Mitwisser, Mitläufer und Mittäter stehen jene Erlebnisse gegenüber, die die Menschen in Deutschland im Zweiten Weltkrieg erlitten haben: Verluste von Familienangehörigen, Verlust der psychischen und physischen Gesundheit durch Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung. Die Dimension dieses Krieges umreisst der Historiker Niall Ferguson: „By any measure, the Second World War was the greatest man-made catastrophe of all time. (…) Of the total deaths attributed to the Second World War, half at least were of civilians.“2 Die Formen des Umgangs mit dieser Geschichte in den, seit Gründung der Bundesrepublik vergangenen sechs Jahrzehnten, offenbaren sich in dem häufig kontroversen Verlauf der (west-)deutschen Erinnerungskultur. Aleida Assmann hat die Zeit zwischen 1945 und der Gegenwart in drei Phasen unterteilt. Für die 1950er Jahre steht die Phase des „offiziellen Gedächtnisses ohne biographische Erinnerung“, des „kollektiven Beschweigens“ (Hermann Lübbe).3 Mit dem Heranwachsen der so genannten Zweiten Generation zwischen den 1960er1980er Jahren beginnt eine Phase der „familiären, juristischen und historischen Aufklärung“, des „unerbittlichen Nachfragens in bürgerlichen Wohnstuben“. Mit dem Beginn der 1990er Jahre setzt eine „Globalisierung der Erinnerung des Holocaust“ ein. International wird die Frage beraten, „wie der Holocaust 1 Dan Diner zitiert in: Franziska Augstein, `Taten und Täter. Ein Nachwort´, S. 177-195 in Hannah Arendt, Über das Böse, München, 2006, S. 188. 2 Niall Ferguson, The War of the World. History´s Age of Hatred, London, 2006, S. XXIV. 3 Aleida Assmann, `Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945´, S. 81-91 in Wolfram Mauser, Joachim Pfeiffer, (Hg.), Erinnern. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 2004, Bd. 23, Würzburg, 2004, S. 88ff. 11 weltweit erinnert werden kann.“4 Einher mit einer gewissen „Entkontextualisierung des Holocaust“, die das „Vorher und das Nachher von Auschwitz in den Hintergrund treten lassen“, geht die Gefahr einer „Profanisierung und Trivialisierung des Holocaust“.5 Als ein weiteres wesentliches Merkmal der dritten Phase benennt Assmann für Deutschland, daß „das Leiden der deutschen Bevölkerung während des Krieges und unmittelbar danach in den öffentlichen Blickpunkt“ geraten ist.6 Als eines der literarischen Zeugnisse für diese Entwicklung gilt Günter Grass´ Novelle Im Krebsgang. Diese drei Phasen der deutschen Erinnerungskultur haben einander nicht abgelöst. Vielmehr stehen sie in einem komplexen Überlappungsverhältnis zueinander. Der Historiker Jörn Rüsen urteilt, dass die Beschweigestrategie der ersten Epoche „bis heute eine Rolle gespielt habe oder zumindest mental wirksam geblieben ist.“7 Dies gelte erst recht für die moralisch negative Vergegenwärtigung des Holocaust der zweiten Epoche; die hier entwickelten mentalen Konstellationen deutscher Identität bleiben auch in der dritten Nachkriegsgeneration wirksam. Beim dritten Generationstyp handelt es sich nach Rüsens Ansicht um Neuansätze, bei denen abzuwarten sei, „wie stark sie sich im neuen deutschen Nationalstaat zur Geltung bringen werden.“8 Primo Levi umreißt die Ausgangslage, die sich aus dem Holocaust insgesamt ergibt, indem er feststellt, „dass der Mensch, das menschliche Geschlecht, also kurz gesagt: wir, potentiell in der Lage sind, unendliches Leid hervorzurufen“.9 Von der Gegenwart aus gesehen ergibt sich daraus für die am Verbrechen Auschwitz schuldlosen Generationen eine historische Verantwortung, aus der sich eine fortgesetzte Konfrontation als Aufgabe stellt. 4 Ebd. Ebd. 6 Ebd. 7 Jörn Rüsen, `Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen generationeller Praktiken des Erinnerns´, S. 243259 in Harald Welzer, (Hg.), Das Soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg, 2001, S. 244. 8 Ebd. 9 Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München, 1990, S. 86. 5 12 Historisch verantwortungsvoll verhalten wir uns dann, wenn wir alle geschichtlichen Geschehnisse, die unserer historischen Gegenwart (…) zuzurechnen sind, einer Auseinandersetzung und Bearbeitung unterziehen, die ihre Bedeutung angemessen interpretiert, gewichtet und, wo möglich, moralische Konsequenzen aus ihnen zieht.10 Mit Blick auf Hannah Arendt formuliert Franziska Augstein die Frage, die sich aus dieser historischen Verantwortung stellt: „Sie wollte wissen, was alle wissen wollen, die angesichts der NS-Verbrechen fassungslos sind: Wie konnte dies geschehen?“11 Hannah Arendt hatte sich die Aufgabe gestellt, „eine Definition des Bösen zu erdenken, die es erlaubt, das Spezifische des Nationalsozialismus und seiner Konzentrationslager in Abgrenzung zum universal Bösen darzustellen.“12 In ihrer Studie Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen gelangt sie zu dem Schluss: Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, daß er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind. Vom Standpunkt unserer Rechtsinstitutionen und an unseren moralischen Urteilsmaßstäben gemessen, war diese Normalität viel erschreckender als all die Greuel zusammengenommen, denn sie implizierte, (…) daß dieser neue Verbrechertypus, der nun wirklich hostis generis humani ist, unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Untaten bewusst zu werden.13 Dieser Befund offenbart, dass sich die Fragestellung „Wie konnte dies geschehen?“ nicht im Tatbestand der „Banalität des Bösen“ auflöst. Vielmehr wird der eigentlich ungeklärte Aspekt umso deutlicher, nämlich wie es zu den „Bedingungen“ kommen konnte, unter denen „ganz normale Menschen“14 sich ihrer Untaten nicht bewusst waren und auch im Nachhinein nicht bewusst werden konnten oder wollten. Der Höhepunkt dieser Untaten findet sich bei 10 Rolf Zimmermann, `Was heißt historische Verantwortung? Ein systematischer Grundriss zum Verhältnis von Moral und Geschichte´, in „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“, Berlin, Vol. 54, 6/2006, S. 856. 11 F. Augstein, S. 181. 12 Ebd. 13 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München, 2006, S. 400f. 14 Vgl. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt, 2005. 13 den schätzungsweise 150.000 Tätern des Holocaust15. Nicht minder erhebt sich diese Frage gegenüber der großen Masse der Mitläufer und Mitwisser – der „Volksgemeinschaft“ - des nationalsozialistischen Systems. Die evolutionär-zivilisatorische Aufgabe der nachfolgenden Generationen, Erkenntnisse aus der Geschichte zu gewinnen, indem sie die Prozessverläufe „alle(r) geschichtlichen Geschehnisse“ (Zimmermann) erfassen, trifft auf ein unüberwindbares Hindernis. Der israelische Psychologe Dan Bar-On diagnostiziert Ende der 1990er Jahre die Identitätsformation deutscher (und israelischer) Jugendlicher im Schatten des Holocaust und gelangt zu dem Schluss: „Da ist etwas kaputt gegangen an den Wurzeln…“.16 Nach einer empirischen Erhebung zur Rezeption der NS-Geschichte in der Enkelgeneration und deren Auswirkungen auf das aktuelle Verhalten und Identitätsgefühl kommt sein deutscher Kollege Konrad Brendler zum Ergebnis, „daß auch noch für die Nachkommen, wenn diese `das Grauen´ von Auschwitz wirklich `an sich herankommen lassen´, die Eindrücke so überwältigend sind“17, dass sie deren seelische Kapazitäten überfordern können, „vor allem dann, wenn die Älteren den Dialog verweigern.“18 Diese Erhebung rückt zwei wesentliche Aspekte in den Blickpunkt: die Überforderung Nachgeborener mit den historischen Ereignissen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und das Schweigen der Zeitzeugen. Es offenbart zugleich die weitgehende Beschränkung der Beschäftigung mit der Vergangenheit in der deutschen Erinnerungskultur auf die Öffentlichkeit, während im Privaten eine Mischung aus Scham, Betroffenheit und Verdrängung vorherrschend geblieben sind, die oftmals in Sprachlosigkeit enden. Versuche, diese Sprachlosigkeit durch Konfrontation mit dem Grauen in Norbert Frei, 1945 und Wir – Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, (nachfolgend 1945 und Wir genannt), München, 2005, S. 79. 16 Dan Bar-On; Konrad Brendler u.a., (Hg.), „Da ist etwas kaputtgegangen an den Wurzeln…“ Identitätsformation deutscher und israelischer Jugendlicher im Schatten des Holocaust,. Frankfurt, 1997. 17 Konrad Brendler, `NS-Geschichte als Sozialisationsfaktor und Identitätsballast´, S. 53-104 in Dan Bar-On, S. 54. 18 Ebd. 15 14 der öffentlichen Erinnerungskultur zu brechen, scheinen das „innere“ Schweigen und Verdrängen in der Gegenwart lediglich fortzuführen. Nicht zuletzt findet sich jene Sprachlosigkeit spiegelverkehrt als Be-schwiegenes im Diktum der Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust wieder. Was nicht vorstellbar ist, kann nicht besprochen werden. „So wie Kant mit positivem Tenor von der Französischen Revolution als einem Ereignis gesprochen hat, `das sich nicht vergisst´, so steht Auschwitz für die historische Gegenwart eines absoluten moralischen Negativums, das von Deutschen in die Welt gebracht wurde.“19 Vor diesem ungreifbarem „Negativum“ entsteht durch die raumgreifende öffentliche Erinnerungskultur in der dritten Nachkriegsgeneration die paradoxe Situation wonach ein „relativ differenziertes Fakten- und Erklärungswissen“20 zur NS-Zeit besteht, aber „eine konstruktive Aufarbeitung narzistischer Kränkung und Affekte, die Begleiterscheinungen jeder wirklichen Konfrontation“ mit der Geschichte ihrer Vorfahren „in der Regel nur unzureichend“21 stattfand. Demzufolge scheint bei der Bearbeitung der Vorgänge zwischen 1933 und 1945 kognitives Wissen einer empathischen Leere gegenüber zu stehen. Dieser Befund bleibt nicht allein auf Jugendliche beschränkt. Vielmehr stellt der Historiker Norbert Frei eine ähnliche Diagnose für seine eigene Zunft – sozusagen die Hauptquelle des „kognitiven Wissens“ - aus. Mit Blick auf die erste Generation der Zeithistoriker nach 1945 schreibt Frei, dass die kritischen Maßstäbe, mit denen die erste Generation empirischer Zeithistoriker einst angetreten war und die nicht wenige von ihnen jahrzehntelang mit erstaunlicher Konsequenz durchgehalten hatten, doch auch ihre Abnutzung erfahren hatten: nicht zuletzt das in den Anfängen der Disziplin geradezu existentiell bedeutsame, selbstauferlegte Empathieverbot.22 19 Zimmermann, S. 857. Brendler, ebd. 21 Ebd. 22 Frei, 1945 und Wir, S. 53. 20 15 Wodurch lässt sich das Paradox des „empathielosen Wissens“ erklären? Für Millionen von Zeitzeugen in Deutschland waren die Erfahrungen aus dem II. Weltkrieg, darunter Städtebombardements, Flucht und Vertreibung – und für manche auch jene mit der NS-Diktatur – im Ergebnis traumatisch. In der Sprachlosigkeit gegenüber dem Holocaust offenbart sich gleichfalls ein traumatisches Symptom. Der Psychoanalytiker Werner Bohleber benennt die Konsequenz, die sich daraus ergibt: Die seelischen Nachwirkungen des Krieges waren bei den einzelnen Deutschen unterschiedlich, je nach deren Involvierung in Nationalsozialismus und seine Verbrechen und deren Verdrängung von Schuld und Verantwortung. Dies hatte spezifische Folgen auch für die Erinnerung und Auseinandersetzung mit der Realität und den Konsequenzen des Krieges. (…) Darüber nachzudenken, ob eine traumatische Störung vorliegt, heißt nicht, die Frage nach Schuld und Verantwortung und die notwendige Unterscheidung zwischen Opfer und Täter zu ersetzen. Trauma ist ein empirisch-klinischer Begriff und kann helfen, die damalige Situation umfassender und differenzierter zu verstehen.23 Die Konfrontation mit dem Grauen erfordert ein Maß an Kraft, die durch eine Analogie Hannah Arendts, die sie in Anlehnung an Nietzsches Der Wille zur Macht formuliert hat, in Umrissen erfassbar wird. In ihren Vorlesungen zu Fragen der Ethik heißt es, dass das Vermögen des Willens im Menschen erst dann entsteht, wenn er alles erhalten hat, was für sein Überleben notwendig ist. In einer einfachen Analogie umreißt sie die Dimension dieses Notwendigen: Genauso wie Sie ein Glas guten Weins nur dann genießen können, wenn Sie nicht durstig sind (denn zum Durstlöschen wäre jede andere Flüssigkeit auch geeignet), so würde das Vermögen des Willens in Ihnen erst dann entstehen, wenn Sie alles erhalten haben, was wirklich für Ihr reines Überleben unverzichtbar ist. Dieses mehr an Kraft wird dann von Nietzsche mit dem schöpferischen Impuls gleichgesetzt; es ist die Wurzel aller Produktivität. (…) Und natürlich ist auch dieses Mehr an Kraft, diese extravagante Großzügigkeit oder der `überströmende, verschwenderische 23 Werner Bohleber, `Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse´, S. 797-839 in ders. (Hg.), „Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen“, 54. Jahrgang, Heft 9/10, Sept./Okt. 2000: Trauma, Gewalt und Kollektives Gedächtnis, S. 817f, (nachfolgend „Trauma“ genannt). 16 Wille´, der Menschen dazu veranlasst, Gutes tun zu wollen und es gerne zu tun.24 Ein Blick auf die Symptomatik des pathologischen Traumas25 lässt erahnen, wie viel Kraft durch das „Zuviel an Eindrücken“, die den seelischen Haushalt überfordern, gebunden ist. Können Menschen ihre traumatischen Erfahrungen nicht durcharbeiten, haben sie das Zuviel an Eindrücken mit sich zu tragen. Gibt es für ihr zerbrochenes Innenleben keine Haltepunkte durch Reflektion in der Außenwelt – die Leiden der deutschen Aggressoren galt es zu beschweigen – stehen mutmaßlich nicht jene seelischen Kapazitäten bereit, um das Trauma des Zivilisationsbruches Holocaust innerlich zu konfrontieren. Die moralischen Motive des Beschweigens traumatischer Erlebnisse der deutschen Aggressoren haben über sechzig Jahre nach Kriegsende insofern keine Gültigkeit mehr, als es für die dritte Generation nicht mehr um die Frage der Mitschuld geht. Diese Generation ist lange nach Kriegsende zwischen 1954 und 1966 geboren.26 Alexander Goeb fragt dennoch27, warum jüngere Deutsche keinen Grund haben sollten, sich schuldig zu fühlen, wo doch die Holocaust Überlebenden und ihre Nachkommen Schuld empfinden, überlebt zu haben und lebenslang von Auschwitz begleitet werden.28 Goebs Fragestellung lässt die Ergebnisse der empirischen Forschung zur transgenerationellen Weitergabe bei Täterkindern außer acht, wonach diese zu Opfern werden, wie im zweiten Kapitel „Wiederholen“ erläutert, indem sie die Scham- und Schuldgefühle ihrer Vorfahren (unbewusst) übernehmen. Wie stellt sich nun eine „Wissensgesellschaft ohne Einfühlung“ der Aufgabe der historischen Verantwortung in der Gegenwart? Die öffentliche „Erinnerungspolitik“ hat das Wissen um den Holocaust immer wieder erneuert. 24 Hannah Arendt, Über das Böse, München, 2006, S. 133-4. Vgl. Abschnitte „Trauma“ und „Verdrängung“, Erstes Kapitel „Erinnern“. 26 vgl. Jürgen Zinnacker, `Politische Geburtskohorten und Familiengenerationen in (West)Deutschland – Geburtsjahrgänge 1890-1976´, Vortrag (inkl. Handout), Kulturwissenschaftliches Institut Essen, 6.2.2005. 27 Alexander Goeb, `Der lebenslange Alptraum´, in „Auschwitz-Hefte“, Hamburger Institut für Sozialforschung, (Hg.), 1988, S. 51. 28 Ebd. 25 17 Zu den Empfindungen hatte diese Politik kaum Zugang. Dem Sprechen über das Trauma der Zeitzeugen in der Öffentlichkeit steht die Scham als einer der häufigsten Begriffe in der deutschen Erinnerungskultur entgegen: „Sie verweist auf einen `Makel´ (…), den man `vor sich selbst und anderen verbergen will´.“29 Auf diesem Pfad führt Scham unmittelbar zur Verdrängung von Wissen und Empathie, auch jenes und jener um das eigene Trauma. In seinem Werk Im Krebsgang30, das in dieser Arbeit als paradigmatischer Fall untersucht werden soll, hat Günter Grass die Abwesenheit dieser Empathie zum Kernaspekt werden lassen, der sich durch die Novelle zieht, ohne aufzubrechen. Wie ein Grenzwall steht die Empathielosigkeit zwischen den Figuren, die sich nicht fortentwickeln, sondern die starr in ihren jeweiligen Ausgangspositionen verharren. Was den Krebsgang von Grass´ anderen Werken unterscheidet und es zum Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit werden lässt, ist das Schicksal der Protagonisten. Sie werden nicht eindeutig gezeichnet als Mitwisser, Mitläufer und Mittäter, sondern als ambivalente „Opfertäter“. Erstmals hat der Autor das Thema der Traumatisierung der Opfertäter durch die Erfahrung von Flucht, Vertreibung, Bombardements und Krieg in den Vordergrund gerückt. Durch die Einführung einer weiteren Generation in das Figurenensemble erhebt sich mit Blick auf die Übernahme der historischen Verantwortung die Frage nach den Nachwirkungen dieser Traumatisierungen auf die Nachgeborenen. Diese erweiterte Perspektive lässt sich als eine Zäsur im Werk von Grass´ bewerten, der sich bislang vor allem mit der Schuld des Einzelnen auseinander gesetzt hat. Das Erscheinen der Novelle Im Krebsgang im Jahr 2002 avancierte durch eine Flut von Kritiken und Rezensionen im In- und Ausland zu einem Medienereignis. Auslöser dieser Flut war nicht zuletzt die Verwunderung über Günter Grass als Anwalt des Leids der Deutschen während Krieg, Flucht und Vertreibung. Entsprechend 29 30 Brendler, S. 55. Grass, Im Krebsgang, Göttingen, 2007, 3. Auflage. 18 dominierten eher sozialpolitische als literaturwissenschaftliche Aspekte die Diskussion um die Novelle in der Öffentlichkeit. Zum einen wurde, nahezu sechzig Jahre nach Kriegsende die Frage erhoben, ob die Repräsentation der Deutschen als Opfer in der öffentlichen Erinnerungskultur legitim oder verwerflich sei. Dies in einem Umfeld, das bereits durch andere Publikationen entsprechend sensibilisiert worden war, darunter etwa Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995), W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur (1997) oder nahezu zeitgleich Jörg Friedrichs Der Brand (2002). Ein sich thematisch daran anschließender zweiter Schwerpunkt fokussierte sich auf die Frage, ob der Nobelpreisträger mit seiner Geschichte über den Untergang des „Kraft-durch-Freude“ („KdF“) Dampfers Wilhelm Gustloff einen Tabubruch begangen habe. Auch in der literaturwissenschaftlichen Debatte wurde die These des Tabubruchs ausführlich diskutiert, mit Hinweis auf einige früher erschienenen Werke, darunter etwa von Alexander Kluge, oder wie erwähnt Sebald etc., jedoch verworfen. Den Vorwurf einer Täter-Opfer Umkehr gegenüber Grass wies etwa Katharina Hall mit dem Hinweis zurück, der Text sei „considerably more complex than such judgement implies.“31 Halls Auseinandersetzung mit Grass´ zweiter Novelle fokussierte sich auf die Zäsur zu dessen früheren Werken: While Die Blechtrommel, Katz und Maus, Hundejahre und örtlich betäubt all focus predominantly on the memory of German involvement in National Socialism, Im Krebsgang foregrounds the memory of German suffering, and in particular, the nine thousand Germans who lost their lives when the Gustloff was torpedoed at the end of the war by a Soviet Submarine.32 Indem sie die genannten fünf Werke als „Danziger Quintett“ bezeichnete, hob sie den Aspekt des Unfertigen in Grass´ Arbeit vor der Veröffentlichung von Im Krebsgang hervor. Damit untermauerte sie insbesondere die Vielfalt der Perspektiven bei der Betrachtung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts durch den Autor Günter Grass. 31 Katharina Hall, Günter Grass `Danzig Quintet´. Explorations in the Memory and History of the Nazi Era from Blechtrommel to Im Krebsgang, Bern 2007, S. 171f. 32 Ebd., S. 163. 19 Auch Dieter Stolz verwies in seiner Beurteilung über den Krebsgang auf die Gegenstimme, die er als „Gegenmärchen“ bezeichnete. Diese, der anderen Wahrheit Stimme verleihende Poetik, habe „in allen Prosawerken von Günter Grass deutliche Spuren hinterlassen (…).“33 Schließlich bescheinigte er dem Krebsgang alle „gängigen Schwarz-Weiß-, Gut-Böse-, Freund-Feindbilder“ zu relativieren und aufzubrechen,34 indem eine unauflösliche Ambivalenz gezeichnet würde: Das im Krebsgang immer wieder herbeizitierte Datum steht zum einen für das Geburtsdatum der Figur Paul Pokriefke, zum anderen für den zwölften Jahrestag der sogenannten Machtergreifung Hitlers und schließlich für ein von Menschen zu verantwortendes anschließend zur Legendenbildung anregendes Horrorszenario in der Ostsee. Bereits diese Aufzählung zeigt, dass es hier erneut um das unauflösbare Spannungsverhältnis von historischen Fakten und fiktivem Material geht.35 Stolz identifizierte den „unersetzbaren Verlust als Antriebskraft“ und hob damit indirekt den Aspekt der Trauer hervor. Hall hingegen stellte eine Traumatisierung bei Tulla fest und erwähnte die Übertragung des Traumas durch Tulla an die Protagonisten der nachfolgende Generationen, Paul und Konny Pokriefke.36 Ausgerichtet auf die nachfolgend auszuführenden Fragestellungen bilden diese Parameter – Trauer, Trauma und dessen transgenerationelle Weitergabe – den Rahmen für die vorliegende Studie. Der Schnitt im Werk Grass´ hin zu einer „ganzheitlichen“ Betrachtung der Vergangenheit offenbart sich in der Hauptfigur Tulla Pokriefke. Die Protagonistin aus der Danziger Trilogie wird als Mittäterin gezeichnet, die zugleich Opfer ist. Dieser Opferstatus erstrebt kein Aufrechnen mit den Untaten, sondern will aufzeigen, wie sich aus einer pathologischen Traumatisierung eine verzerrte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ergibt. Es wird deutlich, dass diese Verzerrung eine wahrhaftige Übernahme von Schuld- und Reuegefühlen durch traumatisierte Menschen unmöglich macht. Tatsächlich sind Traumatisierte unfähig um sich und um andere zu trauern, weil ihnen die Fähigkeit zur Empathie abhanden gekommen ist. Indem das selbst 33 Dieter Stolz, Günter Grass. Der Schriftsteller. Eine Einführung, Göttingen, 2005, S. 173. Ebd., S. 179. 35 Ebd., S. 171. 36 Hall, S. 174. 34 20 erlittene Trauma die Empathie zerstört, bildet sich eine Wirkungskette, die, mit Blick auf die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, in ein sich selbst perpetuierendes Nichts zu führen scheint: ohne Empathie kein Mitleiden mit dem Leid der Anderen, ohne Mitleiden kein Schuldempfinden, ohne Schuldempfinden keine Trauer, ohne Trauer keine Vergebung. Damit erscheint das Trauma der Opfertäter als Blockade bei der Annahme von Schuld und historischer Verantwortung. Durch die Gewalterfahrung während Flucht und Vertreibung hat die Protagonistin Tulla Pokriefke ihre Heimat, ihre Eltern und ihre körperliche Integrität verloren. Ihr „Binnichtzuhauseblick“ stellt sich in der Konfrontation mit diesen Verlusten regelmäßig ein (z.B. 57/206). Es ist dieser Blick, hinter dem sich das Bild der Trauer verbirgt: „In der deutschen Sprache leitet sich das Wort Trauer von der Gebärde `die Augen niederschlagen´ ab. Der Blick ist abgewandt, richtet sich nach innen, gibt aber gleichzeitig ein Zeichen des Leidens und der Schmerzen für den/die Anderen der sozialen Umwelt.“37 Margarete Mitscherlich beschreibt Trauer als einen seelischen Vorgang, „in dem ein Individuum einen Verlust mit Hilfe eines wiederholten schmerzlichen Erinnerungsprozesses langsam zu ertragen und durchzuarbeiten lernt, um danach zu einer Wiederaufnahme lebendiger Beziehungen zu den Menschen und Dingen seiner Umgebung fähig zu werden.“38 Die Trauerarbeit umreißt Mitscherlich als mühsamen Akt, der „eine Beschäftigung mit sich selbst (erfordert), eine zeitweilige innere Einsamkeit, die für manche nur schwer durchzustehen ist.“39 In seiner Trauer um die im Ersten Weltkrieg „vernichteten Kulturdenkmale und die verlorenen Humanitätsideale vertraute (Sigmund) Freud auf die den Menschen 37 Petra Strasser, `Trauer versus Melancholie aus psychoanalytischer Sicht´, S. 37-52 in Wolfram Mauser; Joachim Pfeiffer, (Hg.), Trauer. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 2003, Bd. 22, Würzburg, 2003, S. 39. 38 Margarete Mitscherlich, Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern, Frankfurt, 1987, S. 149. 39 Ebd. 21 erneuernde Wirkung der Trauer und auf die Erneuerung.“40 Das konstruktive Element der Trauerarbeit, die „Erneuerung“ bedingt die Erinnerung. Die Trauer wird damit in einem erweiterten Sinne zur Arbeit an der Erinnerung.41 Im erinnernden Blick zurück wird die Lösung und Trennung von dem geliebten aber verlorenen Objekt vollzogen: „Erinnerung wird so zu einem hochdynamischen Dissoziierungs-, Reassoziierungs- und Rekategorisierungsprozess oder zu einer aktualisierten Neuinterpretation persönlicher Vergangenheit. Es ist kein Wiederfinden oder Wiedererkennen von Objekten, sondern ein erneutes Verstehen.“42 Demgegenüber steht die Melancholie. Sie kann als eine Art ewig stockender Trauerprozess umschrieben werden. Freud begreift die Melancholie als „neurotische Form der Trauer, als pathologische Trauerarbeit“43, die zu einer Störung des Selbstgefühls werde und die so den Objektverlust der Trauer entziehe.44 Die geistige Verfassung der Melancholie als „eine schwermütige Stimmung, eine verzweifelte Grundverfassung, eine Art innere Schwerkraft des Gemüts“45 behindert die Trauerarbeit und damit die Fortentwicklung eines Individuums infolge eines Verlusts. Tulla, die sich in der Trostlosigkeit ewiggleicher Fragmente ihrer Vergangenheit bewegt, scheint unentrinnbar einzementiert in diese Melancholie. Die Kunst und die ästhetische Theorie sehen in der Melancholie ein wichtiges Moment, „einen Gestus, der um Vergänglichkeit weiß, sie artikuliert und gestaltet.“46 Mit Blick auf eine Kultur der humanistisch-zivilisatorischen Fortentwicklung scheint sich diese melancholische Kunst jedoch in einer Blockade aufzulösen: Eine bloß um ständigen Zeitverlust besorgte Melancholie, die sich um die ganze Welt bekümmert zeigt, schlägt am Ende unvermeidlich in deren völlige 40 Ebd. Strasser, S. 42. 42 Ebd. 43 Sigmund Freud zitiert in: Strasser, S. 44. 44 Ebd. 45 Strasser, S. 42. 46 Ebd. 41 22 Vergleichgültigung um, wenn sie nicht an der Trauer Maß nimmt und sich vom Betrauerten her die Frage vorgeben lässt, ob und wie wir uns künftig und für die Zukunft zum Verlorenen verhalten wollen oder sollen. In der Trauer ergeben sich Antworten auf diese Frage freilich keineswegs von selbst.47 Erst im schmerzlichen Prozess des Durcharbeitens (Mitscherlich) ergeben sich Antworten, die jedoch nicht notwendigerweise kathartische Wirkung haben müssen. Dennoch steckt im Begriff des Durcharbeitens ein „finales Moment“: „Arbeit will erledigt sein, die Durchsetzung des Realitätsprinzips ist das Ziel.“48 Spekulativ ergibt sich aus dieser kathartischen Begriffsassoziation ein Motiv für die Abwehrhaltung gegenüber der Trauerarbeit um die historischen Ereignisse. Insbesondere mit Blick auf den Holocaust bestand und besteht die Angst vor dem „finalen“ Durcharbeiten, die zum Status des „Erledigten“ und „Abzulegenden“ führt und so die Erinnerung aus dem „öffentlichen Raum“ verschwinden lässt. Anstatt eines „Verschlusses“ birgt die Trauerarbeit im Idealfall unbedingt eine Erweiterung: „Betrachtet man aber Trauern eher als einen prozesshaften Vorgang, der zu neuen Kategorien der Selbsteinschätzung und Selbstbewertung führt, so entsteht aus dem Erleben und Erleiden eines Verlusts auch eine neue Dimension von Subjekthaftigkeit.“49 Die Chance auf Erweiterung liegt in einem Erinnern, durch das ein „neues Bewusstsein für Vergangenes und damit auch für Gegenwärtiges und Zukünftiges“50 entsteht. Die Arbeit an der Trauer, verlaufe sie melancholisch-pathologisch oder konstruktiv-erweiternd, ist ein Primäraffekt des Menschen und gehört damit zu den „Grundgefühlen, die emotionspsychologisch, neurobiologisch und evolutionär gesichert sind. Neben der Trauer sind dieses Interesse, Angst, Wut und Freude.“51 Dem „Subjekt“ obliegt somit keine Entscheidungsgewalt, der Trauerprozess setzt 47 Burkhard Liebsch, Revisionen der Trauer. In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven, Weilerswist, 2006, S. 62f. 48 Strasser, S. 49. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Strasser, S. 39. 23 nach einem erlittenen Verlust automatisch ein. Der britische Psychoanalytiker John Bowlby hat drei idealtypische Phasen der Trauer umrissen: Die Phase der Betäubung, verbunden mit Gefühlen von Panik, Wut und Qual, die Stunden bis Wochen anhalten kann. Sie wird abgelöst von einer Phase der Sehnsucht und Suche nach dem verlorenen Objekt, die emotional zu Zorn, Gram, Unruhe, Tränen, Schluchzen und Schlaflosigkeit führt und Monate bis Jahre dauern kann und dann in eine Phase der Desorganisation und Verzweiflung führt, in der die Trauer durchlebt wird, um dann zu einer mehr oder weniger gelungenen Reorganisation zu gelangen. Der Trauernde unterscheidet dann Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster, die nicht länger angebracht sind, von solchen, die er beibehalten möchte.52 Der Verlauf der Trauer im Hinblick auf Dauer, Schmerz und Ausprägung wird von einer Reihe von Variablen bestimmt, darunter etwa die Persönlichkeitsstruktur sowie Alter und Geschlecht des Trauernden, die Identität und Rolle der oder des Verlorenen für die Hinterbliebenen, Gegenstand, Ursache und Umstände des Verlustes.53 Am Ende einer vollzogenen Trauerarbeit wird das Objekt „nicht im Sinne Freuds `abgelöst´ durch andere“54, sondern mit der „Erinnerung an das verlorene Objekt entwickelt sich eine Differenzierung, eine schmerzliche Anerkennung dessen, was zum Objekt und was zum Selbst gehört.“55 Trauer ist somit kein Prozess, der zu bewältigen ist, sondern eher ein Zustand, der nie aufgelöst wird, der mehr oder weniger bewusst in der eigenen und der sozialen Wahrnehmung erhalten bleibt.56 Auf dieser Basis unterscheidet Bowlby deutlich die öffentliche Trauer, die kulturell bestimmt ist, und die individuelle Reaktion, die alle bewussten und unbewussten Prozesse infolge eines Verlustes umfasst.57 52 John Bowlby zitiert in: Strasser, S. 41. Strasser, S. 41. 54 Ebd., S. 42. 55 Ebd., S. 40. 56 Ebd., S. 41. 57 Ebd. 53 24 In der Kategorisierung der Erinnerung, jenem ersten Schritt der Trauerarbeit, wird deutlich, dass Traumatisierte unfähig sind, zu trauern: Zu den (…) verfügbaren Erinnerungen kommen noch die unzugänglichen Erinnerungen hinzu, die unter Verschluss gehalten werden, und deren Torwächter Verdrängung oder Trauma heißen. Diese Erinnerungen sind zu schmerzhaft oder zu beschämend, um ohne äußere Hilfe an die Oberfläche des Bewusstseins zurückgeholt werden zu können.58 Trauerarbeit als „Arbeit an der Erinnerung“ lässt sich somit nicht bei einem Verlust vollziehen, der mit der Erfahrung einer Traumatisierung verbunden ist, weil die Erinnerungen unzugänglich sind: „Das Trauma verschließt die Vergangenheit in der Zukunft als etwas, (…), (das) unfähig (ist), bewusst erinnert zu werden und in einen Prozess des Durcharbeitens überführt zu werden.“59 In dieser Beschreibung traumatisch verschlossener Erinnerungen reflektiert sich Grass´ Begriff der „Vergegenkunft“, als „einer Vergangenheit, die ihre Schatten auf die Gegenwart und die Zukunft“60 wirft. Es ist, als ob die Betroffenen „unfähig geworden sind, eine persönliche Wahrnehmung ihrer Erinnerung zu haben“.61 Nach Freud gliedert sich der Trauerprozess in die Phasen des „Erinnerns“, des „Wiederholens“ und des „Durcharbeitens“.62 Die Narration im Krebsgang reflektiert diese Struktur: die Vergangenheit um den Untergang der Gustloff repräsentiert das Erinnern; die Gegenwart, die die Lebenszeit des Erzählers Paul umfasst, ist die Ebene des Durcharbeitens und die Zukunft, symbolisiert im Enkel Konny, versinnbildlicht die Wiederholung. Das Ende der Geschichte, der Mord Konnys an Wolfgang Stremplin, alias David, offenbart die Unmöglichkeit eines „geradlinig“ verlaufenden Trauerprozesses bei traumatischen Erfahrungen. Die Wiederholung, die beim Trauerprozess zur allmählichen Einordnung des Verlustes führt, mutiert im Trauma 58 Aleida Assmann, `Wie wahr sind Erinnerungen?´, S. 103-122 in Harald Welzer, (Hg.), Das Soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg, 2001, S. 104. 59 Gertrud Koch, `Affekt und Effekt. Was haben Bilder, was Worte nicht haben?´, S. 123-133 in Welzer, ebd., S. 128. 60 Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 33. 61 Ebd., S. 130. 62 Vgl. Sigmund Freud, `Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten´, S. 205-215 in ders., Studienausgabe. Ergänzungsband. Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt, 1975. 25 zum Wiederholungszwang. Der Verlust muss erneut durchgespielt werden, in der Hoffnung, dieses Mal die Kontrolle zu haben und einer Traumatisierung zu entgehen. Durch die Wiederholung macht die Narration der Novelle Im Krebsgang deutlich, wo eine Trauerarbeit ansetzen muss: bei der Wahrnehmung und Bearbeitung des Traumas. Neben der Fragmentierung, sichtbar in Tullas Erinnerungsbrocken an die Vergangenheit, ist die Erinnerung an das traumatische Ereignis durch Sprachlosigkeit gekennzeichnet: die Nicht-Repräsentierbarkeit des Unaussprechlichen. Der Erzähler Paul, dessen leidlich erfolgreiche Bemühungen, dem Schicksal seiner Mutter Tulla Pokriefke, der jungen Tulla aus Katz und Maus, Ausdruck zu geben suchen, spiegelt die Schwierigkeit des Rückwärtsgehens, um voranzukommen. Durch das Trauma, dargestellt im Untergang der Gustloff, und den Erzähler Paul, werden die Sprachlosigkeit, respektive das Wiederfinden der Sprache zum zentralen Motiv der Novelle. Das Trauma wird bearbeitet, indem die Erlebnisse allmählich artikuliert und in ihrem Gesamtkontext in den Fluss der eigenen Erinnerungen eingefügt werden können. Die Bilder und Wörter, die der Sohn Paul für die Vergangenheit seiner Mutter findet, umfassen neben dem Untergang des „KdF“ Dampfers Wilhelm Gustloff auch das historische „Vorher“ und „Nachher“ der Katastrophe. Das „Nachher“ umfasst die Erzählstränge auf der Gegenwartsebene seit der Katastrophe. Diese Erzählstränge offenbaren die unmittelbaren pathologischen Folgen einer Traumatisierung, die in den Abschnitten „Trauma“ und „Verdrängung“ in dieser Arbeit dargestellt werden. Der Begriff der „Individuellen Erinnerung“ für diesen Abschnitt über das Trauma unterstreicht die Dominanz traumatischer Erfahrungen im Leben von Individuen. So können mitunter aufgrund der pathologischen Folgen des Traumas die individuellen Erinnerungen nicht mit den entsprechenden historischen Kontexten verknüpft werden. Dies drückt sich etwa in der Frage Tullas aus: „Mecht mal bloß wissen, was sich dieser Russki jedacht hat, als er Befehl jab, die drai Dinger direktemang auf ons loszuschicken….“ (11). Tulla vermag nicht, ihr individuelles Erlebnis in ein historisches Erinnern zu setzen. Durch extreme Traumatisierung während Kampfeinsätzen, Inhaftierungen, Bombardements, Flucht und Vertreibung 26 etc. wird die Erinnerung des betroffenen Individuums an die Vergangenheit beeinträchtigt. Das Trauma der Zeitzeugen wirkt sich auf deren Gegenwart und Zukunft aus, weil die Vergangenheit nur noch in Fragmenten zugänglich ist, wodurch ein Gesamtbild der eigenen Identität und dem was sie geformt hat, hermetisch bleibt. Anders gesagt, das Trauma verschließt die Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft. Dieser als „Vergegenkunft“ in Grass´ Werk umschriebene Zustand reflektiert sich in einem eigenen Abschnitt im Teil „Trauma“ dieser Studie. Einleitend wird dort der bisherige „erinnernde“ Umgang mit einer traumatischen Vergangenheit im Gesamtwerk Grass´ umrissen. Umfasst das „Nachher“ die Dimension des Traumas, so reflektiert sich das „Vorher“ aus Pauls Erzählung im historischen Teil der vorliegenden Arbeit - „Kollektive Erinnerungen“. Die kollektiven Erinnerungen, die Paul aus öffentlich zugänglichem Material und Zeitzeugenberichten gewinnt – bilden den erweiterten Rahmen für Tullas individuelle Erinnerung, bzw. Nichterinnerung an das Trauma, dessen (historische) Ursachen und Folgen. Indem Paul das erweiterte Spektrum der Vergangenheit offenbart, ergibt sich die Möglichkeit, die historischen Abläufe und Prozesse, die zu dem Trauma des Untergangs geführt haben, in der Gegenwart zu verstehen. Diese kontextualisierte Annäherung an die Katastrophe entspricht in der Traumatologie dem Durcharbeiten einer traumatischen Erfahrung. Der Begriff der „Kollektiven Erinnerung“ für den historischen Teil ergibt sich insbesondere aus der Beschäftigung mit der, etwa von Hannah Arendt erhobenen und vom Erzähler explizit formulierten Frage, wie ein ganzes Volk dem Nationalsozialismus anheimfallen konnte (39) – Deutschland war das einzige Land, in dem diese Ideologie zur Massenbewegung avancierte – und damit implizit wie es zu Mitwissern, Mitläufern und Mittätern des Holocaust wurde. An dieser Stelle entfaltet sich das narrative Spektrum der Vergangenheit aus individuellen und kollektiven Erinnerungen weit über den Untergang der Gustloff hinaus. Zu einem zunehmend zentralen Motiv ist für Grass die prozeßhafte Gewinnung von Erkenntnissen aus der Geschichte geworden. Insbesondere in seinen Schriften örtlich 27 betäubt63 und „Vom Stillstand im Fortschritt“64 verweist der Autor auf die Allmählichkeit dieses Prozesses, der bildlich gesprochen durch zwei Vorwärts- und einen Rückwärtsschritt geprägt sein mag. Diese Form der Fortbewegung findet sich im Bild des Krebsgangs und in der Narration des „Vorher“ und des „Nachher“ wieder. Um notwendige Erkenntnisse aus der Geschichte zu gewinnen, wie Grass das vor allem für Deutsche mit ihrem historischen Erbe postuliert, bedarf es im Sinne HansGeorg Gadamers eines authentischen Vergangenheitshorizonts. Ihm zufolge können Erkenntnisse („Horizonterweiterung“) allein durch die „Verschmelzung“ einer authentischen historischen „Überlieferung“ mit dem Gegenwartshorizont gewonnen werden. Die Forderung nach einer authentischen historischen Überlieferung bedingt, eindimensionale Betrachtungsweisen aufzubrechen und durch ein sachlich differenziertes Erfassen der maßgeblichen Ereignisse, Entwicklungen und Prozesse zu einem kognitiven Verstehen einer Epoche zu gelangen. Ungleich schwieriger gestaltet sich das, zum authentischen Erfassen von Geschichte vor allem durch Nachgeborene erforderliche, „sinnliche“ Verstehen von Geschichte. Dieses „sinnliche“ Verstehen bedingt, sich in die Geisteshaltungen, Unzulänglichkeiten, Ängste und Wünsche einer historischen Epoche gedanklich einzulassen. „Finstere“ Geschichte aus dem „hellen“ Blickwinkel der Gegenwart verzerrt wahrzunehmen und zu unzureichenden Schlussfolgerungen zu gelangen, mag so umgehbar sein. Nur die Wahrnehmung der kognitiven und der sinnlichen Dimension von Historie scheint den Nachgeborenen die Durchdringung des Vergangenheitshorizonts in seiner tatsächlichen Ausprägung zu ermöglichen und die Gewinnung von Erkenntnis aus der Geschichte zu erlauben. Dabei geht es keineswegs um ein Verständnis, das jene Zeitgenossen in milderem Licht erschienen ließe. Die Erkenntnis aus der Geschichte erscheint in Grass´ Krebsgang als eine Zielsetzung: aufzuzeigen, wie und warum Menschen durch „revolutionäre“ politische und kulturelle Strömungen in fatale Fahrwasser geraten können, wie und warum aus anfangs „harmlos“ scheinenden Denkweisen fatale Konsequenzen entspringen können und wie 63 64 Grass, örtlich betäubt, in Volker Neuhaus, Werkausgabe (WA), Bd. 4, Darmstadt, 1987. Grass, `Vom Stillstand im Fortschritt´, Aus dem Tagebuch einer Schnecke in ebd. 28 und warum fatale Denk- und Handlungsstrukturen unbewusst an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, wenn sich nicht in das Bewusstsein rücken. Mit Blick auf die (traumatischen) Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt aber auch auf die kulturellen, politischen Strömungen und Umbrüche im frühen 20. Jahrhundert sind im ersten Abschnitt der „Kollektiven Erinnerungen“ - „Das Fundament: Globale historische Kontextualisierung vor 1933“ - die Rahmenbedingungen dargelegt, die sich aus dem Krebsgang als Weg zeichnen lassen, der 1933 vorbereitet hat. Die Auseinandersetzung mit der „Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland 1933-1945“ als zweiten Abschnitt umreißt die NS-Epoche nach den beiden maßgeblichen Erklärungsansätzen mit Blick auf ein „kognitives“ und „sinnliches“ Verstehen, wie sie sich aus der Novelle entnehmen lassen: „`Die Verführung´: Historische Kontextualisierung von NS-Ideologie und `Volksgemeinschaft´“ und „Die `Gewalt´: Historische Kontextualisierung von NSDiktatur, Staatsterror und Krieg“. Im ersten Unterabschnitt werden Erklärungsansätze für die „freiwillige“ Beteiligung am Massenappeal des Nationalsozialismus als weltweit einzigartiges Phänomen umrissen. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem „Führerkult“, dem „NS-Wirtschaftwunder“ aber auch der Frage nach möglichen Gründen für die politische Apathie innerhalb der „Volksgemeinschaft“. Demgegenüber steht die „angstgesteuerte Beteiligung“ bei einer differenzierten Wahrnehmung der NS-Epoche. In diesem Unterabschnitt werden die Einflüsse staatlichen Terrors in der NS-Diktatur und die durch Krieg entstandenen Zwänge in Umrissen herausgearbeitet. In einem weiteren historischen Teil über Antisemitismus gilt es gleichwohl aufzuzeigen, wie die Deutschen zwischen 1933-45 als „ganz normale Menschen“ (Harald Welzer) im Krebsgang geschildert werden, deren Antisemitismus keine „eliminatorischen Züge“ eines „nationalen Projekts“ (Daniel Goldhagen) zugrunde lag. Nur diese gedankliche Ausgangsbasis erzielt in der Gegenwart die Öffnung für die Erkenntnis, wie spezifische Denk- und Handlungsstrukturen in fatale Fahrwasser eines „gewalttätigen Antisemitismus“ führen können. Der Denkansatz eines „eliminatorischen Antisemitismus“ hingegen erweist sich als nicht weiterführend für die Gewinnung der Erkenntnis, da er bestimmte menschliche Verhaltensweisen auf 29 enge Parameter begrenzt: in diesem Fall der „spezifische Charakter“ eines bestimmten Volkes. Hierdurch erscheint die Bereitschaft gegenüber einer zivilisatorischevolutionären Aufgabe, Erkenntnisse aus Gattungsbrüchen in der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft zu gewinnen, maßgeblich beeinträchtigt. Der Analyse antisemitischer Entwicklungslinien immanent ist in diesem Zusammenhang zugleich die Auseinandersetzung mit der, bis heute unter Historikern strittigen Frage, ob der Antisemitismus in Deutschland originär für den Holocaust war. Die kognitive und sinnliche Erfassung der nationalsozialistischen und antisemitischen Entwicklungslinien von deren Ursprung, Ausprägung und Resultat erlaubt die Gewinnung von Erkenntnissen in der Gegenwart für die Zukunft. Um ein authentisches Verstehen (i.S.v. Gadamers „Überlieferung“) darüber zu gewinnen, wie aus Begeisterung Wahnvorstellungen werden, die unmenschliche Gewalt erzeugt, gilt es mitunter, dieser „Begeisterung“ in ihrem historischen Kontext „sinnlich“ nahe zu kommen. Eine Voraussetzung dafür ist die Annahme der eigenen ambivalenten Identität, die nicht nur die ausschließlich positiven Seiten einbezieht, sondern auch die eigenen Schattenseiten annimmt. Die kontextualisierte historische Darstellung im Krebsgang sucht im Blick zurück aus der Gegenwart (Paul) auf die Vergangenheit (Tulla) nicht nach entlastenden historischen Entwicklungen, Prozessen, Vorkommnissen, die die Schuld der Zeitzeugen vermindern will. Vielmehr geht es in der kontextualisierten Auseinandersetzung um die Analyse der historischen Entwicklung, Prozesse, Vorkommnisse, durch die nachgeborenen Generationen die Möglichkeit erhalten, Erkenntnisse über - oftmals unbewusste, weil der menschlichen Psyche immanent (z.B. Fremdenangst) - kompromitierende Denkansätze (Gabi spricht über die „schlechten Gene“ Konnys) in das Bewusstsein zu rücken. Weiterhin reflektiert diese differenzierte Annäherung, wie schmal der Grad zwischen kritikloser Begeisterung und abgründiger Kompromittierung sein kann. Durch die Darstellung der historischen Entwicklungen verweist die Novelle auch darauf, wie schnell und fast unmerklich bei einem unzureichenden Bekenntnis zu 30 kompromissloser Humanität dieser Grad überschritten werden kann. Darüber hinaus soll die differenzierte Betrachtungsweise auch voreiligen Verurteilungen durch nachgeborene Generationen entgegenwirken, die sich nur schwer ein Leben in Krieg und Diktaturen vorzustellen vermögen. Erst indem ausschließlich verurteilende Denkansätze aufgebrochen werden können, lassen sich authentische Erkenntnisse gewinnen. Dieser Vorgang ist im Krebsgang etwa dargestellt in dem Treffen der Überlebenden in Damp. Man schneidet Heinz Schön als „Russenfreund“, ist er doch mithin der einzige, der über das Erfassen der authentischen Historie seinem Täter zu verzeihen vermag, während für die anderen „der Krieg niemals aufgehört hat“. Durch die Gegenüberstellung beider Erinnerungsmodi – den der traumatisierten Tulla und den öffentlichen Konsensmodus (aus öffentlich zugänglichem Material) – deuten sich die Diskrepanz zwischen einem Wissen an die Vergangenheit an, das traumatisch beeinträchtigt ist (individuelle Perspektive) und dem historischen Wissen der Ereignisse (kollektive Perspektive). Diese Diskrepanz spiegelt sich auch in den entgegen gesetzten Positionen der Novellenform und des pathologischen Traumas. Während die Novellenform eine ökonomisch klare und strenge Linie verlangt, ist das Trauma ein Zuviel an Eindrücken, die nicht eingeordnet werden können. Erst in der Kontextualisierung des Traumas, dem Vorher und Nachher des Untergangs, wie sie sich aus Pauls Schilderung ergibt, scheint sich diese Diskrepanz allmählich auflösen zu können. Erst indem diese Diskrepanz aufgelöst wird, scheint ein Identitätsdiskurs möglich, der das eigene Trauma als Mitwisser, Mitläufer und Mittäter, der durch Krieg, Flucht und Vertreibung zum Opfer wurde, einzubeziehen vermag. Dieses wiederum ist die Grundvoraussetzung für die kognitive und empathische Wahrnehmung des Traumas der Opfer von Nationalsozialismus und Holocaust. Erst die empathische Anteilnahme ermöglicht das Bewusstsein für die historische Verantwortung. Allerdings scheitert Paul bei diesem Versuch, indem es ihm wegen der „Verbotstafel“ des Alten, als einen Hinweis auf Grass´ Verbots-Interpretation von Adornos Forderung, kein Gedicht mehr nach Auschwitz zu schreiben, nicht gelingen will, in den (sensuellen) Kern der Geschichte – dem Trauma – einzudringen. Dieses Agieren 31 spiegelt sich zugleich in der Symptomatik des Traumatisierten, dem das Wissen um sein eigenes Trauma fehlt und der seine Empathiefähigkeit verliert. Indem das Trauma nicht bearbeitet werden kann, scheitert der Prozess der integrativen Erinnerung, die ein kognitives Verstehen mit seiner emotionalen und moralischen Bedeutung verbindet. In diesem Scheitern wird die Bedeutung von Grass´ Forderung nach einer sinn-lichen Wahrnehmung von Geschichte umso prägnanter65. Die im zweiten Kapitel „Wiederholen“ dargestellten psychologischen Prozesse der so genannten „transgenerationellen Weitergabe“ von Traumata durch Zeitzeugen auf nachfolgende Generationen offenbaren, dass sich der (durch Großmutter Tulla) transgenerationell traumatisierte Konny Pokriefke und sein Opfer Wolfgang Stremplin in einer Welt bewegen, die nicht ihrer eigenen Zeit entspricht. Vielmehr lassen beide in bizarrer Weise die Welt ihrer Vorväter wieder aufleben. Dabei wird erneut die Diskrepanz zwischen der (durch Tulla übertragenen und verzerrten) individuellen Erinnerung und der (historischen) kollektiven Erinnerung deutlich. Hier offenbart sich eine mögliche Erklärung für die Lücke in der „empathielosen Wissensgesellschaft“ der nachfolgenden Generationen: die verzerrte Wahrnehmung durch übertragene Traumata. Auch in diesem Kapitel steht die Kernfrage dieser Studie in entsprechender Abwandlung im Mittelpunkt, wie (transgenerationell) traumatisierte Menschen historische Verantwortung für ein schwieriges Erbe übernehmen können, dessen Geschehen vor ihrer Zeit lag. Eine besondere Herausforderung ergibt sich für die Nachgeborenen aus der Nicht-Repräsentierbarkeit des Traumas. Dieser Sachverhalt findet sich sowohl im eigenen Trauma (vgl. Abschnitt „Trauma“) als auch im Trauma Holocaust. Um historische Verantwortung zu übernehmen, müssen den nachgeborenen Generationen Wörter und Bilder für die Vergangenheit verfügbar sein. Nur so lassen sich Erkenntnisse aus der Geschichte gewinnen, die zur Übernahme von Verantwortung befähigen. Der das zweite Kapitel einleitende Abschnitt „Holocaust“ 65 Neuhaus, Bd. X, S. 172 32 bezieht sich auf die eingangs dargestellte Blockade für die Nachgeborenen, denen der (gedankliche) Zugang zu dieser Katastrophe verweigert scheint. Das Diktum der „Nicht-Repräsentierbarkeit“ des Holocaust scheint dem Erfassen der historischen Katastrophe als Vorbedingung für die zivilisatorisch-evolutionäre Aufgabe in der Gegenwart entgegen zu stehen. Folglich steht in diesem Abschnitt die Frage im Mittelpunkt, wie sich (mitunter transgenerationell traumatisierte) Nachgeborene einen Zugang zum Holocaust schaffen können, der sie nicht bei Überforderung enden lässt (Dan Diner), sondern ihnen die Annäherung an jene Aufgabe ermöglicht, die sich aus dem Zivilisationsbruch ergibt. Dringlich stellt sich diese Frage in einer Welt ohne Menschen, die den Holocaust unmittelbar oder mittelbar erfahren haben. Es erscheint als unabdingbar, Brücken zu bauen, die den Gattungsbruch Holocaust in das Gedächtnis der Gegenwart - der dritten und den nachfolgenden Generationen – überführen können. Ohne Zeitzeugen kann das, wofür kein Medium gefunden wird, in einer alltäglichen Gegenwart nicht erinnert werden: „Unser Vorstellen und primäres Erkennen schneidet eben aus der unendlichen Fülle des Wirklichen und seinen unendlichen Auffassungsmöglichkeiten Bezirke heraus, wahrscheinlich so, dass die damit jeweils umgrenzte Größe als Grundlage unserer praktischen Verhaltungsweisen ausreicht.“66 Dass der Holocaust als „Verschnitt“ aus unserer Wirklichkeit vergessend überwunden wird, weil er jenseits der alltäglich gebrauchten „Grundlage unserer praktischen Verhaltungsweisen“ liegt, wird vorstellbar, möglicherweise wahrscheinlich. Auch darauf mag Grass hinweisen, wenn er die Architekten des Holocaust in die Vergessenheit verschwinden lässt („Falls in einem Fernsehquiz nach Himmler oder Eichmann gefragt würde, könnte mit teils richtiger Antwort, aber auch mit ratloser Geschichtsferne gerechnet werden.“ - 37) Im letzten Kapitel „Durcharbeiten“ sollen in einer konstruktiven Auseinandersetzung die „historischen Überlieferungen“ und der „Gegenwartshorizont“, wie sich diese jeweils im Krebsgang darstellen, miteinander „verschmolzen“ (Gadamer) und der sich 66 Georg Simmel, `Lebensanschauungen: Die Transzendenz des Lebens´, S. 212-235 in Gregor Fitzi, Otthein Rammstedt, (Hg.), Georg Simmel. Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, Gesamtausgabe, Bd. 16, Frankfurt, 1999, S. 214. 33 daraus ergebende Erkenntnisgewinn erarbeitet werden. Dieser kognitive und sinnliche Erkenntnisgewinn aus der Geschichte der Novelle Im Krebsgang lässt sich als die Voraussetzung für den Übergang von einer „empathielosen Wissensgesellschaft“ zur Übernahme bewusster historischer Verantwortung begreifen. Indem das Trauma über mehrere Generationen die Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft verschließt, können beide Horizonte nicht zur Erkenntnis aus der Geschichte verschmelzen. Dem Ende der Novelle Im Krebsgang entsprechend scheint sich Geschichte in weiteren Gewalttaten zu perpetuieren: „Nie hört das auf!“ Gleich Gadamer ist es im Krebsgang die „Bewegung“ im Horizont, die diesen Übergang generiert. Die Novelle verharrt nicht bei einer sich an Mitscherlichs´ Wiederholungszwang anlehnender Essenz (Die Unfähigkeit zu trauern) - denen am Ende der 1960er Jahre noch keine empirische Traumatologie zur Verfügung stand. In einem fast nebensächlichen Erzählstrang lässt Grass seinen Protagonisten Heinz Schön, den früheren Zahlenmeisterassistenten auf der Gustloff, der das gleiche traumatische Schicksal erlebt wie Tulla, eine wesentliche Entdeckung machen. Indem sich Schön immer wieder mit dem Trauma konfrontiert und sich in die (sinn-liche) Perspektive des Täters Kourotschkin, dem früheren Bootsmann des attakierenden UBoots S13, hineinversetzt, versteht er, dass die Handlung des Täters im Moment der Bombardierung durch ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit ausgelöst worden ist. Durch diese Bewegung der ständigen Konfrontation mit dem Trauma und des Perspektivwechsels gewinnt er die Fähigkeit zur Vergebung. Andererseits bringt allein der Dialog mit Schön dem früheren Bootsmann das Wissen um seine schreckliche Tat und befähigt ihn, sich mit seiner (angenommenen) Schuld auseinander zu setzen. Im Bild der gereichten Hände zwischen beiden Protagonisten spiegelt sich Gadamers Verschmelzung zur (beidseitigen) Erkenntnis („Horizonterweiterung“) aus einer authentischen historischen „Überlieferung“ mit dem Gegenwartshorizont („Vormeinung“). Im dritten Kapitel „Durcharbeiten“ wird nicht zuletzt dargestellt, welche Prozesse sich in der Beziehung zwischen Opfern und Tätern bzw. deren Nachkommen ergeben und welche Aufgaben sich daraus für Opfer und Täter 34 bzw. deren Nachkommen mit Blick auf die „Horizonterweiterung“ stellen. Diese Analyse basiert auf der These, dass die Verschmelzung von Vergangenheits- und Gegenwartshorizont zu einer Erweiterung bzw. Erkenntnis gelingt, wenn unmittelbare (Zeitzeugen) und mittelbare (transgenerationell übertragene) Traumata als eine verzerrende Perspektive gegenüber der Realität wahrgenommen werden. Die Empathielosigkeit als Symptom pathologischer Traumatisierungen zieht sich im lieblosen Umgang der Protagonisten miteinander als roter Faden durch die Novelle. Diese Empathielosigkeit verhindert ein Mitleiden mit dem Schicksal anderer. Entsprechend werden in einer Schlußbetrachtung die Mechanismen von (jeweils empathieloser) Gewalt und Gegengewalt im Verlauf der Geschichte, wie sie sich aus dem Krebsgang ergeben, noch einmal konzentriert aufgegriffen. In diesem abschließenden Teil tritt die Notwendigkeit der Erkenntnisgewinnung aus der Geschichte als Plädoyer von Grass besonders hervor. Zu Gunsten einer klaren Struktur der zahlreichen psychologischen, historischen und erinnerungskulturellen Einzelthemen als Bausteine der jeweiligen Kapitel erfolgt eine Gliederung dieser Studie in Textblöcken, versehen mit entsprechenden thematisch zugeordneten Überschriften, in denen jeweils bestimmte Aspekte in den Blickpunkt rücken. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Auseinandersetzung mit den Traumata jener Mitwisser, Mitläufer und Mittäter des NS-Regimes, die zu Opfern wurden und die transgenerationelle Weitergabe dieser Traumata aus der individuellen und kollektiven Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die nachfolgenden Generationen, wie sie sich in Günter Grass´ Novelle Im Krebsgang darstellt. Der Fokus liegt dabei auf Fragen nach möglichen Perspektiven, die eine Übernahme der historischen Verantwortung gegenüber Nationalsozialismus und Holocaust vor allem durch transgenerationell traumatisierte Protagonisten der nachgeborenen Generationen ermöglichen. 35 Nicht Gegenstand dieser Dissertation sind etwaige Fragen im Rahmen eines moralisch-philosophischen Kontextes nach Schuld und Sühne gegenüber Nationalsozialismus, Krieg oder Holocaust oder etwaige Vergleiche zwischen den Schicksalen von Tätern und Opfern. Die theoretische Basis dieser Arbeit ist die offizielle Definition des Krankheitsbildes pathologischer Traumatisierungen durch die Weltgesundheitsorganisation WHO67 sowie die empirischen Ergebnisse zur transgenerationellen Übertragung von Traumata. 67 Vgl. Abschnitt „Trauma“. 36 1. Kapitel: „Erinnern“ 37 Und wir: Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus! Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt, Wir ordnens wieder und zerfallen selbst. Rainer Maria Rilke, 8. Duineser Elegie 38 DIE INDIVIDUELLE ERINNERUNG 39 Abschnitt: „Trauma“ 40 Vorbemerkung Der Novelle Krebsgang ist als Motto „in memoriam“ - im Gedenken - vorangestellt. Das Gedenken ist ein Akt des Erinnerns. Das Erinnern steht am Beginn der Trauerarbeit. Im Prozess der Trauer werden die Objekte „nicht im Sinn der Theorie Freuds abgelöst durch andere, sondern erfahren eine sie erhaltende neue innere Wirklichkeit.“68 Zu fragen steht somit nach dem Weg von der Erinnerung zu der neuen (inneren) Wirklichkeit. In seinem Bericht über eine Arbeitstagung zum Thema Erinnerung und Gedächtnis im Jahr 1964 schreibt Hans-Georg Gadamer, es handle sich bei der memoria um ein `Riesenthema´, das immer nur `in Bruchstücken und Teilsaspekten´ diskutiert werden könne.69 Am Ende seines Berichts führt Gadamer die Formel vom „unendlichen Thema“ der memoria ein. Manfred Weinberg leitet daraus ab, dass die Erinnerung ein „Widerspiel von Unendlichkeit und Thematisierung“ ist, das nicht anders als „bruchstückhaft zu beschreiben“ sei.70 Diese Bruchstückhaftigkeit der Erinnerung bedingt, dass es „in ihrer Beschreibung aber auch darum (geht), das je Begrenzte zum es begründenden Unendlichen ins Verhältnis zu setzen.“71 In diesem Kapitel über die individuelle und kollektive Erinnerung geht es um das „Mit- und Gegeneinander von Unendlichkeit und Thematisierung“ bei der „Beschreibung des Erinnerungsgeschehens“72 im Krebsgang. Prägend ist dabei die beschränkende Sichtweise des Traumas, das die Protagonistin Tulla erlebt. Es gilt aufzuzeigen, welche Wirkung die individuelle (traumatische) Erfahrung auf die individuelle und somit auf die kollektive Erinnerung hat. Während sich das „Miteinander“ in den Erinnerungen findet, liegt das „Gegeneinander“ in dem Verdrängten verborgen. Beides zusammen ergibt den „Vergangenheitshorizont“ im Sinne Gadamers und stellt eine Grundlage für das dritte Kapitel „Durcharbeiten“ 68 Petra Strasser, `Trauer versus Melancholie aus psychoanalytischer Sicht´, in Mauser, Pfeiffer, (Hg.) Trauer, S. 42. 69 Hans-Georg Gadamer, `Bericht über die Arbeitstagung vom Oktober 1959´ in: Archiv für Begriffsgeschichte 9, S. 15-18, Mainz, 1964, S. 15. 70 Manfred Weinberg, `Nächtens mehr. Erinnerung und Gedächtnis in Hölderlins Hyperion´, S. 97-116 in Günter Oesterle (Hg.), Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik, Würzburg, 2001, S. 97. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 99 41 bereit. Zunächst sei einleitend ein Blick auf den bisherigen „erinnernden“ Umgang mit einer traumatischen Vergangenheit im Gesamtwerk Grass´ geworfen. 42 Die schwierige Trauer im Werk von Günter Grass In ihrer Schrift Über das Böse umreißt Hannah Arendt das „größte begangene Böse“ als das Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein. Im konzeptionellen Rahmen dieser Betrachtung könnten wir feststellen, dass Übeltäter, die sich weigern, selbst darüber nachzudenken, was sie tun, und die sich auch im Nachhinein gegen das Denken wehren – also sich weigern, zurückzugehen und sich an das zu erinnern, was sie taten (…) – es eigentlich versäumt haben, sich als ein Jemand zu konstituieren. Indem sie sturköpfig ein Niemand bleiben, erweisen sie sich als unfähig, mit Anderen zu kommunizieren, die, ob nun gut, böse oder in dieser Hinsicht unbestimmbar, zumindest aber Personen sind.73 In den Augen vieler hat Grass dieses „größte Böse“ begangen, indem er, der „in Fragen der historischen Schuld zum womöglich wichtigsten Auskunftsgeber der Deutschen wurde“74, über sechzig Jahre verschwiegen hatte, Mitglied bei der Waffen-SS als Panzerschütze der 10. SS-Panzerdivision „Frundsberg“ gewesen zu sein. „Er selbst schwieg ja auch, wie alle, die er angegriffen hatte, er zählt gleichfalls zu all denen.“75 Das Sich-Zurück-Erinnern an den jungen Günter Grass in der 2006 erschienenen Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel geriet in den Verdacht des „hämischen“ Strebens nach „Freispruch in einem Schauprozess befangener Richter“: Grass dokumentiert eine objektive Falschheit, sich selbst eingeschlossen, ob absichtlich oder nicht. Diese Form der Enthüllung verträgt – nach seinen Maßstäben – das Authentische nicht, und so setzt er dazu an, den Jungen, der er war, zu verleugnen. Insofern geschieht nichts Neues: Grass enthüllt wie seit jeher (und wie es heute alle machen) und er leugnet weiterhin, performativ, indem er von dem Jungen nichts wissen will oder ihn verachtet. Das ist dem Werk aufgetragen und prägt seine Form. 76 73 Arendt, S. 101-102. Frank Schirrmacher, `Das Geständnis´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 12.08.06, S. 1. 75 Christoph König, Häme als literarisches Verfahren. Günter Grass, Walter Jens und die Mühen des Erinnerns, Göttingen, 2008, S. 8. 76 Ebd. 74 43 Das „Rechthabenwollen“ des Autors, der sich schlicht von seinem früheren Ich abspalte, gebe dessen Werk einen neuen, schalen Beigeschmack: Sein Autor verträgt keine Schwächung der eigenen politischen `persona´. (…) Der Wille politisch und also öffentlich rechtzuhaben, will im Werk die sprachlichen Möglichkeiten, sich zu erinnern, in seinen Dienst nehmen; man wird von hier aus anders auf die Erzählstrategien in den Romanen Grass´ und die von ihnen insinuierte kognitive Unsicherheit sehen.77 Grass beschreibt sein Erinnern in einer Weise, die andere Motive für sein Schweigen offen zu legen vermag: Da mir, dem Kind einer Familie, die nach Kriegsende vertrieben wurde, im Vergleich mit Schriftstellern meiner Generation, die sesshaft am Bodensee, in Nürnberg oder im norddeutschen Flachland aufgewachsen, also im Vollbesitz ihrer Schulzeugnisse und Frühprodukte sind, kein Nachlaß aus Jugendjahren zur Hand ist, kann nur die fragwürdigste aller Zeuginnen, die Dame Erinnerung, angerufen werden, eine launische, oft unter Migräne leidende Erscheinung, der zudem der Ruf anhängt, je nach Marktlage käuflich zu sein.78 Vor vierzig Jahren schrieb Grass in der Blechtrommel über die „fragwürdigen“ und „launischen“ Erinnerungen, „das Wissen und das Nichtwissen sind an Zeiten und Grenzen gebunden.“79 Ein Besuch in Dachau, den der „Jungnazi“ Grass zur Umerziehung zu durchlaufen hatte, bestimmt diese Zeiten und Grenzen für das Wissen und Nichtwissen: `Habt ihr die Duschräume gesehen mit den Brausen, angeblich fürs Gas? Waren frisch verputzt, haben die Amis bestimmt nachträglich gebaut….´ Es verging Zeit, bis ich in Schüben begriff und mir zögerlich eingestand, dass ich unwissend oder, genauer, nicht wissen wollend Anteil an einem Verbrechen hatte, das mit den Jahren nicht kleiner wurde, das nicht verjähren will, an dem ich immer noch kranke.80 77 Ebd. Grass, Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen, 2006, S. 64. 79 Grass, Die Blechtrommel, Gütersloh, 1979, S. 191. 80 Grass, Beim Häuten der Zwiebel, S. 221. 78 44 Thomas Kniesche bestätigt Grass, seiner historischen Verantwortung nachgekommen zu sein: Günter Grass gehört zu jenen, die den Weg von der Schuld zur Scham gegangen sind (…) Von diesen Menschen schreibt Arendt: `Sie werden sich vermutlich nicht sehr gut zu Funktionären der Rache eignen. Eines aber ist sicher: auf sie und nur auf sie, die eine genuine Angst vor der notwendigen Verantwortung des Menschengeschlechts haben, wird Verlass sein, wenn es darum geht, gegen das ungeheure Übel, das Menschen anrichten können, furchtlos und kompromisslos und überall zu kämpfen.´81 Der Blick auf Grass´ Werk seit dem Ende der 1950er Jahre legt den Gedanken nahe, dass es gerade diese verdeckte Schicht des eigenen Beteiligtseins gewesen ist, die den Motor für das künstlerische und essayistische Schreiben kraftvoll in Gang gehalten hat. Das Wissen oder – vor dem Hintergrund des siebzehn Jahre alten Verführten und älteren Verschweigenden – die Ahnung über die eigene Unzulänglichkeit mag den Boden der Erkenntnis über die Notwendigkeit für den „Zwang“ zum Sprechen erst bereitet haben. In den frühen siebziger Jahren versucht Grass ein Arbeitsprofil des Schriftstellers in seiner Generation, die diese These stützt: Er versucht das, was unmittelbar verrinnt, in Vergessenheit gerät, mit ästhetischen Mitteln neu zu benennen und dadurch gegen diese verstreichende Zeit anzuschreiben. (…) Ein für meine Generation sehr bezeichnendes Nachholbedürfnis, ein Sichklarwerdenwollen über das, was unsere Kindheit ausgemacht hat und was dann weiterhin in der Nachkriegszeit belastete, war wohl der Hauptantrieb für diese Form des Schreibens. Ich habe das – für mich wenigstens – vorläufig abgeschlossen.82 Das Belastende wird zum wichtigsten Antrieb. Zu dieser Belastung gehört allem voran die eigene Verstrickung, das eigene Einlassen in die Abgründe und Thomas Kniesche, `“Das wird nicht aufhören, gegenwärtig zu bleiben.“ Günter Grass und das Problem der deutschen Schuld´, S. 169-190 in Hans Adler; Jost Herrmann, (Hg.), Ästhetik des Engagements, New York, 1996, S. 190. 82 Christof Schmid, `Wie ein Roman entsteht´, S. 63-72 in Gertrud Simmerding, (Hg.), Literarische Werkstatt, München 1972, S. 68. 81 45 dessen Verschweigen - ohne die das Werk von Grass vielleicht nicht möglich gewesen wäre. Die Zeitgebundenheit von Wissen und Nichtwissen offenbart sich gleichfalls in einer Beobachtung Kniesches. Anstatt „abgeschlossener Vergangenheitsbewältigung“ glaubt er von den frühen 1980er Jahren an bei Grass etwas anderes zu erkennen: „Was Grass hier also – zumindest für sich persönlich – meint abgeschlossen zu haben, erweist sich wenig später als dauerhaftes Trauma.“83 Obwohl Grass sich seit den 1980er Jahren zunehmend anderen Themen gewidmet habe, wie etwa dem Bevölkerungswachstum oder dem Nord-SüdGefälle, „holt ihn der Komplex `Auschwitz´ doch immer wieder ein.“ Als Beleg dafür verweist Kniesche auf den Butt, der von der Zwanghaftigkeit männlichen Agierens hin auf ein Ende handele, was „auch Auschwitz mit zu verantworten“ habe.84 Gegen Ende der 1980er Jahre gelangt Grass schließlich selbst zu der Ansicht, dass die Deutschen – explizit schließt er sich ein - ihre Vergangenheit nicht abgeschlossen haben. Zwar habe es in den 1950er und 1960er Jahren den gutgemeinten Begriff der „Bewältigung der Vergangenheit“ gegeben, aber „heute zeigt sich, und das stelle ich auch bei mir fest, dass die Vergangenheit nicht zu bewältigen ist. Das `Verbrechen Auschwitz´, (…) ist nicht zu bewältigen. Je größer die zeitliche Distanz wird, umso unbegreiflicher, umso schrecklicher wird es.“85 Für Grass, resümiert Kniesche, werden die Schuld und die Scham im Verlauf der verstreichenden Zeit immer größer.86 In seiner Gedenkrede zum 50. Jahrestag der Machtergreifung Hitlers formuliert der Autor einen Gedanken, der „dann noch oft von ihm vorgebracht werden wird“ und dessen alternierender Kern auf eine Traumatisierung durch die Geschichte hindeutet: ihre Vergangenheit werde für die Deutschen etwas, das 83 Kniesche, S. 182. Ebd. 85 Francoise Giroud, Günter Grass, Wenn wir von Europa sprechen. Ein Dialog, Frankfurt 1989, S. 26. 86 Kniesche, S. 194. 84 46 sich jeder Art von Bewältigung immer mehr entziehe und gleichzeitig etwas, das zum Sprechen gelangen wolle, das eine Einsicht ermöglichen könne, eine Selbsterkenntnis, „ohne die dieses Volk nicht fortbestehen“ könne.87 Erstmals formuliert Grass damit das konstruktive Element in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Einsicht über den Prozessverlauf von den Anfängen der Geschichte von Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust bis zu deren Ende setzt eine Form der Konfrontation voraus, die Grass mit dem Zeitbegriff der „Vergegenkunft“ (Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus) umrahmt. Eine Vergangenheit, die „ihren Schlagschatten auf gegenwärtiges und zukünftiges Gelände“88 wirft, die „nicht aufhören (wird), gegenwärtig zu bleiben“89 entspricht einem Erkenntnisprozess aus der Vergangenheit, der in Gegenwart und Zukunft niemals abgeschlossen sein wird – einer historischen Verantwortung als stetiger Aufgabe. Setzt man das unaufhörliche Durcharbeiten mit dem andauernden Schreiben des Autors gleich, so meint Grass, dass „dem Schreiben nach Auschwitz (…) kein Ende versprochen werden (kann), es sei denn, das Menschengeschlecht gäbe sich auf.“90 Die Überforderung, die diese Konfrontation insbesondere für die nachfolgenden Generationen mit sich bringt, wenn das unverständlichste aller Ereignisse zwischen 1933 und 1945 – der Holocaust – als Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit der Geschichte herangezogen wird, diagnostiziert Grass auch für seine Schriftstellergeneration rückwirkend in der „missverstandenen Verbotstafel“91. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung spricht er von der Wirkung, die Adornos Diktum - „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“92 - auf die junge Schriftstellergeneration hatte: „Bevor man sich Zeit nahm, Adornos 87 Grass, `Vom Recht auf Widerstand´, S. 836-843 in Volker Neuhaus, (Hg.), Günter Grass. Werkausgabe, Darmstadt, 1987, Bd. 9, S. 837. 88 Grass, Schreiben nach Auschwitz, Frankfurt, 1990, S. 33. 89 Ebd., S. 9. 90 Ebd., S. 43. 91 Ebd., S. 14. 92 Theodor W. Adorno zitiert in: Grass, ebd., S. 14. 47 herausgepflückte Zuspitzung im Umfeld ihrer vor- und nachgestellten Reflexionen zu entdecken, sie also nicht als Verbot, sondern als Maßstab zu begreifen, stand ausgesprochen wie unausgesprochen die Abwehr fest gefügt.“93 Doch woher kam diese Abwehr, wenn doch diese Generation keine unmittelbare Schuld trug, sogar vom ehemaligen Reichsjugendführer von Schirach von aller Verantwortung freigesprochen worden war?94 Diese Abwehr entsprang dem Bewusstsein, zwar nicht „als Täter, doch dem Lager der Täter zur Auschwitz-Generation“95 anzugehören. So reflektiert Grass mit Blick auf den Kreis junger Autoren: Sobald ich mich als lyrisches Jungtalent neben den Jungtalenten Enzensberger und Rühmkorf sehe, fällt mir auf, dass unsere Vorgaben – und Talent ist nichts als Vorgabe – spielerisch, artistisch, kunstverliebt bis ins Künstliche waren und sich wahrscheinlich kaum der Rede wert ausgelebt hätten, wären ihnen nicht rechtzeitig Bleigewichte verordnet worden.96 Diese Gewichte, eines davon Adornos Diktum, verordneten „dem ideologischen Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben Platzverweis zu erteilen und nur noch auf Zweifel zu setzen, der alles und selbst den Regenbogen graustichig werden ließ.“97 Grass selbst findet erst aus der „Distanz zu Deutschland – Sprache und Atem, um auf tausendfünfhundert Seiten in Prosa das zu schreiben, was mir trotz und nach Auschwitz notwendig war.“98 Unermüdlich hat Grass als Autor auf die Unvergänglichkeit der Vergangenheit von Auschwitz und des Nationalsozialismus in Deutschland bestanden.99 Die Erzählstruktur seiner Danziger Trilogie war geprägt vom Schuldmotiv als „Schuldmotor() in der Erzählposition“.100 In der Blechtrommel wollen die Besucher des Irrenhausinsassen Oskar ihre während der Nazizeit verlorene 93 Grass, ebd., S. 14. Grass, Beim Häuten der Zwiebel, S. 221. 95 Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 18. 96 Ebd. 97 Ebd., S. 18-9. 98 Ebd., S. 29. 99 Kniesche, S. 174. 100 Heinz-Ludwig Arnold, `Gespräche mit Günter Grass´, in „Text und Kritik“, Heft 1/1a, München, 1978, S. 7. 94 48 Menschlichkeit wiederentdecken, „indem sie das vermeintliche Unschuldslamm Oskar vor ungerechter Verfolgung retten wollen“101. In Katz und Maus avanciert der Schuldbegriff zu einem „personalisierten Schuldbegriff“. Der Erzähler Pilenz wird indirekt schuldig am Tod von Joachim Mahlke und kommt „von Katz und Maus und mea culpa“102 nur los, indem er schreibt, „denn das muß weg.“103 Kniesche verbindet dieses Schreiben mit einer isolierten Trauer: „Schreiben wird zur Trauer, die unabschließbar zu werden droht, weil, von den isolierten IchErzählern der Grass´schen Texte abgesehen, niemand bereit ist zu trauern.“104 Die Unmöglichkeit der Trauer entspringt der Schuld und der Scham, die erdrückend sind. Schließlich greift Grass in Hundejahre das Vergessen der Trauer und die Schuld, die man nicht loswerden kann,105 als zentrale Symbolik des Textes auf. Mit der Vogelscheuchenproduktion unter Tage in einem stillgelegten Bergwerk wird die Erinnerung an die Vergangenheit, die Schuld und die Trauer in die Unterwelt verbannt, und „als Mahnmal im Geiste des Wirtschaftswunders - und zugleich dieses parodierend – industriell verarbeitet.“106 Der Hund, der Matern nach dem Krieg hinterherläuft, symbolisiert die Schuld, die niemals zurückbleibt: „Hundejahre sind Jahre der versäumten Trauer, der Verdrängung und des Schweigens.“107 Grass macht das zentrale Schuldmotiv dafür verantwortlich, dass andere Themen in diesen Texten vielleicht zu kurz gekommen waren. Als Beispiel nennt er die „Identitätsprobleme“, die etwa bei Max Frisch eine wichtige Rolle spielen.108 Diese Selbstbezichtigung Grass´ lässt eine Ahnung für die Bedeutung der Zeitgebundenheit von Wissen und Nichtwissen aus einer traumatischen Geschichte erwachsen: „Locke had defined personal identity as one of consciousness through 101 Kniesche, S. 175. Grass, Katz und Maus, Neuhaus, Bd. 3, S. 81. 103 Ebd., S. 84. 104 Kniesche, S. 176f. 105 Ebd., S. 177. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Arnold, S. 11. 102 49 duration of time.“109 Stets wechselt der Erzähler in der Novelle Im Krebsgang zwischen der Suche in der Vergangenheit und dem Resultat daraus in der Gegenwart und - symbolisiert durch den Enkel Konny - der Zukunft. Dieser fortwährende Bruch zwischen den erzählten Zeiten und der Erzählzeit wird zum Abbild einer Suche nach Identität. Die Gebrochenheit der Identität offenbart sich schließlich im Scheitern des Erzählers, dem die Empathielosigkeit versagt, das Trauma als solches zu erkennen und zu übermitteln. Das Traumatische erschließt sich dem Autor aus eigenem Erleben: Später habe ich mir einige Situationen, denen nur mit Hilfe glückhafter Zufälle zu entkommen war, so lange in Erinnerung gerufen, bis sie sich zu Geschichten rundeten, die im Verlauf der Jahre immer griffiger wurden, indem sie darauf bestanden, bis ins Einzelne glaubhaft zu sein. Doch alles, was sich als im Krieg überlebte Gefahr konserviert hat, ist zu bezweifeln, selbst wenn es mit handfesten Einzelheiten in Geschichten prahlt, die als wahre Geschichten gelten wollen und so tun, als seien sie nachweislich die Mücke im Bernstein.110 Die Frage der Identität ist unabdingbar mit Schuld und Scham verbunden. Zu den wesentlichen Bestandteilen dieser Identität gehört das selbst Erlebte. Traumatische Erfahrungen während des Krieges, etwa Städtebombardements sowie Flucht und Vertreibung sind eine Zäsur im Leben jedes Menschen. Über ein halbes Jahrhundert, den Großteil der Lebenszeit vieler Zeitzeugen, sind diese Ereignisse aus dem öffentlichen Raum verdrängt worden. Was nicht nach außen reflektiert werden darf, kann keine Formen – Identitäten – gewinnen, auf denen die Verantwortung aus der Geschichte übernommen werden kann. Im Krebsgang hat Grass dieses unbestimmte Gespür um die Abwesenheit eines entscheidenden Elements der Geschichte aufgegriffen. Auch er, der „sah, wie die mit Flüchtlingen überfüllte Gustloff aus dem Danziger Hafen auslief. Er spürte, wie sie im Eiswasser versenkt wurde. Er musste ein ganzes Leben leben, um Christine Brooke-Rose, Rezension zu Ian Watts, `The Rise of the Novel´, “Times Literary Supplement”, 15.02.1957 nachgedruckt in “Times Literary Supplement” 24./31.08.2007, S. 20. 110 Grass, Beim Häuten der Zwiebel, S. 145. 109 50 darüber schreiben zu können.“111 Sein Erzähler Paul will nicht Schuld offen legen wie Oskar Matzerath oder abtragen wie Pilenz, sondern ein individuell erfahrenes Trauma an die Oberfläche bringen. Dabei arbeitet er sich Schicht für Schicht zugleich nach vorne und zurück, um Wirkung und Ursache des Traumas zu veranschaulichen. Dieses Schichtenabtragen ähnelt nicht dem Häuten einer Zwiebel, „deren Geruch den omnipräsenten `Leichengeruch´ verdrängen soll“112, sondern dem Lauf eines Krebses, der nur scheinbar zurück geht und dabei doch voran kommt. Mit der Veröffentlichung seiner Novelle Im Krebsgang im Jahr 2002 reagiert Günter Grass als erster Autor aus seiner Generation auf jene Debatte, die mit den Thesen W.G. Sebalds Ende 1997 zum Thema Luftkrieg und Literatur einsetzte. Darin hatte der Autor behauptet, die Luftangriffe und deren Folgen kämen im deutschen Bewusstsein und vor allem in der deutschen Literatur seit 1945 nicht vor. Die Städtebombardements durch Alliierte Streitkräfte, eine „in der Geschichte bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion“113 scheine bei den Deutschen „kaum eine Schmerzensspur“114 hinterlassen zu haben. Das Erscheinungsjahr der Novelle Im Krebsgang fällt an den Beginn eines neuen Jahrhunderts, an dessen Ende es keine Zeitzeugen für die zwölf Jahre währende NS-Zeit mehr geben wird. Insgesamt besteht in diesem Jahrhundert die Frage nach den Formen der Erinnerung und des Gedenkens, die die historische Verantwortung zu tragen vermögen. Der Krebsgang setzt die Themen aus dem dritten Teil der Danziger Trilogie Hundejahre fort115, wodurch die Novelle zu deren Fortsetzung insgesamt wird. Indirekt ist im Krebsgang darauf verwiesen: „Gleich nach dem Erscheinen des 111 Rüdiger Görner, `Des Widerspenstigen Gegenrede. Aufzeichnungen zu Günter Grass´, S. 481-492 in Norbert Honsza; Irena Swiatlowska, (Hg.), Günter Grass. Bürger und Schriftsteller, Dresden, 2008, S. 482. 112 Grass, Katz und Maus, Neuhaus, S. 95. 113 W.G. Sebald zitiert in: Volker Hage im Gespräch mit W.G. Sebald, `Feuer vom Himmel´, „Der Spiegel“, 3/1998, 12.01.1998, S. 169. 114 Ebd. 115 Rüdiger Bernhardt, Günter Grass. Hundejahre, Hollfeld, 2006, S. 24. 51 Wälzers `Hundejahre´ sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden“. (77)116 Die Novelle umspannt den Zeitrahmen von 1936 bis 1999. Handlungsorte sind das nationalsozialistische Deutschland, die russische Besatzungszone nach 1945 und die beiden 1949 gegründeten deutschen Staaten sowie das wiedervereinigte Deutschland nach 1990. In den gegenüber der Trilogie erweiterten Zeitrahmen und Handlungsorten kündigt sich eine Auseinandersetzung an, die über die Fragen der Schuld des Einzelnen, dem Kern der Danziger Trilogie, hinausgeht. Die Umgrenzung als Autor der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ lässt sich durch essayistische Subjektivität nur schwer überwinden, wenn es gilt, erweiterte Perspektiven zu besetzten. Im erhellenden Licht der Novelle, in der die unerhörte (tatsächliche) Einzelbegebenheit an die Oberfläche rückt, hat sich Grass, der sich als Autor der Abstraktion verweigert, eines unbewussten und sinnlichen Instrumentariums bei der Darstellung bedient: dem Trauma. Der Untergang des KdF-Dampfers Wilhelm Gustloff wird zur narrativen Plattform für die Leiden der deutschen Bevölkerung während des II. Weltkriegs durch Städtebombardements, Flucht und Vertreibung. Indem die traumatisierenden Auswirkungen dieser Ereignisse in den Blickpunkt rücken, werden die Figuren im Krebsgang zu „Opfern“. Parallel veranschaulichen sich in der kontextualisierten historischen Darstellung vor dem Untergang, Motive dafür, wie die Zeitzeugen zwischen 1933-45 zu Mitwissern, Mitläufern und Mittätern geworden sind. Gegenüber den Protagonisten der Novelle Im Krebsgang ergibt sich daraus die, vor dem bisherigen Werk Grass´ gesehen, erweiterte Perspektive der (traumatisierten) „Opfertäter“. Die Aufteilung der „Blöcke“ Schuld durch Nationalsozialismus und Holocaust einerseits und Leid durch Krieg andererseits deutet sich bereits in dem 1999 erschienenen Werk Mein Jahrhundert an. Im Jahr 1964 findet die Hochzeit eines jungen (Güter-)Bahnarbeiters und seiner schwangeren Freundin in Frankfurt statt. Die räumliche Zusammenkunft der standesamtlichen Trauung im Frankfurter Römer und 116 Die Zahlenangaben in Klammern entsprechen jeweils den Seitenangabe in der Novelle Im Krebsgang, 3. Auflage, Göttingen, Februar 2002. 52 des dort zur gleichen Zeit stattfindenden Auschwitz-Prozesses wirft Fragen auf, deren Antworten weiterhin verdrängt bleiben: `Davon haben wir nichts mitgekriegt. Wann soll das gewesen sein? Dreiundvierzig? Da gab´s bei uns nur noch Rückzug….´ Und Onkel Kurt sagte: `Als wir die Krim räumen mussten und ich endlich auf Urlaub kam, da waren wir ausgebombt hier. Aber über all den Terror, den die Amis und der Engländer mit uns angestellt haben, redet niemand. Klar, weil die gesiegt haben und schuldig nur immer die anderen sind. Hör endlich auf damit, Heidi!117 Der fragmentarische Streifzug durch das 20. Jahrhundert endet mit den traumatischen Erinnerungen einer Mutter, die starke Züge von Grass´ kaschubischer Mutter Helene Grass aufweist. Indem das Traumatische des 20. Jahrhunderts und seine Auswirkungen auf Individuen und Kollektive in den Blickpunkt rücken, verändern sich die Konstellationen gegenüber den Fragen nach Verdrängung und Schuld bzw. Schuldannahme durch die Zeitzeugen. Im Rahmen dieser Arbeit sollen diese veränderten Konstellationen und die Erweiterung, die sich daraus ergeben können, herausgearbeitet werden. Durch die Einführung neuer Generationen im Figurenensemble Grass´ - Paul als Sohn und Konny als Enkel Tullas - offenbart sich zugleich, wie die Vergangenheit ihre – durch das Trauma verzerrte - Schatten auf Gegenwart und Zukunft wirft. Diese narrative Ebene der Novelle rückt die Fragen nach der Übernahme der historischen Verantwortung in Gegenwart und Zukunft in den Mittelpunkt. Besehen im Lichte des transgenerationell übertragenen Traumas118 stellen sich auch für die Gegenwart und die Zukunft aus einer als traumatisch wahrgenommenen Vergangenheit neue Parameter, die es in dieser Studie herauszuarbeiten gilt. Die Zielsetzung am Ende dieser Arbeit ist die Darstellung der „Erweiterung“, i.S.v. Erkenntnis, die sich aus der erweiterten Wahrnehmung der Figuren Im Krebsgang als Opfertäter für die Zeitzeugen und die nächsten Generationen ergibt. 117 118 Grass, Mein Jahrhundert, Göttingen, 1999, 3. Auflage, S. 231. Vgl. Kapitel „Wiederholen“ 53 Zu jenen wenigen Rezensenten, die sich der Novelle aus traumatologischem Blickwinkel genähert haben, gehört Hannes Fricke. In einem Essay verweist er vor allem auf die durch die Erlebnisse von Flucht und Vertreibung veränderten Identitäten der Protagonisten und die Weitergabe der sich daraus ergebenden Zwänge an die nachfolgenden Generationen. Fricke betont, dass es in der Novelle gelungen ist, „die Unmöglichkeit aufzuzeigen, das Geschehen um die `Gustloff´zu schildern – sowohl für direkt Beteiligte als auch für selbst Unbeteiligte.“119 Auch öffne die Novelle die Perspektive dafür, dass eine Differenzierung im Umgang mit der eigenen Vergangenheit erforderlich ist, um einer Weitergabe des „Ungeheuerliche(n)“120 und des Unbewältigten über die Generationen entgegenzuarbeiten. 119 Hannes Fricke, `Günter Grass´ Im Krebsgang als verspätetes Dokument´, S. 161-168 in: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie, Göttingen, 2004, S. 164 120 Ebd., S 168 54 Die Erinnerung des Traumas Seit den 1970er Jahren stellt die Neurowissenschaft unsere Vorstellung vom Gedächtnis als einem schützenden Behälter für Erinnerungen radikal in Frage. Es gilt nun die Konzeption eines schöpferisch wandelbaren und damit aber auch grundsätzlich unzuverlässigen Netzwerkes.121 Nur ein kleiner Anteil unserer Erinnerungen ist sprachlich aufbereitet und bildet das Gerüst einer implizierten Lebensgeschichte: „Der Großteil unserer Erinnerungen schlummert in uns und wartet darauf, durch einen äußeren Anlass geweckt zu werden. Dann werden diese Erinnerungen plötzlich bewusst, gewinnen eine sinnliche Präsenz und können in Worte gefasst und zum Bestand eines verfügbaren Repertoires geschlagen werden.“122 Doch lassen sich nicht alle Erinnerungen, die in uns „schlummern“ erwecken. Wie in der Einführung dargestellt, bleiben die unzugängliche Erinnerungen, „deren Torwächter Verdrängung oder Trauma heißen“ 123 unter Verschluß. Diese Erinnerungen sind zu schmerzhaft oder zu beschämend und bedürfen äußerer Hilfe, um an die Oberfläche des Bewusstseins zurückgeholt werden zu könnnen.124 Zwar lässt der „Torwächter“ Trauma bestimmte Erinnerungen an die Oberfläche, die jedoch insofern unzuverlässig sind, als sie die Realität der Vergangenheit in einer verzerrten Weise wiedergeben. Dieses Phänomen ergibt sich aus der Entstehung des Traumas: „Ein psychisches Trauma ist ein Ereignis, das die Fähigkeit des Ichs, für ein minimales Gefühl der Sicherheit und integrativen Vollständigkeit zu sorgen, abrupt überwältigt und zu einer überwältigenden Angst oder Hilflosigkeit oder dazu führt, dass dieses droht, und es bewirkt eine dauerhafte Veränderung der psychischen Organisation.“125 Die Folge dieser Überwältigung des Ichs ist die NichtRepräsentierbarkeit des Erlebten: „Indem das Trauma den Schutzmantel durchschlägt, den die seelische Bedeutungsstruktur des Menschen bildet, resultiert der traumatische 121 A. Assmann, `Wie wahr sind Erinnerungen?´, in Welzer Das Soziale Gedächtnis. S. 109. Ebd. S. 104. 123 Ebd. 124 Vgl. ebd. 125 Werner Bohleber, `Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse´, S. 797-839 in „Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen“, 9/19, 54. Jahrgang Sep./Okt. 2000, Thema: Trauma, Gewalt und kollektives Gedächtnis, (nachfolgend „Trauma“), S. 830. 122 55 Zustand in einer Abwesenheit von Struktur und repräsentierbarer Erfahrung. Die Ereignisse werden registriert, aber nicht repräsentiert.“126 In der Novelle Im Krebsgang deutet eine Reihe narrativer Kernelemente auf das Trauma: Der Schiffskörper der Gustloff wird von feindlichen Torpedos angegriffen, die in das Innere des Schiffes eindringen. Paul, der den Untergang der Gustloff schildert, ist als Erzähler stets anwesend, sein Profil – seine Struktur - als Figur (78) jedoch abwesend. Seine Anlage im Text entspricht somit diesem zentralen Wesensmerkmal des Traumas, was ihn als eine Figur ausweist, die durch das Trauma geprägt ist. Die Abwesenheit der Struktur als zentraler Ausgangspunkt des Protagonisten Paul offenbart sich in der fragmentarischen und ungesicherten Schilderung seiner Geburt: „Doch das stimmt alles nicht. Mutter lügt. Bin sicher, dass ich nicht auf der Löwe….Die Uhrzeit war nämlich….Weil schon, als der zweite Torpedo…. (…) Nur schade, dass Doktor Richter nicht Zeit fand, auch noch die Urkunde: geboren am, an Bord von, mit genauer Zeitangabe handschriftlich.“ (146) Im nachfolgenden Abschnitt („Die Sprachlosigkeit des Traumas als Leitmotiv der Novelle Im Krebsgang“) soll die Dimension der traumatischen Prägung Pauls offengelegt werden. Tullas Wiedergabe ihrer Erlebnisse zeugt von der Nicht-Repräsentierbarkeit des Traumas. Unfähig ihre Geschichte in einer für den Rezipienten klaren Struktur mit einem Beginn und einem Ende zu erzählen, verliert sich ihre Schilderung in Fragmenten: „Kam alles ins Rutschen. Kann man nich vergässen, so was. Das heert nie auf. Da träum ech nich nur von, wie, als Schluß war, ain ainziger Schrei ieberm Wasser losjing. On all die Kinderchen zwischen die Eisschollen.“ (57) Ein Trauma, das nicht erinnert bzw. erzählt werden kann, kann auch nicht vergessen werden und gelangt somit in Bruchstücken stets zurück an die Oberfläche des Bewusstseins.127 Die Kulturwissenschaftlerin Gertrud Koch umreißt die Perpetuierung, 126 Ebd. S. 798. Koch, `Affekt oder Effekt. Was haben Bilder, was Wort nicht haben?´ in Welzer, Das Soziale Gedächtnis, S. 128. 127 56 die diese Form der fragmentarischen und zwanghaften Erinnerung für den Traumatisierten in der Gegenwart hat: Wenn keine Möglichkeit besteht, ein Trauma durchzuarbeiten, kann die traumatische Situation nur in Begriffen des Tragischen beschrieben werden. Das Trauma verschließt die Vergangenheit in der Zukunft als etwas, das wieder und wieder zurückkehren wird, als unfreiwillige Erinnerung – unfähig, vergessen zu werden und unfähig, bewusst erinnert zu werden und in einen Prozess des Durcharbeitens überführt zu werden.128 Die Wirkung dieser unfreiwilligen Erinnerungen auf traumatisierte Menschen ist, als ob diese (…) unfähig geworden sind, eine persönliche Wahrnehmung ihrer Erinnerung zu haben oder der Bilder ihrer gegenwärtigen Persönlichkeit zu assimilieren. Sie bleiben in ihrem Bewusstsein aufgehoben und werden automatisch reproduziert, als ob ihre Persönlichkeit an einem bestimmten Punkt blockiert wäre und nicht mehr durch die Hinzufügung, die Assimilierung neuer Elemente wachsen kann.129 Dieser traumabedingte Stillstand reflektiert sich etwa in dem Haar der siebzehnjährigen Tulla, das im Moment des Traumas „weiß“ wird. (55) Bis zur Gerichtsverhandlung ihres Enkels, zu der die inzwischen Siebzigjährige mit einer „weißlodernden Frisur“ (179) erscheint, ändert sich diese Farbe nicht. Das Traumatische wird betont, indem der Erzähler erklärt, dass Tullas Haar nicht das „silbrig weiß“ des Alterungsprozesses im Augenblick des Untergangs angenommen hat, sondern einfach „nur weiß“ (55) und somit „leer“ von Farbe sei. Als Paul beginnt, die traumatische Geschichte Tullas aufzuschreiben, ist der Enkel Konny (Pauls Sohn) bereits fünfzehn Jahre alt. (68) Die Novelle beginnt mit dem Satz: „Warum erst jetzt?“ (7) und deutet so auf die Verzögerung infolge einer Zeit des Schweigens. Dieses bereits in Freuds Traumakonzept als „Nachträglichkeit“ bekanntes Phänomen findet sich in der modernen Traumatheorie wieder. Zwischen dem traumatischen Ereignis und dem Ausbruch der Symptomatik liegt oft eine Latzenzzeit 128 129 Ebd. Ebd. S. 130. 57 von vielen Jahren.130 Bohleber erläutert diese Latenzzeit am Beispiel von Kriegsversehrten: Die Patienten (…) sind durch Kriegseinwirkung schwer traumatisiert: Verlust des Augenlichts, des Beines oder des Arms. Bei allen diesen Patienten erfolgt der Ausbruch einer angstneurotischen Symptomatik ca. 15-20 Jahre später. Eine genaue Untersuchung machte deutlich, dass diese lange symptomfreie Zwischenphase in Wirklichkeit eine `stumme Krankheitsphase´ war, bei der eine rigide Abwehrkonstellation an der Oberfläche eine Pseudo- oder Supernormalität zum Vorschein brachte. Der traumatische Verlust eines Körperteils wird durch eine Spaltung im Ich gleichzeitig anerkannt und verleugnet. Er ist ohne Bedeutung.131 Auf der symbolischen Ebene wiegt der Verlust von Tullas Haar – „wie sie ihr weißes Haar kurzgeschnitten, auf Streichholzlänge getragen hat.“ (55) - weit schwerer als der Verlust eines Körperteils. Der Symbolforscher Manfred Lurker beschreibt Haar als eine Metapher für die Lebenskraft: Krieger und Priester (Anm. d. Autorin: im antiken Griechenland) ließen sich die Haare nicht schneiden, um im Besitz ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte zu bleiben.“132 Tullas Kräfte scheinen nach der Katastrophe des Untergangs nicht wieder zurückgekommen zu sein: Mit ihrer Streichholzfrisur „läuft sie noch heute als alte Frau rum.“ (55) Vor dem traumatischen Erlebnis ist „ihr Haar von Natur aus annähernd blond, bisschen rötlich bis auf die Schultern gefallen.“ (55) Der Verlust ihrer lichtfarbenen Haare überspielt sie bis zum Prozess Konnys (179). Das in seiner Farbe an Tullas frühere Haare erinnernde rötlich-blonde Fuchsfell, das sie sich wie einen Schutzumhang um die Schultern legt (179), lässt sich als eine Metapher für die „Pseudo- oder Supernormalität“ in der Zeit der „stummen Krankheitsphase“ werten. Im Alter von sechzehn Jahren bekommt sie das „farbige Fuchsfell“ (179) von einem Obergefreiten geschenkt, einem der „denkbaren Erzeuger“ (177) Pauls. Das unbearbeitete Trauma überträgt sich, wie im Kapitel „Wiederholen“ ausführlich darzustellen sein wird, von Tulla auf Konny. Durch Konnys Mord an Wolfgang Mathias Hirsch, Psychoanalytische Traumatologie – Das Trauma in der Familie, Stuttgart, 2004, S. 20-21. Bohleber, „Trauma“, S. 818. 132 Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart, 1991, S. 272. 130 131 58 Stremplin wird die „stumme Krankheitsphase“ zur äußeren Katastrophe: „Erst nach einer geringfügig späteren traumatischen Belastung, die vom `Erlebnisthema´ her in einem inneren Zusammenhang mit der ersten traumatischen Situation steht, bricht diese Abwehrorganisation (Anm. d. Autorin: der Pseudo- oder Supernormalität) zusammen und es kommt zu einer massiven traumatischen Reaktion.“133 Entsprechend liegt Tulla der Fuchs am Ende „wie eine Schlinge um den Hals“ (179). Der zentrale Gegenstand der Novelle - der Untergang des KdF-Schiffes Wilhelm Gustloff - kehrt in der Unendlichkeit des unbearbeiteten Traumas wieder. Durch die unfreiwillige Erinnerung des Traumas spiegelt sich die „Widerstrebigkeit von Unendlichkeit und Einheit“, die Weinberg für die Erinnerung selbst bestimmt.134 Das Trauma präsentiert sich in Form stets wiederkehrender „Flashbacks“ - „Son Jeschrai kriegste nich mehr raus aussem Jehör….“ (146) - oder in Erinnerungslöchern völliger Dunkelheit stehenden memoria - Tullas „Binnichzuhauseblick“ (57) (vgl. nachfolgend „Post-traumatische Belastungsstörungen als pathologische Folgen des Traumas“). Gleich der Erinnerung ist das Trauma damit etwas Umfassendes, das nur in „Bruchstücken“ (Gadamer) wiedergegeben werden kann. Die Trauerarbeit bedingt die Arbeit an der Erinnerung. Worte und Bilder für das Unbeschreibliche zu finden, wird zur Voraussetzung für die Trauer. Indem das Trauma nicht repräsentiert werden kann, entsteht eine Blockade für den Trauerprozess: „Was aber im Schiffsinneren geschah, ist mit Worten nicht zu fassen. Mutters für alles Unbeschreibliche stehender Satz: `Da hab ech kaine Töne fier…´sagt, was ich undeutlich meine.“ (136). Damit steht das Trauma der Trauer als scheinbar unüberwindbarer „Torwächter“ (Assmann) im Weg. 133 134 Bohleber, „Trauma“, S. 818. Weinberg in Oesterle, S. 64. 59 Die Sprachlosigkeit des Traumas als Leitmotiv der Novelle Im Krebsgang Eine Figur, die im Hintergrund der Novelle stets zu Beginn eines Kapitels als die treibende Kraft für den Erzähler Paul erscheint, ist der „Auftraggeber“. Mit seiner Frage nach der Verzögerung der Erzählung um die Gustloff beginnt die Novelle: „`Warum erst jetzt?´“ (7). Er bezichtigt sich selbst eines Versäumnisses und des Versagens (77), nicht von der Begebenheit um die Gustloff erzählt zu haben. Hierin deutet sich auch für den „Auftraggeber“ eine „stumme Krankheitsphase“ an. Er hat sich „leergeschrieben“ (30) und bedarf eines Mediums als Erzähler des traumatischen Erlebnisses Tullas, den er wie eine „Fundsache“ (78) aufgespürt hat. In dem Begriff der „Fundsache“ assoziiert sich die Verdrängung des Traumas, die in den nachfolgenden Abschnitten behandelt wird. Im Konzept des Mediums deutet sich die Sprachlosigkeit des Traumas an. Paul ist eine „Person von eher dürftigem Profil“ (78). Wäre er „normal in Flensburg an Land gekommen und erst dort von Mutter entbunden, wäre ich kein exemplarischer Fall und gäbe heute nicht Anlaß fürs Wörterklauben.“ (41f) Die Negation des Normalen deutet auf eine „unnormale“, besondere Funktion des Protagonisten Paul. Erste Anhaltspunkte gibt Freuds These des Geburtstraumas, wonach der Säugling den uterinen Wasserraum und die Versorgung durch die Mutter verlassen muss und dazu gezwungen wird, von nun an selbst zu atmen. Diese Erfahrung trägt der Säugling in sich, wenn er in einer späteren Phase erleben muss, dass das nahrungsspendende Objekt, die Mutterbrust, verschwinden kann.135 Erst der „Enkel“ bekommt, in Erinnerung an den ertrunkenen Konrad, den Namen von Tullas Lieblingsbruder in der verlorenen Heimat. Der „Sohn“ Paul hingegen hält keine Verbindung zu diesen Wurzeln. Ihm fällt der Name des Kapitäns des Rettungsschiffes (147) zu. Paul ist „geboren, während das Schiff sank“ (78), also im auslösenden Moment des Traumas: „Glaich nachem letzten bums jingen bai mir die Wehen los…“ (138) Das Trauma wird somit zur Essenz der Figur Paul. Die Funktion die sich daraus für ihn ergibt, ist die einer Personifizierung des Traumas. 135 Andreas Jacke, Marilyn Monroe und die Psychoanalyse, Gießen, 2005, S. 41. 60 Im Verlauf der Novelle ergeben sich weitere Hinweise auf die Funktion Pauls als personifiziertes Trauma (nachfolgend als „das Trauma Paul“ bezeichnet). Insbesondere das Verhältnis zu seiner Mutter und die Umstände seiner Geburt geben Aufschlüsse. Sein „erster Schrei“ mischt sich „mit dem für Mutter nicht enden wollenden Schrei“ (151). Unter einem Tuch liegen „drei erfrorene Säuglinge“, zu denen später weitere hinzukommen (151), wodurch auf die Unmöglichkeit von Pauls wirklicher Geburt gedeutet wird. Auch gibt es „kein einziges Foto“ (126) von Paul als Säugling, was dessen symbolischen Charakter in der Novelle weiter untermauert. Tulla nennt er nicht „besitzergreifend `meine´, sondern immer nur `Mutter´“ (11). Das Aussparen des besitzanzeigenden Fürwortes verweist auf die merkwürdige Distanz, die ein Mutter-Sohn-Verhältnis negiert. Paul scheint „prädestiniert“ (78) als authentischer Erzähler: „Mein Bericht habe das Zeug zur Novelle“ (123). Allerdings versagt er bei dem Versuch, klare narrative Ausgangspunkte zu finden: Aber noch weiß ich nicht, ob, wie gelernt, erst das eine, dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muß, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen. (8-9) Am Ende stellt Paul fest: „Nie hört das auf.“ (216) In der Figur des Erzählers wird das Trauma somit zur Perspektive gegenüber dem zentralen Ereignis der Novelle, dem Untergang der Wilhelm Gustloff. Narrativ offenbart sich diese Perspektive in den beiden vorstehend beschriebenen Traumasymptomen: der Sprachlosigkeit und der Verdrängung. Die Bedeutung der Sprache im Krebsgang geht über deren übliche Stellung in literarischen Werken hinaus, indem ihre Abwesenheit – die Sprachlosigkeit - in den Blickpunkt rückt. Jemand, „der nicht ich bin“ (7) zwingt den Erzähler zu berichten (29/62). Impliziert wird, dass der Erzähler aus sich selbst heraus nicht berichten kann. Indem Paul das Trauma personifiziert, wird es für ihn als Erzähler unmöglich, eine 61 Sprache zu finden, die dieses Trauma narrativ strukturiert. Er findet weder einen Anfang – die Sätze des ersten Abschnitts sind zerstückelt (7) - noch ein Ende „Nie hört das auf.“ (216) Es geht um seine Existenz als das Trauma selbst: würde er die Geschichte Tullas durch die Repräsentation narrativ integrieren, würde er sich „selbst abwickeln“.(7) Wie bereits bemerkt, beschränkt sich die Sprachlosigkeit nicht ausschließlich auf das Trauma Paul. Der „Auftraggeber“ bezichtigt sich des Versäumnisses (77) und bedient sich des Mediums Pauls, um die Begebenheiten um den Untergang der Gustloff zu schildern (30). Wiederholt wehrt sich die fiktionale Figur gegen den Auftrag des „Alten“ (29/163). Obwohl Paul als Journalist ein professioneller Spracharbeiter ist, der sein Umfeld von rechts nach links, von „Springer“ (20) zur „taz“ (31) und schließlich zur „freiberuflich“ (32) bedingten Unabhängigkeit wechselt und damit auch seine Standpunkte, Perspektiven und seine Sprache ändert „haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir“ (7). Die Sprachlosigkeit wird so zum zentralen Motiv für die Entstehung der Novelle. Über diese Sprachlosigkeit wird eine Spannung erzeugt: die Frage danach, ob die Suche nach Worten, um etwas zu beschreiben, das nicht fassbar ist, am Ende erfolgreich sein wird. Hierin offenbart sich das Trauma und dessen Bearbeitung als Leitmotiv der Novelle. Das der Sprachlosigkeit zugrunde liegende Trauma offenbart sich bereits in der Antwort des Erzählers auf den ersten Satz - „Warum erst jetzt?“ (7) -, indem er sich in abgeschnittenen Halbsätzen verliert, die einer klaren Aussage entbehren. Neben dem Symptom der Sprachlosigkeit deutet sich auch das der Verdrängung an (vgl. Abschnitt „Verdrängung“). Mit Hilfe einer Übersicht anderer Wesensmerkmale des Traumas, die sich im Krebsgang wiederfinden, wird die These des Traumas und dessen Bearbeitung als Leitmotiv der Novelle nachfolgend weiter fundiert. 62 Post-traumatische Belastungsstörungen als pathologische Folge des Traumas Tullas Sohn Paul ist geboren „während das Schiff sank“ (78), das von Torpedos getroffen worden ist. Der Aspekt der Unfreiwilligkeit rückt hierdurch in den Blickpunkt: „Der Schrecken des Traumas ist seine Unfreiwilligkeit – es ist vom Subjekt, vom Ich abgesperrt und trifft es wie eine Kraft von außen.“136 Indem sich Paul gegen die stets wiederkehrenden Erinnerungen Tullas sträubt – „Aber ich wollte nicht.“ (31) - offenbart sich deren Unfreiwilligkeit. Ein wesentlicher Faktor des Unfreiwilligen ist das „Plötzliche, Disruptive und nicht zu Kontrollierende des traumatischen Ereignisses und die Erfahrung eines hilflos machenden Zuviel.“137 Diese Plötzlichkeit offenbart sich in Tullas Schilderung der Geburt Pauls: „Das jing wie nix. Ainfach rausjeflutscht biste.“ (145) Traumatische Erlebnisse bringen Individuen an die Grenze ihrer Belastbarkeit, ihres Handlungsvermögens und ihres Fassungsvermögens.138 In seiner Beschreibung des Prozesses der Traumatisierung greift der amerikanische Psychoanalytiker L. Rangell dessen pathologische Wirkung auf: Ein traumatisches Ereignis geschieht durch das Eindringen von Reizen in den psychischen Apparat, wodurch eine Reihe von intrapsychischen Vorgängen ausgelöst wird (traumatischer Prozess), und zwar dadurch, dass die Kapazität des Ich überfordert ist. Dieser intrapsychische Prozess führt zu einer Schwächung der Grenzen oder der Abwehrmöglichkeiten des Ich, sodass ein Zustand der Sicherheit nicht wieder erreicht werden kann. Es entsteht ein Zustand (traumatischer Zustand) des Gefühls der psychischen Hilflosigkeit, ein Gefühl des Fehlens von Kontrolle und eine Verletzbarkeit für weitere Reize; wenn dieser Zustand anhält, ist er in sich selbst ein pathologischer Zustand. Der traumatische Zustand kann durch Restitution beendet werden oder zu einer Entstehung von Symptomen führen.139 Damit gilt es zu unterscheiden zwischen dem Prozess der Traumatisierung, dem traumatischen Zustand und den bleibenden pathologischen Veränderungen. 136 Koch, S. 128. Bohleber, „Trauma“, S. 830. 138 Willi Butollo, Maria Hagl, Marion Krüsmann, Kreativität und Destruktivität posttraumatischer Bewältigung, Stuttgart 1999, S. 110. 139 Rangell zitiert in: Hirsch, S. 20. 137 63 Als pathologische Veränderung von traumatisierenden Erfahrungen können sich so genannte „Posttraumatische Belastungsstörungen“ einstellen. Ausgelöst durch pathologisches Verhalten von Vietnam-Veteranen wurde die Bezeichnung „Posttraumatische Belastungsstörung“ (nachfolgend „PTB“ genannt) offiziell als Diagnose erst 1980140 anerkannt und dominiert seither das Verständnis traumabedingter Störungen.141 Die Bedingungen, unter denen sich eine PTB infolge einer traumatischen Situation einstellen kann, sind klar umrissen: „(1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalten. (2) Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.“142 Der amerikanische Psychoanalytiker John H. Krystal glaubt, dass es nicht die traumatische Situation an sich ist, die das Gefühl der Hilflosigkeit auslöst, sondern erst deren subjektive Bewertung.143 Diese subjektive Bewertung wiederum ist abhängig von der individuellen Situation des Betroffenen. Ob diese individuelle Bewertung objektiv zutreffend ist, hat für die seelische Reaktion zunächst keine Relevanz: „Wird die Gefahr als unvermeidbar angesehen, geht die Hilflosigkeit in ein inneres Sichaufgeben über. Für Krystal ist diese Überwältigung der Abwehrfunktion und der Ausdrucksfunktion der Angst sowie deren Hemmung das eigentliche traumatische Ereignis.“144 Die Hilflosigkeit im Moment des in der Ostsee unentrinnbaren Bombardements der Gustloff zeigt sich im Bild der gebärenden Tulla: Doch soll ich, nach Mutters Erinnerung, mit meinem ersten Schrei jenen weithin tragenden und aus tausend Stimmen gemischten Schrei übertönt haben, diesen Vgl. Diagnosemanual „International Classification of Deseases“ (DSM), WHO, 1992. Butollo u.a., S. 14. 142 Butollo u.a., S. 26. 143 Krystal zitiert in: Bohleber, „Trauma“, S. 830. 144 Bohleber, „Trauma“, S. 830. 140 141 64 finalen Schrei, der von überall herkam: aus dem Inneren des absackenden Schiffsleibes, aus dem berstenden Promenadendeck, vom überspülten Sonnendeck, dem rasch schwindenden Heck und von der bewegten Wasserfläche aufsteigend, in der Tausende lebend oder tot in ihren Schwimmwesten hingen. (145-6) Vor allem in den Begriffen „absackenden Schiffsleib“, „berstenden“, „überspülten“ und „Wasserfläche“ assoziiert sich das „hilflose“ Ausgeliefertsein im Geburtsakt. Entsprechend Krystals Theorie der subjektiven Bewertung tritt nicht bei jedem Menschen infolge einer traumatischen Erfahrung eine PTB ein. Zu der Häufigkeit und den Bedingungen des Auftretens von PTB gibt es keine gesicherten Kennziffern. Lediglich ist bekannt, dass PTB keine seltene Störung ist.145 Deren Auftreten hängt u.a. von Alter und psychischer Stabilität des Opfers zum Zeitpunkt der Traumatisierung und der Intensität des Stressors ab.146 Fest steht, „dass ein Trauma, was seine Wirkung betrifft, in der Regel nur retrospektiv von seinen seelischen Folgen her definiert werden kann.“147 Auf der Textebene Paul als Trauma findet sich im Krebsgang ein Hinweis auf die Häufigkeit von PTB: Diese Einschränkung muss stehen bleiben: Meine Geburt war nicht einzigartig. Die Arie `Stirb und Werde´ hatte mehrere Strophen. Denn zuvor und danach kamen Kinder ans Licht. Etwa auf dem Torpedoboot T 36 sowie auf dem später eingetroffenen Dampfer Göttingen, (…), das im ostpreußischen Hafen Pillau zweieinhalbtausend Verwundete und mehr als tausend Flüchtlinge, unter ihnen an die hundert Säuglinge, an Bord genommen hatte. Während der Fahrt wurden fünf weitere Kinder geboren, ein letztes kurz bevor das im Geleit fahrende Schiff ein kaum noch von Hilferufen belebtes Leichenfeld erreichte. (144-5) Zu den möglichen Auslösern (Stressoren) einer PTB zählen „Naturkatastrophen, Krieg, gewalttätige Angriffe auf die eigene Person, (…), Folterung, Kriegsgefangenschaft, Gefangenschaft in einem Konzentrationslager, Unfälle.“148 145 Butollo u.a., S. 16. Ebd. 147 Bohleber, „Trauma“, S. 829. 148 Butollo u.a., S. 111. 146 65 Zeuge eines solchen Ereignisses zu werden „gilt ebenso als traumatische Erfahrung, wie von einem solchen Geschehnis zu erfahren, ohne unmittelbar Zeuge gewesen zu sein, wenn es sich um nahe stehende Personen handelt.“149 Hierin findet sich ein erster Hinweis auf Konnys transgenerationelle Traumatisierung infolge der Übertragung des Traumas seiner Großmutter. (vgl. Kapitel „Wiederholen“) Die Intensität des jeweiligen Stressors bestimmt die pathologische Auswirkung des Traumas. Für den Prozess der Traumatisierung ist zu unterscheiden zwischen einem relativ kurzfristigen, unerwarteten Ereignis wie ein Unfall oder ein Erdbeben (Traumata Typ I) und traumatischen Erlebnissen, die über einen längeren Zeitraum andauern oder sich wiederholen und somit zur erwartbaren Belastung werden, wie etwa Krieg oder Gefangenschaft (Traumata Typ II).150 Der amerikanische Traumatologe B. L. Green hat acht Dimensionen von Stressoren empirisch festgelegt:151 1) Bedrohung des eigenen Lebens oder der körperlichen Integrität; 2) Schwerwiegende körperliche Verletzung; 3) Absichtlichkeit der zugefügten Schädigung; 4) Konfrontation mit dem Grotesken (Grausamkeiten, Verstümmelungen); 5) Gewaltsamer/plötzlicher Verlust einer geliebten Person; 6) Zeuge zu werden von Gewalt gegen eine geliebte Person oder davon zu hören; 7) Zu erfahren, dass die eigene Gesundheit massiv bedroht ist; 8) Anderen Menschen schweren Schaden zuzufügen oder sie zu töten. Die letzt genannte Dimension ist im Rahmen der Untersuchung der Novelle Im Krebsgang von besonderer Bedeutung: die Traumatisierung der Täter. Dieser Aspekt spielt für die Ambivalenz der „Opfertäter“ eine zentrale Rolle: „Green (1993) bezieht sich (…) weniger auf die Reaktionen von Tätern im herkömmlichen Sinne, sondern auf die Stressreaktionen von Opfern, die zugleich Täter sind, wie z.B. im Krieg. Für 149 Ebd., S. 28. Ebd. 151 Green zitiert in: Butollo u.a., S. 114. 150 66 Vietnam-Veteranen konnte sie bestätigen, dass die Teilnahme an Grausamkeiten im Rahmen des Kampfeinsatzes die Wahrscheinlichkeit einer PTB erhöhte.“152 In den Protagonisten Tulla, Marinesko, Frankfurter und Konny sind sowohl Täter- als auch Opferanteile enthalten. Diese jeweiligen Bestandteile sind nicht eindeutig umrissen, sondern spiegeln sich vielmehr in der diffusen Ambivalenz ihrer Charaktere. Diese Ambivalenz wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit wiederholt aufgegriffen, da sie als ein zentraler zeithistorischer Aspekt für die Authentizität der Figuren von Bedeutung ist. An dieser Stelle bleibt wichtig festzuhalten, dass die Mischform aus Täter- und Opferanteilen in der Psychoanalyse als ein Auslöser betrachtet wird, der das Auftreten einer PTB begünstigt. Als charakteristische Symptome einer PTB sind ausgewiesen:153 1) Formen des Wiedererlebens des traumatischen Ereignisses in Alpträumen, oder in ungebetenen eindringlichen Erinnerungen („Flashbacks“ oder „Wiederholungszwang“)154; 2) Versuche, die Erinnerung an das Ereignis und die Beschäftigung damit zu vermeiden, indem z.B. bestimmte Personen oder Situationen umgangen werden (Verdrängung); außerdem auch eine insgesamt verminderte emotionale Ansprechbarkeit, ein emotionales Abstumpfen (Anm. d. Autorin: Empathielosigkeit); 3) eine permanente Übererregung, die sich z.B. im Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhter Reizbarkeit oder übertriebener Wachsamkeit zeigt. In der Figur Tulla finden sich Hinweise auf das Symptom der Verdrängung und das des Wiederholungszwangs. Letzterer äußert sich in ihren wiederholten 152 Butollo u.a., S. 114. Ebd., S. 13-14. 154 Anmerkung: Die intrusiven Phänomene des Wiedererlebens – Flashbacks - sind als „Wiederholungszwang“ in die Terminologie der Traumatologie eingegangen. (vgl. Werner Bohleber, `Einführung in das Thema der PSYCHE-Tagung 2004´, „Psyche“, Beiheft zur Tagung: Vergangenes im Hier und Jetzt, 59. Jahrgang, S. 9 – nachfolgend „Vergangenes“). 153 67 fragmentarischen Erinnerungen: Paul „(k)onnte das nicht mehr mit anhören, wenn sie mir, meistens sonntags, ihre Gustloff-Geschichten zu Klopsen und Stampfkartoffeln auftischte (…).“ (57) Deutlich wird die Verdrängung des Traumas in der Verweigerung Tullas, jemals wieder ein Schiff zu betreten (155). Auch erinnert sie sich nur über Umwege an das eigene Trauma: „Wie aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle koppunter.“ (31). Ihre einzige persönliche Erinnerung an das traumatische Ereignis ist der Fall aus dem Bett im Moment des zweiten Torpedoeinschlags. (132) Diese beiden Symptome entsprechen dem kognitiv-psychodynamischen Ansatz des amerikanischen Psychiaters M. J. Horowitz (1973, 1993) - als Erklärungs- und Beschreibungsmodell zur PTB.155 Danach stehen sich zwei komplementäre Verarbeitungsweisen des Traumas gegenüber: zum einen die zwanghafte Wiederholung des Traumas, d.h. intrusive Phänomene des Wiedererlebens und zum anderen die gedankliche Verleugnung und emotionale Erstarrung, die sich im Verarbeitungsprozess des Traumas abwechseln.156 Im Krebsgang findet sich diese komplementäre Verarbeitungsweise aus Flashbacks und Verdrängung auch in der Figur Paul (als Trauma). Seine Geburt ist mit der Schilderung des Untergangs der Gustloff verbunden. (132-139) Seiner drastischen Beschreibung, wie Menschen im eisigen Wasser erfrieren oder von anderen Schiffen zermalmt wurden, steht die Aussage gegenüber, keine Worte für die ebenfalls schrecklichen Vorkommnisse auf den Flüchtlingstrecks zu haben: „Ich kann das nicht beschreiben.“ (102) Auslöser des Wiederholungszwangs ist die Ausschaltung des verarbeitenden Ichs im Moment der traumatischen Erfahrung, die das Subjekt mit absoluter Hilflosigkeit überwältigt157: „Die anstürmenden Quantitäten von Erregung sind zu groß, um gemeistert und psychisch gebunden zu werden. Die Hoffnung, mit der Aktualisierung 155 Butollo u.a., S. 92ff. Ebd. 157 Bohleber, „Vergangenes“, S. 9. 156 68 des traumatischen Erlebnisses die Erregung (…) abzureagieren oder psychisch zu binden“158, löst den Wiederholungszwang aus. Das Trauma Paul beschreibt seinen eigenen Wiederholungszwang: „Mir aber, dem Überlebenden der Gustloff, schiebt sich bei jedem Stapellauf, bei dem ich als Journalist zur Stelle sein muß oder den ich im Fernsehen erlebe, der Untergang des bei schönstem Maiwetter getauften und vom Stapel gelaufenen Schiffes ins Bild.“ (52) Solange das Trauma fremd und unbegriffen bleibt, wird es wiederbelebt, es bricht in Wiederholungen ein und verstärkt das Gefühl der Hilflosigkeit: „Das häufige Wiederkehren traumatischer Erinnerungen in das Bewusstsein der Opfer und Überlebenden macht diese ohnmächtig und hilflos. Sie können nicht auf innere Mechanismen zurückgreifen, um die wieder aufsteigenden traumatischen Erlebnisse zu kontrollieren.“159 Dabei unterscheiden sich traumatische Erinnerungen von normalen, nicht-traumatischen Erinnerungen, indem erstere „Erinnerungen, Alpträume und Flashbacks“ von derart „unmittelbarer Qualität (sind), als wäre das Ereignis eben passiert. Sie demonstrieren dem Betroffenen, dass die Zeit nicht vergeht.“160 Das Gefühl unmittelbarer Gegenwärtigkeit stellt sich bei Tullas Aussage ein: „Son Jeschrei krieste nich mehr raus aussem Jehör…“ (146) Bohleber beschreibt, dass die immer wiederkehrende Überwältigung der Seele durch gleichbleibende traumatische Erinnerungssequenzen das Empfinden einer eingefrorenen oder zerstörten Zeit erzeugt und die Hoffnung auf Veränderung durch den Zeitablauf immer wieder zerschellen lasse:161 „Traumatisierte Patienten berichten oft, (…) ihre innere Uhr sei mit dem Datum der Traumatisierung stehen geblieben. Sie haben zwar ein Gefühl für die objektive Zeit, aber nicht für ihre eigenen Entwicklung und Lebenszeit, insbesondere nicht für ihre Zukunft.“162 Die erfrorenen Säuglinge, an die Tulla sich stets erinnert, können als Metapher für diese zerstörte Zukunft verstanden werden. Auch bei der Konfrontation mit ihrem Trauma während des Bohleber, „Trauma“, S. 801. André Karger, „Das kulturelle Trauma“, Vortrag Volkshochschule Düsseldorf, Feb. 2005. 160 Bohleber, „Trauma“, S. 827. 161 Ebd., S. 801. 162 Ebd., S. 827. 158 159 69 Treffens der Überlebenden in Damp, gebärdet die inzwischen gealtetere Tulla „sich andeutungsweise mädchenhaft“. (95) Eine Verdrängung bzw. Abspaltung der Erinnerung an das Trauma entsteht nach Horowitz dadurch, dass bisherige Rollenvorstellungen und Erfahrungsschemata nicht mit der traumatischen Erfahrung übereinstimmen: Solche durch die traumatische Information bedrohten Schemata sind z.B. die Vorstellungen der Unverletzbarkeit (…). Diese Dissonanz löst entsprechend unangenehme Emotionen aus und damit Versuche, diese zu bearbeiten. Dabei kommt es durch die überwältigende und existentielle Natur traumatischer Erfahrungen zu einer Art Informationsüberlastung: Die neue bedrohliche Information ist zunächst inkompatibel. Innerliche Konflikte und daraufhin Vermeidungsreaktionen sind die Folge. Die Erinnerung an die traumatische Erfahrung wird vermieden, das Trauma quasi nicht zu Ende gedacht. Dadurch wird eine vollständige Verarbeitung unmöglich, die Dissonanz bleibt bestehen und die Erinnerung an das Trauma bleibt weiterhin aktiviert.163 Die Vermeidungsaktionen gegenüber der Bearbeitung des Traumas in der Zeit nach dem traumatischen Erlebnis finden sich im Krebsgang in der Metapher der ertrunkenen Kinder als Symbol für die Zukunft wieder. Von den „über viertausend Säuglingen, Kindern, Jugendlichen an Bord des Unglücksschiffes (sind) keine hundert gerettet“ (126) worden. Die Erinnerung wird nicht bearbeitet, sondern verdrängt „getötet“. Für Hopper (1991) wird das Trauma zur inneren Katastrophe, zum „schwarzen Loch“, in dem Vernichtungsangst, Leere, Hilflosigkeit und Schmerz herrschen, die alles zu verschlingen drohen. Die Reihe von schützenden primitiven Vermeidungsmechanismen, wie Abspaltung, Projektion und Verleugnung, schaffen eine Art von Kokon oder Deckel, die das Loch zudecken.164 Im Krebsgang reflektiert sich dieses „schwarze Loch“ in dem hermetischen Innenleben der traumatisierten Tulla. Lediglich bei den historischen Protagonisten Marinesko, Frankfurter und Gustloff sind die Motive für ihr jeweiliges Handeln offen gelegt: Frankfurter will sein 163 164 Botullo u.a., S. 93. Hopper zitiert in: Bohleber, „Trauma“, S. 831. 70 Volk erretten (30), Marinesko will durch kämpferische Erfolge das Kriegsgericht von sich abwenden (128f) und Gustloff ist überzeugter Nationalsozialist. (10) Hopper beschreibt, wie der Traumatisierte im Falle eines „schwarzen Lochs“ versucht, ein „Containment“ zu schaffen und das traumatische Erleben in sich einzukapseln, es abzuspalten und aus dem Bewusstsein auszuschließen. Diese Einkapselung diene der Abwehr der Vernichtungsangst. Den Inhalt der Einkapselung bilden Selbst, Objekt und die verschiedenen Aspekte der traumatischen Situation. Hopper unterstreicht den realistischen, fixierten Charakter dieser Konfiguration: „Sie bildet einen inneren Fremdkörper in der Psyche und werden nicht in den allgemeinen Fluss unbewusster Phantasien mit integriert.“165 In der Geburt Pauls reflektiert sich der Prozess der Abkapselung. Den Moment des Traumas verbindet er mit sämtlichen diesem vorgelagerten bzw. (historisch kausalen) Attributen: Jadoch, nicht auf einem Torpedoboot, sondern auf dem verfluchten, auf den Blutzeugen getauften, vom Stapel gelassenen, einst weißglänzenden, beliebten, kraftdurchfreudefördernden, klassenlosen, dreimal vermaledeiten, überladenen, kriegsgrauen, getroffenen, immerfort sinkenden Schiff wurde ich aus Kopf- und in die Schräglage geboren. Und mit dem abgenabelten Säugling, der gewickelt und in schiffseigener Wolldecke verpackt wurde, ist Mutter dann, (…) ins rettende Boot. (146-7) Das Trauma setzt im Moment des Untergangs ein. Durch die Wolldecke, in die der Säugling „verpackt“ wird, entsteht ein isolierter Fremdkörper innerhalb des Bewusstseins – das Trauma Paul. Zugleich ist der fremde Körper mit der Psyche seines Trägers verbunden – mental unzertrennbar wie ein Säugling mit der Mutter. Die Verbindung zu dem untergehenden Schiff als Geburtsort des Traumas wird in der Geste der Abnabelung des Säuglings gekappt. Sämtliche der Geburt vorgelagerten (historisch kausalen) Attribute – ausgedrückt in der Abfolge der Adjektive - werden somit gleichfalls abgekapselt. 165 Ebd. 71 Durch die Abkapselung bleibt keine Erinnerung zurück und es entsteht der Wunsch, die Kausalkette der Ereignisse, die zum Trauma führen, zurückzuverfolgen. Das ist Pauls eigentliche Aufgabe, was sich in einer Aussage des „Opfers“ Jenny offenbart: „`Meine liebe Freundin Tulla setzt immer noch große Erwartungen in dich. Sie läßt dir sagen, dass es deine Sohnespflicht bleibt, endlich aller Welt zu berichten….´.“ (32) Dieser Aufforderung folgt die unmittelbare Verweigerung aus der Verdrängung heraus: „Doch ich hielt weiterhin unter Verschluß. Ließ mich nicht nötigen.“ (32) Wie Kapitel „Durcharbeiten“ darzulegen sein wird, verschmelzen nach Gadamer der „Vergangenheitshorizont“ aus der „Überlieferung“ mit dem „Gegenwartshorizont“ zu einer „Horizonterweiterung“, d.h. einer Erkenntnis166. Ist dieser Vergangenheitshorizont jedoch durch „Leere“ geprägt, die das „schwarze Loch“ in Folge eines Traumas hinterlässt, kann sich nach dieser Lesart keine Horizonterweiterung einstellen: Vergangenheit und Gegenwart können nicht miteinander zu einer „Horizonterweiterung“ verschmelzen. Konkret zeigt sich das „Containment“ für die Erinnerung an das Trauma in der Figur Tulla. Tulla erinnert sich nicht an „ihr“ Kind Paul, sondern spricht immer wieder von den anderen Kindern, die „mitte Beinchen nach oben raus“ im Wasser lagen. (z.B. 140) Die Kinder, die tot im Wasser liegen, dienen als Containment, in dem das eigene traumatische Erlebnis eingeschlossen wird. Das Wesen des „nicht-integrierten“ Fremdkörpers dieser Erinnerung wird dadurch sichtbar, dass diese Erinnerungen immer wieder in gleichen Worten, und ohne in einen Kontext eingebunden zu sein, in ihr Bewusstsein gelangen. Mit Hilfe dieser Erinnerungen umgeht sie die Konfrontation mit ihrem eigenen Schicksal. Sie selbst scheint nur Zeugin des traumatischen Ereignisses zu sein, denn die Erinnerungen an ihr eigenes Erlebnis offenbaren kaum katastrophale Momente. Vielmehr erzählt sie von ihrem Glück und ihrer Rettung. (138) Explizit finden sich Hinweise auf eine Abkapselung bei Tulla in der Schilderung des Untergangs: „Sie hat von alldem, was draußen außerhalb der Koje geschah, nichts mitbekommen. Weder die Festbeleuchtung des kenternd sinkenden Schiffes noch den Absturz in sich verknäulter Menschentrauben vom zuletzt aufragenden Heck.“ (145) 166 Vgl. Gadamer Wahrheit und Methode. 72 In der aktivierten Form der Speicherung wiederum tendiert die Erinnerung dazu, erneut repräsentiert, d.h. bewusst zu werden, es kommt zu den bereits erläuterten Intrusionsphänomenen167 - Tullas Flashbacks. Intrusion und Vermeidung stellen damit mentale Zustände dar, die einerseits aus dem Versuch resultieren, das traumatische Ereignis kognitiv zu verarbeiten, und andererseits aus dem Bedürfnis, überwältigende Gefühle zu vermeiden.168 Eine Vermeidung der Erinnerung ist dort funktional, „wo dieser Verarbeitungsprozess zu bedrohlich wird, sie ermöglicht eine quasi portionierte Beschäftigung in erträglichen Teilschritten.“169 Pathologisch wird die Vermeidung dann, wenn sie ein Durcharbeiten dauerhaft verhindert: „Intrusionen, die von Horowitz ebenfalls als natürliche Phase des Anpassungsprozesses begriffen werden, ermöglichen das Durcharbeiten, indem die traumatischen Erinnerungen aktiviert werden. Sie sind dort dysfunktional, wo sie das Individuum überschwemmen und pathologische Abwehrmechanismen auslösen.“170 Tullas „Binnichzuhauseblick“ (z.B. 50) deutet auf einen pathologischen Abwehrmechanismus insoweit als dieser sich einstellt, wenn sie mit dem Trauma in Berührung kommt. Der zirkuläre Verarbeitungsprozess zwischen Abwehr und Wiederholungszwang ist nach Horowitz in einem phasischen Verlauf eingebettet, „in dem nacheinander unterschiedliche mentale Zustände durchlaufen werden.“171 Die Phasen können sich abwechseln und wiederholen und sind in Ablauf und Ausprägung individuell verschieden.172 Nach Horowitz ist der Unterschied zwischen normaler Trauerreaktion und eher pathologischer Reaktion graduell: „Die einzelnen Phasen des Prozesses können bei dysfunktionaler Anpassung intensiviert und verlängert sein, bei der pathologischen Anpassung können irrationale Ausgestaltung und dysfunktionale Bohleber, „Trauma“, S. 831. Ebd. 169 Ebd. 170 Ebd. 171 Butollo u.a., S. 94. 172 Ebd. 167 168 73 Mechanismen überwiegen.“173 Im Krebsgang kann das Trauma Paul als Erzähler und als Sohn Tullas zugleich als narrativer Ausdruck dieser „irrationalen Ausgestaltung“ gewertet werden. Nach einer Phase des Aufschreis, in der der Betroffene das Ausmaß der Katastrophe realisiert und seiner Angst und Verzweifelung Ausdruck gibt, folgt eine Phase der Verleugnung und Intrusion.174 Paul schildert, wie während des Untergangs und im Moment seiner Geburt ein „finaler Schrei“ (145) ertönt – „Son Jeschrai kriegste nich mehr raus aussem Jehör…“ (146), dem die Stille folgt. In dieser zweiten Phase schwankt der Betroffene zwischen Nicht-wahr-haben-Wollen (Abspaltung) und intrusiven Erinnerungen (z.B. Flashbacks oder Alpträumen als zwanghafte Wiederholungen): „Kaum abgenabelt, lag auch ich still“ (ebd.) Bei Tulla resultiert das traumatische Erlebnis zunächst in Abspaltung. Die Abspaltung vom normalen Erleben bedeutet, dass dieser Bereich keiner äußeren Realitätskontrolle mehr unterliegt und in ihm eine Regression zur infantilen Omnipotenz und zu einem archaischen Über-ich stattfindet. Deshalb werden Ohnmacht und Wut, die in der traumatischen Situation mit einem Erleben absoluter Hilflosigkeit verbunden waren, gegen sich selbst gewendet als dem einzigen Ausweg, der dem Traumatisierten bleibe.175 Dieser Selbsthass zeigt sich in (dem Trauma) Paul: „Dafür, Mutter, und weil Du mich geboren hast, als das Schiff sank, hasse ich Dich. Auch dass ich überlebte, ist mir in Schüben hassenswert geblieben.“ (70) Eine Phantasie der eigenen Schuld entsteht, die allmächtige Züge annehmen kann, aber dem ganzen unbegreiflichen Geschehen einen Sinn gibt. Auch verschafft das Schuldgefühl ein Empfinden von Aktivität und Selbstverantwortlichkeit. Indem man sich die Verursachung selbst zuschreibt, wird illusionär impliziert, dass man es auch wieder gutmachen kann.176 Hieraus ergeben sich erste Hinweise auf die Aufgaben, die sich traumatisieren Opfern stellen und die im Kapitel „Durcharbeiten“ eingehend beschrieben werden sollen. 173 Ebd. Ebd. 175 Bohleber, „Trauma“, S. 832. 176 Bohleber, ebd., S. 832. 174 74 Das Durcharbeiten beginnt, wenn Vermeidung und Intrusion überwunden bzw. kontrolliert werden können. In dieser dritten Phase werden bisherige Schemata und Rollenvorstellungen überdacht und mit den neuen Lebenserfahrungen in Einklang gebracht. „In diesem Überdenken der bisherigen Lebensgrundsätze kann sich ein Wachstumsprozess entwickeln, in dem die Erfahrung des Traumas ihren Platz findet, es kann aber auch zu einer pathologischen Fixierung auf das Trauma kommen, die eine dysfunktionale Veränderung der Persönlichkeit bewirkt.“177 Bestimmt wird die kognitive Verarbeitung des Traumas durch die prätraumatische Persönlichkeit. Neben dem bereits erwähnten Alter und der Persönlichkeit kann z.B. auch eine verzerrte Realitätswahrnehmung vor der Traumatisierung den Verarbeitungsprozess erschweren.178 Dieser Aspekt wird implizit aufgenommen innerhalb der Fragestellung gegenüber den Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt. Reinfantilisierung, Abkapselung/Verdrängung und Flashbacks/Wiederholungszwang sind pathologische Reaktionen auf die seelische Überflutung infolge eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse. Damit ist der Prozess der Traumatisierung in ihren Grundzügen beschrieben. Außer bei den Protagonisten der Novelle können diese pathologischen Symptome des Traumas auch in der Form der Novelle selbst identifiziert werden, wodurch die Bedeutung des Trauma als zentraler Aspekt der Novelle Im Krebsgang unterstrichen wird. 177 178 Butollo, S. 94. Ebd. 75 Das Trauma in der Novellenform Der Auftrag gebende „Alte“ reflektiert explizit die Sprachlosigkeit des Traumas, indem er feststellt, dass „es ohnehin nicht gelinge, das tausendmalige Sterben im Schiffsbauch und in der eisigen See in Worte zu fassen, ein deutsches Requiem oder einen maritimen Totentanz aufzuführen (…).“ (139) Dennoch fordert er den Erzähler auf, er „solle“ sich „bescheiden, zur Sache kommen. Er meint, zu (seiner) Geburt.“ (139) Der Erzähler Paul steht als Trauma jedoch wie ein „unüberwindbarer Torwächter“ (Assmann) vor dem Eingang in die zerstörte Seelen- und Gefühlswelt der Protagonisten. Als Erzähler, dessen Geschichte das „Zeug zur Novelle“ (123) hat, muss er in den Kern seiner Figuren vordringen können (vgl. nachfolgend). Doch versagt er bei dieser Aufgabe, da ihm die Worte fehlen. Neben der Sprachlosigkeit selbst offenbart sich hierin auch der Ursprung der Sprachlosigkeit: das Trauma um die Gustloff als die „unerhörte Begebenheit“ (Goethe) oder als der Kern der Novelle. Als die Novelle Katz und Maus erschien, debattierten Rezensenten um den Gattungsbegriff. Wolfgang Pasche wertete den Versuch Grass´ als „eine Möglichkeit unter anderen, in dieser Zeit noch Novellen zu schreiben“ und bezieht sich damit auf die Auseinandersetzung mit der durch NS-Propaganda schwer beschädigten deutschen Sprache in den 1950er Jahren.179 Dem Autor sei es demnach nicht um eine Rekonstruktion des traditionellen Genres gegangen, sondern es sei seine „Art, den Problemen des Erzählens zu begegnen, die Grass in den fünfziger Jahren vorfindet.“180 Dem Autor der Novelle Katz und Maus unterstellt Pasche als Absicht: „Er versteht einen spielerischen Umgang mit dem fest gefügten Erzählmodell als Möglichkeit, die festgefahrenen Spuren zu verlassen.“181 Dem Problem des Erzählens mit einer beeinträchtigten Sprache begegnet Grass auch mit seiner Novelle Im Krebsgang vierzig Jahre später. Erneut verlässt der Autor eine „festgefahrene Spur“. Dieses Mal ist es die der Verdrängung des Untergangs der Gustloff im öffentlichen Gedächtnis und der daraus entstandenen Sprachlosigkeit, auf 179 Wolfgang Pasche, Lektürehilfe Katz und Maus. Günter Grass, Stuttgart, 2001, S. 80. Ebd. 181 Ebd. 180 76 die der Anfangssatz hinweist: „Warum erst jetzt!“ (7). Tatsächlich reflektieren Verdrängung und Sprachlosigkeit um die Gustloff die Unerhörtheit, auf die es Goethe beim novellelistischen Erzählen ankam: was nicht gesagt ist, kann nicht gehört werden. Indem die Erzählung den Untergang der Gustloff in den Mittelpunkt der Narration als das „Unerhörte“ stellt, bricht sie zugleich die Sprachlosigkeit auf. Die dadurch entstehende Öffnung ermöglicht einen Prozess des Durcharbeitens. Deutlich sichtbar wird die Novellenform im Krebsgang allerdings erst am Ende. „Die zentrale Begebenheit ist auf eine Pointe ausgerichtet, die eine so seltsame und nicht vorhersagbare Wendung erfährt, dass sie tatsächlich „unerhört“ genannt werden kann.“182 Das Ende der Novelle, Konnys Mord an Wolfgang, entspricht dieser Forderung: sie sind nicht als Feinde ausgewiesen, sondern: „Man hätte sie für Freunde halten können.“ (49) Darüber hinaus werden vor allem die Brüche mit der Novellenform sichtbar.. Die klassische Novellenform besitzt eine streng komponierte Architektur, die Klarheit und Selbstkontrolle vom Erzähler verlangt. „Sie ist straff geformt, ohne epische Exkurse, das Geschehen spielt in der realen oder in der fiktiv wirklichen Welt, führt geradlinig auf den Schluß hin.“183 Die Novelle ist somit eine Antipode zum Trauma, da es bei ihr gilt, Überflüssiges abzuwerfen, jede Art von Übermaß zu bekämpfen: an Wörtern und Bildern. Diese Anforderung steht im Gegensatz zur Struktur des Traumas und wird für den Erzähler des Untergangs der Gustloff nahezu unerfüllbar: „Jetzt wird mir geraten, mich kurz zu fassen, nein, mein Arbeitgeber besteht darauf.“ (139) Das Trauma als ein nicht zu fassendes Übermaß kann nicht in eine solche Struktur integriert werden. Der Traumatisierte fragmentarisiert und zerstückelt die Erzählung in Episoden und verliert sich in immerwährenden Wiederholungen. Eine geradlinige Narration ist ihm unmöglich. Der Wiederholungszwang des Traumas offenbart sich im Aufbau der Narration. „Er sagt, mein Bericht habe das Zeug zur Novelle. Eine literarische Einschätzung, die 182 183 Ebd., S. 82. Ebd., S. 81. 77 mich nicht kümmern kann. Ich berichte nur.“ (123) Das Trauma Paul bricht die Anforderung an den Erzähler einer Novelle, indem er nicht geradlinig auf einer Zeitebene gegen das Ende hin schreitet. Vielmehr unterbricht er seine Schilderungen der Handlung in der Gegenwart ständig durch narrative Einschübe über Handlungen in der Vergangenheit. Paul ist bemüht, Tullas Leben zu beschreiben, das seines Sohnes Konrad und sein eigenes. Er bedient sich dabei des sachlichen Tons eines Berichts. Dreh- und Angelpunkt aller drei Existenzen ist das Trauma um die Gustloff. Trauma und Sachlichkeit stehen im Widerspruch zueinander: Kennzeichen des Traumas ist ein Zuviel an Emotionen. Obwohl er die äußeren Begebenheiten von Tullas Leben kennt, gelangt Paul niemals zum Inneren, zum Kern seines Erzählsubjekts. Der nötige Schlüssel hierfür – die Empathie – steht ihm als berichtendem Erzähler nicht zur Verfügung (vgl. oben: Empathielosigkeit als charakteristisches Symptom einer PTB). Seine Empathielosigkeit verdammt ihn dazu, im Äußeren stecken zu bleiben. Die Novellenform hingegen bedingt, dass der Erzähler tiefe Einblick ins Thema und die Fähigkeit hat, diese Einblicke in Worte zu fassen. Es bedeutet, sich ständig die Frage zu stellen: `Worum geht es mir?´ und nach einer möglichst transparenten und vollkommenen Ausdrucksform zu suchen.184 Das Trauma Paul steht dem Dilemma gegenüber, dass er ein Geschehen schildern soll, das er nicht mit eigenem Bewusstsein erlebt hat (vgl. Ausführung zu „Abkapselung“ oben). Darüber hinaus versucht Paul den Anschein von Objektivität zu erwecken, indem er als Journalist professionell die Geschichte um die Gustloff aus verschiedenen Quellen recherchiert (Internet, Bücher, Zeitungsartikel, Tulla, Jenny, Heinz Schön etc.). Tatsächlich sind seine Eindrücke jedoch gesammelte subjektive Perspektiven von den am Trauma beteiligten Zeitzeugen: „Ich kann nur berichten, was von Überlebenden an anderer Stelle als Aussage zitiert worden ist.“ (137) Durch die subjektiv-episodenhafte Erzählweise, die „vollkommen untypisch für die Gattung `Novelle´ ist“185 ergibt sich ein weiterer Formbruch. 184 185 Vgl. Hugo Aust, Novelle, Stuttgart, 1999, S. 2ff. Pasche, S. 80. 78 Die innerliche Distanz des berichtenden Erzählers Paul wirkt dennoch nicht echt. Sein sachlicher Ton scheint allein dem Zweck zu dienen, Emotionen zu verhüllen und zu verdrängen. Tatsächlich gelingt ihm die Verhüllung nicht ganz. Zuweilen brechen Emotionen gewaltig an die Oberfläche: „Dafür, Mutter, und weil Du mich geboren hast, als das Schiff sank, hasse ich Dich. Auch dass ich überlebte, ist mir in Schüben hassenswert geblieben“. (70) Im Ergebnis wird die Widersprüchlichkeit zwischen emotionaler Taubheit und sachlicher Sprache zur Negation der eigenen Existenz Pauls. Dies spiegelt sich in Freuds Todestrieb als dem Wunsch nach Wiedererlangung des amorphen Urzustands, denn gegenüber seiner Mutter wünscht Paul, dass: „(sie) der Sog des über den Bug sinkenden Schiffes samt (seiner) Ungeburt in die Tiefe gerissen hätte…“ (70). Das Trauma Paul ist der Trauer nicht fähig. Vielmehr offenbart er melancholische Züge: „Die Disposition zur Melancholie können in der Art des Geburts-Geschehens und in der Art der Symbiose Mutter Kind angelegt werden: sie tragen sehr den Charakter der Ambivalenz.“186 Die Ambivalenz des Protagonisten Paul ergibt sich aus der äußerlichen Sachlichkeit und den im Inneren schwelenden Emotionen. Die Negation der eigenen Existenz durch das Trauma Paul steht zugleich für den Reflex der Verdrängung. Die öffentliche Verdrängung der Ereignisse um die Gustloff in den vergangenen Jahrzehnten erschwert eine Wahrnehmung der gesamten Historie. Durch die Forderung nach Konzentration auf die „unerhörte Begebenheit“ in der Novellenform erscheint das Kernereignis jedoch in grellem Licht. Es steht dem Vergessen der Katastrophe Gustloff in der Realität somit konträr entgegen. Zugleich wird aus einer Täterfigur (Tulla in Katz und Maus und Hundejahre) nun eine ambivalente „Opfertäterin“ (vgl. nachfolgend „Tullas Ambivalenz“). Dies deutet auf die Wahrnehmung der ambivalenten Struktur der Protagonisten als eine Vorbedingung zur Erfassung der Geschichte. 186 Lurker, `Trauer´, S. 766. 79 Diese Ambivalenz wird noch einmal durch die von Grass häufig angewandte Technik unterstrichen, „auf traditionelle literarische Formen zurückzugreifen und sie gleichzeitig zu sprengen.“187 Grass sprengt im Krebsgang die Novellenform, indem er die Widersprüche zwischen dem Inhalt der Narration (überbordende Emotion) und den Formalismen der Gattung (gradlinige Konzentration) offenbart. Diese Widersprüchlichkeit bedingt, dass die Geschichte niemals zum Ende gelangt: „Nie hört das auf.“ (216) Um die Widersprüchlichkeit aufzulösen, bedarf es der Offenlegung der Ambivalenzen der „Opfertäter“. Erforderlich für diese Offenlegung erscheint – vor dem Hintergrund des Traumas – ein psychologischer Kontext und – vor dem Hintergrund der Zeitepoche – ein historischer Kontext. Dahinter steht die Frage nach den inneren Strukturen, die bestimmte Handlungen auslösen (psychologischer Kontext) und den äußeren Umständen, die diese Strukturen begünstigt haben (historischer Kontext). Vor dieser Form der Annäherung wird Pauls Empathielosigkeit, die das Erkennen des psychologischen Kontexts verhindert, durch den Versuch gebrochen, Tullas Geschichte in einen historischen Kontext zu setzen. Der Erzähler schildert Details aus dem Leben Marineskos, Gustloffs und Frankfurters. Zunächst scheinen diese nicht gradlinig mit Tullas Trauma verbunden zu sein. Aus dem Verstoß gegen das Gebot der Kürze bei einer novellistischen Erzählung lässt sich die Aufforderung entnehmen, die Geschichte im historischen Kontext zu betrachten. Der historische Kontext alleine – ohne den psychologischen Kontext - scheint die Geschichte um den Krebsgang jedoch in eine Schieflage zu bringen. Diese Schieflage zeigt sich in dem scheinbaren Rechtsextremismus Konnys (vgl. Kapitel „Wiederholung“) als eine Wiederholung nationalsozialistischer Strukturen. Erst durch die zusätzliche Einbettung der Figuren in einen psychologischen Kontext werden deren Ambivalenzen deutlich. Erst die Wahrnehmung bestimmter psychologischer Prozesse beleuchtet die Bedeutung des Begriffs „Opfertäter“ für die Protagonisten und vermittelt ein authentisches Bild für den „Vergangenheitshorizont“ (Gadamer). 187 Pasche, S. 81. 80 Im nachfolgenden Teilkapitel „Kollektive Erinnerungen“ wird der Versuch unternommen, den historischen Kontext, in dem sich die Protagonistin Tulla befunden hat, wiederzugeben. Diese Wiedergabe erfolgt zugunsten einer besseren Klarheit gemäß Gadamers Umschreibung für die Erinnerung „bruchstückhaft“, d.h. in Abschnitten, in denen die jeweiligen Themen im Einzelnen beleuchtet werden. Zuvor jedoch gilt es, zwei weitere Aspekte zu vertiefen, die bereits aufgegriffen worden sind: die Ambivalenz der „Opfertäter“ und das Trauma des Täters. 81 Tullas Ambivalenz als Opfertäterin Als Überlebende des Untergangs der Gustloff ist Tulla traumatisiert. Dennoch ist sie nicht nur Opfer, sondern sie trägt Schuld. In Hundejahre stirbt Studienrat Brunies im Konzentrationslager Stutthof (211) infolge Tullas Denunziation. Sie ist somit einerseits das traumatisierte Opfer, andererseits die schuldbeladene Mitläuferin bzw. Mittäterin. Diese Ambivalenz aus der Vergangenheit rückt vor bis in die Gegenwart. Indem sie dem früheren deutschen Ostgebiet entstammt, repräsentiert sie einen Teil der deutschen Kultur, der nach 1945 nicht mehr existierte. Tullas Flucht aus ihrer Heimat führt sie in das totalitäre Regime die DDR. Die Diskrepanz, die sich zwischen West und Ost in den Dekaden nach Kriegsende entwickelt, zeigt sich in einem narrativen Bild: bei dem Treffen der Überlebenden des Gustloff Untergangs fuhr sie „in ihrem sandfarbenen Trabant vor: in Damp, zwischen Mercedes- und Opelkarossen, eine Sehenswürdigkeit.“ (92) Die Einbettung dieser bildlichen Diskrepanz – als Sehenswürdigkeit - in das Treffen der Überlebenden stellt eine Verbindung her zwischen dem Fall der Mauer und dem Trauma von 1945 und rückt so die Nachhaltigkeit der Ambivalenz Tullas als Täter und Opfer bis in die Gegenwart in den Blickpunkt. Aus der Beschreibung des „Alten“ wird deutlich, dass Tulla ihre Ambivalenz als Opfertäter nicht aufzulösen vermochte, um aus ihrem Vergangenheitshorizont eine Erweiterung, d.h. Erkenntnisse zu gewinnen. Der „Auftraggeber“ wünscht sich eine Tulla von gleichbleibend diffuser Leuchtkraft und ist nun enttäuscht. Niemals, höre ich, hätte er gedacht, dass sich die überlebende Tulla Pokriefke in solch banale Richtung, etwa zur Parteifunktionärin und stramm das Soll erfüllenden Aktivistin entwickeln würde. (…) Schließlich, sagt er, sei es die halbwüchsige Tulla gewesen, die in Kriegszeiten und also inmitten willentlich Blinder abseits der Flakbatterie Kaiserhafen eine weißlich gehäufte Masse als menschliches Gebein erkannt (…) (99-100). Im „Knochenberg“ als einem Symbol für Auschwitz spiegelt sich Tullas Mitschuld an dem Tod Brunies. 82 Die Schwierigkeit, die sich bei der Auflösung der Ambivalenz als Opfertäter stellt, ergibt sich aus einem Verweis durch das Trauma Paul bereits zu Beginn der Novelle: „Wenn ich jetzt beginnen muss, mich selber abzuwickeln, wird alles, was mir schiefgegangen ist, dem Untergang eines Schiffes eingeschrieben sein (…).“ (7) Die Gefahr der Schuldabwehr, also dem was „schiefgegangen“ ist (als Täter), wird mit Hilfe des Traumas, dem alles „eingeschrieben“ wird (als Opfer), in den Blickpunkt gerückt. Narrativ ist die Ambivalenz aus Schuld und Leid Tullas durch die Abwesenheit bestimmter Traumasymptome bei der Protagonistin untermauert. Ein häufiges Symptom bei traumatisierten Opfern ist das Gefühl von Schuld und Scham: „Traumatische Erlebnisse, besonders wenn sie uneingestanden bleiben, schwächen die Opfer dauerhaft und verstärken Gefühle von Scham und Erniedrigung als Auswirkung des Traumas und seiner Verinnerlichung.“188 Äußerlich ist Tulla vielmehr als robust gezeichnet: „Die Schwachen, Kranken und alle mit Erfrierungen an den Füßen wurden von Sanitätskraftwagen abgeholt. Typisch Mutter, dass sie sich zu den Gehfähigen zählte.“ (153) Indem sich Tulla gegenüber Brunies Tochter gebärdet, als hätte sie ihr einen „üblen Streich gespielt“ (207) wird gleichfalls die Abwesenheit von Gefühlen der Schuld in der Figur Tulla offenbart. Der Abwesenheit des Schuldgefühls als Mittäterin steht die Abwesenheit des Schuldgefühls als Opfer gegenüber. Menschen, die in lebensgefährliche Situationen geraten und durch andere gerettet werden, wie Tulla, die durch die Besatzung des Torpedobootes Löwe (146-7) gerettet worden ist, müssen erfahren, dass die „Tatsache ihres Überlebens nicht als der eigenen Verdienst, (…) sondern als Zufall und ohnmächtige Abhängigkeit von der Hilfe anderer (empfunden wird).“189 Wiederholt verweist das Trauma Paul, das während der Rettung geboren wird, auf seine – und damit implizit auf Tullas - zufällige Existenz. (7 oder 151) Diese 188 Karger, Vortrag Volkshochschule Düsseldorf, Feb. 2005. Bernhard Giesen, `Das Tätertrauma der Deutschen´, S. 11-53 in Bernhard Giesen; Christoph Schneider, (Hg.), Tätertrauma, Konstanz, 2004, S. 21. 189 83 Willkür ist die Ursache für Schuldgefühle, denn sie wirft die Frage auf, „(w)arum ich und nicht die anderen?“.190 Aus der Konstellation der ambivalenten Opfertäter stellt sich für den Prozess des Durcharbeitens eine Reihe von Aufgaben, die im entsprechenden Teil dieser Arbeit aufgegriffen und ausführlich dargestellt werden sollen. Nachfolgend soll die Erörterung des Tätertraumas die Dimension der Ambivalenz als Opfertäter weiter erhellen. 190 Ebd. 84 Das Tätertrauma des Bootsmanns Kourotschkin Das Konzept des Traumas bezieht sich vorwiegend auf die Opfer. Wie oben ausgeführt, kann eine Gewalttat gegenüber anderen Personen eine Posttraumatische Belastungsstörung beim Täter auslösen. Für das Erfassen des zeithistorischen Rahmens der Novelle Krebsgang erscheint ein Blick auf die Variante des „Tätertraumas“ daher als aufschlussreich. Der Begriff des Tätertraumas ist - insbesondere im Hinblick auf Nationalsozialismus und Holocaust - umstritten. Der Soziologe Bernhard Giesen bemerkt dazu: „Wir sind gewohnt, die Figur des Täters im Rahmen eines moralischen oder juristischen Diskurses über Schuld und Verantwortung individueller Personen zu behandeln.“191 Entsprechend gering ist die Variante des Traumas bei Tätern bisher in klinischen Studien untersucht worden.192 Bei der Beschreibung von Tätertraumata stehen ausschließlich pathologische Symptome und deren Folgen für die Nachkommen der Täter im Blickpunkt (s. Kapitel „Wiederholung“). Für den ehemaligen Bootsmann der S13 war der Untergang der Gustloff der eines namenlosen Schiffes, das, so glaubte er, „vollbeladen mit Nazis gewesen“ (97) war, die sein Heimatland verwüstet hatten. Tatsächlich war es der wirkliche Kommandant des U-Bootes S13 selbst, Alexander Marinesko, der sagte: „I was sure, that it was packed with men who had trampled on Mother Russia and were now fleeing for their lives.“193 Hier offenbart sich ein zentrales Merkmal des Täters im Moment vor der Tat: „Das Opfer hat weder Namen noch Gesicht, seine Identität als Person wird geleugnet, es ist ein Fall einer bestimmten Kategorie, die Entscheidung über sein Leben oder seinen Tod wird wie bei Vieh von anderen getroffen.“194 Indem sich der Täter zum Herrn über Leben und Tod des Opfers macht, nimmt er eine absolute Subjektivität für sich ein. Aus der Perspektive der modernen Subjektphilosophie in der Tradition Hegels leitet Giesen ab, dass „unsere Subjektivität 191 Giesen, S. 12. Ebd. 193 Marinesko zitiert in: Niall Ferguson, The War of the World. History´s Age of Hatred, London, 2006, S. 579. 194 Giesen, S. 15. 192 85 nur insoweit (existiert), wie sie von einer Gemeinschaft anderer Subjekte anerkannt wird.“195 Der Bootsmann Kourotschkin ist geprägt von der Erfahrung der Verwüstung seines Landes durch deutsche Soldaten. Im Sinne Hegels Subjektphilosophie konnte sich der Bootsmann sicher sein, das Richtige zu tun, als er „auf Befehl seines Kommandanten die drei Torpedos auf den Weg gebracht hatte.“ (97) Erst durch Heinz Schön erfährt Kourotschkin, dass nach der Torpedierung über „viertausend Kinder ertrunken, erfroren sind oder mit dem Schiff in die Tiefe gerissen wurden.“ (ebd.) Die Folge der zerstörten Subjektivität Kourotschkins offenbart sich in dessen Reaktion: „Von diesen Kindern soll der Bootsmann noch lange und in Wiederholungen geträumt haben.“ (ebd.) Der Begriff „Wiederholungen“ und der indirekte Hinweis auf Alpträume deutet eine Traumatisierung an: es ist die Traumatisierung eines Täters, dessen bisherige Subjektivität zerstört ist. „Diese selbst gesetzte absolute Subjektivität wird (…) zu einem Tätertrauma, wenn sie mit der Realität konfrontiert wird, wenn etwa, wie im deutschen Fall, der Krieg verloren wird und sich die Allmachtsphantasie der `Volksgemeinschaft´ als Trug erweist.“196 Doch verändert sich nicht nur innerlich die Haltung gegenüber der Tat: „Eine alte Rechtsordnung gilt wieder (…), die Tat wird ihr unterstellt, das Allmachtserlebnis (Anm. d. Autorin: des Täters) wird als Verbrechen entlarvt. Die Täter sind von nun an Mörder.“197 Als Mörder eines Menschen wird der Täter nicht nur gesellschaftlich zum Außenseiter, sondern auch mit seiner eigenen Schlechtigkeit und Sterblichkeit konfrontiert. Im Kapitel „Durcharbeiten“ werden die Prozesse dargestellt, die sich daraus für die Bearbeitung des Traumas ergeben. 195 Ebd., S. 17. Ebd., S. 22. 197 Ebd. 196 86 Abschnitt: „Verdrängung“ 87 Statt dessen erwachte mit erstaunlicher Geschwindigkeit (…) das gesellschaftliche Leben. Die Fähigkeit der Menschen, zu vergessen, was sie nicht wissen wollen, hinwegzusehen über das, was vor ihren Augen liegt, wurde selten auf eine bessere Probe gestellt als damals in Deutschland. W.G. Sebald „Luftkrieg und Literatur“ über die Mitte der 1940er Jahre. 88 Das untergegangene Schiff als Metapher für eine verdrängte Geschichte Das Konzept der Verdrängung in der Traumatologie findet sich in seinen Grundzügen in Freuds Vorstellung der „Abreaktion“: Freud bemerkte bereits, dass der Traumatisierte zu einer adäquaten Reaktion unfähig ist, dass er dem traumatischen Ereignis ohnmächtig gegenübersteht. `Abreagieren´ und `erledigen´ ersetzen wir heute durch `verarbeiten´ und `integrieren´ (…). Das überwältigende traumatische Ereignis ist nicht bewusstseinsfähig – nicht symbolisch repräsentiert - es ist verdrängt. Freud hatte noch nicht weitere Formen der abwehrenden Bewältigung wie Verleugnung, Introjektion, Projektion, Verwerfung (Ausschließung, Exklusion), die alle auf Spaltung beruhen oder zu ihr führen, zur Verfügung.198 Losgelöst von den Theorien der Traumatologie wird Verdrängung somit im Grunde zu einer abwehrenden Reaktion infolge einer Überforderung bei der Einordnung von Erlebnissen. Für die Zeit nach 1945 diagnostiziert Aleida Assmann eine Verdrängung der historischen Ereignisse in Deutschland, die sie auf eine emotionale „Anästhetisierung“ oder Empathielosigkeit zurückführt: Ihr moralischer Sinn und ihr persönliches Gewissen waren durch Übernahme einer rückhaltlos (kollektiv-) egoistischen Ideologie und Verinnerlichung einer funktionalistischen Bürokratie anästhesiert worden. Sie verdrängten ihre Schuld und Verantwortung, indem sie sie externalisierten, d.h. von sich abspalteten und auf eine kleine Gruppe von Verbrechern auslagerten. Mit dieser Lüge, an die sie selber felsenfest glaubten, schränkten sie ihren Wahrnehmungshorizont ein. Was Gegenstand der Kritik, der Empörung, des Abscheus, ja des Traumas hätte sein müssen, wie die schrittweise Demütigung und Entwertung, Ausgrenzung und Vertreibung, Deportation und Ermordung jüdischer Mitbürger, wurde aus der Wahrnehmung ausgegrenzt und aus dem Bewusstsein verbannt.199 Als ein Ergebnis dieser Verdrängung identifiziert Assmann indirekt die Diskrepanz in der Erinnerungskultur zwischen öffentlicher Kommemoration und privater Verdrängung in der Bundesrepublik: „Was damals nicht wahrgenommen wurde, weil man es nicht wahrhaben wollte, konnte später nicht zu einem Gegenstand der Erinnerung werden.“200 Sie bezeichnet diese Lücken als „blinde Flecken“, an die man sich nicht erinnern könne: „…um mich an etwas erinnern zu können, brauche ich eine 198 Hirsch, S. 10. S. Assmann, in Mauser, Pfeifer, Erinnern, S. 83. 200 Ebd. 199 89 Gedächtnisspur. Um eine Gedächtnisspur zu haben, muss zuvor etwas wahrgenommen und gespeichert worden sein, was dann später als Erinnerung wieder abgerufen werden kann.“201 Das zentrale Bild der Novelle Krebsgang - der Untergang eines Schiffes – kann als eine Metapher für die Verdrängung infolge einer traumabedingten Abspaltung gelesen werden: das Schiff als „innerer Fremdkörper“ (vgl. Abschnitt „Trauma“) im amorphen Umfeld des Meeresgrunds. Nach seiner Zerstörung verschwindet das Schiff von der Oberfläche. Lediglich aus der Sicht des oberflächlichen Betrachters ist das Schiff jedoch verschwunden. Wegen seiner dichten Masse bedarf es einer langen Zeit bis es zur Unkenntlichkeit verrottet ist. Das untergegangene Schiff symbolisiert die Unmöglichkeit ein Trauma nachhaltig zu verdrängen. Wie Wrackteile geraten Erinnerungsfragmente immer wieder an die Oberfläche des Bewusstseins. Da der Körper, zu dem diese Teile gehören, in der Tiefe verborgen liegt, können sie nirgends zugeordnet werden und verunreinigen als (scheinbar) sinnlose Einzelteile ihre Umgebung. Verdrängung und Verleugnung sind allerdings keine absoluten Zustände. Vielmehr sind sie „Umleitungen“202 auf dem Weg der Trauerarbeit. Wie häufig diese Seitenwege beschritten werden, bzw. wie weit sie verlaufen, hängt von der Schwere des erlittenen Verlustes bzw. dem Trauma ab. Wie bereits erläutert, vollzieht sich nach Horowitz der Versuch, das Trauma zu meistern, in Phasen (vgl. Abschnitt „Trauma“): „Intrusion und Wiederkehr traumatischer Erinnerungen wechseln sich mit Phasen der Verleugnung und emotionalen Betäubung ab. Durch diesen phasisch sich wiederholenden Verlauf kann die intrusive Gewalt und die Verleugnung allmählich reduziert und die traumatische Situation langfristig integriert werden.“203 Der Wechsel zwischen Erinnerung und Verleugnung wird im Krebsgang in einer Reflexion über die Erinnerungskultur thematisiert: „Eine Lücke fällt auf. Nach dem 201 Ebd. Bohleber, „Trauma“, S. 826. 203 Ebd. 202 90 Medizinstudenten David Frankfurter ist nichts benannt worden. Keine Straße, keine Schule heißt nach ihm. Nirgendwo wurde dem Mörder Wilhelm Gustloffs ein Denkmal erreichtet. Keine Website warb für die Aufstellung einer David- und GoliathSkulptur, womöglich am Tatort Davos.“ (166) Obwohl der Holocaust stets präsent war, denn immer wurde nur von „andre schlimme Sachen, von Auschwitz und so was“ (50) geredet und Gabi ihrem Sohn mit ihrem ewigen „Auschwitzgerede“ (195) auf die Nerven geht, besteht diese Lücke. Im Krebsgang ist es das nach außen gewandte „Gerede“, das Auschwitz in einen offiziellen Raum setzt. Hingegen klafft im Alltag, namentlich in den „Straßen“, die überquert und den „Schulen“, die besucht werden, die Lücke der verdrängten Erinnerung. Das Verdrängen, das sich im Schweigen äußert, ist allerdings keine „semantische Leere“204. Vielmehr kann das Schweigen „von Erzählstrategien erfüllt (sein), die Ideologien transportieren und unausgesprochene Voraussetzungen erfüllen. Was Schweigen konstituiert, ist die Abwesenheit von Wörtern, doch gleichzeitig und deswegen ist es die Anwesenheit ihrer Abwesenheit.“205 Der Literaturwissenschaftler Hamidas Bosmajina identifiziert zwei Arten des Schweigens: „Das eine kommt von einem Zuviel an Wissen, während das andere ein Nicht-Wahrhaben-Wollen ist. Zu diesem zweiten, verdrängenden Schweigen nehmen Erinnerung und Schuld ihre Zuflucht.“206 Das „Nicht-Wahrhaben-Wollen“ umreist die Psychoanalytikerin Getrude Hardtmann damit, dass der Durchschnittsbürger, „ohne dessen stillschweigende, duldende oder unterstützende Tätigkeit der Holocaust nicht durchführbar gewesen wäre“ nach 1945 nicht zu einer Übernahme von Schuld bereit gewesen sei, weil es an der Voraussetzung dazu gefehlt habe, nämlich der Bereitschaft zur „Einfühlung“ in die Opfer. Hardtmann vermutet, dass „ein nicht geringer Teil der Deutschen nach 1945 unter der Last der Schuldgefühle“ zusammen gebrochen wäre.207 204 Ernestine Schlant, Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München, 2001, S. 19. 205 Ebd. 206 Hamidas Bosmajina, Metaphors of Evil: Contemporary German Literature and the Shadow of Nazism, Iowa (USA), 1979, S. 17. 207 Gertrud Hardtmann, `Begegnung mit dem Tod. Die Kinder der Täter´, S. 250-253 in „Psychosozial“, (III/1992), S. 251. 91 Bohleber vermutet, dass die seelischen Nachwirkungen des Krieges bei jedem Einzelnen unterschiedlich gewesen seien (vgl. „Einführung“). Sie hingen ab von der Verstrickung in den Nationalsozialismus, von den Erlebnissen der Zivilbevölkerung auf der Flucht, bei Städtebombardements oder der Soldaten im Kriegsgeschehen und von der persönlichen Konstitution. Obwohl Millionen von Menschen von den Folgen des Krieges seelisch betroffen gewesen seien, bemängelt Bohleber, habe dieser „Tatbestand (…) zu keiner größeren wissenschaftlichen Reflexion traumatischer Erfahrungen und ihrer Effekte geführt. Auch wenn entsprechende Symptome und Folgen in den vereinzelt publizierten Fallberichten beschrieben wurden, so wurden sie weder als traumatische anerkannt noch als solche behandelt.“208 In seinem Essay Luftkrieg und Literatur verweist W.G. Sebald auf eine andere, eine Art moralisch motivierte Ursache für die Verdrängung: Zudem ist nicht auszuschließen, dass nicht wenige der von den Luftangriffen in Mitleidenschaft gezogenen, wie beispielsweise in Hans Erich Nossacks Bericht über den Untergang Hamburgs angedeutet wird, die riesigen Feuerbrände, trotz allen ohnmächtig verbissenen Zorns über den offenbaren Wahnsinn, als eine gerechte Strafe, wo nicht gar als Vergeltungsakt einer höheren Instanz empfanden, mit der nicht zu rechten war. Abgesehen von den Verlautbarungen der NS-Presse und des Reichssenders, in denen stets im selben Tenor von sadistischen Terrorangriffen und barbarischen Luftgangstern die Rede war, soll es sehr selten nur vorgekommen sein, dass jemand Klage führte über die jahrelange Destruktionskampagne der Alliierten.209 Bohlebers Analyse spiegelt sich in dem zum Standardwerk der zweiten Nachkriegsepoche avancierenden Buch Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich. In ihrer Studie (1967) haben die Autoren die kollektiven Verdrängungs- und Verleugnungsmechanismen in Deutschland zu analysieren versucht. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Abwehr und Verdrängung in Derealisierung und emotionaler Erstarrung resultierten. Dass die Unfähigkeit zu trauern, die von den Autoren diagnostizierte affektive Erstarrung und geistige 208 209 Bohleber, „Trauma“, S. 818. W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, München, 1999, S. 22-3. 92 Immobilität auch Folgen von Traumatisierungen sein können, ist nicht thematisiert worden. Die Ursachen für die Verdrängung der historischen Ereignisse in der ersten Phase der deutschen Erinnerungskultur lagen nicht ausschließlich im Inneren. Die Motivsuche führt auch zu der global-strategischen Situation der Nachkriegsjahre. Im Krebsgang arbeitet Wolfgangs (alias David) Vater Stremplin als Wissenschaftler in einem nuklearen Forschungszentrum. Die Geburt Stremplins (186) fällt in den Beginn des „Kalten Krieges“, in dem sich die ehemaligen Alliierten USA und Russland bald im Nuklearzeitalter nach Hiroshima und Nagasaki als Todfeinde gegenüberstanden. Das weltpolitische Szenario in den späten vierziger und in den fünfziger Jahren begünstigte die Verdrängung anstatt eine Aufarbeitung von NS-Regime und Holocaust. Seit 1949 verfügte auch die Sowjetunion unter der Führung Josef Stalins über die Nuklearwaffe. Die Vereinigten Staaten rechneten für 1951 mit einem russischen Atomangriff.210 Mit dem kommunistischen Umsturz in Prag im Februar und der russischen Blockade West-Berlins ab Juni 1948 gewann Deutschland eine wesentliche strategische Bedeutung für die Alliierten. Es galt, die Bevölkerung für den Westen zu gewinnen. Dem zuträglich sollte etwa die Beendung der Nürnberger Prozesse sein, wodurch die Verfolgung weiterer NS-Straftäter eingestellt wurde. Auch die elf Monate währende Berliner Luftbrücke war Teil dieser realpolitischen Strategie.211 Das nüchterne Agieren der westlichen Alliierten spiegelt sich in der „kühlen Betrachtungsweise“ Stremplins gegenüber „der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode“ (185). Im Krebsgang rächt sich die „distanzierte Beurteilung geschichtlicher Vorgänge…“ (ebd.) für den Nuklearforscher in der „wachsende(n) Distanz“ zu seinem Sohn, der am Ende das Opfer einer Mordtat wird. 210 211 `Am Abgrund´, „Spiegel“, Nr. 25/16.06.2008, S. 53. Ebd. 93 Wie bereits aus Bohlebers und Sebalds Einschätzungen ersichtlich, beschränkte sich die Verdrängung der historischen Vorkommnisse zwischen 1933-45 nicht auf die Verbrechen der Täter bzw. die Untaten der Mitläufer und Mitwisser. Auch die Erlebnisse der Opfer von Krieg, Städtebombardements, Flucht und Vertreibung in Deutschland wurden im öffentlichen und häufig auch im privaten Raum beschwiegen. 94 Verdrängte Flucht und Vertreibung Der Verdrängung von historischen Ereignissen liegen Abwehrprozesse zugrunde, die die Psychoanalytikerin Anna Buchheim als „unbewusste Inkohärenzen, Idealisierung, Entwertung, Ärger (und) Verleugnung“212 identifiziert. Die Liste dieser Prozesse spiegelt sich in Tullas stets wiederkehrender Idealisierung des KdF-Dampfers - „Is ja äijenlich ain scheenes Schiff jewesen…“ (206) -, ihrem entwertenden Kommentaren über Wolfgangs alias David – „jemeiner Liegner“ und „falscher Fuffzjer“ (182) -, ihrem Ärger über die Richter, die Konny verurteilen – „Schwainerei is das! Jibt kaine Jerechtichkait mehr.“ (198) - und dem späten Eingeständnis (vorangegangene Verleugnung), dass sie Konny die Mordwaffe besorgt habe. (198) Im vorangegangenen Abschnitt „Trauma“ sind die Symptome dargelegt worden, die auf eine Traumatisierung bei Tulla deuten. In diesem Teil soll das Verdrängte aus diesem Trauma beleuchtet werden. Das „weiße“, kurzgeschnittene Haar Tullas als Symbol für verlorenes Leben (vgl. Abschnitt „Trauma“) assoziiert den „weißen Tod“ als ein Symbol für das Trauma der Flüchtenden: …den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straßenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorene frische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr Menschen aus Furcht vor russischer Rache über endlose Schneeflächen ….Flucht…. Der weiße Tod….. (99) Die Brutalität Marineskos, der zu Tullas unmittelbarem Täter wird, repräsentiert das Bild der in Richtung Westen marschierenden Soldaten der Roten Armee: „Als er schon Maat auf einem Handelsschiff war, lachte man über sein Kauderwelsch; doch im Verlauf der Jahre wird vielen das Lachen vergangen sein, so komisch in späterer Zeit die Befehle des U-Bootkommandanten geklungen haben mögen.“ (13f) Deren Gewalttätigkeit bei Plünderungen, Übergriffen und vor allem Vergewaltigungen entsprach in der Realität dem Bild, das die NS-Propaganda von dem „Roten Teufel“ 212 Anna Buchheim, `Bindungsnarrative und psychoanalytische Interpretation eines Erstinterviews´, S. 35-50 in Bohleber „Vergangenes“, S. 40. 95 gezeichnet hatte: „…with Goebbel´s blood-curdling propaganda prophecies being fulfilled almost to the letter…“213 Schätzungen zufolge sind rund zwei Millionen deutsche Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt worden.214 Im Krebsgang sind diese Vorkommnisse in drastischen Bildern reflektiert: So wird, so kann es gewesen sein. So ungefähr ist es gewesen. Als wenige Tage nach dem Vorstoß der sowjetischen II. Gardearmee die Ortschaft Nemmersdorf von Einheiten der deutschen 4. Armee zurückerobert wurde, war zu riechen, zu sehen, zu zählen, zu fotografieren und für alle Kinos im Reich als Wochenschau zu filmen, wie viele Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt, danach totgeschlagen, an Scheuentore genagelt worden waren. T-34-Panzer hatten Flüchtende eingeholt und zermalmt. Erschossene Kinder lagen in Vorgärten und Straßengräben……Zudem stand in Übersetzung ein angeblich von dem russischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg verfasster Appell zu lesen, nach dessen Wortlaut alle russischen Soldaten aufgerufen wurden, zu morden, zu vergewaltigen, Rache zu nehmen für das von den faschistischen Bestien verwüstete Vaterland, für `Mütterchen Rußland´. (101) Der Erzähler der Novelle scheitert bei seiner Darstellung der Ereignisse von Flucht und Vertreibung schließlich an seiner Sprachlosigkeit: Die über die zurückeroberte Ortschaft verbreiteten Zeitungsberichte, Radiokommentare, Wochenschaubilder lösten in Ostpreußen eine Massenflucht aus, die sich ab Mitte Januar, vom Beginn der sowjetischen Großoffensive an, zur Panik steigerte. Mit der Flucht auf dem Landweg begann das Sterben am Straßenrand. Ich kann es nicht beschreiben. Niemand kann das beschreiben. (102) Darin deutet sich an, dass selbst diese drastischen Schilderungen über Massenvergewaltigungen nur einen Ausschnitt des Gesamtbildes der Flucht und Vertreibung wiedergeben können: „They raped even the women who were in labour or who had just given birth. (…) `That´s what the Germans did in Russia´, Ilse Antz was 213 Ferguson, S. 581. Vgl. etwa Ferguson, S. 581 und Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München, 2008, S. 40. 214 96 told after a Russian had raped her. As at Nanking, sexual desire was mingled with bloodlust.“215 Ob die schwangere Tulla das Schicksal einer Vergewaltigung erlitten hat, ist zunächst nicht offensichtlich. Aus der Art der Schilderungen Pauls lassen sich allerdings Hinweise auf eine Massenvergewaltigung finden: „Jedenfalls hat Mutter selbst nicht gewusst, wer sie geschwängert hat.“ (22) Paul, der „vaterlos geboren“ (151) ist, erzählt: „Weiß der Teufel, wer Mutter dickgemacht hat. Mal soll es in der Langfuhrer Elsenstraße ihr Cousin im dunklen Holzschuppen gewesen sein, mal ein Luftwaffenhelfer der Flakbatterie nahe dem Kaiserhafen (…) dann wieder ein Feldwebel (…). Einerlei, wer sie gestoßen hat.“ (151) Neben der Auflistung militärischer Ränge, die aufgrund des östlichen Handlungsortes an dieser Stelle das Bild russischer Soldaten assoziieren, spricht auch die verächtliche Sprache für den Sexualakt für eine Vergewaltigung. Erst auf dem Schiff scheint Tulla in Sicherheit: „Ganz sicher bin ich, dass Mutter keinen Geliebten an Bord gehabt hat und auch keinen meiner möglichen Väter.“ (114) Die traumatische Wirkung dieser Erfahrung ist an Tulla als erfolgreicher Leiterin der Tischlereibrigade erkennbar, die „tonnenweise Schlafzimmermöbel für die Russen produziert hat“. (67) Die „Schlafzimmermöbel“ symbolisieren dabei Deckerinnerungen für das eigentliche Geschehen. Unter diesem Begriff bezeichnet man in der Traumatologie eine Erinnerung, die ein anderes, wichtigeres oder gefährlicheres Ereignis, das nicht erinnert wird, überdeckt.216 Der dem Trauma eigene Wiederholungszwang wird in dem Massenproduktionsprozess („tonnenweise“) impliziert. Im Kapitel „Durcharbeiten“ wird das Verhältnis zwischen Täter und Opfer ausführlich dargestellt. An dieser Stelle soll dem mit einer typischen Symptomatik dieses Verhältnisses vorausgegriffen werden: Der der Tat nachfolgende Wunsch von dem oder den Tätern „geliebt“ zu werden (vgl. „Durcharbeiten“), lässt sich in Tullas „Männertick“ erkennen: „Was der Alte sich denkt. Glaubt womöglich, Mutter habe, 215 216 Ferguson, S. 580. Hirsch, S. 21. 97 nur weil der Schock ihr Haar gebleicht hatte, wie eine Nonne gelebt. Männer gab´s mehr als genug.“ (56) Entsprechend der zeitgenössischen Moralvorstellungen empfinden Tullas Eltern den Zustand ihrer Tochter als „Schande“ (106). Zu dem Schockerlebnis gesellte sich so das Gefühl der Schande über die erlittene Schmach. „In her diary, Ruth-Andrea Friedrich, a Berlin schoolgirl, recorded how her teacher had told the class: `If a Russian soldier violates you, there remains nothing but death.´ In the days that followed, her classmates `kill(ed) themselves by the hundreds.”217 Die Zahl der Frauen, die infolge von Vergewaltigung Selbstmord begingen, ist nicht zu ermitteln. Aufschluss darüber gibt lediglich, dass es im April 1945 allein in Berlin nahezu 3.900 registrierte Selbstmorde gab, fast zwanzig Mal mehr als im vorangegangenen Monat März.218 Da die meisten Männer an der Front waren, dürfte es sich bei dieser Zahl überwiegend um Frauen handeln, die den Freitod gewählt hatten. Nachdem eine Gruppe sowjetischer Soldaten in der oben geschilderten Weise in ein Entbindungsheim eingedrungen waren, reagierten die dort arbeitenden Nonnen sühnevoll: „Our people have sinned greatly. The time for atonement is upon us.“219 Sebalds Vermutung findet sich hierin bestätigt. Der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzende größte „Exodus der neueren (Anm. d. Autorin: europäischen) Geschichte zur Vertreibung und Flucht“220 aus den deutschen Ostgebieten betraf ca. 14 Millionen vertriebene Deutsche, „die nach dem Krieg ihre Heimat verloren.“221 Zwei Millionen Menschen kamen während Flucht und Vertreibung um, Deutschland verlor mit einem Viertel seines Territoriums unwiderruflich den östlichen Teil seiner Kultur. Kossert bewertet diesen Vorgang als einen elementaren Aspekt der NS-Zeit: „Abgesehen von der Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden hat nichts, was auf die NS-Wahnherrschaft 217 Ferguson, S. 582. Ebd., S. 581. 219 Ebd., S. 580. 220 Hans-Ulrich Wehler, `Einleitung´, S. 9-14 in Stefan Aust; Stephan Burgdorff, (Hg.), Die Flucht. Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, München 2005, S. 10. 221 Kossert, S. 9. 218 98 zurückzuführen ist, der deutschen Gesellschaft so schwere Wunden geschlagen und das Land so versehrt.“222 Aus dem öffentlichen Gedächtnis sind diese Wunden verdrängt worden, was sich in Tullas Erfahrungen im Krebsgang widerspiegelt: „Bai ons im Osten sowieso nich. Ond bai dir im Westen ham se, wenn ieberhaupt von frieher, den imerzu nur von andre schlimme Sachen, von Auschwitz und sowas jeredet.“ (50) Dies reflektiert weitgehend die tatsächliche Situation der Vertriebenen. Zu Beginn der zweiten Phase der westdeutschen Erinnerungskultur (vgl. Assmann in „Einführung“), seit den 1960er Jahren spielte „das Schicksal der Vertriebenen (…) kaum noch eine Rolle und auch die Erinnerung an das historische Ostdeutschland schwand zusehends, bewahrt nur noch in den landsmannschaftlichen Biotopen.“223 Für viele Vertriebene, die mit der Solidarität ihrer Landsleute gerechnet hatten, war die Ankunft im Westen zwischen Mitte und Ende der 1940er Jahre ein Schock: Die erlittenen Traumata während der Vertreibung, soziale Isolation und Deklassierung sowie das Ringen um eine Identität zwischen Hier und Dort machte das Heimischwerden in der fremden Umgebung oft geradezu unmöglich. Die Betroffenen schwiegen oder öffneten sich allenfalls spät und nur zögernd ihren nächsten Angehörigen.224 Erst allmählich gelang es den Vertriebenen, Gehör für ihre aus der Öffentlichkeit weitgehend verdrängte Geschichte zu finden. Allerdings fehlte dabei oftmals eine differenzierte Wahrnehmung: „Man betrachtete das Geschehen vorzugsweise aus dem Blickwinkel der Westdeutschen, während die Perspektiven der Vertriebenen, (…) kaum zur Geltung kam.“225 Eine Aussage Tullas verdeutlicht, was sich aus der Mischung von erlittenem Trauma und öffentlich Verdrängtem ergibt. Bezogen auf den Verleger Springer sagt Tulla: „Der ist ein Revanchist. Der setzt sich für uns Vertriebene ein.“ (31) Der Vertriebenen Tulla geht es nicht um Revanchismus. Vielmehr fühlt sie sich „überall von 222 Ebd. Ebd., S. 13. 224 Ebd. 225 Ebd. 223 99 Revisionisten und ähnlichen Klassenfeinden umstellt.“ (67) Bei der Suche nach einer öffentlichen Reflektion für ihr Trauma versucht Tulla lediglich, sich diese populistische Strömung zunutze zu machen, da es keine andere öffentliche Plattform für sie zu geben scheint. Kossert führt an, dass Vertriebene „pauschal als Revanchisten (galten), weshalb es unter Intellektuellen verpönt war, sich mit Flucht und Vertreibung der Deutschen zu beschäftigen.“226 Tullas Motiv für ihre Anlehnung an den Revisionisten Springer in Abwesenheit einer alternativen öffentlichen Plattform wird vor einer Bewertung Kosserts deutlich: Es steht nicht die kollektive Verantwortungsgemeinschaft (Anm. d. Autorin: gegenüber den NS-Verbrechen) zur Disposition, sondern es geht um die Aufnahme der deutschen Opfer von Krieg und Nachkrieg in die allgemeine Erinnerung. Der Kampf um Anerkennung der Vertriebenen als Opfer richtet sich weniger gegen die ostmitteleuropäischen Nachbarvölker als vielmehr auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft.227 Kossert bemerkt, dass es zwar dem in den 1950er Jahren gegründeten Bund der Vertriebenen nicht gelang, als Streiter für die Menschenrechte aufzutreten und seine heimatpolitischen Forderungen vom Verdacht der Revisionspolitik zu befreien, „(i)m Innern fand sich die Mehrheit der Deutschen – auch die Mehrheit der Vertriebenen selbst beziehungsweise deren Nachkommen – mit dem Verlust der Ostgebiete ab.“228 In der DDR blieb das Thema der Vertreibung insgesamt tabuisiert. Die Vertriebenen im Osten Deutschlands kannten keine Verbände und fanden keine öffentliche Unterstützung. Sie waren konfrontiert mit dem Neubeginn in einem zerstörten Land, der schwierigen Anpassung an eine neue Umgebung und dem Verlust der Heimat. Die DDR musste 4,5 Millionen Vertriebene aufnehmen, denen verboten wurde über ihre Flucht und Vertreibung zu sprechen.229 Sie wurden „Umsiedler“ genannt.230 226 Ebd. Ebd., S. 15. 228 Ebd., S. 154-5. 229 Vgl. ebd., S. 193-228. 230 Ebd., S. 215. 227 100 Entsprechend finden die Bücher des Gustloff Überlebenden Heinz Schön in Ostdeutschland keinen Anklang: „Doch in der DDR waren seine Bücher, die im Westen einen Verleger fanden, unerwünscht. Wer seine Berichte gelesen hatte, blieb stumm. Ob hier oder drüben, Schöns Auskünfte waren nicht gefragt.“ (62) Die Tabuisierung des Themas der Vertreibung in der DDR lässt sich auf zwei Gründe zurückführen. Zum einen strebte die Politik gegenüber der Sowjetunion am Anfang der Besatzungszeit eine Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn an. Der Kalte Krieg hat diese Tabuisierung mit der Bildung der Blöcke weiter gefördert: „Da sie ihr Schicksal dem `großen Bruder´ verdankten, galten sie offiziell als freiwillige Umsiedler und mussten bis zum Untergang des Sowjetimperiums öffentlich über ihr Schicksal schweigen: Sie waren nicht nur ihrer Heimat, sondern auch ihrer Geschichte beraubt worden.“231 Ein weiterer Grund für die Tabuisierung lag in der „Instrumentalisierung der Vertriebenen in Westdeutschland.“232 Die dort ansässigen rund acht Millionen Vertriebenen spielten in der Bundesrepublik als, aus heutiger Sicht, rechtslastige Wählergruppe eine sehr viel größere Rolle als in der DDR. Für die DDR gab es daraus Ansätze zur Gegenpropaganda, die dazu führte, dass die Vertriebenen mundtot gemacht wurden. Unter allen Umständen sollte verhindert werden, dass die Vertriebenen als Interessensgruppe zu einer politischen Macht avancierten.233 Nach der Wende haben sich die meisten Vertriebenen aus der DDR relativ schnell in zahlreichen Verbänden organisiert, um die Zeit der Tabuisierung aufzuarbeiten. Im Krebsgang reflektiert sich dieses in dem Treffen der Überlebenden in Damp: „Diesmal jedoch kamen auch diejenigen, für die der Untergang des Schiffes etwas war, das über die Zeit hinweg von Staats wegen beschwiegen werden musste. (…) Unter den Überlebenden sollte es keinen trennenden Unterschied zwischen Ossis und Wessis geben.“ (92) 231 Rainer Traub, `Der Raub der Geschichte´, S. 133-142 in Aust; Burgdorff (Hg.), Die Flucht, S. 139. Johannes Eglau, „Vertrieben - Das Schweigen der DDR“, Dokumentarfilm, MDR/2006. 233 Ebd. 232 101 Kossert ist der Ansicht, dass es bei derartigen Treffen nicht um revanchistische Ansprüche ging. Den Verlust der Heimat habe man akzeptiert, aber „das erlittene Schicksal, das Leid, das bleibt bei diesen Menschen sehr stark im Vordergrund“.234 Auch in Damp wird eine „polnisch-deutsche Annäherung“ (96) versucht. Wie stark die traumatischen Erlebnisse bei diesem Treffen wirken, zeigt sich in den Ressentiments gegenüber dem „Russenfreund“ Heinz Schön, der einen „Vortrag zum Thema `Die Versenkung der Gustloff am 30. Januar 1945 aus der Sicht der Russen´ hielt (…). Man schnitt ihn nach dem Vortrag. (…) Für sie hatte der Krieg nie aufgehört. Für sie war der Russe der Iwan, die drei Torpedos Mordwaffen.“ (96-7) Die Spannung zwischen dem erzwungenem Schweigen einerseits und dem zwanghaften Erzähltrieb des Traumas andererseits drückt sich in der Novelle durch eine sprachliche Distanzierung aus, indem sich die Mundart sprechende Tulla hinter der hochdeutschen Sprache „versteckt“: „Denn sobald sie danach befragt wurde, kam etwas zur Sprache, das im Arbeiter-und-Bauern-Staat kein zugelassenes Thema war: die Gustloff und ihr Untergang. Aber manchmal und eher beiläufig vorsichtig hat sie auch von dem sowjetischen U-Boot und den drei Torpedos erzählt, wobei Mutter jedes Mal gestelztes Hochdeutsch bemühte, sobald sie den Kommandanten von S 13 und seine Männer `die uns Werktätigen freundschaftlich verbundenen Helden von der Sowjetmarine´ nannte.“ (140) Die fehlende Reflexion über ihr Trauma im öffentlichen und privaten Raum führt Tulla in eine Orientierungslosigkeit hinein, die in der Realität der Nachkriegszeit ein häufiges Merkmal bei Flüchtlingen im Exil war. 234 Kossert, S. 215. 102 Leben im Exil – Tullas Orientierungslosigkeit Als Tulla beim Betreten der Gustloff von ihren Eltern getrennt wird, hat ihre Mutter Erna ein Fotoalbum der Familie im Flüchtlingsgepäck: Tulla Pokriefke sollte das Fotoalbum und ihre Eltern nie wiedersehen. Das schreibe ich in dieser Reihenfolge auf, weil mir sicher zu sein scheint, dass der Verlust des Fotoalbums für Mutter besonders schmerzhaft gewesen ist, denn mit ihm sind alle Aufnahmen, geknipst mit der familiären Kodak-Box, verlorengegangen, auf denen sie mit ihrem Bruder Konrad, dem Lockenköpfchen, auf dem Zoppoter Seesteg, mit ihrer Schulfreundin Jenny und deren Adoptivvater, dem Studienrat Brunies, vorm Gutenbergdenkmal im Jäschkentaler Wald sowie mehrmals mit Harras, dem rassenreinen Schäferhund und berühmten Zuchtrüden, zu sehen gewesen war. (109f.) Der Verlust von Eltern und Fotoalbum symbolisieren die Trennung von den eigenen Wurzeln – den „Eltern“ - und der eigenen Identität – ‚aufbewahrt’ im „Fotoalbum“. Der norwegische Psychoanalytiker Sverre Varvin beschreibt die Bedeutung dieser Trennung für die Betroffenen: Bruch und Verlust charakterisieren das Leben vieler Flüchtlinge im Exil - der Bruch in der Bindung zur Familie und zur Kultur des Herkunftslandes, der gewaltsame Tod von Freunden und Verwandten, der Bruch mit der kulturgebundenen Identität und, im Fall des Traumas, der Verlust des früheren gesunden Selbst und oft auch der Verlust von Vertrauen und Hoffnung einschließlich des Verlusts der Hoffnung auf die Zukunft.235 Aus diesen Brüchen ergibt sich eine Orientierungslosigkeit, die die Soziologin Elisabeth Pfeil in einer Studie von 1949 als eine der nachhaltigen Folgen von Vertreibung identifiziert hat: alles was im Leben Halt gäbe, gehe bei der Flucht verloren.236 Infolge der radikalen Veränderungen stellten sich Wahrnehmungsprobleme ein, Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung böten keine verlässliche Orientierung mehr: „Die selbstverständliche Einordnung in die mitmenschliche Welt fehle. Damit sei auch die soziale Einbettung weggefallen, und es zeige sich, welcher Stützen der Mensch damit beraubt sei. Ohne die hegende Umwelt 235 Sverre Varvin, `Die gegenwärtige Vergangenheit. Extreme Traumatisierung und Psychotherapie´, S. 895-930 in Bohleber, „Trauma“, S. 895. 236 Elisabeth Pfeil, Der Flüchtling. Gestalt einer Zeitenwende, Hamburg, 1948, S. 62. 103 der Heimatgemeinschaft sei der Mensch auf sich verwiesen: Alle Einschätzungen, sowohl die Selbstachtung wie die Beurteilung anderer und die Bewertung der Lagen des täglichen Lebens sollen aus ihm selber kommen.“ Daraus erwachse häufig „Entwurzelung und Lebensunsicherheit.“237 Im Krebsgang reflektiert sich diese Diagnosen der Brüche und der daraus erwachsenen Orientierungslosigkeit: „Nach dem Krieg erfuhr ich (Paul), dass die Polen meinen womöglichen Großvater und dessen Frau, wie alle zurückgebliebenen Deutschen, nach Kriegsende ausgewiesen hatten. Es hieß, beide seien im Westen, wahrscheinlich in Lüneburg, bald und kurz nacheinander gestorben, er wahrscheinlich aus Kummer um seine verlorene Tischlerei (…).“ (108) Tullas Orientierungslosigkeit offenbart sich an ihrem neuen Standort: „Unfaßbar blieb, für wen, gegen wen sie war (…) Zum Beispiel soll sie sich in ihrem Betriebskollektiv vor den versammelten Genossen `Stalins letzte Getreue´ genannt und mit nächstem Satz die klassenlose KdF-Gesellschaft zum Vorbild für jeden wahren Kommunisten hochgelobt haben.“ (40) Nicht zwingend führt der Verlust der Heimat zum Befund einer Traumatisierung für die Betroffenen. Im Krebsgang jedoch finden sich auf der symbolischen Ebene Hinweise auf die traumatische Wirkung des Heimatverlustes: der Vaterlosigkeit des Traumas Paul. Wie bereits erwähnt, ist infolge der Vereinnahmung der ostdeutschen Gebiete durch die Sowjets dieser Teil der deutschen Kultur abgeschnitten worden. Vor diesem Hintergrund gewinnt Pauls Vaterlosigkeit eine weitere Dimension: sie symbolisiert den Verlust des Vaterlandes, das es nicht mehr gibt. Hervorgehoben wird der Verlust durch die gelegentliche Suche nach Ersatzvätern (z.B. Harry Liebenau – 20). Allerdings füllen diese Ersatzväter lediglich Funktionen aus, ohne die Position des Vaters wirklich ersetzen zu können. Im übertragenen Sinn bleibt die neue Heimat des Traumas Paul (und somit Tullas) stets „nur“ Ersatzheimat. Die Folgen davon offenbaren sich erst in der Gegenüberstellung: „Und weil Gabi dort ihre Kindheit verbracht hat, fühlte sie sich bald wie zu Hause. Ich aber versackte mehr und mehr.“ (43) 237 Ebd. 104 Während der Verlust von Heimat, Wurzeln und Identität nicht zwangsläufig in Traumatisierungen mündet und sogar bei einer gelungenen Integration in der neuen Umgebung seelisches Wachstum und damit ein konstruktives Element in sich bergen kann, ist die traumatische Wirkung und in deren Folge die Verdrängung bei einer anderen Erscheinungsform des Krieges nahezu unumgänglich. 105 Städtebombardements Die alliierten Städtebombardements sind nur wenige Male im Krebsgang erwähnt, etwa in einer Phantasie Pauls: „Mit meinen sonst kinderlosen Adoptiveltern wäre ich (…) vorerst in die britische Besatzungszone, in die zerbombte Stadt Hamburg gezogen. Doch ein Jahr später hätten wir in Ficks Heimatstadt Rostock, die (…) gleichfalls zerbombt war, dennoch Wohnung gefunden.“ (143) Die beiden Städtenamen Hamburg und Rostock geben die Dimension der Städtebombardements ab 1943 durch vorwiegend britische und amerikanische Alliierte wieder: Neben Großstädten wie Berlin, Hamburg, Dresden oder Frankfurt wurden zahlreiche, aus kriegsstrategischer Sicht unbedeutende Provinzstädte wie „Hamm, Bielefeld, Kassel“ (124) bombardiert. W.G. Sebald bewertete diesen Bombenkrieg, dem „an die 600 000 Zivilpersonen in Deutschland“ zum Opfer fielen238 als einen „Krieg in purer, unverhohlener Form“239, als eine „in der Geschichte bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion“240. Dieter Forte schildert seine Eindrücke der Bombardements als Zeitzeuge: Allein aus den Fakten wird man niemals herauskristallisieren, wie die Todesangst die Menschen in den Luftschutzbunkern durcheinadergeschüttelt hat, wie sie sich in irrealen Ausbrüchen in den Sekunden vor ihrem vermeintlichen Tod an irgendeinen Gegenstand klammerten, wie sie in den Sekunden nach dem Verrauschen der Bombenwelle in einem erstickenden Atem verharrten, denn die nächste Bombenwelle donnerte schon wieder heran, der Boden bebte, das Licht erlosch, Staubwolken zogen durch den Keller, es krachte splitternd und dröhnend, ob da noch Menschen in der Nähe waren, war absolut ungewiss.241 Die Verdrängung der traumatischen Wirkung dieser Bombardements offenbart sich in Alexander Kluges Bericht über die Zerstörung Halberstadts. Dieser beginnt mit der Schilderung, wie sich die Mitarbeiterin eines Kinos nach dem Einschlag einer Bombe mit einer Schaufel daran machte, die Trümmer für die Nachmittagsvorstellung zu beseitigen: „Die im Keller liegenden Körperteile, die durch das Löschwasser gekocht 238 Sebald, S. 11. Ebd. S. 28. 240 Sebald zitiert in: „Spiegel“, 12.01.1998, Nr. 3, `Feuer vom Himmel´, Volker Hage, S. 141. 241 Dieter Forte, `Luftkrieg im Literaturseminar. Besprechung des Essays Luftkrieg und Literatur von W.G. Sebald´, in ders. Schweigen oder Sprechen, Frankfurt, 2002, S. 33-4. 239 106 sind, legt sie in einen Waschkessel, um Ordnung zu schaffen.“242 In einem anderen Bericht zeugt Hans Erich Nossacks Schilderung, wie einige Tage nach einem Bombenangriff in Hamburg eine Frau mitten in der Trümmerwüste Fenster geputzt habe und Kinder, die einen Vorgarten säuberten und harkten243 von dem gespenstischen Bemühen um Normalität. Im Krebsgang finden sich in der Beschreibung des Untergangs der Gustloff eindringliche Bilder, die assoziativ auf die Städtebombardierungen deuten und an die Schilderungen Sebalds in seinen 1999 veröffentlichten Vorlesungen Luftkrieg und Literatur erinnern. Das Bild vom „(…) tausendmalige(n) Sterben im Schiffsbauch und in der eisigen See“ (139) scheint Sebalds Beschreibung zu reflektieren, lediglich das Element Feuer ist durch Wasser ersetzt: „Hinter einstürzenden Fassaden schossen haushoch die Flammen hervor, rollten gleich einer Flutwelle mit der Geschwindigkeit von über 150 Stundenkilometern durch die Straßen, kreiselten als Feuerwalzen in seltsamen Rhythmen über die offenen Plätze.“244 Als besonders übereinstimmend erscheint die narrative Wiedergabe in der Novelle und Sebalds Ausführungen in dem Bild des Menschenknäuels: „Da der Suchscheinwerfer (…) streifte, erlebten diejenigen, die sich in das Boot gerettet hatten, wie einzelne und zu Knäueln gefügte Menschen über Bord gingen.“ (Krebsgang: 139); Bei Sebald heißt es: „(…) anderwärts klumpenweise Fleisch und Knochen oder ganze Körperberge gesotten von dem siedenden Wasser, das aus geborstenen Heizkesseln geschossen war.“245 Stärker noch wird die Emotionalität des Rezipienten von den Bildern der Kinder strapaziert, die gleichfalls Ähnlichkeiten bei Sebald und Grass aufweisen: „Aber schlimmer noch, sagte Mutter, sei es den Kindern ergangen: `Die sind alle falsch runterjekommen vom Schiff, mittem Kopp zuerst. Nu hingen se in die dicken Schwimmwülste mitte Beinchen nach oben raus…“ (Krebsgang: 140); Sebald schreibt: „Zum Schluß ein gebratener, zur Mumie geschrumpfter Kinderleichnam, den das halbirre Weib mit sich 242 Sebald, S. 51. Nossack zitiert in: Sebald, S. 52. 244 Sebald, S. 36. 245 Ebd., S. 38. 243 107 geschleppt hat als Überbleibsel einer vor wenigen Tagen noch intakten Vergangenheit.“246 In ihrer maßlosen Grausigkeit und in der assoziativen Vorstellung von verwertetem Fett finden sich Sebalds Beschreibungen der Leichen nach einem Bombenangriff („Überall lagen grauenvoll entstellte Leiber. (…) Gekrümmt lagen sie in den Lachen ihres eigenen, teilweise schon erkalteten Fetts.“247) im Krebsgang wieder: „Später sprachen sie (…) von Mädchen, die durch die Splitter des zerborstenen Glasmosaiks an der Stirnwand des Bades und von den Kacheln des Schwimmbeckens in Stücke gerissen wurden. Auf dem schnell steigenden Wasser habe man Leichen und Leichenteile, belegte Brote und sonstige Reste vom Abendessen, auch leere Schwimmwesten treiben sehen.“ (Krebsgang: 132) Auch die Schilderungen der ausweglosen Fluchtversuche scheinen identisch, wobei erneut das Element Feuer mit Wasser vertauscht worden ist: „(…) waren die meisten (…) zu leicht bekleidet, um bei achtzehn Grad minus Luft- und entsprechender Wassertemparatur (…) den Kälteschock zu überleben. Dennoch sprangen sie.“ (Krebsgang: 135); „In den Kanälen brannte das Wasser. (…) Niemand weiß wirklich, wie viele ums Leben gekommen sind in dieser Nacht oder wie viele wahnsinnig wurden, ehe der Tod sie ereilte.“248 Durch die drastischen Bilder des Untergangs, die assoziativ nahe an den Beschreibungen der Städtebombardements von Sebald liegen, wird im Krebsgang der Aspekt des Traumatischen bei Erlebnissen der Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs evoziert. 246 Ebd., S. 39. Ebd., S. 37. 248 Ebd. 247 108 Die Verbotstafel des „Alten“ Zu einem besseren Verständnis des nachfolgenden Abschnitts sei an dieser Stelle noch einmal die Ursache traumatisch bedingter Verdrängung vergegenwärtigt: „Schwere Traumatisierung verhindert, dass diese Erfahrung in die psychische Struktur organisiert wird.“ Die Folge davon ist der Zustand einer „Abwesenheit von Struktur und repräsentierbarer Erfahrung (…).“249 In einer Antwort Fortes auf Sebalds Ausführungen Luftkrieg und Literatur findet sich diese Diagnose bestätigt: Er übersieht auch meine Generation, die Generation der Kinder in den Großstädten, die sich erinnern können, wenn sie es können, wenn sie die Sprache dafür finden – und darauf muss man ein Leben lang warten. Es geht nur in einer Art Ohnmacht, in einer Art Absinken, das tief hinabführt in lang Vergessenes, das erst über die Sprache in die Erinnerung findet. Ein quälender Vorgang, man muss mit Zusammenbrüchen rechnen – ich weiß, wovon ich rede. (…) Es gibt ein Grauen jenseits der Sprache, ein unaussprechliches Entsetzen, es gibt Augen, Münder und Schreie, das ist nicht mehr zu artikulieren. Das wird untergehen mit denen, die es erlebt haben.250 Bis zum Erscheinen von Grass´ Im Krebsgang war der Untergang der Gustloff als die größte Schiffskatastrophe in der Geschichte der Seefahrt weitgehend vergessen. Diese Stellung besetzte vorwiegend die Titanic (1912): „(…) doch ist es immer noch so, als könne nichts die Titanic übertreffen, als hätte es das Schiff Wilhelm Gustloff nie gegeben.“ (62) Die Opferzahlen der Gustloff lagen mit nicht mehr präzise zu belegenden Zahlen zwischen 5000 und 9000 - darunter mehrere tausend Kinder - weit über denen anderer Schiffskatastrophen. Ein Grund für das kollektive Vergessen sehen Marinehistoriker in der Gustloff als kriegsbedingten Verlust eines Aggressors.251 Diesem Argument steht jedoch der hohe Passagieranteil an Zivilisten von ca. 80-90 Prozent gegenüber. Im Krebsgang erscheint ein anderer möglicher Grund für die Verdrängung: „(…) als fände sich kein Platz für ein weiteres Unglück, als dürfte nur jener und nicht dieser 249 Dori Laub, `Eors oder Thanatos? Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas´, S. 860-894 in Bohleber, „Trauma“, S. 862. 250 Forte, S. 33. 251 Irwin J. Kappes, `Wilhelm Gustloff - The Greatest Marine Disaster in History and why you probably never heard of it.´ Military History Online. http://www.militaryhistoryonline.com/wwii/articles/wilhelmgustloff.aspx. 109 Toten gedacht werden.“ (ebd.) Auf einer assoziativen bzw. symbolischen Ebene avanciert die Gustloff im Krebsgang zur Plattform für die Katastrophen in der Zeit zwischen 1933 – 1945. Neben dem Untergang selbst, lesbar als eine Metapher für den Untergang der „Volksgemeinschaft“ (vgl. nachfolgenden Abschnitt „Nationalsozialismus“) und den Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Bombardement werden die Bilder des Holocaust assoziativ eingeflochten. (vgl. „Durcharbeiten“) Wie ausgeführt kann der Prozess des Durcharbeitens unterbrochen bzw. nicht aufgenommen - verdrängt - werden, wenn die Erinnerung durch Abwehr und Verleugnung blockiert wird. In diesem Fall ist der erlittene Verlust für das Subjekt zu groß, um bearbeitet, bzw. betrauert zu werden. Tatsächlich gibt es „kein(en) Platz“ mehr für ein „weiteres Unglück“. (62) Im Kontext der Narration sind „jene Toten“ die Opfer der Titanic. Das Begriffspaar „Unglück“ und „Titanic“ impliziert eine von Menschen verursachte Katastrophe. Assoziativ rücken („… als fände sich kein Platz…“, „….als dürfe nur….“) die Opfer des Holocaust in den Blickpunkt, deren nicht fassbares Trauma die öffentliche Erinnerungskultur ausfüllt. Verdrängung und Verleugnung haben, wie oben erläutert, häufig eine Schutzfunktion und bilden eine Art Ablage für schwierige Projekte, die wegen unzureichender psychischer Ressourcen – wenn überhaupt - erst zu einem späteren Zeitpunkt bearbeitet werden können. In einer Narration kann das Verdrängte mitunter dennoch geortet werden. Lacan hat eine Art Sensor für diese „blinden Flecken“ entwickelt, die sich aus dem Mischverhältnis von Verdrängung und Trauma ergeben: Die Verdrängung kommt letztlich dem Tatbestand gleich, dass der Raum dessen, was gesagt werden kann, was im Universum des Subjekts Bedeutung hat, immer durch traumatische blinde Flecken gekrümmt ist, d.h. organisiert ist rund um das, was ungesagt bleiben muss, wenn dieses Universum seine Konsistenz beibehalten soll.252 252 Christoph Braun, Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin, 2007, S. 273. 110 Die Erzählung des Subjekts umkreist also etwas Unaussprechliches. Diese „Krümmung“ der Narration erweise sich als Widerstand bei Annäherung des Redens des Subjekts an den pathogenen Kern. Wohlgemerkt ist sie von innen, aus der bewussten Ich-Perspektive des Analysanten, nicht zu sehen, ihm scheint der Horizont dessen, was er sagen kann oder könnte, unendlich zu sein, die strukturale Notwendigkeit des Verlaufs bleibt unsichtbar.253 Im Krebsgang offenbart sich diese „Krümmung“ in der weitgehenden Emotionslosigkeit, mit der Paul, der Natur des Berichts folgend, das traumatische Schicksal Tullas erzählt. Wie im Abschnitt „Trauma“ angedeutet, wirkt die über die Sachlichkeit implizierte innerliche Differenz Pauls nicht authentisch. Vielmehr erscheint sie wie eine Umleitung, bzw. eine „Krümmung“, die den schmerzhaften Kern des Traumas umfährt. Bereits zu Beginn der Novelle entsteht ein Bild über die Folge einer direkten Konfrontation mit dem Trauma: sich als traumatisierte Person „selber abzuwickeln“ (7), d.h. das „Universum“ der eigenen „Konsistenz“ aufzulösen. Aus der Ich-Erzählung ergibt sich, dass die „epische Allwissenheit“ zugunsten einer bestimmten Perspektive aufgegeben ist.254 Im Krebsgang finden sich drei IchInstanzen: der Erzähler Paul als reflektierendes, erinnerndes Ich im Zeitrahmen des erzählten Geschehens, (z.B. 187: Pokriefkes und Stremplins sitzen bei Capuccino und Gebäck zusammen und versuchen, die Motive des Mords Konnys an Wolfgang zu erfassen); der Erzähler Paul als erlebendes Ich im Zeitrahmen des erzählten Geschehens (z.B. 18: Paul als Student) und der Erzähler Paul als erzählendes Ich, das von einem späteren Zeitpunkt auf das erzählte Geschehen zurückschaut. Der Erzähler ist jedoch nicht autonom. Er wird von einer übergeordneten Instanz angetrieben. Der „Alte“ (99), in dem sich Züge des Autors Grass erkennen lassen (77) (vgl. Abschnitt „Trauma“), tritt in der Er-Form auf. Sein Zeithorizont liegt hinter dem des Erzählers: er kennt Tulla bis zu ungefähr ihrem zehnten Geburtstag (55). Wie das Leben Tullas danach verlaufen ist, will er von Paul erfahren: „Er verlangt deutliche 253 254 Ebd. Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern, 1976, S. 203. 111 Erinnerungen. Er will wissen, wie ich Mutter als Kind etwa ab meinem dritten Lebensjahr gesehen, gerochen, betastet habe.“ (54) Da er in der Er-Form auftritt, hat er einen weiteren Horizont als der Ich-Erzähler. Die durch Verdrängung des Untergangs der „Alte“ bezichtigt sich selbst eines bodenlosen Versäumnisses (99), dem „Schicksal der Pokriefkes, Tulla voran (…)“ (77) und „dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge“ (99) nicht Ausdruck gegeben zu haben - entstandene Lücken seines Horizonts soll Paul auffüllen (78), den er wie eine „Fundsache entdeckt“ (78) hat. Aus dieser erweiterten Instanz scheint sich ein stereoskopischer Blickwinkel zu ergeben, der - bildlich gesprochen - Lacans Krümmung von seinen beiden Anfangspunkten her gesehen aufzuheben vermag: neben dem Ich-Erzähler Paul als Medium innerer, d.h. erinnernder Reflektion, tritt der „Alte“ in der Er-Form als Medium äußerer Wahrnehmung hinzu. Die Gegenüberstellung der äußeren und der inneren Perspektive wäre eine Voraussetzung, um die äußeren Geschehnisse (Untergang) und ihre inneren Wirkungen (Trauma) zu erfassen und darzustellen. Über weite Strecken scheint die Erzählung an dem Wahrnehmungshorizont Pauls orientiert zu sein, an dessen Erleben, Denken und Erinnern. Tatsächlich wird dieser jedoch geleitet durch den „Alten“. Der Binnenerzähler Paul agiert als Medium lediglich als „Hilfsmittel“ bei der Narration: „Doch nun glaubt der alte Mann, der sich müdegeschrieben hat, in mir jemanden gefunden zu haben, der an seiner Stelle`stellvertretend´, sagt er – gefordert sei, über den Einfall der sowjetischen Armeen ins Reich, (…) und die Folgen zu berichten.“ (99) Indem der Erzähler Paul nicht zu den inneren Wirkungen des Traumas vorzudringen vermag, kann er das Verdrängte (des Traumas) nicht erfassen. Er ist begrenzt durch die widersprüchlichen Anweisungen des „Auftraggebers“. Da Paul „keine weiteren Stories“ (139) erzählen „darf“ und ihm geraten wird, sich „kurz zu fassen, nein mein Arbeitgeber besteht darauf“ (ebd.), versucht er trotz Drängens des Auftraggebers, nicht, „Einzelschicksale zu reihen, mit episch ausladender Gelassenheit und angestrengtem Einfühlungsvermögen den großen Bogen zu schlagen und so, mit Horrorwörtern, dem Ausmaß der Katastrophe gerecht zu werden.“ (136) 112 Auch bei dem zweiten tragischen Ereignis der Novelle, dem Mord an Wolfgang alias David, bleibt der „Alte“ bei seinem Verbot. Er untersagt seinem Erzähler über die Gedanken des Täters Konny zu „spekulieren“ (199). Diese Aufforderung ist jedoch mehr als ein einmaliges Verbot, es ist: „Eine Verbotstafel, die von Beginn an stand.“ (199) Der „Alte“ appelliert an seinen Erzähler, nicht unter die Oberfläche zu gehen, denn das darüber liegende sage zwar nicht alles, aber genug: „Wir sehen nur, was wir sehen“ (199); „Keine Gedanken also, auch keine nachträglich ausgedachten. So, sparsam mit Worten kommen wir schneller zum Schluß.“ (200) Tatsächlich gelangt der Erzähler auf diesem Weg jedoch niemals zum Schluss, wovon der letzte Satz der Novelle zeugt. Aus der übergeordneten Instanz des „Arbeitgebers“ werden somit Grenzen gesetzt. Der Raum für die Reflektion schwer fassbarer Emotionen liegt außerhalb dieser Grenzen. Daraus ergibt sich, dass die Vielfalt der Instanzen den Text nicht zu einem mehrstimmigen macht. Vielmehr bleiben alle Perspektiven „einem zentralen Bewusstsein untergeordnet“ (ebd.) – dem des durch die „Verbotstafel“ begrenzenden „Alten“. Dieses zentrale Bewusstsein lässt sich als Metapher für eine öffentliche Erinnerungskultur lesen. Die öffentliche Wahrnehmung kann naturgemäß die zahllosen individuellen Wahrnehmungen Einzelner nicht erfassen. Gleichzeitig folgt die öffentliche Wahrnehmung zur Orientierung bestimmten, im (demokratischen) Konsens gewonnenen Maßstäben, etwa politischer oder moralischer Natur. Indem sich die öffentliche Reflexion als Überbau in einer Erinnerungskultur aufbaut, bleibt der öffentliche Raum für die individuelle Form der Wahrnehmungen abwesend. Der Erzähler Paul gesteht ein, wohin ihn das Verbot des „Alten“ treibt: „Wie gut, dass er nicht ahnt, welche Gedanken ganz gegen meinen Willen aus linken und rechten Gehirnwindungen kriechen, entsetzlich Sinn machen, ängstlich gehütete Geheimnisse preisgeben, mich bloßstellen, sodass ich erschrocken bin und schnell versuche, anderes zu denken.“ (200) Als einen dieser erschreckenden Gedanken nennt er die Überlegung 113 zu einem Geschenk, das er seinem Sohn - dem Täter – beim ersten Gefängnisbesuch machen will. (ebd.) Die „Verbotstafel“ (199) des „Alten“ (99) verhindert Pauls Vordringen in das Innere des Traumas: „Das Verbot zu sprechen wird von dem Verbot begleitet, sich bewusst zu sein, zu wissen, zu erinnern und zu assimilieren.“255 Woher kommt dieses Diktum in einer Narration über ein traumatisches Erlebnis? Ist es ein äußerlich auferlegtes Verbot, getragen von der Angst einer unzureichenden Reflexion, oder ist es ein dem Trauma immanent Unmögliches? Das zentrale Problem, das sich bei Extremtraumatisierung jeder Art stellt, ist deren Repräsentation (vgl. Forte oben). Für Außenstehende ist es nahezu, wenn nicht vollkommen, unmöglich, sich das „Innere“ des Traumas vorzustellen.256 Nun ist der Erzähler Paul auf der Ebene als personifiziertes Trauma jedoch kein „Außenstehender“. Das Trauma ist seine Essenz (vgl. Abschnitt „Trauma“). Die berichtende und somit unbeteiligte Erzählweise Pauls über das Schicksal Tullas gibt einen Hinweis auf die eigentliche Ursache des „Verbots“: die Empathielosigkeit. (D)as Scheitern der empathischen Verbindung zur Zeit des Traumas ist das stärkste Merkmal schwerer Traumatisierung. Der Henker beachtet das Opfer nicht, das um sein Leben fleht, und die empathische Bindung ist durchgeschnitten und ausgelöscht. Die Folge dieser Auslöschung ist die Unfähigkeit, eine empathische Beziehung zu sich selbst aufrechtzuerhalten.257 Bohleber erklärt den inneren Prozess der zerstörten Empathie gegenüber sich und somit gegenüber anderen: „Im Trauma verstummt das innere gute Objekt als empathischer Vermittler zwischen Selbst und Umwelt. (…) Hoppe (1962) hat diesen Sachverhalt als eine Zerstörung des Urvertrauens gekennzeichnet (…). Der Verlust des empathischen inneren Anderen zerstört die Fähigkeit, das Trauma zu erzählen.“258 255 Laub, S. 863. vgl. M. Hirsch, `Transgenerationelle Weitergabe von Schuld und Schuldgefühl´, in Johannes Pfäfflin u.a. (Hg.), Das Ende der Sprachlosigkeit, Gießen, 2000, S. 141. 257 Laub in Bohleber „Trauma“, S. 863. 258 Bohleber, „Trauma“, S. 821. 256 114 Paul leidet unter Sprachlosigkeit, weil er nicht in das Innere von Tullas Trauma vorzudringen vermag. (136) „Ihrem“ Trauma ist die Fähigkeit genommen ihr Leid nachzuempfinden. Der „Arbeitgeber“ könnte eine wichtige Funktion als der „empathische Andere“ (Bohleber) besetzen, durch den die „Krümmung“ aufgehoben wird: „Erst in Gegenwart eines empathischen Zuhörers können die Fragmente zu einem Narrativ zusammenwachsen und die Geschichte bezeugt werden. Durch die Erzählung wird Distanz geschaffen.“259 Doch verweigert sich der „Alte“ dieser Funktion indem er die „Verbotstafel“ aufstellt. Diese Einordnung der „Verbotstafel“ des Alten soll als Fundament für den Prozess des Durcharbeitens im dritten Kapitel dieser Studie nochmals aufgegriffen werden. Vor dem Hintergrund Lacans Theorie der „Krümmung“ infolge von Trauma und Verdrängung soll nachfolgend die Darstellung die Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland seit Kriegsende im Krebsgang untersucht werden. 259 Ebd. 115 Pauls berufliche Entwicklung als Metapher für die drei Phasen der deutschen Erinnerungskultur seit 1945 Pauls Wohnung in Berlin Kreuzberg liegt nahe dem „Eisernen Vorhang“ (43), hinter dem seine Mutter Tulla lebt. Indem er in seinem Beruf als Journalist über „gesellschaftlich Relevantes“ wie „Nachrüstung und Friedensbewegung“ (42) schreibt, berührt er Schwerpunktthemen im Nachkriegsdeutschland, die „sogar in halbwegs linken Kreisen Beachtung“ (43) finden. Später arbeitet er als „Agenturschreiberling“ und verfasst „nebenbei“ Reportagen, etwa über ökologische Themen. (43) Streng genommen scheitert er jedoch mit dieser Tätigkeit, insofern er sich lediglich „über Wasser“ halten kann. Trotz der steten Aufforderung Tullas (19) entzieht er sich als Journalist lange den Vorkommnissen um ihre Flucht und Vertreibung. Auf die Verdrängung weisend ist dabei die lange Zeit der Sprachlosigkeit Pauls („Warum erst jetzt“ - 7) der „noch“ in der narrativen Gegenwart um Sprache ringt: „Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir.“ (7) Das Wort „noch“ impliziert jedoch den bevorstehenden Aufbruch dieser Sprachlosigkeit. Wie einführend dargestellt, hat Aleida Assmann die Zeit zwischen Kriegsende und der Gegenwart in drei Epochen unterteilt. Die wesentlichen Merkmale der jeweiligen Epochen spiegeln sich in Pauls beruflicher Entwicklung wider. Als Journalist reflektiert er die gesellschaftlichen Ereignisse und Entwicklungen. In dieser Rolle ist er damit befasst – um Foucaults Bild aufzunehmen (vgl. „Einführung“) die Geschichten aus jener Kultur zu (re-)präsentieren, aus der sie hervorgehen – damit auch aus der Erinnerungskultur. Auf der Gegenwartsebene repräsentiert er als Journalist, der erst für „Springer“, dann für „taz“ und schließlich als „Agenturschreiberling“ (43) agiert, retrospektiv die Strömungen in der westdeutschen Erinnerungskultur nach 1945. Historisch untermauert die politische Orientierung des Springer Verlags die rechtskonservative Adenauer-Regierung der fünfziger und frühen sechziger Jahre; die „taz“ symbolisiert die politisch links orientierte Studentenbewegung der „1968er“ und das Heranwachsen der ersten 116 Nachkriegsgeneration260, und der Agenturjournalismus, dessen Merkmal die weltweite Berichterstattung in Echtzeit ist, kann als eine Metapher für die universale Prägung der Erinnerungskultur seit den 1980er Jahren bis in die Gegenwart gelesen werden. Die erste Phase der deutschen Erinnerungskultur ist die der politischen Deklaration und reicht nach Aleida Assmann etwa bis zum Ende der 1950er Jahre. Als Merkmal dieses Abschnitts identifiziert die Kulturwissenschaftlerin das offizielle Gedächtnis ohne biographische Erinnerung (Hermann Lübbe: „kollektives Beschweigen“).261 Historisch ist dieser Epoche die Vergangenheitspolitik der Adenauer Regierung (19491963) zuzuordnen. Der Historiker Christoph Cornelißen erinnert daran, dass infolge der Nürnberger Prozesse gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ entgegen den Absichten der Alliierten eine Trennlinie zwischen Hitler und seiner kriminellen Führung einerseits und die in ihrer Gefolgschaft „missbrauchten Deutschen“ andererseits noch stärker betont worden war, als im Vorfeld des Prozesses.262 Auch dass viele ehemalige Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei und aus den NS-Funktionseliten ihre Karrieren in der 1949 gegründeten Bundesrepublik fortsetzen konnten, behinderte die Beschäftigung mit der Vergangenheit des „Dritten Reichs“ erheblich.263 Besonders markant waren dabei Adenauers „Wiedereinstellung praktisch aller jener 1945 (Anm. d. Autorin: durch die Alliierten) – wie es beschönigend hieß - `verdrängten Beamten´ und ehemaligen Berufssoldaten in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik.“264 Die Vermengung zwischen der jungen Bundesrepublik und den Strukturen von vor 1945 ist in einem Bild der Novelle aufgegriffen: „Auch habe (…) der ehemalige NSPropagandaexperte während der siebziger Jahre eine geräuscharme Spendenwaschanlage zugunsten der FDP betrieben, und zwar in Neuwied am Rhein.“ (15) Jürgen Zinnacker, `Politische Geburtskohorten und Familiengenerationen in (West)Deutschland – Geburtsjahrgänge 1890-1976´, Vortrag (inkl. Handout), Kulturwissenschaftliches Institut Essen, 6. Feb. 2005. (nachfolgend „KWI-Tabelle“ genannt). 261 A. Assmann, in Erinnern, S. 88. 262 Christoph Cornelißen u.a., `Nationale Erinnerungskulturen seit 1945 im Vergleich´, S. 9-27 in ders., (Hg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt, 2003, S. 16. 263 Ebd. 264 Frei, 1945 und Wir, S. 31. 260 117 In den 1950er Jahren arbeitet Paul für die Springer Presse (7), die der rechtskonservativen Strömung unter der Regierung Adenauer nahe stand. Das vorherrschende Merkmal dieser Epoche war der Versuch eines Neuanfangs – einer „Tabula rasa“ im Geist des Vergessens. Dieser Reflex der Verdrängung schloss das Schicksal der Vertriebenen mit ein: Während in der DDR das totalitäre Regime das Thema Flucht und Vertreibung unterdrückte, wurde es in der alten Bundesrepublik beinahe von selbst gemieden. Die Westdeutschen sahen sich in der unsicheren und chaotischen Lage der ersten Nachkriegszeit überrollt vom Strom der vertriebenen Deutschen aus dem Osten, denen es ganz ohne Zweifel noch elender ging als ihnen selbst.265 Die zweite Phase der deutschen Erinnerungskultur ist nach Assmann die der familiären, juristischen und historischen Aufklärung. Die Zeit zwischen 1960 und 1980 ist geprägt durch unerbittliches Nachfragen sowohl innerhalb der Familien durch die inzwischen herangewachsene erste Nachkriegsgeneration als auch in den Gerichtshöfen und Archiven. Markantes Ereignis zu Beginn dieser Phase waren die Frankfurter Auschwitz Prozesse zwischen Dezember 1963 und August 1965. Mitscherlichs Unfähigkeit zu trauern gehörte zu den epochalen Publikationen dieser Zeit. Der Impuls des Nachfragens läutete eine Wende in der deutschen Erinnerungsgeschichte ein.266 Entsprechend zieht es Paul zu seinem zweiten Arbeitgeber, der „taz“ (7). Sie repräsentiert die ab etwa Mitte der 1960er Jahre auflebende politische Linksorientierung, als Folge des Auflehnens gegen den Konservatismus der Adenauer Jahre. Die „taz“ als das Westberliner Sprachrohr der linken Bewegung, steht als ein Symbol dieser Zeit, die ihren Höhepunkt in den Studentenunruhen im Jahr 1968 hat.267 Rückblickend aus der Erzähl-Gegenwart bewertet Paul implizit diese Phase der Erinnerungskultur aus seiner Perspektive als Trauma, das es durchzuarbeiten gilt, als kritisch: „Und später, als mir die `taz´ und sonstige linke Kopfstände auf den Nerv 265 Kossert S. 12. Ebd. 267 Anmerkung: Die „taz“ erscheint erstmals 1978 als linksgerichtete Tageszeitung. Deren Gründungsredaktion stammte aus dem Umfeld der „Linken“ bzw. der sog. „Spontis“, politische Aktivisten, die sich in der Nachfolge der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) und der „68er Bewegung“ sahen. (Vgl. http://www.taz.de/zeitung/ueberuns-verlag/geschichte/1977-1986). 266 118 gingen….“. (31) Eine andere retrospektive Bewertung aus dem Jahr 1999 durch den damaligen Bundesinnenminister Otto Schily erhellt diese Sequenz: Die politische Linke hat in der Vergangenheit, (…) zeitweise über die Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den Vertriebenen zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängstlichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden, oder sei es in dem Irrglauben, durch Verschweigen und Verdrängen eher den Weg zu einem Ausgleich mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war Ausdruck von Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit.268 Der Anfangspunkt der dritten Phase - der „Universalisierung und Globalisierung der Erinnerung an den Holocaust“269 - gilt als schwer auszumachen. Im Kern stellt sich in dieser Phase die international debattierte Frage, wie der Holocaust erinnert werden kann und soll.270 Als ein möglicher Auslöser hierfür gilt die Ausstrahlung der amerikanischen TV-Spielfilmserie „Holocaust“ im Jahr 1979 in den USA und Europa.271 Zum ersten Mal sind breite Bevölkerungskreise mit der Unmenschlichkeit der Shoa konfrontiert worden. Cornelißen bewertet den Übergang von der zweiten zur dritten Phase als eine eher „schleichende Wende“. Hierbei hätten insbesondere die Massenmedien für den öffentlichen Erinnerungsdiskurs und die stärkere staatliche Inszenierung des Gedenkens eine Rolle gespielt.272 Endgültig sei der Holocaust „im Zuge der Einigung des Kontinents nach 1989“ hervorgetreten.273 Typisch für die neue universalistische Geschichtsrhetorik sei „die Figur des Totum pro parte: Für die Ermordung der Juden steht `die Vergangenheit´.“274 Pauls Tätigkeit für Nachrichtenagenturen (43) kann als eine Metapher für die Schnelllebigkeit der globalisierten Echtzeit-Berichterstattung verstanden werden. Im weltweiten Nachrichtengeschäft ergibt sich daraus für die Agenturen die Tendenz des „Mainstreaming“, indem das Augenmerk weniger auf detaillierte Auseinandersetzung 268 Kossert, S. 9. A. Assmann in Erinnern, S. 88. 270 Ebd. 271 Cornelißen, S. 16. 272 Ebd. 273 Patrick Bahners, `Der Mythos von der Verdrängung´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, Nr. 22, 27.01. 2005, S. 33. 274 Ebd. 269 119 und mehr auf einer möglichst schnellen Berichterstattung liegt. Vor dem Hintergrund der „Verbotstafel des Alten“ (s.o.), einer Annäherung, die bestimmter Blickwinkel entsagt, lässt sich darin die Fragestellung nach dem Aspekt des fundierten und differenzierten Betrachtens erkennen. Die journalistischen Berufssparten Pauls als Symbole für die Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland gelesen, stellen seit 1945 keine Perspektive bereit – weder „rechts“, noch „links“ oder „universal“ – in der die Aufarbeitung des Traumas eine Sprache finden kann. Erst als „freier Journalist“ - beauftragt von dem „Alten“ und gezwungen von „Tulla“ – gewinnt Paul den Raum, um seinen Bericht über Tullas Erlebnisse abfassen zu können. Für die Zeit davor gelangt er zu einem vernichtenden Urteil: „Wir haben ja Wörter für den Umgang mit der Vergangenheit dienstbar gemacht: sie soll gesühnt, bewältigt werden, an ihr sich abzumühen heißt Trauerarbeit leisten.“ (116) Das Wort „abmühen“ erhebt das Bild des niemals an sein Ziel gelangenden Sisyphos. Entsprechend scheint das Ziel der Trauerarbeit mit bloßen Wortdiensten unerreichbar. Das Dienstbarmachen der Wörter impliziert ein Ausbleiben des Dienstes an den Taten (vgl. „Durcharbeiten“). Ein Datum wird zum Motiv für die Verdrängung: „Da ist es wieder, das verdammte Datum. Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch. Zum Beispiel dieser vermaledeite Dreißigste.“ (116) Der Dreißigste hat eine dreimal „verfluchte“ Bedeutung: es ist der Tag der Machtergreifung am 30. Januar 1933, es ist der Tag des Untergangs der Gustloff, der einer der Endpunkte des NS-Regimes markiert und: „am 30. Januar neunzig, als das verfluchte Datum außer Kurs zu sein schien, weil überall nach der Melodie `Deutschland, einig Vaterland´ getanzt wurde und alle Ossis verrückt nach der D-Mark waren“. (90f) Schließlich kehrt das Verdrängte im Wiedervereinten auf fatale Weise zurück: „bis ich Ende Januar sechsundneunzig zuerst die rechtsradikale Stromfront-Homepage angeklickt hatte, bald auf einige GustloffBezüglichkeiten stieß und dann auf der Website `www.blutzeuge.de´ mit der Kameradschaft Schwerin vertraut wurde.“ (32) Die Zeit zwischen 1945 und 1990 war ungenutzt geblieben für die Bearbeitung des Vergangenen, das gleich einem Trauma 120 wiederkehrt: „Da ist es wieder“ (116). Im Krebsgang bleibt die Krümmung des Traumas und der Verdrängung in den Jahrzehnten nach Kriegsende unbegradigt. 121 Tulla als Kaschubin In diesem Abschnitt wurden bislang jene historischen Vorkommnisse während des Krieges und der Nachkriegszeit behandelt, die erst spät Eingang in die öffentliche Erinnerungskultur der Gegenwart gefunden haben. Neben diesen im Krebsgang offengelegten „blinden Flecken“ der Erinnerungskultur, findet sich in der Hauptfigur Tulla ein Wesensmerkmal, das den Anschein eines unbewussten „blinden Flecks“ erweckt: Grass´ Hauptprotagonistin Tulla ist nicht deutscher, sondern kaschubischer Herkunft. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Ernestine Schlant verweist darauf, dass sich das Trauma („Träume und Alpträume eines Volkes“) in einer Ebene des literarischen Werkes enthüllen kann, „die vielleicht dem Bewusstsein des Autors entgangen sein mag.“275 Terry Eagleton spricht von „Subtexten“ oder „Zonen der Blindheit“ in einem Werk: Beim Lesen erstellen wir etwas, was man einen `Subtext´ für das Werk nennen könnte – einen Text innerhalb des eigentlichen Textes, der an einigen `symptomatischen´ Punkten der Ambiguität, des Ausweichens oder der allzu großen Emphase sichtbar wird und den wir als Leser `schreiben´ könnten, auch wenn der Roman selbst es nicht tut. Alle literarischen Werke enthalten einen oder mehrere solcher Subtexte, und man kann sie in gewissem Sinne als das `Unbewusste´ des Werkes selbst bezeichnen. Die Einsichten des Werkes sind, wie bei jeder Form des Schreibens, tief mit seinen Blindheiten verbunden: was es nicht sagt, und wie es nicht gesagt wird, kann so wichtig sein wie das, was ausgesprochen wird; was an ihm fehlend, marginal oder ambivalent erscheint, kann einen wichtigen Schlüssel zu seiner Bedeutung liefern.276 Tulla ist die Hauptfigur in einer Erzählung über das Schicksal der deutschen Ostflüchtlinge seit 1945. Der „Alte“ bezichtigt sich selbst des Versäumnisses, „dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge“ (99) nicht Ausdruck gegeben zu haben. Damit steht Tulla repräsentativ für deutsche Ostflüchtlinge. Vor dem Hintergrund, dass eine Nation eine Erinnerungsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Geschichtsbewusstsein ist, aus der man nicht austreten kann277, hat die Kaschubin Tulla (12) als Folge daraus 275 Schlant, S. 14. Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart, 1997, S. 169. 277 Dieter Langewiesche, `Die Nation schafft Freiheit´, Interview in „Spiegel Special. Geschichte“, 1/2007, S. 16. 276 122 eine lediglich eingeschränkte genealogische Verbindung zu Deutschland und der deutschen Geschichte. Diese Aufspaltung in Grass´ Figur Tulla äußert sich vor allem in der Sprache. Ihre Sprache ist zwar die deutsche, allerdings mit einer starken Färbung und eigenen Wörtern: „Sie sagt Bulwen zu Kartoffeln, Glumse zu Quark und Pomuchel, wenn sie Dorsch in Mostrichsud kocht.“ (11-2) Die mundartlich gefärbten Zitate Tullas durch die gesamte Novelle hindurch verdeutlichen immer wieder die Distanz zwischen der kaschubischen Abstammung und der (symbolischen) Repräsentantin deutscher Flüchtlinge. Lediglich wenn sie mit dem Trauma des Untergangs bzw. dessen Folgen konfrontiert wird, spricht sie Hochdeutsch (z.B. Schilderung des Untergangs in DDR S. 140, Konnys Gerichtsverhandlung S. 179). Die Sprache bildete als rationales und emotionales Instrument der Verständigung die entscheidende Basis für das Konzept des Nationalstaats: „Literatur und Sprache wurden zum Leitmotiv einer Nation auf der Suche nach sich selbst. Denn die Sprache, so hatte es (…) Johann Gottfried Herder gelehrt, war der tiefste Ausdruck nationaler Wesensart, hier offenbarte sich jener `Nationalcharakter´, von dem um 1800 so oft die Rede war.“278 Im Falle Deutschlands kommt der Sprache eine besondere historische Bedeutung zu: Da es einen deutschen Nationalstaat noch nicht gab, konnte der frühe deutsche Nationalismus sich auch nicht an einer eigenen, subjektiv als vorbildhaft empfundenen politischen Ordnung ausrichten. Er berief sich stattdessen auf vermeintlich objektive Größen wie Volk, Sprache und Kultur, die dem politischen Wollen gleichsam vorgelagert waren.279 Die Kaschuben sind keine Nation, sondern ein Volksstamm, der vorwiegend in Polen angesiedelt ist. Tulla wächst jedoch in dem zu Danzig gehörenden Vorort Langfuhr auf, der zwischen 1920-1939 weder zu Polen, noch zum Deutschen Reich, sondern als Ute Planert, `Der Weltgeist zu Pferde. Der Erfolg des Eroberers Napoleon…´, in „Spiegel Special. Geschichte“, 1/2007, S. 73. 279 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, München, 2000, Bd. 2, S. 66. 278 123 „Freie Stadt Danzig“ einen Sonderstatus als unabhängiger Freistaat hatte.280 Bei dem Überfall auf Polen nahmen die Kaschuben eine Sonderrolle ein: Hitler´s call in his Reichstag speech of October 6 for a `new order of ethnographic relationships´, ordinary Poles were to be expelled from Danzig, West Prussia, Posen and eastern Upper Silesia, all of which Hitler now restored to the Reich (…). (…) Exceptions were made for around 1.6 million Maurians, Kashubes and so-called Wasserpolen of Silesia, all of whom were deemed racially acceptable and allowed to remain.281 Als Volksstamm unterscheiden sich die Kaschuben von dem Konzept der Nation. Ein Volksstamm ist nicht fähig, ein „über die eigene Gruppe hinausgehendes Zusammengehörigkeitsbewusstein zu entwickeln und (…) Institutionen zu schaffen. Die Nation ist ein Institutionenbauer.“282 Nationen definieren sich über Territorien, ein Gebiet auf dem Nationalstaaten „immer wieder versagt (haben) eine friedliche Lösung zu finden, wenn mehrere das gleiche Territorium beanspruchen“283 – wie vor allem die beiden Weltkriege in 20. Jahrhundert gezeigt haben. Ein weiteres Merkmal von Nationen ist, dass fast alle Nationalstaaten aus Kriegen hervorgegangen sind, wie etwa Italien, Deutschland, Polen, Ungarn. Auch dass Nationen ihre eigenen Minderheiten ausgrenzen, etwa Juden oder Kommunisten im Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre, gehört in der Vergangenheit häufig zum Wesenszug von Nationen.284 Langewiesche führt einen weiteren wesentlichen Aspekt aus: Die Herrscher des 18. Jahrhunderts haben Kriege wie ein Duell geführt. Man gewann oder verlor, musste möglicherweise Territorien abtreten, und damit war die Sache geregelt. Der Nationalstaat hat jedoch oft Schwierigkeiten, Kriege zu beenden. Er muss seine Bürger emotional erreichen, um sie zu mobilisieren. Im Ersten Weltkrieg wurden alle Nationen derart aufgeputscht, weil die Herrscherhäuser die riesigen Verluste rechtfertigen mussten. Da stilisiert man den Krieg zum heiligen Kampf. Denn Frieden ohne Sieg zu schließen, ist besonders schwer.285 280 Bernhardt, S. 16f. Ferguson, S. 398. 282 Langewiesche, S. 14. 283 Ebd. 284 Ebd. 285 Langewiesche, S. 15. 281 124 Sämtliche dieser Attribute als Erklärungsansätze der Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts finden keine Anwendung auf die Figur Tulla. Indem Grass seine Hauptprotagonisten Tulla einem Volksstamm entspringen lässt, entzieht er sie den grundlegenden Merkmalen, die das Volk eines Nationalstaats – damit auch die „Volksgemeinschaft“ im NS-Regime - ausmachen. Dennoch ist die Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Krebsgang als Hinführung auf das Trauma eingewoben. Es scheint hierin ein Indiz erkennbar, der auf einen unbewussten „blinden Fleck“ im Krebsgang deutet. Obwohl der Autor seine Hauptprotagonistin hat schuldig werden lassen (vgl. „Tullas Ambivalenz“) scheint ihre kaschubische Abstammung eine Art schützende Pufferzone zwischen Tulla und der deutschen Geschichte zu legen. Nicht zuletzt um die Dimension dieser „gepufferten“ nationalen Identität Tullas zu beleuchten, soll im nachfolgenden Abschnitt die Bedeutung einer historischen Kontextualisierung erörtert und die Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie sie sich im Krebsgang überwiegend vor dem Trauma des Untergangs darstellt, aufgerollt werden. 125 DIE KOLLEKTIVEN ERINNERUNGEN 126 Doch ich kann nicht sagen, dass ich die Deutschen verstehe. Und was man nicht verstehen kann, bildet eine schmerzhafte Leere, ist ein Stachel, ein dauernder Drang, der Erfüllung fordert. Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten Der menschliche Verstand vermag die Gesamtheit der Ursachen der Erscheinungen nicht zu begreifen. Aber das Bedürfnis, nach diesen Ursachen zu forschen, liegt in der Seele des Menschen. Lew Tolstoj, Krieg und Frieden 127 Vorbemerkung Ambivalente historische Identität als Vorbedingung für den Aufbruch des Verdrängten Verdrängte Geschichte kann problematische Folgen mit sich führen: „In einem Land ohne Erinnerung ist alles möglich. (…) (Die Zukunft) in geschichtslosem Land (…) gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.“286 Die Wichtigkeit des Aufbrechens von Verdrängtem als Voraussetzung der Rekonstruktion der Vergangenheit eröffnet sich durch einen Gedanken Theodor W. Adornos: „Mir selber will es eher scheinen, das Bewusste könne niemals so viel Verhängnis mit sich führen wie das Unbewusste, das Halb- und Vorbewusste.“287 Im Krebsgang findet sich ein Bild für die fatale Wirkung des „Unbewussten, des Halbund Vorbewussten“. Vor den russischen Gegnern flüchtend, in einem Krieg, den das NS-Regime begonnen hat, zerstört das Nicht-Vergegenwärtigte das Leben von Tullas Eltern: „Aber Erna Pokriefke wollte `ums Verrecken´ auf die Gustloff, weil für sie so viele heitere Erinnerungen an eine KdF-Reise in die norwegischen Fjorde mit dem damals weiß schimmernden Motorschiff verbunden waren.“ (109) Die „heiteren Erinnerungen“, das „weiß schimmernde Motorschiff“, die „norwegischen Fjorde“ sind Bilder, die die Ideologie des Nationalsozialismus assoziieren: die „heiteren Erinnerungen“ etwa die Idee der „Volksgemeinschaft“, das „weiß schimmernde Schiff“ erscheint wie eine „mächtige, schützende Militärmacht“ und die „norwegischen Fjorde“ assoziieren die „Arisierung“, wie an späterer Stelle ausgeführt wird. Das Schicksal der Pokriefkes, denen das „Unbewusste“ der nationalsozialistischen Ideologie zum tödlichen Verhängnis wird, erfordert im Umkehrschluss den Aufbruch des Verdrängten, der Bewusstwerdung der Abgründigkeit. 286 Michael Stürmer `Geschichte in geschichtslosem Land´, S. 36-38 in Rudolf Augstein (Hg.), Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 36. 287 Theodor W. Adorno, `Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit´ (1960), in Aufarbeitung der Vergangenheit. Originalaufnahmen aus den Jahren 1955 bis 1969. Gelesen von Theodor W. Adorno. (CD1), München, 1999/2006; Produktion: Hessischer Rundfunk. 128 Adorno plädierte für eine bedingungslose Konfrontation der Deutschen mit ihrer Vergangenheit als eine notwendige Voraussetzung, um die Strukturen dieser Vergangenheit auszumerzen. Ohne jene sei weder ein Verständnis der sozioökonomischen Voraussetzungen des Faschismus, noch der psychosozialen Faktoren des „Unbegreiflichen“ möglich. „Aufgearbeitet“ sei die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären.288 Die Beseitigung der Ursachen des Vergangenen bedingt die Vergegenwärtigung des Vergangenen: „Es kommt wohl wesentlich darauf an, in welcher Weise das Vergangene vergegenwärtigt wird; ob man beim bloßen Vorwurf stehen bleibt oder dem Entsetzen standhält durch die Kraft, selbst das Unbegreifliche noch zu begreifen.“289 Zur Rekonstruktion der Vergangenheit bedarf es Erinnerungen. Erinnerungen werden von Individuen getragen, ihre Prägung erfolgt zum Teil jedoch jenseits individueller Erfahrungshorizonte. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat auf die soziale Bedingtheit der Erinnerung verwiesen, da der Einzelne in seiner Erinnerung auf Anhaltspunkte Bezug nehmen muss, die außerhalb seiner selbst liegen und die von der Gesellschaft festgelegt worden sind. Letztlich könne man ein individuelles und soziales Gedächtnis nicht unterscheiden, denn erst über die Affekte – darunter auch (den) der Trauer - wachse unseren Erinnerungen eine Relevanz in der gegebenen kulturellen Welt zu.290 Somit ist der Einzelne in unterschiedliche Gedächtnishorizonte eingebunden, die etwa von der Familie und der Gesellschaft konstituiert werden. Individuelle Erinnerungen an die Vergangenheit bewegen sich demnach in einem Spannungsfeld zwischen subjektiver Erfahrung, wissenschaftlich objektivierter Geschichte und kultureller Kommemoration. Im Umkehrschluss repräsentiert jede „Geschichtserzählung“ (Michel Foucault) auch die Kultur, aus der sie hervorgeht und ist immer abhängig von den dominanten Vermittlungsformen.291 288 Adorno, `Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?´ in ders. Kulturkritik und Gesellschaft II, Gesammelte Schriften, S. 555-572, Bd. 10, S. 572. 289 Adorno, CD1. 290 Vgl. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt, 1985, S. 35 und S. 71. 291 James E. Young, `Zwischen Geschichte und Erinnerung. Über die Wiedereinführung der Stimme der Erinnerung in die historische Erzählung´, S. 41-62 in Welzer (Hg.), Das Soziale Gedächtnis, S. 59. 129 Wie kaum ein anderes Land hat sich Westdeutschland, seit 1989 das wiedervereinte Deutschland, seiner Geschichte öffentlich gestellt. Das Holocaust-Mahnmal in unmittelbarer Nähe zum Deutschen Bundestag ist nur eines der sichtbarsten Zeichen dieser Auseinandersetzung. Trotz der Unermüdlichkeit der öffentlichen Konfrontation diagnostiziert Aleida Assmann eine Diskrepanz zwischen den biographischen Erinnerungen und dem gesellschaftlichen und politischen Erinnerungsrahmen, die für eine „Reihe von Eruptionen und Skandalen verantwortlich zu machen ist.“292 Auch im Krebsgang steht die individuelle (traumatische) Erinnerung Tullas dem kollektiven Gedächtniskanon entgegen, wie im dritten Kapitel dieser Arbeit „Durcharbeiten“ ausführlich darzustellen sein wird. In seiner Rede in Vilnius Ende 2000 greift Günter Grass diese Kluft zwischen privaten und öffentlichen Erinnerungen auf: Merkwürdig und beunruhigend mutet dabei an, wie spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während des Krieges den Deutschen zugefügt wurden. Die Folgen des bedenkenlos begonnenen und verbrecherisch geführten Krieges, nämlich die Zerstörung deutscher Städte, der Tod Hunderttausender Zivilisten durch Flächenbombardements und die Vertreibung, das Flüchtlingselend von zwölf Millionen Ostdeutschen, waren nur Thema im Hintergrund.293 Auf einer psychologischen Ebene bestätigt sich diese Kluft in dem eingangs dargestellten Paradox zwischen einer Wissensgesellschaft ohne Einfühlung in die Geschichte (vgl. Dan Bar-On, „Einführung“). Mit Blick auf die jüngeren Generationen stellt Roman Herzog die Frage nach der Vermittlungsform der Geschichte: „Es kommt nicht nur darauf an, dass über die Verbrechen des so genannten Dritten Reiches gesprochen wird, sondern vor allem auch darauf, ob so darüber gesprochen wird, dass die jungen Menschen es verstehen und die richtigen Folgerungen daraus ziehen.“294 292 A. Assmann, in Erinnern, S. 84. Grass, `Ich erinnere mich´, S. 27-34 in Martin Wälde; Günter Grass., Die Zukunft der Erinnerung, Göttingen, 2001, S. 32f. 294 Roman Herzog, Rede bei der Gedenkveranstaltung aus Anlaß des 60. Jahrestages der Synagogenzerstörung am 9./10. November in Berlin. http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Reden-Roman-Herzog. 293 130 Diese Erkenntnis bedarf jedoch etwas Grundsätzlicherem als Fundament. Der Politikwissenschaftler Peter Reichel verweist darauf: Politische Systeme sind auf den Umgang mit Vergangenheit angewiesen. Er dient der sozialen Binnenintegration, der kulturellen Identitätsbildung und der politisch symbolischen Herrschaftslegitimierung. Jedes Gemeinwesen muss wissen und sinnlich erfahrbar machen, worauf es gründet und wo es herkommt.295 Die Dimension einer Wissensgesellschaft ohne Einfühlung zeigt sich hierin: zwar weiß dieses Gemeinwesen, worauf es gründet und woher es kommt, kann es aber nicht sinnlich erfahrbar machen. Das Wissen ist von dem Nachempfinden abgeschnitten und scheint dadurch über Zeit seine Bedeutung zu verlieren. Mit Blick auf die nationale Geschichte beschreibt die Psychologin Ingrid Peisker die Trauerarbeit als einen konstruktiven Prozess, der „integrative(n) Erinnerungsarbeit, die das kognitive Erfassen der historischen Fakten mit deren emotionaler und moralischer Bedeutung verbindet und eine emanzipatorische, identitätsstärkende Entwicklung einleitet.“296 Der Prozess des Erkenntnisgewinns aus der Geschichte zwischen 1933-45 als Vorbedingung der historischen Verantwortung bedarf einer Öffnung gegenüber menschlicher Ambivalenz. Erst das Zusammenspiel zwischen menschlicher Ambivalenz und historischer Kontextualisierung scheint Geschichte „sinnlich erfahrbar“ und „die emotionale und moralische Bedeutung historischer Fakten kognitiv erfassbar“ zu machen. Die Akzeptanz der menschlichen Ambivalenz von „Gut“ und „Böse“ erfordert die Akzeptanz der eigenen Ambivalenz - wodurch diese Vorbedingung als eine besondere Herausforderung erscheint. Doch offenbart bereits das Verständnis über die eigene Ambivalenz einen wesentlichen Baustein des Nationalsozialismus für die sinnliche Erfahrbarkeit von Geschichte. In ihrer traditionellen Ausprägung besetzt die eigene nationale Identität naturgemäß die guten Attribute für sich und reserviert die schlechten für die `Anderen´. Eine ambivalente historische Identität jedoch bezieht nicht nur die 295 Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit´, Frankfurt, 1999, S. 21. 296 Ingrid Peisker, Vergangenheit, die nicht vergeht. Eine psychoanalytische Zeitdiagnose zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Gießen, 2005, S. 13. 131 ausschließlich positiven Seiten ein, sondern nimmt auch die eigenen Schattenseiten an. Durch dieses Aufbrechen der eigenen Identität hin zu den dunklen Seiten wird es möglich, die `Anderen´ auf Augenhöhe zu sehen und nicht als etwas Fremdes und damit Nachgeordnetes.297 Auf diese Weise bildet ein ambivalentes nationales Selbstbild zugleich auch einen Gegenpol zu jener Selektion in „wir“ und „die Anderen“, die die „Wurzel der nationalsozialistischen Barbarei“298 war. Eine ambivalente historische Identität im diesem Sinne wird somit zur Vorbedingung für die „sinnliche Erfahrbarkeit“ der Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland und damit für eine Wissensgesellschaft mit Einfühlung. Um „das Unbewusste, das Halb- und Vorbewusste“ (Adorno) in „das Bewusste“ zu wandeln, bedarf es der prozesshaften historischen Darstellung, das Aufzeigen des „Vorher“, des „Während“ und des „Nachher“. Die Bedeutung dieser kontextualisierten Darstellung umreißt der Historiker Michael Hoffmann: „Der Sinnentleerung durch Ritualisierung könnte öffentliches Gedenken dann entgehen, wenn die Kontexte des Themas, die Vorderund Hintergründe und die Perspektiven für Gegenwart und Zukunft klar thematisiert würden.“299 Im Krebsgang stellt der Erzähler Paul die Kernfrage, die am Beginn einer kontextualisierten Darstellung vor einer ambivalenten historischen Identität steht: „Nur spaßeshalber und um mich auszuprobieren, versuche ich jetzt, mir vorzustellen, wie meine Wenigkeit als Journalist reagiert hätte (…). Verspätete Mutproben! Wie ich mich kenne, wäre mir allenfalls eine verklausulierte Frage (…) über die Lippen gekommen (…).“ (58) Diese Fragestellung, eingebettet in einem erzählten Bericht über das Vorher und das Nachher der Gustloff Katastrophe spiegelt jenen Ansatz von Ambivalenz und Kontextualisierung als Voraussetzung für sinnlich und kognitiv erfahrbare Geschichte. 297 Vgl. Jörn Rüsen, unveröffentlichtes aber genehmigtes Interview, März 2006. Herzog. 299 Michael Hoffmann, Ambivalenzen der Vergangenheitsdeutung. Deutsche Reden über Faschismus und `Drittes Reich´ am Ende des 20. Jahrhunderts, Dissertation, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, Universität Gießen, 2003, S. 15. 298 132 Von der individuellen Erinnerung zur „sinnlich und kognitiv erfahrbaren“ Geschichte im Krebsgang Lange zögert Paul in seiner Erzählung, bevor er zum Punkt seiner Existenz als Trauma gelangt: „Aber nein. Ich darf nicht, darf noch nicht zum Knackpunkt meiner zufälligen Existenz kommen, denn noch standen dem Schiff friedliche KdF-Reisen bevor.“ (70) Die Erinnerung an Vergangenes formt die Identität eines Menschen, indem das Subjekt das Ziel hat, sich in seiner Geschichte und in deren Beziehung zu seiner Zukunft zu verwirklichen: „Das Subjekt komponiert ein Ich.“300 Im Sinne Halbwachs´ erweitert der Sozialpsychologe Harald Welzer diese Identitätsbildung um eine soziale Komponente: „Die Wahrnehmung und Interpretation der eigenen Vergangenheit und der Wir-Gruppe, zu der man gehört, ist der Ausgangspunkt für individuelle und kollektive Identitätsentwürfe und dafür, für welche Handlungen man sich in der Gegenwart entscheidet – mit Blick auf die Zukunft.“301 Paul schildert das Schicksal von Mutter Tulla und Sohn Konny. Damit erstellt er Identitätsentwürfe für seine Familie als „Wir-Gruppe“ aus der Vergangenheit hinein in die Zukunft. Pauls einzige Verankerung als Figur in dieser Geschichte – selbst als Journalist ist sein Leben durch Tulla und Konny dominiert - unterstreicht die eigene Geschichte und die „Wir-Gruppe“ als Basis für individuelle Identitätsentwürfe. Wie vorstehend erläutert ist die Bildung der eigenen Identität die Verankerung für die zweite Bedeutungsebene des Erinnerns, die der Erkenntnis. Kettner (vgl. „Einführung“) beschreibt das Erinnern im Prozess des Durcharbeitens, d.h. des Aufbrechens des Verdrängten, nicht als ein Wiederfinden von Objekten, sondern als „erneutes Verstehen von schon einmal (irgendwie) Verstandenem.“302 Indem Paul bei seinem imaginierten Pressetermin auf der Gustloff die Frage nach der eigenen Handlungsweise unter gegebenen historischen Bedingungen stellt (59), begibt er sich (und den Rezipienten) auf den Pfad der Re-Interpretation, der die Chance birgt auf ein „erneutes Verstehen von schon einmal (irgendwie) Verstandenem.“ 300 Petra Strasser, `Blick zurück in die Zukunft´, in Mauser; Pfeiffer, Erinnern, S. 137-149, Bd. 23, S. 140. Harald Welzer, `Das soziale Gedächtnis´, in ders., S.11. 302 Matthias Kettner, `Das Konzept der Nachträglichkeit in Freuds Erinnerungstheorie´, S. 309-342 in „Psyche“, 53. Jahrgang 1999, S. 316. 301 133 Beide Bedeutungsebenen der Erinnerung – Identität und Erkenntnis – fußen auf der Authentizität der Erinnerung. Dabei steht nicht die Wahrheit subjektiver und objektiver Erinnerungen im Vordergrund – als „starre Vorgaben“ könnten diese den Fluss der Identitätsbildung und Erkenntnisgewinnung eher beeinträchtigen. Vielmehr ist dem Wesen der Erinnerung an sich zu entsprechen und der Frage danach, welche Erinnerungen einfließen müssen, damit eine Geschichte authentisch wird. Paul recherchiert seine Geschichte aus verschiedenen Quellen: Gespräche mit der Zeitzeugin Tulla („Ond maine Mama hädd nech aufheeren jekonnt (…) – 33 u.v.a.m.); Bücher des Zeitzeugen Heinz Schön (61f); Internet („Holte Infos für den Gebrauch oder zum Wegschmeißen per Mausklick rein (…) – 8,“www.blutzeuge.de“ – 63; „Zündelseite“ - 63); zeitgenössische Bücher („eine Streitschrift, die der Parteigenosse und Reichsredner Wolfgang Diewerge im Franz Eher Verlag (…)“ – 14; „Romanautor Emil Ludwig“ – 28); zeitgenösische Zeitungen („(…) in linken Zeitungen hieß er `Der Diktator von Davos´“ – 23; „Völkischer Beobachter“ - 36); Filme (Film von „Regisseur Rolf Lyssy“: „Ich habe mir eine Kassette auf häuslicher Mattscheibe angeschaut; (…)“ – 68); und andere historische Dokumente („Den folgenden Satz hat er zuerst dem wachhabenden Beamten zu Protokoll gegeben (…)“ – 28); „In mir vorliegenden Papieren (…)“ – 85). Dieser Dualismus aus subjektiven (Zeitzeugen) und öffentlichen (multiperspektivischen) Ressourcen scheint das Wesen der individuellen Erinnerungen wiederzugeben: zwar sind diese perspektivisch, d.h. standortgebunden und darin 134 unaustauschbar und unübertragbar.303 Allerdings existieren sie nicht isoliert (vgl. Halbwachs, s.o.), (…) sondern sind mit den Erinnerungen anderer vernetzt sowie mit den im kulturellen Archiv gespeicherten Bildern und Daten. Durch ihre auf Kreuzung, Überlappung und Anschlussfähigkeit angelegte Struktur bestätigen sie sich gegenseitig. Damit gewinnen sie nicht nur Kohärenz und Glaubwürdigkeit, sondern sie wirken auch verbindend und gemeinschaftsbildend.304 Mit Blick auf die Vielzahl seiner Quellen, erscheinen die Ergebnisse von Pauls Erinnerungsarbeit somit als authentisch. Im Teil „Durcharbeiten“ wird dargelegt, dass diese Authentizität durch einen dort zu erörternden Aspekt beschränkt wird. In diesem Abschnitt soll zugunsten der Argumentationsführung zunächst jedoch von der Annahme der Authentizität von Pauls Erinnerung(skorpus) ausgegangen werden. Die den verschiedenen Ressourcen entstammenden Erinnerungen sind fragmentarisch, begrenzt und ungeformt: „Was als Erinnerung aufblitzt, sind meist isolierte Szenen ohne ein Vorher oder ein Nachher. Erst durch Erzählungen erhalten sie Form und Struktur, durch die sie zugleich ergänzt und stabilisiert werden.“305 Diese ungeformte Fragmentierung und Begrenzung reflektiert sich in Tullas traumatischem Erinnerungsmodus. Ihre Erinnerungen sind stückweise; sie sind begrenzt, weil Tulla ihr eigenes Trauma umgeht (vgl. Abschnitt „Trauma“,) und sie wirken ungeformt durch ihr unkontrolliertes Auftreten („Flashbacks“). Sie gibt den Auftrag, eine Geschichte daraus zu formen, an Paul weiter. (19) Anhand einer Metapher von Maurice Halbwachs erläutert Aleida Assmann, wie die Vielzahl der immer nur aus Teilansichten freigegebenen, standpunktgebundenen Geschichten in den modernen Begriff der Geschichte306 eingeflossen sind wie Ströme in ein Meer, „und wie diese sind sie im Meer der abstrakten Geschichte aufgehoben 303 A. Assmann, in Das soziale Gedächtnis, S. 117. Ebd. 305 Ebd., S. 117f. 306 Anmerkung: Lt. Reinhart Koselleck seit etwa der 2. Hälfte des 18. Jh., vgl. Koselleck, `Nachwort zu: Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums., Frankfurt, 1994, S. 117. 304 135 und somit ununterscheidbar geworden.“307 Diese Metapher führt die individuelle Ebene des Erinnerns zu einer kollektiven Ebene.308 Im Krebsgang ist Halbwachs´ Bild zu sehen: „ (…) die Ostsee hat zu all dem, was hier zu berichten sein wird, (…) ihr Ja und Amen gesagt.“ (9) Halbwachs erinnert bei seiner Beschreibung des kollektiven Gedächtnisses daran, dass dieses zwar auf einer Gesamtheit der Menschen beruhe, dass es aber Individuen sind, die sich erinnern.309 Daraus ergibt sich, dass Erinnerungen nicht nur durch subjektive und objektive Quellen gespeist werden, sondern im Ergebnis immer individuell und kollektiv zugleich sind.310 Die Grundformen des kollektiven Gedächtnisses bilden zwei Begriffe aus der aktuellen Erinnerungsdebatte: das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis umfasst tatsächliche oder mündlich tradierte Erfahrungen aus der Vergangenheit, die kommuniziert werden. Für den Kulturwissenschaftler Jan Assmann ist diese Erinnerungsform eine Art „Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft“311. Es ist an die Existenz lebendiger Träger gebunden und umfasst „maximal drei Generationen, (…) die zusammen eine Erfahrungs-, Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft bilden können.“312 Die Novelle Im Krebsgang basiert auf diesem kommunikativen Gedächtnis, indem Tulla ihre Erfahrungen auf ihren Sohn Paul und ihren Enkel Konny tradiert. Das kulturelle Gedächtnis hingegen ist ein „epocheübergreifendes Konstrukt“313, das sich auf externe Medien (Texte, Bilder, Denkmäler, Rituale) und Institutionen stützt. „Diese verfestigen sich im kulturellen Gedächtnis zu objektivierter Kultur, die durch ein Erlernen angeeignet werden kann.“314 Für Jan Assmann ist das kulturelle Gedächtnis der „jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an 307 A. Assmann, in Das soziale Gedächtnis, S. 119. Anmerkung: Das Bild des Meeres als ein Schmelztiegel von individueller Erinnerung und kollektiver Geschichte stammt von Maurice Halbwachs, der in den 1920er Jahren den Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ eingeführt hat. vgl. Assmann, ebd., S. 119. 309 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt, 1985, S. 31. 310 Harald Welzer, `Das gemeinsame Verfestigen von Vergangenheit im Gespräch´, S. 160-178 in ders. Das Soziale Gedächtnis, S. 166. 311 Jan Assmann, `Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität´, S. 9-19 in J. Assmann, Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt, 1988, S. 11. 312 Ebd. 313 Cornelißen, S. 14. 314 Ebd. 308 136 Wiedergebrauchstexten, -bildern und -Riten (…), in deren Pflege sie ihr Selbstbild stabilisieren und vermitteln, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“315 Pauls Bestand des kulturellen Gedächtnisses zeigt sich in Schilderungen über die NS-Zeit, die er „externen Medien“ entnommen hat (vgl. nachfolgenden Abschnitt). Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis lassen sich zwar als Analyseobjekte trennen, in der Erinnerungspraxis fließen sie jedoch ineinander über.316 Der Erzähler entspricht diesem Ineinanderfließen der kollektiven Erinnerungen, indem er sich in seiner Erinnerung sowohl kultureller als auch kommunikativer Erinnerungsquellen bedient (s.o.). Diesem Aspekt kommt mit Blick auf den generationellen Umbruch seit den 1990er Jahren eine besondere Bedeutung zu: die kommunikativen Erinnerungen der Zeitzeugen wandeln sich in der Gegenwart sukzessive zu einem kulturellen Gedächtnis schriftlicher und bildlicher Zeugnisse. Im Krebsgang resultiert dieser Wandel scheinbar in einer Wiederholung: in der rechtsextrem anmutenden Webseite „`www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de´“ (216) und der Mordtat an Wolfgang alias David (175). Die Identität eines Menschen und der Erkenntnisgewinn als dessen Fortentwicklung stellen fließende Prozesse dar. Im Hinblick auf die Erinnerungen an die Epoche zwischen 1933-45 stellt sich daraus für das kollektive Gedächtnis eine wesentliche Anforderung: „Die Stabilität der Erinnerung wird (…) von ihrer Fähigkeit zur Erneuerung abhängen.“317 Im Krebsgang wird implizit auf die Notwendigkeit dieser Wandlungsfähigkeit verwiesen: „Menschen, die immer nur auf einen Punkt starren, bis es kokelt, qualmt, zündelt, sind mir noch nie geheuer gewesen.“ (68) Aleida Assmann verweist darauf, dass weder persönliche noch kollektive Erinnerungen in einem statischen Zustand gespeichert, sondern vielmehr in einem Modus dynamischer Prozesse eingebettet sind, 315 J. Assmann, S. 15. Vgl. Welzer, Das soziale Gedächtnis, S. 15. 317 A. Assmann, in Das soziale Gedächtnis, S. 120. 316 137 in dem man sich von den Bedingungen und Bedürfnissen der Gegenwart aus immer wieder anders auf die Vergangenheit einlässt und dabei gerade so viel von ihr zulässt, wie man gebrauchen oder ertragen kann. (…) Die Gesellschaft legt die Bezugsrahmen und Deutungsmuster für die Vergangenheit immer neu fest, die darüber entscheiden, wie und was von der Vergangenheit zur Sprache gebracht wird. Der Wandel dieser Bezugsrahmen ist abhängig von inneren und äußeren Faktoren.318 Dem dynamischen Prozess des Wandels im individuellen und kollektiven Gedächtnis steht jedoch das Statische des Traumas entgegen. Andererseits ähnelt Assmanns Beschreibung der persönlichen und kollektiven Erinnerungen in ihrer Struktur dem phasischen Prozess des Durcharbeitens (vgl. Bohleber/Horowitz, Abschnitt „Verdrängung“). So wie Assmann für die (normale) Erinnerung postuliert, dass von der Vergangenheit nur so viel zugelassen wird, wie zu „ertragen“ ist, wechseln sich bei der Bearbeitung des Traumas in ähnlicher Weise Erinnerung und Verdrängung ab. Beides kann im Endresultat zu einer Integration der historischen Erfahrung führen. Nach Assmanns Einordnung kann demnach ein Trauerprozess im individuellen und kollektiven Gedächtnis angenommen werden, der über die „Umleitung“ der Verdrängung verläuft und an deren Ende (in der Theorie) Erkenntnisgewinn und eine reifere Form des eigenen Selbstbildes steht (vgl. „Durcharbeiten“). Obwohl Paul bei seiner Erinnerungsarbeit im Hinblick auf die Authentizität sämtliche Voraussetzungen zu erfüllen scheint, gelingt es ihm weder, eine autonome Identität aus „seiner“ Geschichte zu gewinnen, noch Erkenntnisse daraus zu ziehen. Im Resultat kann der Vater Paul die Katastrophe, in die der Sohn Konny gerät, nicht verhindern. Am Ende bleibt der Trauerprozess erfolglos, die Melancholie gewinnt die Überhand: „Nie hört das auf.“ (216). Hierin offenbart sich das Unzureichende in der bloßen Wiedergabe historischer Fakten, bei aller Authentizität der Erinnerungen. Es zeigt die Notwendigkeit für den Erzähler, sich den sinnlichen Impulsen (vgl. oben Reichel und Peisker) der Erinnerungen zu öffnen, um in deren Kern gelangen zu können. Im letzen 318 A. Assmann in Erinnern, S. 84. 138 Kapitel dieser Arbeit wird darzustellen sein, warum der Fluss dieses Impulses außerhalb der Erinnerungen Pauls verbleibt. Im Ergebnis sind der Gegenwart und der Zukunft die Erkenntnis aus dem Geschehenen verschlossen. Daraus stellt sich die Frage, ob auf anderen Ebenen der Novelle Geschichte sinnliche erfahrbar dargestellt ist. Bei seiner Schilderung über den Untergang der Gustloff knüpft der Erzähler Paul Verbindungen zu Ereignissen, die zunächst nicht in direktem Zusammenhang dazu zu stehen scheinen. Indem er die Vorgeschichte des Untergangs in ein Dreigestirn zwischen den Protagonisten Gustloff, Frankfurter und Marinesko einbettet, kontextualisiert er den Untergang. Indem er dies aus der Warte seiner Gegenwart tut, verknüpft er – gemäß Foucault und Halbwachs – individuelle Erinnerung, objektive Historie und kulturelle Kommemoration miteinander. Indem Ursprünge und Nebenschauplätze der Geschichte narrativ aufgesucht, d.h. kontextualisiert wiedergegeben werden, versucht Paul die Geschichte des Untergangs in eine kohärente Form zu bringen. Zwar kann Konnys Schicksal dadurch nicht ungeschehen gemacht werden und Paul wird nicht von frei von Schuld - „Nichts spricht uns frei.“ (184) -, aber ein Erzählprozess beleuchtet die Kette von Ursache und Wirkung in sachlicher Weise. Erneut zeigt sich, hier auf der Ebene der historischen Kontextualisierung das Fehlen einer „sinnlich erfahrbaren“ (Reichel) Darstellung bzw. der des „kognitiven Erfassens der historischen Fakten mit deren emotionaler und moralischer Bedeutung“ (Peisker). Ein Blick in die (moderne) Naturwissenschaft, die „zu erklären versucht, auf welche Weise die Dinge geschehen“319, veranschaulicht das Prinzip der sinnlichen Erfahrbarkeit als eine Voraussetzung für das Erfassen des Gesamtbildes. Der Physiker Jürgen Neffe erläutert: Naturforscher halten die Dinge auseinander – Sterne, Pflanzen, Krankheiten. Sie zerlegen die Erscheinungen und gliedern die Welt in elementare Vorgänge und Zustände, in reine Stoffe, in immer speziellere Eigenschaften und Sonderheiten. Kaum etwas bestimmt ihr Handwerk mehr als die Fähigkeit, aufgrund sinnlicher 319 Jürgen Neffe, Einstein. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg, 2005, S. 62. 139 Erfahrung zu unterscheiden – den Fixstern vom Planeten, die Kreisbahn von der Ellipse, den Wurf vom Fall (…). Nach dem Trennen kommt das Ordnen der Sinnesempfindungen, nach dem Sammeln die Systematik.320 Der britische Philosoph David Hume betrachtete „als oberstes Ziel menschlicher Erkenntnis, die (Anm. d. Autorin: sinnliche) Erfahrungen mit den empirisch aufgefundenen Ursachen zusammenzubringen.“321 Es geht demnach nicht darum zu beschreiben, wie die Dinge sind oder waren. Im Kern geht es darum zu beschreiben, wie sie sich zueinander verhalten. Erst die fortlaufende Darstellung von Ursache und deren Wirkung, gewährt die Erkenntnis über deren Verhalten zueinander. In den Geisteswissenschaften scheint niemals eine einzelne Wirkungskette für einen Vorgang zu stehen. Die menschliche Psyche entbehrt mathematischer Eleganz und physikalischer Klarheit, indem sie Emotionen birgt, die eine weitere – schwer erfassbare - Dimension von Wirkungsketten entstehen lassen. Aus dieser Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften ist die wesentliche Schwierigkeit bei der Annäherung an den Erkenntnisgewinn aus der Geschichte erkennbar. Ein Weg, dieser Herausforderung zu begegnen, ist eine Vielzahl von Blickwinkeln heranzuziehen. Im Krebsgang ist diesem Vorgehen implizit mit einer Frage begegnet, die sich gegen die Kultur der öffentlichen Kommemoration zu stellen scheint: Doch wer, (…), kennt heutzutage Robert Ley? Dabei ist er es gewesen, der gleich nach der Machtergreifung alle Gewerkschaften aufgelöst, deren Kassen geleert, deren Häuser mit Räumkommandos besetzt und deren Mitglieder – Millionen an der Zahl – in der Deutschen Arbeitsfront zwangsorganisiert hat. Ihm, (…) fiel es ein, allen Staatsbeamten, danach allen Lehrern und Schülern, schließlich den Arbeitern aller Betriebe die erhobene Hand und den Ruf `Heil Hitler´ als Tagesgruß zu befehlen. (38) Dem offenbar verlorenen Wissen um die Anfänge der Diktatur wird im Krebsgang mit resignativ anmutender Hinnahme begegnet: „Alles vergangen, verweht!“ (37) Die 320 321 Ebd., S. 61. Ebd., S. 135. 140 Abwesenheit verschiedener Blickwinkel – i.S.v. sachlicher und sinnlicher Wahrnehmung – offenbart sich hierin, indem die „Verführung“ und die „Angst“ durch das nationalsozialistische System ausgeblendet bleibt. Als „sinnlich“ nachvollziehbare Ergänzung dieser Sequenz um Robert Ley folgt: „Und ihm ist die Idee gekommen, auch den Urlaub der Arbeiter und Angestellten zu organisieren, ihnen unter dem Motto `Kraft durch Freude´ billige Reisen in die bayerischen Alpen und ins Erzgebirge, Urlaub an der Ostseeküste und am Wattenmeer, nicht zuletzt kurze und längere Seereisen zu ermöglichen.“ (38) Diese Sequenz, in der Aspekte der Diktatur und der Verführung miteinander verschmelzen, nicht als „Verständnis“ für abgründiges menschliches Verhalten einzuordnen, sondern als „Verstehen“ der historischen Vorgänge zu werten, bedingt das Bewusstsein über die eigene Ambivalenz. Über die Offenheit gegenüber der eigenen Ambivalenz (Rüsen) entsteht eine sinnlich nachvollziehbare Wirkungskette zwischen den Anfängen der Diktatur und der Begeisterung der „Volksgemeinschaft“, die für das historische Gesamtbild unabdingbar erscheint. Die sachliche und sinnliche Kontextualisierung historischer Ereignisse im Krebsgang (nachfolgend „Kontextualisierung“ genannt), wie sie im nächsten Abschnitt herauszuarbeiten sein wird, strebt im Rahmen dieser Arbeit die Wahrnehmung von menschlichem Verhalten unter bestimmten zeitgenössischen Bedingungen und Gegebenheiten sowie deren historischen Ursachen und Entwicklungen an, die aus der Gegenwart schwer nachvollziehbar scheinen, nicht zuletzt, weil sie das Nachvollziehen der Ambivalenzen der Protagonisten bedingt. Diese Einordnung stellt eine Grundlage für das Kapitel „Durcharbeiten“. Mit Blick auf das NS-Regime stellt der Historiker Norbert Frei fest: Symbolisiert das Jahr 1933 die parasitäre Zersetzung überlieferter Formen staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung im Innern, so 1945 eine nach außen und nach innen gerichtete politische Destruktivität welthistorischen Zuschnitts. Aber es wäre falsch, Hitlers Herrschaft nur von diesen Eckdaten her zu betrachten – schon deshalb, weil allein daraus keine Erkenntnis zu gewinnen ist über die Fähigkeit des Nationalsozialismus, zu einer gewissen Konsolidierung zu 141 finden, die es eigentlich erst erlaubt, von einem `Regime´ zu sprechen. Das Dritte Reich war gewiss keine statische Größe, doch es war auch kein bloßer politischer Prozess. (…) Es gab eine Phase konsolidierter Herrschaft mit realen und potentiellen Entwicklungen, Wirkungskräften und Zeiterfahrungen, die nicht einfach ausgeblendet werden dürfen (…).322 Wie im Abschnitt „Verdrängung“ dargelegt, bestand insbesondere in den 1950er und frühen 1960er Jahren in vielen gesellschaftlichen und privaten Bereichen eine Tendenz zur Verdrängung und Verleugnung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Stichworte wie „Dämonisierung“, „Exterritorialisierung“ und „Opferstatus“ zeugen davon. Vor diesem Hintergrund geriet der Versuch einer Kontextualisierung durch die Zeitzeugen auch in späteren Phasen in den Verdacht einer interpretatorischen Schieflage mit dem Ziel der Schuldentlastung. Als in den frühen 1990er Jahren eine neue Generation von Historikern antrat, die nach dem Krieg geboren waren, und die sich der osteuropäischen, während des Kalten Krieges unzugänglichen, Archive bedienten, kristallisierte sich bald ein neuer Blick auf die Ereignisse heraus. Vor allem auf den Tätern lag nun das Augenmerk. Dies nicht zuletzt als Reaktion auf Goldhagens These von 1996, der den Deutschen einen „eliminatorischen Antisemitismus“ vorwirft (vgl. Abschnitt „Antisemitismus“). Zwanzig Jahre nach dem Historikerstreit zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas323, der ein weiterer polarisierender Höhepunkt in der erinnerungskulturellen Nachkriegsgeschichte Deutschlands war, scheint die Zeit des Nationalsozialismus insgesamt unverkrampfter und ausgewogener betrachtet zu werden. Als literarische Zeugnisse hierfür stehen die Romane von Autoren wie Bernhard Schlink, Uwe Timm oder Hans-Ulrich Treichel, in deren Werken die Protagonisten als ambivalente „Opfertäter“ gezeichnet werden oder als Täter ein menschliches Gesicht bekommen, in dem es zu lesen gilt. Eine kontextualisierte Perspektive auf die Geschichte gerät inzwischen weniger schnell in den Verdacht einer Beschwichtigung. Die Gegenwart 322 Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945. München, 1987, S. 85. (nachfolgend Führerstaat) 323 Anmerkung: Gegenstand des Streits war Vergleichbarkeit (Nolte) respektive Nicht-Vergleichbarkeit (Habermas) von Nationalsozialismus und Bolschewismus mit dem Kern der Einzigartigkeit des Holocaust. Ernst Nolte hatte dabei die These aufgestellt, Hitlers Politik könne als womöglich legitime Reaktion auf den bolschewistischen Terror erscheinen, was eine heftige Auseinandersetzung auslöste und den Historiker nachhaltig isolierte. 142 ist „in der Lage (…), die Vergangenheit, indem sie sie ins Bewusstsein ruft, zu verändern“324 und vermag somit gleichfalls bestimmte Haltungen gegenüber der eigenen Historie aufzubrechen. Die Notwendigkeit dieses Aufbrechens einer „nur“ abgründigen Geschichte ergibt sich aus Aleida Assmanns Verweis darauf, dass Erinnerungen nur dann ihre Stabilität wahren, wenn sie fähig sind, sich zu erneuern.325 Ohne eine „erneuerte“, i.S.v. differenzierender Erinnerung (i.S.v. Rekonstruierung) an die Geschichte, scheint der historischen Verantwortung schwerlich entsprochen werden zu können. Die Kernfrage, die sich vor einer Kontextualisierung stellt – unter welchen zeitgenössischen Bedingungen Menschen gehandelt bzw. nicht gehandelt haben - wird nachfolgend in zwei Themenblöcken erörtert. In einem ersten Block wird das totalitäre Experiment des Nationalsozialismus mit den Aspekten Ideologie, Volksgemeinschaft, Diktatur und Krieg im Krebsgang beleuchtet. Im zweiten Teil steht der Antisemitismus im Mittelpunkt der Analyse. Bei diesem schwierigen, weil unerklärlich scheinenden Phänomen, geht es auch um die Frage nach der Kausalität zwischen Antisemitismus und Holocaust und wie sich Grass diesem Aspekt im Krebsgang genähert hat. 324 Hartmut Raguse, `Erinnerung, Eingedenken und das Problem der psychoanalytischen Hermeneutik´, S. 11-21, in Bohleber „Vergangenes“, S. 16. 325 A. Assmann, in Das Soziale Gedächtnis, S. 121. 143 Abschnitt „Nationalsozialismus“ 144 Kontextualisierte Perspektiven im Krebsgang auf die Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland 1933-1945 In seiner Rede vor dem deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 sagte Richard von Weizsäcker: Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zum offenem Hass. Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, den unaufhörlichen Schändungen der menschlichen Würde? Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Umfang der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, (…) nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.326 Weizsäckers Diagnose der Gleichgültigkeit bzw. Toleranz gegenüber Gewalt und Unterdrückung von Minderheiten durch eine breite Bevölkerungsschicht in ideologischen Systemen spiegelt sich diametral in einer Schilderung des russischen Schriftstellers Kirill (Konstantin) Simonov über die Erlebnisse während der „Stalinistischen Säuberungen“ in den Jahren 1937/38: Simonov, whose own career took off in theses years, wrote with extraordinary candour and remorse about what he saw as the collaboration of the silent Soviet majority in the Great Terror. In his memoirs, dictated on his death-bed in 1979, Simonov accused himself: `To be honest about those times, it is not only Stalin that you cannot forgive, but you yourself. It is not that you did something bad – maybe you did nothing wrong, at least on the face of it – but that you became accustomed to evil. The events that took place in 1937-8 now appear extraordinary, diabolical, but to you, then a young man of 22 or 24, they become a kind of norm, almost ordinary. You lived in the midst of these events, blind and deaf to everything, you saw and heard nothing when people all around you were shot and killed, when people all around you disappeared.´327 326 Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Rede vor dem Bundestag am 8. Mai 1985 http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/NeueHerausforderungen_redeVollstaendigRichardVonWeizsaecker8 Mai1985/index.html. 327 Orlando Figes, The Whisperers – Private Life in Stalin´s Russia, London, 2007, S. 266f. 145 Gegenüber einer aus heutiger Sicht schwer verständlichen Vergangenheit stellt sich in der Gegenwart die Frage, welche die Bedingungen, Umstände und Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Toleranz gegenüber Gewalt und Unterdrückung in einem nie zuvor erlebten Ausmaß geführt haben. 146 Das Fundament: Globale historische Kontextualisierung vor 1933 Vorbemerkung Wann beginnt die Geschichte im Krebsgang? Zu Beginn der Novelle bemerkt der Erzähler Paul: „…denn diese Geschichte fing lange vor mir, vor mehr als hundert Jahren an….“. (7) Der Beginn von Pauls Existenz ist auf die Mitte des 20. Jahrhunderts datiert. Zu den politischen und kulturellen Ereignissen ab Mitte des 19. Jahrhunderts, die für die Entwicklung Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Rolle spielen, gehörten etwa Preußens militärische Vormachtstellung (ab Mitte 19. Jh.), Nationalstaat und Reichsgründung (1871), Kolonialisierung (Eugenische Theorien), Kulturepoche der späten Romantik, Marxismus, allmählicher Übergang in die Moderne, Bolschewismus, Faschismus, (industrielle) Gründerzeit und Erster Weltkrieg. Vor dem Hintergrund des Phänomens Gewalt und Gegengewalt sollen nachfolgend deren Einflüsse auf die Zeit zwischen 1933-45 umrissen werden. 147 Das Trauma entfesselter Zivilisation im 20. Jahrhundert Pauls Schilderung der zufolge „Professor Höllerer“ vor begeisterten Studenten Vorlesungen über Literatur zwischen Klassik und Moderne (30) hält, zeichnet eine Verbindungslinie zwischen der Objektivierung des „idealen“ menschlichen Geistes, des „Wahren, Guten, Schönen“328 (Goethe über Schiller) und der industrielltechnologisierten Moderne in der erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der ganzheitlich kulturell-historische Ansatz bzw. die Betonung auf die Geschichte durch den realen Höllerer unterstreichen diese Verbindung: „Die Ausgangsfragen dieser Studien (Klassik und Moderne) sind historischer Art.“329 Diese Linie deutet auf eine der Bedingungen für die epochalen Katastrophen: die Diskrepanz zwischen zivilisatorischer Geisteshaltung und moderner Technologie. Am Ende der Novelle Im Krebsgang findet sich diese Diskrepanz als perpetuierendes Element wieder: dem „Computerding“ (198) („Technik“) stehen Tullas von Orientierungslosigkeit zeugende fragmentarische Geschichten gegenüber („Geist“), die sie an den Enkel Konny tradiert; dem „Schießeisen“ („Technik“) vom „Russenmark“ (198), das der Enkel von der Großmutter erhält, steht die Ideologie bzw. Gewaltbereitschaft der „Glatzköppe“ (ebd.) („Geist“) als Motiv für die Weitergabe gegenüber. Beides wird zum auslösenden Moment des Mordes an Wolfgang alias David. Die konkreten Folgen der Diskrepanz zwischen „Geist“ und „Technik“ am Beginn des 20. Jahrhunderts werden ersichtlich vor dem Hintergrund, dass der Erste Weltkrieg der erste Krieg (war), in dem mit den Mitteln der modernen Technik Menschen massenhaft und anonym vernichtet wurden: durch Flammenwerfer und Gas, durch Torpedos von Unterseebooten und Bomben aus Flugzeugen. Der Schrecken wirkt bei den Überlebenden nach, aber auch die Faszination, die von der Entdeckung ausging, was Masse und Technik vermochten, wenn man ihnen gestattete die Fesseln der Zivilisation abzustreifen.330 Es mag den „tiefen Verstörungen“ bei Siegern und Besiegten als Hinterlassenschaft aus dem Ersten Weltkrieg331 zuzuschreiben sein, dass die zivilisatorische Humanität auch im weiteren Verlauf der Epoche nachhaltig abgestreift blieb. 328 Günter Grimm (Hg.), Deutsche Dichter. Sturm und Drang, Klassik, Stuttgart, 1989, Bd. 4, S. 261. Walter Höllerer, Zwischen Klassik und Moderne, Köln, 2005, S. 12. 330 Winkler, S. 378. 331 Ebd. 329 148 In Deutschland offenbarte sich dieses etwa in dem Bestreben des NS-Regimes, durch Nutzung neuer Technologien („angekündigte Wunderwaffe“ - 123) globale Macht zu erlangen. Doch auch direkt bekannten sich die Nationalsozialisten gegen zivilisatorische Humanität. In seiner Antrittsrede an der Berliner Universität 1933 postulierte Alfred Bäumler, einer der führenden Philosophen der Nationalsozialisten, den „ideologischen Kampf gegen den Humanismus der deutschen Klassiker als Hauptaufgabe der `politischen Pädagogik´“.332 Zwar fand der erste Reichsparteitag der NSDAP im Jahr 1926 wegen seiner Topographie als Zentrum der deutschen Klassik in Weimar statt.333 Allerdings blieb die Klassik unter den Nationalsozialisten „uneinholbar an ein Deutschtum gebunden, das seine Erfüllung im Heldentod suchte.“334 Auch hierin offenbart sich die Nachhaltigkeit der Diskrepanz zwischen (zivilisatorischen) Geist und (moderner) Technik. Das Streben nach universaler Macht und arischem Heldentod („Überall wurden denkmalreife Heldentaten vollbracht; (…).“ – 123), die Verachtung für „den Humanismus der deutschen Klassiker“ („Geist“) und der Zugriff auf Massenvernichtungswaffen („Technik“) gehörten zu den wesentlichen Wegbereitern des Zweiten Weltkrieges. Diese epochale zivilisatorische Entfesselung blieb in der Abfolge von Gewalt und Gegengewalt nicht auf das nationalsozialistische Deutschland beschränkt, was sich u.a. auch in den US-amerikanischen Nuklearangriffen gegen Hiroshima und Nagasaki zeigt. Im Kontext von „Geist“ und „Technik“ („Klassik und Moderne“) erhebt die Universität als ein von Intellektuellen besetzter Raum die Frage nach der Stellung der Intellektuellen nach 1918. Tatsächlich war deren Position dominant in einer politischen Kultur, „that fed into the post-war crisis and shaped the character of the Nazi appeal (…).“335 Im Krebsgang ist mit der Gegenüberstellung von Geist und 332 Georg Lukács, `Der faschistische und der wirkliche Georg Büchner. Zu seinem hundertsten Todestag 1937´, S. 185-203 in Dietmar Goltschnigg, (Hrsg.), Büchner im Dritten Reich, Bielefeld, 1990, S. 187. 333 Rolf Selbmann, Deutsche Klassik, Darmstadt, 2005, S. 25. 334 Ebd., S. 26. 335 Ian Kershaw, `Reich after Reich´ in „Times Literary Supplement“, 15.02.2008, S. 13. 149 Technik in einem „intellektuellen Raum“ eine Plattform bereitet, auf der retrospektiv deren Diskrepanz hätte erkannt und thematisiert werden können. An Gelegenheiten fehlt es nicht: „Mit Themen wie `Telefonseelsorge´“, die „zum epischen Entwurf herausfordern“ (30), scheinen Ansätze des Durcharbeitens erkennbar. Außerdem sind „ein gutes Duzend (talentierte) Hoffnungsträger“ (30) unter den Anwesenden, von denen sich zwei, drei „einen Namen gemacht“ haben (ebd.). In Grass´ literarischem Kosmos wird jedoch „Unfertiges vorgelesen und zerredet“ (30). Die Diskrepanz aus Geist und Technik bleibt in ihrer Bedeutung für eine Kontextualisierung unerkannt: „Bei mir reiche es allenfalls zum Kolportageroman.“ (30) 150 Der Faschismus im Kontext der Moderne Um die Ereignisse bis 1945 – dem Zeitraum der Vorgeschichte des Untergangs der Gustloff - in ihren zeithistorischen Kontext einordnen zu können, erscheint ein Blick auf die Entwicklung der nationalsozialistischen Ideologie aus dem Faschismus heraus als aufschlussreich. Der Historiker Sven Reichardt erinnert an den „Niedergang der vergleichenden Faschismusforschung“ in den 1980er Jahren, dessen Folgen bis heute insbesondere in Deutschland spürbar seien: Die häufig ökonomisch verengten und vergleichsarmen Interpretationen verhinderten die Durchsetzung eines modernen, auf dem Stand der empirischen Einzelforschung fußenden, innovativen Faschismusbegriffs. (…) Gerade in Deutschland wurde die Faschismustheorie, (…), fast ausschließlich am Beispiel des Nationalsozialismus exemplifiziert (…) Man diskutierte darüber, welche Unternehmergruppen am stärksten von der NS-Herrschaft profitierten und welche Bedeutung die finanziellen Zuwendungen aus bürgerlichen Kreisen für den Aufstieg des Faschismus hatten. 336 Aus dieser Diagnose stellt sich die weitgehende Abwesenheit aufschlussreicher Perspektiven, etwa „typologisch differenzierte, handlungstheoretisch orientierte oder kulturgeschichtlich inspirierte“ 337, die die Zeit zwischen 1933-45 für spätere Generationen „sinnlich und kognitiv“ (vgl. oben) nachvollziehbar erhellen könnten. Unumstritten ist, dass die wirtschaftliche Ausgangslage eine wesentliche Rolle bei dem Niedergang der Demokratien in Europa gespielt hat. Allerdings lässt die ökonomische Erklärungslinie für den Faschismus eine wesentliche Entwicklung in Deutschland für nachfolgende Generationen jedoch im Dunkeln: “Only in Germany was fascism both revolutionary and totalitarian in deed as well as in word. Only in Germany did dictatorship ultimately lead to industrialized genocide.”338 Um sich weiterer Erklärungslinien für die historischen Begebenheiten zwischen 193345 anzunähern, erscheint ein Blick auf das zentrale Wesen der Quelle des Nationalsozialismus, des Faschismus, als aufschlussreich: seine Biegsamkeit. Die faschistischen Weltanschauungen waren nicht originell und von Land zu Land Sven Reichardt, `Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung´, in „Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung“, S. 9-25, 16. Jahrgang, Feb./März 2007, S. 9. 337 Ebd., S. 10. 338 Ferguson, S. 232. 336 151 unterschiedlich. Da die einzelnen Ideen der Faschisten kohärenter Systeme entbehrten, waren sie flexibel genug, „um je nach machtpolitischer Opportunität innerhalb eines weiter gefassten Möglichkeitsspektrums aktualisiert und verändert werden zu können.“339 Trotz dieser Dehnbarkeit der Ideologie bestanden vor allem drei Elemente, darunter radikaler Nationalismus, Popularität und pseudoreligiöse Sakralität340 als wesentliche theoretische Fixpunkte. Typisch für den Faschismus ist der „Mythos vom Neuen Menschen“. Daraus ergeben sich wichtige Merkmale wie der „Massenappeal, die charismatische Führerschaft, de(r) Korporativismus und ökonomische Triebkräfte.“341 Als zentrale Definitionsmerkmale des Faschismus benennt Reichardt „Gewalt und Zwang“.342 Diese Merkmale zusammen gefasst heben das Bild eines „kulturrevolutionären Charakters“343 des Faschismus an die Oberfläche. Dieser offenbart sich in „seiner Ideologie, seinen Ritualen und Mythen, im politischen Stil und in der Ästhetik sowie in seiner Fähigkeit zur Massenmobilisation (…).“344 Die Phase zwischen 1933 und 1945 auch aus der Sichtweise der „Kulturrevolution“ zu betrachten, scheint ein facettenreiches Spektrum bei der Suche nach Erklärungsansätzen bereitzustellen, die sich im Krebsgang bieten. Assoziativ findet sich das Bild der Kulturrevolution in der Novelle über eine von Martin Heidegger geprägte Metapher. Nach dem Tod ihres behinderten Bruders Konrad zieht Tulla sich für eine Woche in die Hütte des Hundes Harras zurück. (66) Tullas Handlung lässt sich als Zustandsbeschreibung nach einer verlorenen Ordnung bewerten. Die Metapher der Hütte ist eine abgewandelte Form der Höhle bei Heidegger: Die griechische Philosophie, so Heidegger, habe den Menschen aus der Höhle der mythischen Benommenheit befreit. Inzwischen sei aber die Weltgeschichte wieder ins trübe Licht der Uneigentlichkeit getaucht, sie sei in die platonische Höhle zurückgekehrt. Die Revolution von 1933 deutete Heidegger als 339 Reichardt, S. 15. Ebd., S. 12. 341 Ebd., S. 13. 342 Ebd. 343 Ebd. 344 Ebd. 340 152 Chance für den erneuten Ausbruch aus der Höhle, „ein neuer geschichtlicher Augenblick der Eigentlichkeit.“345 Aus dem „Mythos vom Neuen Menschen“ ergibt sich als eines der Hauptmerkmale des Nationalsozialismus die Ausgrenzung anderer als Voraussetzung für die „Arisierung“. Offen spiegelt sich diese Ausgrenzung im Krebsgang in der Erinnerung Tullas an „Itzig“, die Figur des Halbjuden aus Hundejahre, der vom Hof gejagt worden ist. (106) Für die Analyse der Novelle Im Krebsgang erscheint der Blickwinkel der „kulturellen Revolution“ auf die Epoche von 1933-45 auch im Hinblick auf ihren Endpunkt weiterführend. Am Beispiel Italiens erörtert der italienische Historiker Emilio Gentile: Das totalitäre Experiment des Faschismus verschlang sich in seinen Rhythmen, Zeitabläufen und Methoden mit anderen totalitären Experimenten und endete wie jene in einer Katastrophe. Gewiss gelang es dem Faschismus nicht, seine totalitären Wunschvorstellungen zu realisieren. Der Zweite Weltkrieg hielt ihn auf. Es ist daran zu erinnern, dass dieses totalitäre Experiment an der militärischen Niederlage zugrunde ging. Der Faschismus scheiterte nicht am Widerstand (…) traditioneller Institutionen (…).346 Gentiles auch für Deutschland zutreffende Diagnose beinhaltet die Abwesenheit, das Fehlen eines organischen, inneren Absterbens des Nationalsozialismus. Erst dadurch wäre das Scheitern dieser Ideologie vor aller Augen sichtbar geworden. Das Ende des Nationalsozialismus in Deutschland ist jedoch mit der militärischen Niederlage im Jahr 1945 verbunden. Dieser Tatbestand versinnbildlicht sich im Untergang der Gustloff. Sie sinkt durch feindlichen Beschuss am Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Krebsgang bleiben die organischen Überreste aus der Zeit vor dem Untergang lebendig. Immer wieder schwärmt Tulla von der Gustloff als dem „scheenen Schiff“ (206) und von der „klassenlosen KdF-Gesellschaft“ (50). Tulla, die zur Zeit des Mordes an Gustloff 345 346 Martin Heidegger zitiert in: Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre. München, 2007, S. 361. Emilie Gentile, `Der Faschismus´, in „Mittelweg 36“, S. 81-99, ebd., S. 97. 153 „achteinhalb“ Jahre alt ist (24), wird Zeugin der Schwärmereien ihrer Eltern. Erna Pokriefke ist verzückt vom „Trachtensaal, dem Wintergarten“ (66), der Vater ist nach seiner Gustloff-Reise „bejeistert von frieh bis spät“ (67) und will seine Tochter im Anschluss daran als Mitglied der „Jungmädels“ (67) verpflichten. Die organischen Anteile Tullas scheinen sich auf den Enkel Konny zu übertragen. Auch er spricht von dem „schönen Schiff“. (73) Am Ende übernimmt er die für sein Alter und Geschlecht in der nationalsozialistischen Ideologie zuzuordnende Identität als „Kamerad“: aus Konnys Webseite „www.blutzeuge.de” (8) und der „Kameradschaft Schwerin“ wird „www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de“ (216). Joachim Gauck, der erste Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR, bestätigt Gentiles Analyse auf eindringliche Weise: Selbst der dümmste Schüler bekommt einen Anfall von Genialität, wenn der Lernstoff sich auf den Führerschein bezieht. Bei all dem aber, was wir anders lernen als mit dem Kopf, bei dem, was in uns hinein gelebt wird durch Vorbild, durch Gewöhnung an Unterdrückung, was unser habituelles Ich ausmacht, bei all dem ist Veränderung unendlich langsam. Psychotherapeuten wissen das aus ihrer Praxis, aber das gilt eben auch politisch.347 Erst allmählich scheint sich eine totalitäre Realität aufzulösen, die zuvor sämtliche Lebensbereiche des Alltags durchzogen hat. Im Rahmen dieses Prozesses mag Vieles, das im vorangegangenen Abschnitt als Verdrängung ausgewiesen worden ist, aus zeitlicher Distanz als eine Entwicklungsstufe auf dem Weg zu einer (inneren) demokratischen Ordnung sein. Aus dieser Perspektive gesehen, geben Verdrängung und Verleugnung Aufschlüsse über den Entwicklungsstand einer post-totalitären Gesellschaft. Mit Blick auf die Kontextualisierung stellt sich als Maßstab, je offener der jeweiligen Epoche gegenüber getreten wird, desto reifer stellt sich die Entwicklung hin zu der neuen Gesellschaftsform dar. 347 Joachim Gauck, `Mentalität und Mentalitätswandel in posttotalitären Gesellschaften. Die Situation der Deutschen nach 1945 und 1989´, S. 12-33 in Ibrahim Özkan, u.a., (Hg.), Trauma und Gesellschaft, Göttingen, 2002, S. 28. 154 Der Erste Weltkrieg und die Angst vor dem Bolschewismus Durch Hans Castorp (9), der Hauptfigur des in den Jahren 1913-24 entstandenen Romans Thomas Manns, Der Zauberberg, richtet sich der Blick auf die Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Hierdurch wird eine kausale Verbindung zwischen diesem epochalen Ereignis und dem Untergang der Gustloff hergestellt. Es sind die Lungenkranken vom Zauberberg, denen Paul nahe kommt, wenn er sich als Kettenraucher bezeichnet: Wie dieser Jude Frankfurter, füge ich heute hinzu, der gleich mir ein Stäbchen am nächsten angezündet hat und über den ich jetzt schreiben muss, weil die Schüsse ihr Ziel gefunden haben, weil der Bau des in Hamburg auf Kiel gelegten Schiffes Fortschritte machte, weil im Schwarzen Meer ein Navigationsoffizier Marinesko auf einem in Küstennähe tauglichen U-Boot Dienst schob und weil am 9. Dezember sechsunddreißig vor dem Gericht des Schweizer Kantons Graubünden der Prozess gegen den aus Jugoslawien stammenden Mörder des Reichsdeutschen Wilhelm Gustloff begann. (45) Verstärkt wird die kausale Verbindung durch den „aus Jugoslawien stammenden Mörder“ (ebd.): der Mord am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand im Jahr 1914 in Serbien war auslösendes Moment des Ersten Weltkrieges. The First World War changed everything. In the summer of 1914 the world economy was thriving in ways that look distinctly familiar. The mobility of commodities, capital and labour reached levels comparable with those we know today; (…) The war sank globalization (…). In the war´s aftermath, revolutionary regimes arose that were fundamentally hostile to international economic integration. Plans replaced the market; autarky and protection took place of free trade. Flows of goods diminished; flows of people and capital all but dried up.348 Die ökonomische Regression war das für alle sichtbare Ergebnis der Schockwirkung eines nie zuvor erlebten Krieges. Weit schwerwiegender, so ist anzunehmen, wogen jedoch die unsichtbaren Folgen. Erst in unserer Gegenwart wird allmählich damit begonnen, die Folgen von Kriegseinsätzen bei Soldaten und deren Familien systematisch zu untersuchen. Für die Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts blieben diese Folgen der Gewalt außerhalb des Bewusstseins. „(T)he brutalization that soldiers 348 Ferguson, S. 73. 155 experienced in the Great War may have prepared a world that condoned the barbarism of the camps.“349 Neben dem „Großen Krieg“ war die Angst vor dem Bolschewismus prägend für das frühe 20. Jahrhundert. Vor allem die Stalinistischen Säuberungen zwischen 1937-8, denen Schätzungen zufolge zwischen 20-25 Millionen Menschen zum Opfer fielen, wurden weltweit zum Schreckgespenst. Aus der Erfahrung mit fundamentalem Terrorismus in der Gegenwart verweist der britische Historiker Geoffrey A. Hoskins auf eine mögliche Erklärung für die Reaktion auf den Kommunismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Our own twenty-first century `war on terror´ has reminded us of the way in which even the most impeccably democratic governments, once they are alarmed, can override elementary legal principles. Faced with the unfamiliar menace of Communism, the leaders of 1919 were even more panic-stricken and disoriented.350 Im Krebsgang erzählt Paul von Alexander Marinesko: „Schon im Sommer, und während die von Stalin angeordneten Säuberungsprozesse die Admiralität der Baltischen Flotte nicht verschonten, wurde er Kommandant eines U-Bootes.“ (53) Die „Säuberungen“ richteten sich nicht nur gegen Aristokratie und „Bourgeoisie“ Russlands. Auch die so genannten „Kulaks“, die russischen Bauern, wurden Opfer des von einem paranoiden Stalin entworfenen irrwitzigen „Fünf-Jahres Plan“, durch den er seine Revolution auf eine ökonomisch tragbare Basis stellen wollte.351 Die Angst vor dem Bolschewismus in Europa war nicht ausschließlich eine Furcht vor etwas, das in der Ferne lag. Die Weltwirtschaftskrise ausgelöst durch die Hypothek aus dem Ersten Weltkrieg, ließ viele im kapitalistischen Westen mit den Ideen des Kommunismus liebäugeln: 349 Fritz Stern, Five Germanys I have known, New York, 2006, S. 38. Geoffrey A. Hoskins, `Lenin´s Poland.´ Rezension über Anthony Reads `The World on Fire. 1919 and the battle with Bolshevism´, in “Times Literary Supplement”, 02.05.08, S. 30. 351 vgl. Figes. 350 156 The First World War had cost millions of young lives to produce a settlement that was far from guaranteeing either peace or prosperity. Governments owed huge war debts, and could no longer provide services or guarantee public order. Hunger and illness were widespread (…). Many of the soldiers who had survived the fighting were being discharged into a labour market that could not absorb them, and were enduring long periods of poverty and uncertainty.352 Manchem wurde damit die Weltwirtschaftskrise zur Krise des Kapitalismus. Andere Ideologien, vor allem der (vermeintlich) menschfreundliche Kommunismus erschienen plötzlich verheißungsvoller. Die Angst vor dem Kommunismus verbreitete sich blitzartig um den Globus353, ein Flächenbrand, der für manche eine Plattform für die faschistische Ideologie als Antipoden zum Kommunismus vorbereitete. In Deutschland wurde die Angst vor dem „inneren“ Bolschewismus jedoch zunächst zu einer Triebkraft für die Demokratie: „Revolutionäre Aufrufe und Taten in Russland erzeugten Revolutionsängste in Deutschland – und förderten die Entschlossenheit der gemäßigten Kräfte in Arbeiterschaft und Bürgertum, durch Friedensschluss und Demokratie einer Revolution von unten zuvorzukommen.“354 Diese Haltung wurde nicht zuletzt durch eine geistige Verbundenheit mit den Vereinigten Staaten gefördert: Weit stärker als das Russland (…) Lenins wirkte seit der Jahreswende 1917/18 das Amerika Woodrow Wilsons auf die innere Entwicklung Deutschlands ein. Die `Vierzehn Punkte´ vom 8. Januar und die `Vier Grundsätze´ vom 11. Februar 1918, in denen der Präsident der Vereinigten Staaten seine Vorstellungen von einer gerechten Weltfriedensordnung darlegte, waren nicht nur eine Antwort an die Bolschewiki, sondern schienen auch eine Alternative zu dem Vergeltungsfrieden zu bieten, wie ihn die Regierungschefs in Paris und London (…) beschworen. Wilsons Parole `to make the world safe for democracy´ sprach auch in Deutschland sehr viel mehr Menschen an als Lenins Aufruf zur proletarischen `Weltrevolution´ (…).355 Das Verheißungsvolle, das durch eine demokratische Ordnung in der Weimarer Republik geschaffen werden sollte, schien jedoch erst unter Führung der NSDAP 352 Hoskins. Ebd. 354 Winkler, S. 365. 355 Ebd., S. 361. 353 157 Mitte der dreißiger Jahre in einer vermeintlichen Stabilität erzielt worden zu sein. 1933 schreibt Joseph Roth an Stefan Zweig: „Keineswegs hat der Kommunismus einen ganzen Weltteil verändert. Er hat den Faschismus und den Nationalsozialismus gezeugt und den Hass auf die Freiheit des Geistes.“356 Bevor die Kontextualisierung von NS-Regime und „Volksgemeinschaft“ im Krebsgang weiter fortzusetzen ist, sollen einige sich chronologisch an dieser Stelle einfügende Aspekte aus dem frühen 20. Jahrhundert in kurzen Umrissen dargestellt werden, die die zeitgenössische Verfassung mit Blick auf Sven Reichardts Einordnung von „Gewalt und Zwang“ des Nationalsozialismus in Vorbereitung auf die nachfolgenden Ausführungen veranschaulicht. 356 Joseph Roth zitiert in: Manfred Funke `Absolute Verfügbarkeit´; Rezension zu Domenico Losurdo´s `Kampf um die Geschichte´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 14.1.09, Nr. 11, S. 6. 158 Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert Zum narrativen Kern der Novelle im Krebsgang gehört die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, die zahlenmäßig den Höhepunkt einer langen Geschichte der Vertreibungen in Europa darstellt. Obwohl die Geschichte der Vertreibungen lang ist (z.B. Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert, Vertreibung der Hugenotten), empfanden „die Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts, das als das Jahrhundert des Flüchtlings gilt, (…) die von Massakern begleiteten Vertreibungen der Armenier, Türken und Griechen zu Recht als einen unerhörten, neuartigen Vorgang“357. In einer kurzen Sequenz reflektiert sich im Krebsgang die Vertreibungsgeschichte der Moderne in der multiethnischen Bewohnerschaft Odessas: „Russen, Ukrainer und Rumänen, Griechen und Bulgaren, Türken und Armenier, Zigeuner und Juden“. (13) Insbesondere das Bild, in dem diese verfeindeten bzw. vertriebenen Gruppen „eng aufeinander lebten“ (ebd.), assoziiert Feindseligkeit und Aggression. Im Krebsgang findet sich die Einordnung der Vertreibungen als „unerhörten und neuartigen Vorgang“ in der formellen Forderung nach einer „unerhörten Begebenheit“ (Goethe) für die Novelle wieder. Im Ergebnis bildet sich aus der neuen, skrupellosen Gewalttätigkeit der „modernen“ Vertreibungsgeschichte ein abgewertetes Menschenbild: „Als der `Führer´ im August 1939 der Generalität den Charakter des künftigen Ostkrieges beschrieb, zu dem auch Bevölkerungsverschiebungen gehören würden, suchte er Einwänden mit der zynischen rhetorischen Frage zu begegnen: `Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?´“358 Ausgelöst wurden die Vertreibungen im 20. Jahrhundert von einem Gedanken, der sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts verfestigt hatte: Frieden sei nur in einem homogenen Staat möglich. Die Radikalisierung dieser Idee bewirkte, dass mehr als dreißig europäische Völker von Vertreibung betroffen waren – darunter allein zwanzig Millionen Deutsche zwischen 1918 und 1950.359 Der Ursprung des größten „Exodus der neueren Geschichte zur Vertreibung und Flucht von rund 14 Millionen Deutschen 357 Wehler, S. 9. Ebd. 359 Vgl.: welt.de/wissenschaft/history/article2087508/ Warum_die_Vertreibenen-Chefin_vertreiben_wurde.html. 358 159 und `Volksdeutschen´“360 war eine Folge der „ethnischen Flurbereinigung“361 des NSRegimes: „Die Vertreibung von 14 Millionen Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten im Osten – Ostpreußen, Schlesien, Sudetenland – ist unzweifelhaft Folge des Krieges, den Deutschland begonnen und vor allem in den Ostgebieten brutal geführt hat.“362 Maßgeblich für die Gegenwart mit Blick auf die Vergangenheit ist insbesondere das abgewertete Menschenbild zu erfassen, von dem die Vertreibungsgeschichte Europas zeugt. Mit diesem abgewerteten Menschenbild in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einher geht ein Abstumpfen gegenüber Gewalt, das als ein Erklärungsansatz für die Epoche des Nationalsozialismus im weitern Verlauf dieser Arbeit in den Blickpunkt rückt. 360 Wehler, S. 10. Wehler, S. 9. 362 Wehler, S. 10. 361 160 Die Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland 1933-1945 Die oben dargestellten Aspekte der Geschichte vor 1933 richten den Blick auf die Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt. Im Kapitel „Durcharbeiten“ sollen diese Mechanismen u.a. in einen psychologischen Kontext gesetzt und anhand der Protagonisten im Krebsgang veranschaulicht werden. An dieser Stelle soll der Aspekt von Gewalt und Gegengewalt als ein Fundament für die nachfolgende Darstellung der Zeit zwischen 1933-45 dienen. Bei der Auswahl der Aspekte und Ereignisse aus der NS-Epoche für diese Darstellung erhebt sich eine Kernfrage, die Grass seinen Erzähler Paul formulieren lässt: „Als Journalist habe ich mich bei der Sichtung des mir zugänglichen Materials gefragt: Wie konnte es dem durch Ermächtigung entstandenen Staat und der einzig übriggebliebenen Partei in so kurzer Zeit gelingen, die in der Arbeitsfront organisierten Arbeiter und Angestellten nicht nur zum Stillhalten, sondern zum Mitmachen, alsbald zum Massenjubel bei angeordneten Anlässen zu verleiten?“ (39). Die Begriffe „Stillhalten“, „Mitmachen“ und „Massenjubel“ umreißen drei Eckpunkte: zum einen die Angst in einem diktatorischen Regime („Stillhalten“), zum anderen die indifferente (unpolitische) Haltung, die in passive oder aktive Unterstützung mündet („Mitmachen“) und schließlich die Begeisterung für das NS-Regime („Massenjubel“). Innerhalb dieser drei Eckpunkte – Angst, Indifferenz, Begeisterung – liegt die „fatale Dialektik von `Verführung und Gewalt´, die den Erfolg der nationalsozialistischen Diktatur zu einem maßgeblichen Teil zu erklären vermag.“ 363 Im Rahmen dieser Arbeit kann eine Darstellung der Zeit zwischen 1933-45 die Realität lediglich in groben Umrissen wiedergeben. Am Beispiel der Berliner Philharmonie verweist der kanadische Historiker Misha Aster auf das „komplizierte Geflecht aus Abhängigkeiten, Verstrickungen, Zugeständnissen und Selbstbehauptungsversuchen“, die etwa zwischen maßgeblichen Institutionen und dem 363 Klaus Hildebrand zitiert den Historiker Hans Ulrich Thamer in: `Auf Zusatzprotokollsuche´, Rezension zu Ernst Piper: `Kurze Geschichte des Nationalsozialismus´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 11.3.2008, Nr. 60, S. 9. 161 Regime bestanden haben.364 Bei der Suche nach Motiven für die Unterstützung des NS-Regimes durch die deutsche Bevölkerung wird je nach Bildungsschicht, Einkommensniveau und gesellschaftlichem Milieu unterschieden. Für die Arbeiterklasse wird vor allem die wirtschaftliche Verbesserung der Lebensverhältnisse unter dem NS-Regime als Erklärungsansatz herangezogen. Für das Bildungsbürgertum stellt die rechtskonservative Haltung, die seit den 1880er Jahren und in den späteren Krisen der Weimarer Republik zugenommen hatte, einen wesentlichen Aspekt dar. Mit Hilfe „fragmentarischer Geschichtsstücke“ soll nachfolgend ein Bild gefunden werden, das die „Dialektik von Verführung und Gewalt“, das Wechselspiel von Angst, Indifferenz und Begeisterung innerhalb der „Volksgemeinschaft“ mit der Absicht umreißt, eine näherungsweise Antwort auf Pauls Fragestellung zu erhalten. 364 Julia Spinola, `Ein Himmel voller gleichgeschalteter Geigen´, Rezension zu: `Das Reichsorchester. Die Berliner Philharmonie und der Nationalsozialismus´, Misha Aster, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 10.10.07, Nr. 234, S. L32. 162 Die „Verführung“: Kontextualisierung von NS-Ideologie und „Volksgemeinschaft“ („Freiwillige Beteiligung“) Bis heute bleiben die Motive für eine freiwillige Beteiligung der „Volksgemeinschaft“ am nationalsozialistischen Regime ein umstrittenes Phänomen. Der Schweizer Historiker Philippe Burrin richtet seinen Blick vor allem auf den Aspekt eines vermeintlich „verheißungsvollen“ Selbstbildes, das aus der nationalsozialistischen Ideologie zu erwachsen schien: „Die innen- und außenpolitischen Erfolge – vor allem der Rückgang der Arbeitslosigkeit, die Wiedererlangung der Souveränität und der ohne Krieg erreichte Anschluss Österreichs sowie des Sudentenlandes – ließen diese Identität viel versprechend erscheinen.“365 Das „Verheißungsvolle“ dieser neuen Identität hatte die bereits erörterte fatale Konsequenz: „Dem im Volksgemeinschaftsgedanken ausgesprochenen Ideal einer harmonischen Inklusion aller Deutschen stand faktisch die brutale Exklusionspraxis gegenüber, der sich die jüdischen, behinderten, `gemeinschaftsfremden´ Deutschen ausgesetzt sahen.“ 366 Der Historiker Sven Oliver Müller fasst beide Elemente zusammen, wenn er darauf verweist, dass das „Volk“ gleich zweifach aufgewertet wurde: als eine egalitäre Gemeinschaft und als ein sich via Ausgrenzung homogenisierter „Rasseverband“.367 Der Einzelne konnte sich dieser „Verheißung“ offensichtlich nur selten entziehen, denn die `Volksgemeinschaft´ versprach allen `Volksgenossen´, die ihren gesellschaftlichen Funktionen nachkamen, materielle Absicherung und politische Geltung. Andererseits resultierte aus der Gleichheit dieser Gemeinschaft eine scharfe biologistisch legitimierte Grenzziehungen gegen jeden, der dem NS-Wertekanon nicht genügte.368 365 Philippe Burrin, Warum die Deutschen? Antisemitismus, Nationalsozialismus, Genozid, Berlin, 2004, S. 86. Michael Wildt, `Volksgemeinschaft im Krieg. Die deutsche Gesellschaft 1939 bis 1945´, in „Mittelweg 36“, S. 65-76, 16. Jahrgang., April/Mai 2007, S. 67. 367 Sven Oliver Müller zitiert in: Wildt, ebd. 368 Ebd. 366 163 Der „Nazi“ Gustloff im Kontext seiner Epoche „Zuerst ist jemand dran, dessen Grabstein zertrümmert wurde“ (9) eröffnet der Erzähler seinen Rückblick auf die Katastrophe der Gustloff. Die klassisch antisemitische Handlung der Grabschändung assoziiert als Protagonisten, der „dran“ ist, den Juden David Frankfurter. Die assoziative Vertauschung durch die Nennung Wilhelm Gustloffs eröffnet einen Wechsel der Perspektiven auf den Nationalsozialisten Gustloff. Die dieser Eröffnung folgenden Informationen über ihn sein Geburtsjahr 1895 und der Hinweis auf den „angegriffenen Kehlkopf, sein chronisches Lungenleiden, das ihn hinderte, im Ersten Weltkrieg tapfer zu sein.“ (9) – richten den Blick auf die Zeit vor 1933. Der bereits erwähnte Vergleich mit Hans Castorp eröffnet eine Sichtweise auf Gustloff, die ihn in den Kontext seiner Epoche einbettet und die somit nicht bei dem Bild des „Nazi“ Gustloff verbleibt. Die Hauptfigur in Thomas Manns Der Zauberberg muss „auf Geheiß seines Erfinders den Zauberberg verlassen (…), um auf Seite 994 des gleichnamigen Romans in Flandern als Kriegsfreiwilliger zu fallen“. (9) Die Verbindung zu Castorp, der zunächst seinen Cousin in einem Sanatorium in Davos besuchen will, dann jedoch selbst erkrankt, wird noch verstärkt durch den Hinweis auf Gustloffs Lungenleiden. Die Einbettung Thomas Manns Roman Der Zauberberg in den Ersten Weltkrieg rückt damit ebenso in den Blickpunkt, wie die Einstellung des Autors und seiner Generation dazu. Die positive Grundstimmung Thomas Manns gegenüber dem „Großen Krieg“369 zeigt sich in einem Brief an Paul Amann. Mann schreibt über den Zauberberg: „ (…) und der Schluss, die Auflösung – ich sehe keine andere Möglichkeit als den Kriegsausbruch. Man kann als Erzähler diese Wirklichkeit nicht ignorieren, und ich glaube ein Recht auf sie zu haben, da das Vorgefühl davon in allen meinen Konzeptionen war.“370 Später, in seinen essayistischen Werken („Gedanken im Kriege, 369 Max Weber zitiert in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), `Einleitung: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg´, S. 1-15 in ders., Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München, 1996, S. 8. 370 Brief Thomas Manns an Paul Amann vom 03. August 1915, zitiert in: Michael Walter; Nadine Heckner, Thomas Mann. Der Zauberberg. Hollfeld, 2007, S. 24. 164 Friedrich und die große Koalition“ oder „Betrachtungen eines Unpolitischen“) versucht er „diesen Krieg (…) nationalistisch zu rechtfertigen“.371 Grass‘ Formulierung, die Hauptfigur „muss“ auf „Geheiß“ des Autors in den Krieg, verweist auf diese Haltung Manns, von der zugleich eine ganze Generation durchdrungen war. Der Krieg, schreibt Wolfgang J. Mommsen, wurde als eine extreme Lebensform des Menschen angesehen und in gewisser Weise als ein Naturereignis empfunden, darüber hinaus „von so außerordentlicher Qualität, dass man die Kriegsereignisse unbedingt aus erster Hand erleben müsse.“372 Für Georg Simmel war der Erste Weltkrieg „die große Chance eines Bruchs – mit den tragischen Tendenzen der modernen Kultur“.373 In seiner Vision wurde die Person wieder bildsam, erfahre ekstatisch den sozialen Charakter der Individualität; Handlungen würden im Krieg wieder als zukunftswirksam erlebbar und erlaubten die Wiedergewinnung echter Zeitlichkeit; die durch das Geld unüberschaubar gewordenen Zweck-Mittel-Ketten würden in der soldatischen Erfahrung auf elementare Überlebenszwecke zurückgeführt.374 Gustloff, „ein hochgewachsener Mann, der angestrengt entschlossen guckte“ (25) gehört nicht der kulturellen Elite des frühen 20. Jahrhunderts an. Dennoch offenbaren die Haltungen Simmels und Manns gegenüber dem Ersten Weltkrieg die Ausgangsbasis für den im Heraufziehen des Krieges noch jungen Gustloff. Im christlichen Kulturkreis ist der Atem „Träger der Seele“: „Nachdem Jahwe den Menschen aus Erde geformt hatte, blies er den Lebensodem in seine Nase“375. Die Lunge wird somit zum „Domizil“ der Seele. Die von Grass bereits in Katz und Maus verwendete Metapher des Kehlkopfes deutet auf die „körperlich-geschlechtlichen Entwicklungen“ bei männlicher Adoleszenz.376 Beides, „Seele“ und „körperlich- 371 Ebd. Mommsen, S. 9. 373 Georg Simmel zitiert in: Hans Joas, `Die Sozialwissenschaften und der Erste Weltkrieg´, in: Mommsen, S. 21. 374 Ebd. 375 1 Mos 2,7. 376 Pasche, S. 67. 372 165 geschlechtliche Entwicklung“ sind bei Gustloff „angegriffen“ und hindern ihn, am Krieg teilzunehmen. Die verwehrte Kriegsteilnahme bleibt für Gustloff nicht ohne Folgen. Mit Blick auf die Bücherverbrennungen im Mai 1933 schreibt der Kulturwissenschaftler Georg Bollenbeck: Die Organisation der Bücherverbrennungen sind repräsentativ für eine jüngere nationalsozialistische Elite und ihre `reaktionäre Modernität´. Die meisten zählen zur `Kriegsjugendgeneration`, die sich von der älteren, vermeintlich gefühligen und aufs Individuum bezogenen Generation durch Kühle, Härte und Sachlichkeit unterscheidet und das vermeintliche Manko der nicht vorhandenen Frontkämpfererfahrung durch die Stilisierung des kalten, entschlossenen, hochbeherrschten Kämpfers kompensieren will.377 Als „Landesgruppenleiter der NSDAP“ (10), der, „nie den Grabenkrieg erlebt hatte und dem Trommelfeuer oder `Stahlgewitter´, wie es bei Jünger heißt, erspart worden sind“ (37), offenbart sich in der Figur Gustloff diese Stilisierung: „Ich liebe auf der Welt am meisten meine Frau und meine Mutter. Wen mein Führer mir befähle, sie zu töten, würde ich ihm gehorchen.“ (10) In dem Wunsch nach Auslöschung im Ersten Weltkrieg zeigt sich implizit das Ausmaß der Prägung der „Kriegsjugendgeneration“ durch eine fatale Geisteshaltung: „Ach wäre er doch vor Verdun dabei gewesen und rechtzeitig in einem Granattrichter krepiert!“ (37) Der Gefreite Adolf Hitler, der „`überwältigt (war) von stürmischer Begeisterung´ und `in die Knie´ (sinkend), um dem Himmel `aus übervollem Herzen´ zu danken, `dass er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen´“378, meldete sich zwei Wochen nach Kriegsausbruch als Freiwilliger. Seine „Frontkämpfererfahrung“ im Ersten Weltkrieg trugen nicht geringfügig zu dem „Mythos“ bei, der sich Mitte der 1930er Jahre um seine Person zu ranken begann. 377 Georg Bollenbeck, Tradition, Avangarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 18801945, Frankfurt, 1999, S. 295. 378 Adolf Hitler zitiert in: Marlis Steinert, Hitler, München, 1994, S. 84. 166 Der messianische „Führerkult“ um Hitler Die eingangs von Paul formulierte Frage, wie es zum „Stillhalten“, „Mitmachen“ und „Massenjubel“ durch die „Volksgemeinschaft“ kommen konnte (39), findet sich bei Ferguson aus einem erweiterten Blickwinkel wieder: The challange is to explain how a pathological individual like Hitler was able to gain total control over what seemed to many people, at least prior to 1933, to be the most sophisticated country in Europe, if not the world. (…) To many visitors, Germany in the 1920s was the United States of Europe: big, industrial, ultramodern. It was home to some of Europe´s biggest and best corporations. (…) It had by far the best universities in the world.379 Unter dem Begriff „Führerkult“ wird ein zentraler Baustein für den Erfolg des NSRegimes subsumiert. Nur wenige Jahre nach Hitlers Ernennung zum Kanzler hatte sich ein „ungekanntes Maß an Lobhudelei und Unterwürfigkeit seitens der Bevölkerung“380 gegenüber dem „Führer“ entwickelt, das zur Zeit seiner Ernennung im Jahr 1933 kaum vorstellbar war. In der Sequenz der Gustloff Taufe reflektiert sich dieser überbordende Zuspruch im Krebsgang: „Hitler´s Sonderzug lief um zehn Uhr vormittags im Dammtorbahnhof ein. Dann ging´s im offenen Mercedes, mal mit gestrecktem, mal mit gewinkeltem Arm grüßend, durch Hamburgs Straßen, umjubelt, versteht sich.“ (51) Als einen zentralen Aspekt des „Führerkults“ hat der britische Hitler-Forscher Ian Kershaw die messianische Verherrlichung der Person Hitlers untersucht: Im breiten Spektrum politischer und psychologischer Kräfte, die zur Bildung der Idee des `heroischen´ Führertums beitrugen, verdient die pseudo-religiöse Färbung besondere Beachtung. Die Idee des Führertums entsprang teils der traditionellen Autoritätshörigkeit, teils der Säkularisierung des christlichen Heilsglaubens. Insbesondere für die deutschen Protestanten, deren Bindung an die Kirche schwand, die jedoch traditionell zur Unterordnung unter eine Autorität, vor allem unter die des Staates, erzogen wurden, bildete die von der völkisch-nationalistischen Rechten propagierte Idee eine Art säkularisierten Heilsglauben.381 379 Ferguson, S. 235. Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart, 1999, S. 17. 381 Kershaw, S. 33. 380 167 Der messianische Aspekt in der Verehrung des „Führers“ offenbart sich im Krebsgang indirekt durch einen Vergleich zwischen Gustloffs Begeisterung und der „Aussendungsrede“ im Matthäus Evangelium382: „Ich liebe auf der Welt am meisten meine Frau und meine Mutter. Wenn mein Führer mir befähle, sie zu töten, würde ich ihm gehorchen.“ (10) In der „Aussendungsrede“ heißt es: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.“383 In der „Aussendungsrede“ wird berichtet, wie Jesus durch „alle Städte und Dörfer“ zog und Mitleid mit den „vielen Menschen“ bekommt, „denn sie waren müde und erschöpft wie verlorene Schafe, die keinen Hirten haben“.384 Er bemächtigt seine zwölf Jünger Krankheiten zu heilen und Leid zu mildern385 und fordert sie auf, den „Schafen, die keinen Hirten haben“386 das unmittelbare Bevorstehen des „Himmelreichs“ zu verkünden.387 In seiner Rede vor Werftarbeitern anlässlich der Gustloff Taufe reflektiert sich diese apostolische Aufgabe in der Figur Robert Ley im Krebsgang: Die frischfreie Anrede hieß: `Deutsche Menschen!´ Und dann hat er weitausholend seine volksbetreuende Idee `Kraft durch Freude´ gefeiert, um schließlich deren Anstifter zu nennen: `Der Führer gab mir damals den Befehl: `Sorgen Sie dafür, dass der deutsche Arbeiter seinen Urlaub bekommt, damit er seine Nerven behält, denn ich könnte tun und lassen, was ich wollte, es wäre zwecklos, wenn das deutsche Volk seine Nerven nicht in Ordnung hätte. Es kommt darauf an, dass die deutschen Massen, der deutsche Arbeiter stark genug sind, um meine Gedanken zu begreifen. (52) Impliziert wird hierin, dass der „Schwache“ durch das Raster des „Verheißungsvollen“ hindurch fällt, der „Starke“ jedoch belohnt wird. Erneut lässt sich eine Parallelität zur Botschaft am Ende der „Aussendungsrede“ finden: als „Lohn“ für die „Unterwerfung“ verspricht Jesus: „…wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es 382 Mt 9, 35-11,1. Mt 10, 37. 384 Ebd., 9, 35-36. 385 Ebd., 10,1. 386 Ebd., 9, 36. 387 Ebd., 10, 7. 383 168 gewinnen.“388 Derjenige, dessen „Kraft“ vermag, sein bisheriges Weltbild zugunsten jenes des „Messias“ aufzugeben, dem wird der Gewinn einer neuen „Welt“ zuteil. Der „Führer-Mythos“ wurde zum Kern der Propaganda von Goebbels, der zu dessen „beredtesten Verfechter“ wurde.389 Bereits 1926 erklärte dieser: „Der große Führer (…) werde nicht gewählt, sei nicht abhängig von den Launen der Massen, sei kein Parlamentarier, sondern ein Befreier der Massen. Mit einer deutlich pseudoreligiösen Note sprach er vom Führer als der `Erfüllung einer geheimnisvollen Sehnsucht´ und als einem Mann, der den Massen in ihrer tiefsten Verzweiflung den Weg zum Glauben wiese.“390 Auch diese Formulierung stellt eine Verbindung zur „Aussendungsrede“ her. Darüber hinaus erfüllte der „Führerkult“ eine praktische Aufgabe: er verwischte den Mangel an ideologischer Einheit und Klarheit der verschiedenen Fraktionen innerhalb der NS-Bewegung. Vor allem in den ersten Jahren nach der Gründung der NSDAP lieferte die Führerfigur „den Kitt, der die `Anhängerschaft´ normaler Parteimitglieder und untergeordneter Parteiführer verband.“391 Das Konzept des „Führerkults“ war keine Erfindung der Nationalsozialisten. Diese verstanden lediglich, bereits vorhandenes Potential zu nutzen. Lange vor Hitlers spektakulärem Aufstieg war das „heroische Führertum“392 eine „der zentralen Ideen der antidemokratischen Bewegung der Weimarer Republik.“393 Die wachsende Enttäuschung der populistischen Rechten über Wilhelm II. erzeugte „das Wunschbild eines `Volkskaisers´, der als Verkörperung von Stärke und Lebenskraft die Feinde Deutschlands im Innern vernichten und der jungen Nation auf Kosten `minderwertiger Völker´ die wohlverdiente Größe verleihen (…) würde.“394 Wenig später radikalisierte sich dieser Wunsch: Das Trauma der Rechten von 1918 – der militärische Zusammenbruch, der Sturz der Monarchie und der alten Ordnung, die Übernahme der Macht durch die 388 Ebd., 10, 39. Kershaw, S. 41. 390 Ebd. 391 Ebd. 392 Kershaw, S. 31. 393 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München, 1962, S. 268. 394 Kershaw, S. 30. 389 169 verhassten Sozialdemokraten, die vor 1918 als `Reichsfeinde´ diffamiert worden waren – transformierte die zuvor eher latente als wirksame konterrevolutionäre Kraft, die zunächst vage und zerrissen war, aber eine alternative Vision zu der des Weimarer parteipolitischen Systems darstellte.395 Mit Blick auf den Ursprung des „Führerkults“ gegenüber Hitler erachten einige Historiker nicht die Betrachtung dessen, was Hitler war, für aufschlussreich, sondern vielmehr was er für Millionen Deutsche darzustellen schien. Sie geben zu bedenken, dass die Quellen der immensen Popularität „in denen, die ihn bewunderten, nicht so sehr im Führer selbst“ zu suchen seien.396 Auch J.P. Stern verweist darauf, dass das `heroische´ Hitlerbild “nicht nur den Massen aufgezwungen, sondern auch von ihnen mit geschaffen worden” ist.397 Kershaws Verweis auf die Ausgangslage vieler prädiktatorischer Gesellschaften erhellt diese Prozesse: „Die Befürworter eines starken autoritären Führertums durch bedrohte Eliten und seine Annahme durch verängstigte Massen war (und ist) in vielen Gesellschaften zu beobachten, in denen ein schwaches pluralistisches System unfähig zur Überbrückung tiefer politischer und ideologischer Gräben ist und sich in einer letzten Krise zu befinden scheint.“398 Der Versuch, der humanistischen Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der wirtschaftlichen Misere in der Zeit danach ein konstruktives Gegengewicht zu setzen, scheiterte in der Weimarer Republik. Sie vermochte weder nachhaltig zu stabilisieren noch eine gemeinschaftstragende Zukunftsvision zu schaffen, die die ins Wanken geratenen Werte einer bürgerlichen Gesellschaft hätten erneuern können. Eine weitere Rolle spielte, dass sich kaum jemand der ständigen Darstellung des `Führer-Mythos´ in Zeitungen, Radio oder Kino ganz entziehen konnte. Nur überzeugten Gegner vermochten zu leugnen, dass Hitler eine phänomenale Veränderung in Deutschland bewerkstelligt hatte: „Die Verbindung augenscheinlich eindrucksvoller Taten, die für sich selbst zu sprechen schienen, mit der 395 Ebd., S. 33. T.W. Mason, `Open Questions on Nazism´, S. 205-210 in R. Samuel (Hg.), People´s History and Socialist Theory, London, 1981, S. 207. 397 J.P. Stern, Hitler: Der Führer und das Volk, München, 1978, S. 106. 398 Kershaw S. 28. 396 170 allgegenwärtigen Propaganda machten es schwer, der Droge `Führer-Mythos´ zu widerstehen.“399 In der Schilderung welche Wirkung das Schiff Wilhelm Gustloff, das auf den Namen Adolf Hitler hätte getauft werden sollen (41), auf die Kritiker des Regimes hatte, spiegelt sich dieses: „Die Wilhelm Gustloff soll (…) vom Bug bis zum Heck ein schwimmendes Erlebnis gewesen sein. Das war selbst von Leuten zu hören, die sich nach dem Krieg als von Anfang an überzeugte Antifaschisten aufgespielt haben. Und diejenigen, die an Bord durften, sollen hinterher wie erleuchtet an Land gegangen sein.“ (57) Unmittelbar nach den Wahlen im März 1933 war die Stimmung gegenüber dem „Führer“ ambivalent: die meisten Deutschen standen ihrem neuen Kanzler entweder feindselig oder zwiespältig gegenüber.400 Der von einigen Historikern, wie etwa Robert Gellately, im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Deutschland verwendete Begriff einer „Konsensdiktatur“ („dictatorship by consent“) erscheint unzutreffend: „Die furchtsamen Reaktionen auf die Sudetenkrise demonstrierten die Oberflächlichkeit des Glaubens an Hitler in weiten Teilen der Bevölkerung, sie machen deutlich, wie sehr die Popularität des `Führers´ von ständigen Erfolgen abhing.“401 Über eine geraume Zeit hinweg blieb die Popularität des „Führers“ erhalten. Das Ansehen und das Vertrauen gegenüber der Person Hitlers war trotz der Angst vor einem lang andauerndem Krieg auch am Vorabend des Angriffs auf die Sowjetunion „bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung ungebrochen.“402 Erst als Hitlers erstaunliche Abfolge von Siegen schrittweise „jedoch unerbittlich in eine katastrophale Niederlage umschlug, begann die Hochflut von Hitlers Popularität zunächst langsam zurückzugehen und schließlich stark zu verebben.“ “403 Als Hitlers persönliche Verantwortung für die katastrophale Entwicklung um Stalingrad erkannt wurde, offenbarte sich allmählich: der „Messias“ hatte versagt. 399 Kershaw, S. 104. Ebd., S. 17. 401 Kershaw, S. 167. 402 Ebd., S. 196. 403 Ebd., S. 246. 400 171 Die Außenpolitik des „General Unblutig“ Im Krebsgang feiert „Webmaster Wilhelm“ alias Konny Pokriefke den Einsatz der Gustloff als „`schwimmendes Wahllokal´“: „Es ging um die Volksabstimmung nach dem bereits vollzogenen Anschluß Österreichs ans nunmehr Großdeutsche Reich.“ (64) Diese Formulierung zielt auf eines der wichtigsten Ereignisse in Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Ob sich aus der Kriegsmüdigkeit in großen Teilen der Bevölkerung nach 1918 ein nachhaltig friedenserhaltender Pazifismus entwickeln würde, hing davon ab, ob sich ein „gerechter Friede“ erzielen ließe.404 Was darunter zu verstehen war, darüber gab es damals weder Einigkeit noch Klarheit.405 Vielen galten sowohl Elsaß-Lothringen als auch die polnisch sprechenden Teile Preußens unwiederbringlich verloren. Die Hoffnungen nach „Gerechtigkeit“ stützten sich in Deutschland vor allem auf Österreich: Nachdem die Habsburgermonarchie, Deutschlands engster Verbündeter im Weltkrieg, zerfallen war und die Provisorische Nationalversammlung in Wien am 12. November 1918 Deutschösterreich zur Republik und zu einem Bestandteil der Deutschen Republik erklärt hatte, wäre dies eine Lösung im Sinne des von Wilson geforderten Selbstbestimmungsrechts der Völker gewesen.406 Tatsächlich sollte sich die Hoffnung auf „Ausgleich“ für die verlorenen Gebiete erst mit Hitlers Anschluss von Österreich erfüllen. Die Kriegsmüdigkeit von 1918 blieb nachhaltig über zwei Jahrzehnte: „Im Sommer 1939 nämlich waren die Deutschen alles andere als kriegsbereit. Genauer: Sie hofften auf den Erhalt jenes fragilen Zustandes, der den meisten noch als Frieden erschien.“407 Im Krebsgang reflektiert sich diese fehlende Kriegsbereitschaft in den wiederholten narrativen Verschiebungen des Kriegsausbruchs: „Kurzgefaßt könnte es jetzt heißen: Und dann begann der Krieg. Aber das geht noch nicht.“ (78) „Und dann begann immer noch nicht der Krieg (…).“ (79) etc. 404 Heinrich August Winkler, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München, 2000, Bd. 1, S. 378. 405 Ebd., S. 379. 406 Ebd., S. 378. 407 Frei, 1945 und Wir, S. 117. 172 Der Anschluss Österreichs und eine Reihe anderer außenpolitischer Erfolge des NSRegimes erzielten ihre Wirkung in der Bevölkerung: Hitler hatte die Saar und das Rheinland „befreit“, Österreich, das Sudeten- und das Memelgebiet „heim ins Reich geholt“, Böhmen und Mähren unter sein Protektorat gezwungen. Die „Schmach von Versailles“ war nahezu getilgt. Dafür verehrten, dafür liebten die Deutschen ihren Hitler – nicht des Risikos wegen, das er eingegangen war, sondern, weil er die außenpolitischen Triumphe der letzten Jahre ohne Blutvergießen erzielt hatte. Die gewaltige Popularität, die Hitler an seinem 50. Geburtstag genoss, galt gerade nicht dem kriegslüsternen Diktator. Der schier grenzenlose Jubel am 20. April 1939 galt dem `General Unblutig´.408 Getragen von der grenzenlosen Verehrung Hitlers schlug die Kriegsmüdigkeit nur wenig später um in ihr Gegenteil. Der Waffenstillstand mit Frankreich infolge des Einmarschs der deutschen Truppen in Paris im Sommer 1940 führten zum Höhepunkt einer Begeisterung für den Krieg und für den „Führer“: Der Faszination eines Krieges, der nichts als schnelle, leichte Siege produzierte, vermochte sich nahezu niemand mehr zu entziehen. (…) Das Empfinden für die Gewalt, mit der Deutschland Europa überzogen hatte, schien ausgelöscht wie jede Spur von Unrechtsbewusstsein. Sozialpsychologisch gesehen, wurden in dieser Zeit Normen gesetzt, ohne die das Verhalten – genauer: das Durchhalten – der Deutschen in der zweiten Hälfte des Krieges nicht zureichend zu erklären ist.409 Neben den außenpolitischen Erfolgen Hitlers spielte die nationalsozialistische Wirtschafts- und Sozialpolitik seit etwa Mitte der 1930er Jahre eine maßgebliche Rolle für die „Bindung“ der Deutschen an das NS-Regime, wie nachfolgend dargelegt. 408 409 Ebd. Frei, 1945 und Wir, S. 118f. 173 Die gefühlten „Guten Jahre“ „Vorher, (Anm. d. Autorin: vor Kriegsausbruch) den langen schönen Sommer über durfte das KdF-Schiff auf gewohnter Route ein halbes Dutzend Norwegenreisen hinter sich bringen. (…). Überwiegend waren Arbeiter und Angestellte aus dem Ruhrgebiet und Berlin, aus Hannover und Bremen an Bord.“ (78) Um die Verführung der gefühlten „guten Jahre“ zu verstehen, scheint es erforderlich, sich in diese Verführung „einzufühlen“. Doch die Zeugnisse aus der „schönen Zeit“ sind zerstört: „Wenns die Fotos noch jäb, die auffe Justloff jeknipst wurden, kennt ech diä zaigen, was die alles jesehen ham in die paar Tage nur…“ (66) Nachdem zunächst koalitionspolitische und später kriegspolitische Zwänge das Agieren des NS-Regimes beeinträchigten, benennt Frei die Jahr zwischen 1935 und 1938 als die wesentliche Wirkungsphase für die NS-Herrschaftsentfaltung.410 Diese mittleren Jahre der NS-Zeit sind als die „guten Jahre“ vor dem Krieg in das Bewusstsein vieler damals lebender Deutscher eingegangen.411 Erst durch die Bombardierung der Alliierten ab 1942/43 erreichte viele der Schrecken des Krieges, sodass relativ lange eine scheinbare Normalität erhalten blieb. Die materielle Lage hingegen hat sich in der allgemeinen Wahrnehmung bereits vor 1935 gebessert.412 Im Krebsgang reflektiert sich diese „gute“ Phase in der Figur Liebenau. Ihm wird wegen besonderer Verdienste für den „Führer“ (sein Schäferhund Harras ist der Deckrüde für den Wurf aus dem Hitlers Hund „Prinz“ hervorgeht) (65) eine KdFReise angeboten. Er kann diese Reise jedoch nicht antreten, „weil seine Tischlerei Hochkonjunktur hatte: Barackenbau in Flughafennähe.“ (66) In diesem Nebensatz finden sich drei Aspekte, die auf die wesentlichen Entwicklungen in den Jahren 1935 bis 1938 hinweisen. Der Begriff „Hochkonjunktur“ deutet auf das rasante „NS-Wirtschaftswunder“, den die Menschen wie in einem „Taumel“ erlebten. Der wirtschaftliche Erfolg zählte 410 Frei, Führerstaat, S. 86. Ebd. 412 Ebd. 411 174 neben dem außenpolitischen Wiederaufstieg zum zentralen Wegbereiter für eine breite Unterstützung des NS-Regimes.413 Der beispiellose Aufschwung basierte ausschließlich auf einer steigenden Staatsverschuldung. Im Zeitverlauf flossen immer größere Teile dieser Ausgaben in die Aufrüstung für Hitlers Kriegspläne, was wenig bekannt war.414 Dieser Aspekt ist mit dem Begriff der „Flughafennähe“ impliziert, der auf Görings Luftwaffe hindeutet, die vor allem anderem Kriegsgerät eine „technische Erprobung“ im Spanischen Bürgerkrieg durch die Legion Condor vollzogen hatte. Im Krebsgang heißt es: „Zum ersten Mal sollten die Schiffe als Truppentransporter Platz bieten. Da der Bürgerkrieg zu Ende war, General Franco und mit ihm die Falange gesiegt hatten, durften die seit sechsunddreißig auf Francos Seite kämpfenden deutschen Freiwilligen der `Legion Condor´ heimkehren.“ (71) Der Begriff „Barackenbau“ als dritter Aspekt assoziiert im Kontext der Tischlerei die Baracken in den Konzentrationslagern. Darüber hinaus steht dieser Begriff im Kontext von „Hochkonjunktur“ (NS-Wirtschaftswunder) und „Flughafennähe“ (Aufrüstung) für die dritte Säule des NS-Regimes: die Propaganda. Baracken waren die Unterkünfte von Arbeiterkolonnen, die mit geschulterten Spaten zum Einsatz bei dem 1933 begonnenen Bau der Reichsautobahn marschierten. Diese populären Bilder transportierten das Image eines „zupackenden und vorausschauend denkenden Führers“, „der die Arbeitslosen `von der Straße holt´, um sie ein gewaltiges Netz großzügiger Fernverkehrswege bauen zu lassen, ohne die ein modernes Deutschland nicht auskommen werde.“415 Diese „populistische Darreichungsform“416 wurde zu einem „genuinen Bestandteil der Wirtschafts- und Sozialpolitik“417 des Regimes. 413 Ebd. Ebd. 415 Ebd., S. 87. 416 Ebd. 417 Ebd. 414 175 Die Arbeiter im „Wirtschaftswunder“ Da der gut laufende Betrieb Liebenaus dessen Reise mit dem KdF-Schiff Gustloff vereitelt, schlägt er vor, „seinen tüchtigen Hilfsarbeiter, den eifrigen Parteigenossen August Pokriefke, und dessen Frau Erna reisen zu lassen.“ (66) Die Reise geht zu Lasten der Betriebskasse. (ebd.) In dieser Sequenz wird die Situation der größten Gruppe der Bevölkerung418, der Arbeiterschaft, im NS-System in mehrfacher Hinsicht aufgegriffen. Gegen die Arbeiterbewegung, „in den Augen des Regimes das größte und gefährlichste Oppositionspotential“ richteten sich die ersten Schläge der Nationalsozialisten.419 Trotz der brutalen Zerschlagung der Gewerkschaften gelang es, das Gros der Arbeiter für die nationalsozialistische Ideologie zu gewinnen. Die Schwächung des Sozialmilieus, die die Zerstörung der Gewerkschaften und deren zwangsweise Eingliederung in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) nach sich zog, wurde bald durch die Integration der Arbeiter in die Volksgemeinschaftsideologie aufgefangen.420 Ein wesentliches Motiv vor allem für die Gefolgschaft der Arbeiter war der „gefühlte“ Wirtschaftsaufschwung im nationalsozialistischen Deutschland ab Mitte der 1930er Jahre. Waren bei Hitlers Antritt als Kanzler noch sechs Millionen Deutsche arbeitslos, fiel diese Zahl bereits zwei Jahre später auf weniger als zwei Millionen und sank bis August 1939 auf rund 30.000 ab.421 Das Bild der Werftarbeiter im Krebsgang, die den nach oben steigenden Hitler begrüßen und der Bau des neuen Schiffes, das der „Volksgemeinschaft“ im Rahmen des KdF-Programms „dienen“ soll (später jedoch zum Truppentransporter mutiert) reflektiert diese Entwicklung: „Unterhalb der Taufkanzel drängten grüßend die Werftarbeiter, als er (Anm. d. Autorin: Hitler) treppauf stieg.“ (51) Indem ein Großteil der Staatsausgaben in Rüstungsprogramme floss (s.o.), profitierte die breite Bevölkerung kaum vom Wirtschaftswunder. Spürbar 418 Ebd., S. 93. Chr. Kleßmann, `Widerstand in Deutschland´, S. 57-88 in Ger von Roon, (Hg.), Europäischer Widerstand im Vergleich, Berlin, 1985, S. 64. 420 Vgl. Frei, Führerstaat, S. 93-4. 421 Ferguson, S. 246-248. 419 176 war lediglich eine allmähliche Wiederangleichung an den Lebensstandard vor der großen Krise.422 Es war vor allem der Abbau der Arbeitslosigkeit, der der „Volksgemeinschaftsideologie“ eine materielle Grundlage verschaffte.423 Im Krebsgang ist aufgegriffen, dass selbst standhafte Sozialdemokraten, denen der Rüstungskurs nicht verborgen geblieben war, sich immer weniger der durch die sinkende Arbeitslosigkeit entstandenen Begeisterung entziehen konnten424: „Bei der letzten freien Wahl, vor vier Jahren noch, hatten die meisten von ihnen für die Sozis oder Kommunisten gestimmt. Jetzt gab es nur noch die eine und einzige Partei; und leibhaftig gab es den Führer.“ (51) Die NS-Unterstützung der Arbeiterschaft war nicht alleine auf den wirtschaftlichen Erfolg beschränkt. Im Krebsgang zeigen sich zwei weitere Parameter der nationalsozialistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik als Erklärungsansätze - die „Volksgemeinschaft“ und der sozialpolitische Aktivismus der Feierabendorganisation DAF (Deutsche Arbeiter Front) „Kraft durch Freude“ (KdF): „Eine Teilantwort ergibt sich aus den Tätigkeiten der NS-Gemeinschaft `Kraft durch Freude´, von der viele Übriggebliebene insgeheim noch lange schwärmten (…).“ (51) Diese These wird indirekt durch Kershaws Einordnung des Antisemitismus gestützt (vgl. Abschnitt „Antisemitismus“), der zwar innerhalb der NS-Bewegung integrierend gewirkt habe. Für die Beziehung zwischen Volk und Regierung galt dies jedoch nicht. Hier war in erster Linie die Attraktivität der vom Regime propagierten „Volksgemeinschaft“ – die Vorstellung einer scheinbar sicheren sozialen, politischen und moralischen Ordnung – ausschlaggebend gewesen.425 Frei untermauert Kershaws Diagnose indem er als die eigentliche Quelle für die emotionale Treue gegenüber dem NS-Regime weder die ständige Bedrohung durch die Gestapo, die „oft nur kosmetischen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen“, noch die NS-Ideologie erachtet. Auch seiner Ansicht nach war das Hauptmotiv für die 422 Frei, Führerstaat, S. 94. Ebd., S. 93. 424 Ebd. 425 Ian Kershaw zitiert in Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945, München, 2006, S. 12. 423 177 innere Verbundenheit zum Regime eine neuartige Form von Lebensqualität.426 Da die Löhne, gemessen am Volkseinkommen, seit 1934/35 kontinuierlich fielen, wurde vor allem der Anteil der nichtpekuniären Vergünstigungen zunehmend bedeutender. So stellte etwa der von drei auf zwölf Tage gestiegene Urlaub international eine Errungenschaft dar.427 Das Flakschiff des „Kraft durch Freude“ (KdF) Aktivismus war die Flotte der Hochseedampfer, die seit 1934 zwischen Madeira und den Fjorden Norwegens kreuzten.428 Das prächtigste Schiff dieser Flotte war die Wilhelm Gustloff. Im Krebsgang erzählt Tulla über ihren Vater August Pokriefke: „Das wurd nu alles anders als frieher. Main Papa, der ja bai ons inne Tischerlei nur Hilfsarbaiter jewesen is ond der aigentlich an nuscht mehr jeglaubt hat, der hädd auf Kaadeäff schweeren jekonnt, weil er mit maine Mama zum ersten Mal in sain janzes Leben hat verraisen jedurft…`.“ (39) Besondere Beliebtheit erlangten die Schiffe der KdF-Flotte wegen ihrer vermeintlichen Klassenlosigkeit an Bord: „Das mit dem klassenlosen Schiff war wirklich ein Knüller. Nehme an, dass deshalb die Werftarbeiter wie verrückt gejubelt haben, als am 5. Mai siebenunddreißig der Neubau, acht Stockwerke hoch, vom Stapel lief.“ (50) Das Konzept der Klassenlosigkeit avancierte schließlich zur Essenz der „Volksgemeinschaft“, da in Hitlers politischer Terminologie dieser Begriff niemals klar definiert war. Seit Ende der 1920er Jahre sprach er von der „Volksgemeinschaft“ im Zusammenhang mit seiner Forderung nach Überwindung der „Klassenspaltung“ und der „Zerreißung“ des deutschen Volkes. Die Zusammenführung von Bürgertum und Proletariat erklärte Hitler zur „lebendigen Theorie der Volksgemeinschaft“ und reagierte damit instinktsicher auf ein der Wirtschaftskrise entsprungenes starkes Bedürfnis nach sozialer Integration.429 Der Effekt dieser sozialen Integration wird an Tullas Mutter Erna sichtbar: sie hat sich nicht mehr „(…) ainkriegen jekonnt, weil nämlich im Speisewagen alle Urlauber durchainander jesessen ham, ainfache Arbaiter wie main Papa, aber och Beamte ond 426 Frei, Führerstaat, S. 97. Ebd. 428 Ebd. 429 Frei, 1945 und Wir, S. 110. 427 178 Parteibonzen sogar.“ (50) Diese Bild assoziiert das seinerzeit populäre Bild der „klassenlosen Eintopfsonntage“, an denen Direktoren und Arbeiter gemeinsam ihre Suppe aßen. Die Botschaft des von Goebbels inszinierten Paradestücks nationalsozialistischer „Volkserziehung“ lautete: „Die `Volksgemeinschaft´ existiert, und alle machen mit; `oben´ und `unten´ sind weniger wichtig als der `guten Wille´; materielle Anspruchslosigkeit zeugt von `nationaler Solidarität´.“430 Tatsächlich war die „Klassenlosigkeit“ jedoch eine vermeintliche. Die Propaganda gaukelte vor, dass ausschließlich deutsche Arbeiter ihren Urlaub auf den Dampfschiffen verbrachten431. Tatsächlich war überwiegend Mittelstand an Bord, während durchschnittliche Arbeiterfamilien preisgünstige Reisen in den Bayerischen Wald oder an die Nordsee machten.432 Im Krebsgang spiegelt sich die Mär der „Klassenlosigkeit“ wieder: „Nach nächtlicher Bahnfahrt wurden die stets sorgfältig ausgewählten Passagiere in Genua eingeschifft. (…) Immer öfter waren hohe Tiere aus Partei und Wirtschaft dabei, was die klassenlose Gesellschaft an Bord des KdFSchiffes in Schieflage brachte.“ (70) Diese Schieflage verblieb jedoch außerhalb der Wahrnehmung: Einer der bemerkenswertesten Erfolge nationalsozialistischer Sozial- und Gesellschaftspolitik bestand in der Verbreitung des Gefühls sozialer Gleichheit. Wo unentwegt an der bewusstseinsmäßigen Abtragung von Rang- und Statusunterschieden gearbeitet wurde, da konnten selbst bescheidene Ansätze von `Massenkonsum´ als Indizien einer vielversprechenden Zukunft gelten. In einer solchen Atmosphäre ließen sich die Hoffnungen der Bausparer und der Autobesitzer in spe propagandistisch vervielfältigen wie die Dampferfahrten ins Portugal Salazars.433 In der Figur Gustloff offenbart sich diese neue Zuversicht: „im Jahr zuvor (hatte) das Ehepaar Gustloff vom Ersparten ein Klinkerhaus in Schwerin (…) bauen lassen, vorsorglich möbliert“. (25) 430 Ebd., S. 114. Mit der „KdF“ als Reiseveranstalter sind bis 1939 rund sieben Millionen Urlauber unterwegs, zuzüglich 35 Millionen Tagesausflügler, ebd. 432 Ebd. 433 Ebd. 431 179 Das Zusammenspiel einer „naiven Bereitschaft“ (Kershaw), dem Regime Glauben und Vertrauen zu schenken mit der perfiden Ideologie der Nationalsozialisten veranschaulicht sich im Krebsgang in dem Protagonisten August Pokriefke. Als Arbeiter gehört er zu jener Volksgruppe, die ihrer traditionell linken Gesinnung durch den Mythos der Klassenlosigkeit entrissen werden konnte. Nach der Wahl im Jahr 1932 sank das „Proletariat“ zur untergeordneten Bedeutung für das Regime und rückte erst gegen Kriegsbeginn als „ausführende Volksgewalt“ wieder in den Fokus. Entsprechend sind es nicht Tullas Eltern, die auserwählt waren, um auf der klassenlosen Gustloff Urlaub zu machen. Es waren August Pokriefkes Handwerksmeister Liebenau und dessen Frau. Selbst dort schien der gesellschaftliche Status alleine nicht hinreichend für ihre „Auserwählung“, denn diese war die „Belohnung“ für ihren Deckrüden Harras, den Erzeuger von Hitlers Schäferhund Prinz. Der „auserwählte“ Liebenau muss für seine bzw. stellvertretend für Pokriefkes Reise eine Geldsumme aus der Betriebskasse entrichten. Diese offensichtliche Perfidität wird auch von der „Volksgemeinschaft“ nicht wahrgenommen und lässt so keinen Schatten auf das Regime fallen.434 Im Umkehrschluss stand hinter der „naiven Gefolgschaft“ der Bevölkerung ein nahezu druchgängiges Desinteresse am politischen Geschehen der Zeit. 434 Rudolf Augstein, `Rückwärts krebsen, um voranzukommen. Über Im Krebsgang´, S. 48-50 in Aust, Burgdorff, (Hg.), Die Flucht, München, 2005, S. 49. 180 Das unpolitische Milieu der „Kleinen Leute“ Das Milieu der „Kleinen Leute“ als Mitläufer und Mittäter in Grass´ Danziger Trilogie ist im Krebsgang mit den Pokriefkes fortgesetzt, deren Begeisterung für das NSRegime offenkundig ist. Tatsächlich hatte diese Milieu jedoch eine eher untergeordnete Bedeutung im NS-Regime: „Dem `klassischen Kleinbürgertum´ wird zu Unrecht gerne nachgesagt, es sei besonders anfällig für den Faschismus gewesen. Dabei war diese Schicht zahlenmäßig viel zu klein, um eine große Massenbewegung zu tragen.“435 Daraus ergibt sich für den Historiker Michael Mann, dass „Klassen, in welcher Definition auch immer, nur wenig zum Verständnis des Faschismus beitragen.“436 Vielmehr verweist Mann auf die Breite des Spektrums bei der Zustimmung zum Regime, wonach nach 1930 weder die Nazis noch ihre Wähler besonders bürgerlich oder kleinbürgerlich waren. Zuspruch erhielten sie aus sämtlichen sozialen Schichten.437 Ein Merkmal des „klassischen Kleinbürgertums“ ist dennoch entscheidend für den Erfolg des Nationalsozialismus in Deutschland. Wiederholt rückt die naive Begeisterung Vater Pokriefkes in den Blickpunkt: „Main Papa, der em Prinzip ain janz Lustiger jewesen is, war, als er von Norwejen zurickkam, bejeistert von frieh bis spät.“ (67) Sein Wunsch, die Tochter nach seiner Reise bei den „Jungmädels“ zu verpflichten, einem Ableger der NSDAP Partei, basiert somit nicht auf einer ideologischen Überzeugung. Offenkundig zeigt sich hierin der unpolitische Wesenszug: „Zwar habe viel freiwillige Zuarbeit die faschistische Massenorganisation geprägt, diese war aber in einem hohem Maße durch politische Apathie geprägt.“438 Bei der Suche nach den Ursprüngen des weltweit einzigartigen Phänomens eines Nationalsozialismus als Massenbewegung, erweist sich das Bild des unpolitischen Volkes als maßgeblich. „Hitlers Machtergreifung hatte in dem Augenblick eine revolutionäre Stimmung ausgelöst, als man mit Schrecken, aber auch mit 435 Michael Mann, `Der Faschismus und die Faschisten. Vorbereitende Überlegungen zur Soziologie faschistischer Bewegungen´, S. 26-54 in „Mittelweg 36“, 16. Jahrgang, Feb./März 2007, S. 47. 436 Ebd. 437 Ebd., S. 48. 438 Victoria De Grazia zitiert in: Reichardt, S. 23. 181 Bewunderung und Erleichterung bemerkte, dass die Nazis tatsächlich daran gingen (…) (das) Weimarer System zu zerschlagen.“439 Der Fehlschlag, eine gescheiterte Monarchie durch eine demokratische Regierung zu ersetzen, öffnete für etwas offenkundig wirklich Neues: eine Volksherrschaft ohne Parteiengezänk mit einem starken Führer, der Deutschland wieder einig nach innen und groß nach außen machen sollte. Politik galt vielen seit Weimar als ein „Verrat an den Werten des `wahren´ Lebens: Familienglück, Geist, Treue, Mut.“440 Sebastina Haffners Stimmungsbild über den Machtantritt der Nationalsozialisten untermauert den Wesenszug des Unpolitischen noch einmal deutlich: „Es war – man kann es nicht anders nennen – ein sehr weit verbreitetes Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie.“441 Die „Sehnsucht nach dem Unpolitischen“ aus einer als unerträglich empfundenen Last der Verantwortung dem autoritären Gebahren der monarchistischen Epoche (Michael Hanekes Das weiße Band) zuzuschreiben oder dem Trauma des Ersten Weltkrieges bleibt spekulativ.442 Ein Blick auf die nach dem Zweiten Weltkrieg erwachsende Kultur der „Heilen Welt“ in den 1950er Jahren, etwa in zahllosen „Heimatfilme“ oder im bodenständigen Humor eines Heinz Erhard, lässt Parallelen mit der „unbeschwerten“ Seite der Alltagskultur, insbesondere in den gefühlten „guten Jahren“ der NS-Zeit erkennen und offenbart ein Versinken in die Phantasie einer „Schönen neuen Welt“.443 439 Safranski, S. 362. Ebd. 441 Sebastian Haffner, Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick, München, 1989, S. 237. 442 vgl. Heinrich Mann, Der Untertan. 443 Anmerkung: In seinem gleichnamigen Roman (1932) lässt Aldous Huxley seine Protagonisten durch die Droge „Soma“, durch Konsum und Kurzurlaubsreisen in eine Scheinwelt versinken, hinter der eine skrupellose Diktatur Menschen „züchtet“ und als Objekte in Nutzkategorien einteilt. 440 182 „Das Volk singt und tanzt“ Das Unpolitische mit seiner befreienden Wirkung von der Last der Verantwortung als „sinnlicher“ Inhalt von Geschichte vermag den Massenappeal des Nationalsozialismus nicht hinreichend zu erklären. Ergänzend drückt sich eine tiefer liegende Schicht im Konzept der „Volksgemeinschaft“ als „Leitkultur“ aus, die im Begriff des „Volksvermögens“ subsummiert werden kann. Der originäre Stellenwert der „Volksgemeinschaft“ für die nationalsozialistische Ideologie offenbart sich durch eine Tagebuchnotiz Joseph Goebbels vom März 1933: Wenn ich den politischen Umbruch auf seinen einfachsten Nenner bringe, dann möchte ich sagen: Am 30. Januar ist endgültig die Zeit des Individualismus gestorben. Die neue Zeit nennt sich nicht umsonst Völkisches Zeitalter. Das Einzelindividuum wird ersetzt durch die Gemeinschaft des Volkes. Wenn ich in meiner politischen Betrachtung das Volk in den Mittelpunkt stelle, dann lautet die nächste Konsequenz daraus, dass alles andere, was nicht Volk ist, nur Mittel zum Zweck sein kann. Wir haben also in unserer Bestätigung wieder ein Zentrum, einen festen Pol in der Erscheinung Flucht…das Volk als Ding an sich, das Volk als den Begriff der Unantastbarkeit, dem alles zu dienen und dem sich alles unterzuordnen hat.444 Das Konzept des Volkes „als Ding an sich“ geht in seiner Begrifflichkeit zurück in das frühe 19. Jahrhundert. Friedrich Ludwig Jahn bildete 1810, um den Begriff Nationalität einzudeutschen, den Ausdruck „Volkssturm“ und „Schleiermacher und Adam Müller hatten zum ersten Mal von Volksgemeinschaft gesprochen.“445 Im Krebsgang ist das Wirken des Turnvaters Jahn aufgegriffen: „Und dann begann noch nicht der Krieg, vielmehr diente die Gustloff der Leibeserziehung. Zwei Wochen lang fand in Stockholm ein friedliches Turnerfest, die `Lingiade´ statt, benannt nach Per Henrik Ling, einem, nehme ich an, schwedischen Turnvater Jahn. Das Urlauberschiff war Wohnschiff für über tausend uniform gekleidete Turner und Turnerinnen, unter ihnen Maiden vom Arbeitsdienst, die Nationalmannschaft der Reckturner, aber auch alte Herren, die immer noch am Barren turnten, sowie Gymnastikgruppen der Gemeinschaft `Glaube und Schönheit´ und viele auf stadionweites Massenturnen 444 445 Josef Goebbels, Tagebücher, München, 1988, H.G. Reuth (Hg.), Bd. III, S. 1076. Safranski, S. 351. 183 gedrillte Kinder.“ (79) Der Hauslehrer Friedrich Ludwig Jahn errichtete 1811 den ersten Turnplatz in Berlin, auf dem sich die Männer für den Kampf gegen die französischen Besatzer vorbereiten sollten. Die Turnerschaft wird so zu einem frühen Kristallisationspunkt der deutschen Nationalbewegung.446 Bis hierher lag das Augenmerk in diesem Abschnitt auf der Frage nach der Wirkung der „Verführung“ und wie sich diese in Grass´ Krebsgang darstellt. Grass verbleibt in seiner Novelle, anders als in der Danziger Trilogie, nicht im Milieu der „Kleinen Leute“ im NS-Regime. Im Krebsgang ist das Spektrum erweitert: neben Hinweisen auf die NS-Diktatur richtet sich der Blick auch auf die Eliten und auf das Ausland. Dieses vergrößerte Spektrum repräsentiert eine Plattform, von der aus weitere Erklärungsansätze bzw. Aufschlüsse über die komplexen Verflechtungen in der Zeit zwischen 1933-45 gewonnen werden können. 446 Planert, S. 70. 184 Die „Gewalt“: Historische Kontextualisierung von NS-Diktatur, Staatsterror und Krieg („Angstgesteuerte Beteiligung“) Paul als imaginierter Journalist in der NS-Epoche Entgegen der Einschätzung vieler Historiker, dass das Gefühl über den Anbruch einer „neuen Epoche“ im Jahr 1933 weit stärker wog als die Angst vor polizeistaatlichem Terror447, reflektiert sich für die Skeptiker und Kritiker des Regimes im Krebsgang Angst als Motiv der passiven Unterstützung. Die zeitüberblendende Imagination, mit der sich Paul als Journalist gedanklich in die NS-Zeit zurückversetzt, bewertet der Erzähler selbst als müßig: „Auch ich, der während realer Berufstätigkeit keinen Skandal aufgedeckt, nie eine Leiche im Keller, weder Mauscheleien mit Spendengeldern noch geschmierte Minister ausfindig gemacht hat, hätte als zurückdatierter Journalist wie alle anderen das Maul gehalten. Nur pflichtschuldig staunen durften wir von Deck zu Deck.“ (58f) Paul untermauert den Aspekt der Angst im NS-Regime, indem er Fragen formuliert, die er bei einem imaginierten Pressetermin auf der Gustloff nicht hätte stellen wollen und Wahrnehmungen auflistet, die er nicht hätte haben sollen. Die Frage nach dem Geld der Gewerkschaften zielt auf die Zerschlagung der Gewerkschaften als die erste gewalttätige Aktion des NS-Regimes im Jahr 1933 (s. nachfolgend). Die Wahrnehmung, dass das Sonnendeck von „lästigen Aufbauten“ frei sei, assoziiert die Verschleierung der Wahrheit über die Konzentrationslager durch das Regime (s. Abschnitt „Holocaust“); „sah Duschkabinen und sanitäre Einrichtungen“ (59) verweist darauf, dass Informationen über die Massentötungen mit Gas in den Konzentrationslagern für jene zugänglich waren, die zu „sehen“ bereit waren (s. Abschnitt „Holocaust“). Anstatt jedoch zu fragen, notiert Paul „beflissen“. (59) Grass lässt seinen Erzähler sich nicht explizit zur Angst bekennen, vielmehr ist es die Angst vor der Angst als Feigheit: „kommt es mir dennoch vor, als sei ich begeistert und zugleich schwitzend vor Feigheit dabeigewesen.“ (59) Die Angst kriecht als „Schweiß“ unter die Haut und wird zum Motiv für die Feigheit. Diese Angst führt bei 447 Vgl. etwa Frei, 1945 und Wir, S. 113, oder Sebastian Haffner, vorstehend. 185 Paul jedoch nicht zu einer Beflissenheit aus innerlicher Überzeugung für die nationalsozialistische Ideologie. „Wie ich mich kenne, wäre mir allenfalls eine verklausulierte Frage nach dem restlichen Kapital über die Lippen gekommen, worauf mir der durch nichts zu beirrende KdF-Reiseleier prompt geantwortet hätte: `Die Deutsche Arbeitsfront schwimme, wie man ja sehe, im Geld.´“ (58f) Diese propagandistische Antwort auf seine imaginierte Frage vermag Paul nicht zu überzeugen, denn „(w)eitere Fragen wurden verschluckt“ (58). Die Attribute der „neuen Zeit“ sind unzureichend, um die Angst zu überwinden: „Staunend sahen wir die Festhalle, den Trachtensaal, die Deutschland- und die Musikhalle. (…) In allen Sälen hingen Bilder des Führers (…) überwiegend bestand der Bildschmuck aus altmeisterlich in Öl gemalten Landschaften (…) schrieb später nach altdeutscher Wortwahl über die `sieben gemütlichen Schänken´ an Bord (…).“ (59) Auch die moderne Technik, etwa die „hypermoderne Tellerwaschanlage“, der „Hochtank“ als „Wasserwerk“ (59) als Symbole für den wesentlichen Baustein bei der Positionierung als „moderner“ NS-Staat, bewirkt bei dem imaginierten Journalisten Paul keine Wandlung hin zur inneren Überzeugung. Am Ende hört er einfach auf, wahrzunehmen: „Und weiteres Zahlenmaterial, das ich nicht mehr notierte.“ (60) Offenkundig wird seine Resignation als er sich ein letztes Mal als kritischer Beobachter versucht. Er erkennt die Gefahr etwa des unterhalb der Wasserlinie liegenden Schwimmbads oder die unzureichende Anzahl von Rettungsbooten (60): Aber ich bohrte nicht nach, beschwor keinen Katastrophenfall, sah nicht voraus, was sieben Jahre später in eisiger Kriegsnacht geschah (…); vielmehr flötete ich, sei es als Journalist des `Völkischen Beobachters´, sei es als Korrespondent der gediegenen `Frankfurter Zeitung´, in höchsten oder sachlich gedämpften Tönen eine Hymne auf die schmucken Rettungsboote des Schiffes. (60) Pauls Rückblicke aus der Gegenwart erweist sich als nichts weiter als gescheiterte, „(v)erspätete Mutproben!“ (58). 186 Die Anfänge: Wahlen für Hitler Entgegen etwa der Ansicht Freis bewertet Reichardt die polizeistaatliche Unterdrückung in den Jahren 1933-34 nicht als eine untergeordnete, vielmehr als eine gleichgewichtige Komponente neben sozialen Wohlfahrtsversprechen und imperialistischer Expansionspolitik.448 Auch im Krebsgang sind die Anfänge des NSRegimes durch Hinweise auf den diktatorischen Aspekt umrissen: „dem durch Ermächtigung entstandenen Staat und der einzig übriggebliebenen Partei“. (39) Hierin drückt sich jedoch bereits der zweite Schritt vor dem ersten aus. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Robert O. Paxton verweist auf die anfängliche konstitutionelle Legitimität faschistischer Regierungen. Obwohl sie zunächst Gewalt anwandten, um das liberale Regime zu destabilisieren, und später, um ihre Regierungen in Diktaturen zu verwandeln, haben weder Hitler noch Mussolini das Steuer gewaltsam an sich gerissen. Beide wurden von einem Staatsoberhaupt in rechtmäßiger Ausübung seiner offiziellen Funktionen, und auf den Rat seiner konservativen Berater hin, ersucht, ihr Amt als Regierungschef anzutreten, und zwar unter sehr bestimmten Bedingungen: einer Blockierung der konstitutionellen Regierung; konservativer Führer, die sich durch den Verlust ihrer Fähigkeit, die Bevölkerung im Augenblick massenhafter Mobilmachung unter Kontrolle zu halten, bedroht sahen; einer aufstrebenden Linken; und konservativer Führer, die sich einerseits weigerten, mit dieser Linken zusammenzuarbeiten, und sich andererseits außerstande sahen, ohne zusätzliche Verstärkung gegen die Linke weiterzuregieren.449 Die „Bedingung“ einer “aufstrebenden Linken” spiegelt sich im Krebsgang: „Bei der letzten freien Wahl, vor vier Jahren noch, hatten die meisten von ihnen für die Sozis oder Kommunisten gestimmt. Jetzt gab es nur noch die eine und einzige Partei; (…).“ (51) Was sich in ein „totalitäres Diktaturregime faschistischer Prägung“450 entwickeln sollte, war vor dem „Radikalisierungsprozess des Nationalsozialismus“451 in ein weitgehend rechtsstaatliches Gewand gekleidet. Deutlich beschleunigt wurde der 448 Reichardt, S. 20. Robert Paxton, `Die fünf Stadien des Faschismus´, S. 55-80 in „Mittelweg 36“, 16. Jahrgang, Feb./März 2007, S. 73f. 450 Wolfgang Schieder zitiert in: Reichardt, S. 19. 451 Ebd. 449 187 Prozess der `Verselbständigung faschistischer Apparate´ durch: „(…) die sukzessive Entmachtung der konservativen Bündnispartner.“452 Einer der entscheidenden Kämpfe des Regimes bis zur völligen Machtübernahme vollzog sich zwischen Hitler und Hindenburg. Erst im Verlauf des Januar 1933 gab Hindenburg nach langem Zögern sein Einverständnis zur Bildung eines Präsidialkabinetts Hitler.453 Hitler schien für Hindenburg schließlich mit Ausnahme einer Militärdiktatur den einzigen Weg aus einer Sackgasse zu weisen.454 In den Monaten nach seiner Ernennung zum Reichskanzler ergriff Hitler entgegen den Erwartungen, die Hitler-Papen Regierung würde sich ebenso schnell wie ihre Vorgänger verbrauchen, fast vollständig die politische Macht. 455 Bis zum Sommer existierten keine Parteien mehr, es gab weder ein Präsidialregime noch ein parlamentarisches Regime – inzwischen regierte allein Reichskanzler Hitler mit seiner Partei.456 Hitler nutze seine Ernennung um mit vielen seiner Gegner abzurechnen. Zur Regierungseröffnung etwa befanden sich die 81 kommunistischen Abgeordneten bereits in Konzentrationslagern, im Untergrund oder in der Emigration457: „(Es war) ein neues Element in die deutsche Politik eingeführt (worden): der legale staatliche Terror.“458 Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 wurde die Verfassung in großen Teilen außer Kraft gesetzt und die Möglichkeit willkürlicher Verhaftungen eingeführt.459 Im Krebsgang reflektieren sich implizit diese Anfänge der Diktatur: „Von der Kurverwaltung Davos wurden ihm (Gustloff) regelmäßig die Namenslisten angereister Kurgäste zugespielt, worauf er die Reichsdeutschen unter ihnen, solange die Kur lief, zu Parteiveranstaltungen nicht etwa nur einlud, sondern aufforderte; unentschuldigtes 452 Reichardt, S. 20. Steinert, S. 258. 454 Ebd., S. 258. 455 Haffner, S. 233-234. 456 Ebd., S. 234. 457 Ebd. 458 Ebd. 459 Ebd. 453 188 Nichterscheinen wurde namentlich vermerkt und den zuständigen Stellen im Reich gemeldet.“ (23) Darüber hinaus erscheinen auch die nach Innen gerichteten gewalttätigen Repressalien in der Novelle: „Strasser, der dem linken Flügel angehörte, wurde, nachdem er zweiundreißig aus Protest gegen seines Führers Nähe zur Großindustrie alle Ämter niedergelegt hatte, zwei Jahre später dem Röhmputsch zugezählt und von den eigenen Leuten liquidiert“. (10) Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser, der zusammen mit seinem Bruder Otto den „sozialrevolutionären“ Kurs der NSDAP gegenüber dem „völkisch-nationalen“ Flügel innerhalb der Partei einschlug, um die Arbeiterschaft zu gewinnen, nahm Ende 1932 Verhandlungen mit von Schleicher über eine Regierungsbeteiligung auf, in der er, Strasser, als Vizekanzler vorgesehen war.460 Für Hitler und Goebbels wurde Strasser, dessen eigenständiges ideologisches Profil missmutig beäugt wurde, somit zum „Verräter“461. Nach heftigen Auseinandersetzungen zog sich Strasser aus der Politik zurück und wurde im Zuge der Parteisäuberung (Röhm-Putsch von 1934) ermordert. Bald nach diesen Säuberungen im Inneren sollte sich der polizeistaatliche Terror mehr oder weniger offen nach Außen gegen jene Minderheiten richten, die nicht Teil der „arischen Volksgemeinschaft“ sein konnten. 460 461 Steinert, S. 257. Ebd. 189 Der Tod von Tullas Bruder Konrad und die arische Rassepolitik Rückblickend erzählt Paul im Krebsgang wie Tullas taubstummer Bruder Konrad in der Ostsee ertrank. (24, 66) Nach dem Verlust des Bruders zieht Tulla sich „eine Woche lang in die Hütte des Tischlereihundes“ (66) zurück, dem „Zuchtrüden Harras“ (ebd.) und Erzeuger von Hitlers Schäferhund Prinz. Vor dem Hintergrund, dass „Hitler ein Loblied auf Pferde- und Hundezucht singt und die sozialdarwinistische Vorstellung eines Kampfs ums Überleben übernimmt“462, entsteht eine Verbindung zur nationalsozialistischen Rassenpolitik. Philippe Burrin umreißt diese als eine Ideologie, die sich auch gegen die eigene „Rasse“ wendet: „Hier handelt es sich um eine streng rassistische Ideologie, denn sie nimmt nicht nur die `Allochthonen´ ins Visier, also all jene, die nach irgendwelchen Kriterien als nicht zur eigenen Rasse gehörig definiert sind, sondern auch die Mitglieder der eigenen Rasse, die zur Fortpflanzung (…) auszuschließen sind.“463 Die nationalsozialistischen Aktionen gegen „unreine“ Minderheiten begannen mit der Ermordung behinderter Menschen unabhängig von Nationalität und von Religion: „Bis 1941 gelten die radikalsten Maßnahmen des Regimes anderen (Anmerkung d. Autorin: als den jüdischen) Gruppen, man denke nur an die Sterilisation so genannter Erbkranker und an die Ermordung geistig Behinderter ab 1939.“464 Dieser so genannten „T4-Aktion“ fielen fast 300.000 kranke und behinderte Menschen zum Opfer.465 Das Motiv „die asozialen Teile des Volkskörpers“466 zu eliminieren, führte bereits im Juli 1933 zu einem Gesetz, das die Zwangssterilisierung von Menschen anordnete, die unter Erbkrankheiten litten. Dazu gezählt wurden „die absichtsvoll unscharfe Begrifflichkeit `angeborener Schwachsinn, Schizophrenie und schwerer Alkoholismus´“.467 Auch Tullas Bruder Konrad fiel als „Taubstummer“ in die Kategorie der Erbkranken. 462 Burrin, S. 60. Ebd. 464 Burrin S. 80. 465 Bundeszentrale für politische Bildung: NS-Krankenmorde; http://www.bpb.de/veranstaltungen/583QL1,0,0,NSKrankenmorde.html. 466 Ebd. 467 Ralf Müller-Schmid, `Vom Bekenntnis bis zur neuen Eugenik von unten´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 17.07.2008, S. 33. 463 190 Die „T4-Aktionen“ werden zu einem der Ausgangspunkte für die industrielle Tötung im Holocaust: In September 1941, following the example of the T-4 `euthanasia´ programme, 500 mental patients were gassed at Mogilev. Three months later, at Chelmno, specially designed vans with exhaust pipes connected to sealed rear compartments were used for the first time to asphyxiate Jewish prisoners. The first and only industrialized genocide had begun.468 Hitlers „Rasseideologie“ orientierte sich in höchst destruktiver Weise an einer „germanischen Moral“ und basiert, wie sie sich aus Mein Kampf ergibt469, auf der Rasse als Grundlage für die Erklärung der Weltgeschichte. Danach spielen vor allem zwei „Naturgesetze“ für die Evolution aller Lebewesen eine wichtige Rolle: „Das eine ist das Gesetz der Rassenreinheit (…), dessen Verletzung durch Vermischung zum Verfall der Rasse und letztlich zu deren Untergang führe. Das zweite ist das Gesetz der Auslese, also die Ausmerzung der `Schwachen´ (…).“470 Diese „Naturgesetze“ versucht Hitler mit historischen Erkenntnissen zu belegen, „indem er sich eine Geschichte der Arier zurechtlegt.“471 Danach sollen die arischen Völker, deren Überlegenheit aus ihrem idealistischen Gemeinschaftsgeist resultierte, der sich in Arbeit und Kampf zeige, auf die Reinheit des Blutes geachtet und zum Beispiel missgebildete Kinder bei der Geburt getötet haben. Dadurch hätten sie zahlenmäßig überlegene Völker zu unterwerfen und als Sklaven für den Aufbau großer Reiche einzusetzen vermocht. Diese Reiche hätten großartige Kulturen hervorgebracht, die am Ende aber wegen der so genannten Vermischung mit den unterworfenen Völkern zu Grund gegangen seien.472 Damit hatten sich die Nationalsozialisten eine historische Mission auf die eigenen Fahnen geschrieben: Deutschland vor dem Verfall zu retten und es wieder zu einem mächtigen 468 Ferguson, S. 451. Ebd., S. 59. 470 Ebd., S. 59f. Anmerkung: Tacitus schreibt in seiner Schrift „Germania“: „Ich selbst schließe mich der Ansicht an, dass sich die Bevölkerung Germaniens niemals durch Heirat mit Fremdstämmen vermischt hat und so ein reiner, nur sich selbst gleicher Menschschlag von eigener Art geblieben ist. Daher ist auch die äußere Erscheinung trotz der großen Zahl von Menschen bei allen dieselbe: wild blickende blaue Augen, rötliches Haar und große Gestalten, die allerdings nur zum Angriff taugen. Für Strapazen und Mühen bringen sie nicht dieselbe Ausdauer auf, und am wenigsten ertragen sie Durst und Hitze; (…)“. Ders., Stuttgart, 1971, S. 5. 471 Burrin, S. 61. 472 Burrin, S. 61f. 469 191 Land zu machen, das auf dem Wege des Imperialismus antiken Großreichen in nichts nachstünde.473 Die Quellen dieser rasseideologischen Staatsdoktrin lagen im „biopolitischen Rassismus“ der Kaiserzeit und führen in ihrer Konsequenz zu einem radikalisierten Nationalismus.474 Am Ende des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein tiefgreifender Wandel hin zu einem radikalisierten Nationalismus, der mit der Umdeutung der Nation zu einem biopolitischen Programm eine vollkommen neue Form entwickelte. Ausgehend von den Klassikern der rassistischen Theorien – Joseph Arthur Gobineau und Charles Darwin - können bei völkischen und antisemitischen Denker sowie der Kolonialbewegung diese Neuformierung des Rassengedankens gefunden werden.475 Der Historiker Sönke Neitzel sieht in der Zeit der Jahrhundertwende aufgrund der Verbindung von Nation und Rassismus eine neue Qualität des deutschen Nationalismus.476 In der Vorstellung „mehr oder weniger bekannter Rassentheoretiker“, darunter etwa Houston Steward Chamberlain oder Theodor Fritsch, „war die Nation nur mehr eine biopolitische Organisation, die im alltäglichen Leben der Bevölkerung im Rassenkampf bestehen musste.“477 Auch Ferguson verweist auf die für das „Dritte Reich“ zentrale Konzeption eines rassistischen Weltbilds, „(which) was rooted in a particular conception of human biology – a singularly successful `meme´ that had already replicated itself all over the world by the start of the twentieth century.”478 Der Ursprung dieser Konzeption liegt in Schweden: (…) the first ostensibly scientific attempt to subdivide the human species into biologically distinct races was by the Swedish botanist Carolus Linnaeus (Carl von Linné). In his Systema Naturae (1758), he identified four races: Homo sapiens americanus, (H. s.) asiaticuas, (H. s.) afer and (H. s.) europaeus. 473 Ebd. S. 62. Sönke Neitzel, `Neue deutsche Qualität´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 27.01.2005, Nr. 22, S. 9. 475 Ebd. 476 Ebd. 477 Ebd. 478 Ferguson, S. lii. 474 192 Linnaeus, like all his many imitators, ranked the various races according to their appearances, temperament and intelligence, putting European man at the top of the evolutionary tree.479 Im Krebsgang besuchen deutsche Turner ein “friedliches Turnerfest” in Stockholm, die “Lingiade” (79), was Carolus Linnaeus (oder Carl von Linné) assoziiert. Expliziter Namensgeber ist Per Henrik Ling, ein „schwedische(r) Turnvater Jahn“. (ebd.) Durch die assoziative Vermengung von Leibeserziehung zu Militärzwecken („uniform gekleidete Turner und Turnerinnen“ – 79) und den im Handlungsort liegenden Ursprung einer auf Rassismus basierenden Humanbiologie sind zwei der Kernaspekte der nationalsozialistischen Ideologie nebeneinandergestellt. Die Kehrseite des Antisemitismus im NS-Regime war die Aufwertung derjenigen, die den „arischen“ Anforderungen entsprachen. Diese Aufwertung lässt sich in der Plakette für die „Turnübungsleiter“, die der schwedische König gestiftet hat, symbolisch erkennen. (79) Der vom NS-Regime vertretene „Wertekanon“ nahm Gestalt an in Institutionen, die mit dessen Verwirklichung betraut waren. Diese Institutionen vom „Jungmädchenbund“ bis zur „SS“ hatten für die Ausbreitung der NS-Identität zu sorgen: sie durchzogen nahezu sämtliche Lebensbereiche.480 Neben der „SS“ waren die Gesundheitsberufe führend für die „institutionelle Gerinnung von Idee und Praktiken“481 zuständig. Dort wurden NS-Werte realisiert, „in denen die schon während der Weimarer Republik von Eugenik und Rassenlehre beeinflussten Auffassungen nun die Oberhand gewannen“.482 Vor diesem Hintergrund rundet sich das Bild der durch die Nahrungsaufnahme aus dem Napf des reinrassigen Hundes (66) implizierten Wandlung Tullas ab. Noch kurz vor dem Untergang des Schiffes bekommt die im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie durch ihren Bruder „erblich belastete“ Tulla eine wehenhemmende („betäubende“) Spritze durch den NSArzt „Doktor Richter“ (138) verabreicht. Die Geburt des „Traumas“ Paul erst nach dem Untergang auf dem Rettungsboot impliziert in diesem Kontext das schockartige 479 Ebd. Burrin, S. 87. 481 Burrin, S. 88. 482 Burrin, S. 87. 480 193 Erwachen aus einer massenhaften Wahnvorstellung. (139) Erschöpften sich die rassistischen und anderen Wahnvorstellungen der NS-Epoche in der breiten Bevölkerung zumeist im Mitläufer- und im Mitwissertum, zogen sie in anderen Segmenten der „Volksgemeinschaft“ fatale, oftmals verbrecherische Konsequenzen nach sich. 194 Deutsche Soldaten und die Wehrmacht Die Hamburger Wehrmachtsausstellung führte gegen Ende der 1990er Jahre drastisch vor Augen, wie sich auf den Schauplätze des Krieges massenhafter Wahnwitz entfaltete: „The worse the war went for them, the more fanatically the Germans pursued their policies of violence towards those unfortunates still in their power, as if willing the final cataclysm.”483Goebbels bewertete diese Lage als vorteilhaft: „Experience shows that a movement and a people that have burned their bridges fight more unconditionally than those who still have the chance of retreat.”484 Im Krebsgang werden weiterhin “Todeskandidaten” (85) ausgebildet, obwohl bereits “alle Frontlinien rückläufig” (86) und die „Lufthoheit über dem Reich längst verloren war.“ (86) Auch „Tullas beide ältere Brüder waren gefallen.“ (77) Die Suche nach den Ursprüngen dieser Entwicklung hin zu „verbrannten Brücken“ lenkt den Blick auf die Vorgänge innerhalb der Armee, die „weltanschaulich“ ausgerichtet werden sollte. Sowohl die NSDAP als auch durch die Armeespitze bemühte sich um eine ideologische Festigung der Soldaten. Ende 1943 erging Hitlers Befehl zur „nationalsozialistischen Führung in der Wehrmacht“, durch den die gesamte Wehrmacht nationalsozialistisch „durchzukneten“. Nicht zuletzt im vermeintlichen Geiste der „Klassenlosigkeit“ sollte eine soziale Öffnung des Offizierskorps durchgesetzt werden, weg vom vormaligen Adelsprivileg und hin zu einer jungen Elite auf der Grundlage von Frontbewährung und politischer Verlässlichkeit.485 Dieser Umbau erfolgte rapide. Binnen eines Jahres waren nahezu 50.000 Soldaten zugleich als Nationalsozialistische Führungsoffiziere tätig geworden.486 Im Krebsgang schlägt sich dieser „erfolgreiche“ Umbau der Wehrmacht hin zur nationalsozialistischen Geisteshaltung im Bild der „Leibeserzogenen“ nieder: „Turner und Turnerinnen wurden von Motorrettungsbooten in geregeltem Pendelverkehr befördert. So blieben die Leibeserzogenen unter Aufsicht. Zu Vorfällen kam es nicht. Meinen Unterlagen ist zu entnehmen, dass dieser Sondereinsatz ein Erfolg gewesen ist“. (79) Teil des Plans zur umfassenden Umgestaltung der 483 Ferguson, S. 557. Goebbels zitiert in: Ferguson, S. 557. 485 Wildt, S. 72. 486 Ebd. 484 195 Wehrmacht bildeten die vielfältigen Bemühungen um die militärische „Ertüchtigung“ der Jugend nach 1933, die nach Einschätzung des Historikers Jürgen Förster „selbstredend“ einen Kernbereich der nationalsozialistischen Erziehung darstellte.487 Michael Wildt verweist darauf, dass die Wirkung der Um-Erziehungsarbeit und der Propaganda auf die Wehrmacht insgesamt sich nicht messen lasse. Dies zumal deren Sozialstruktur sich infolge der Verluste wegen Tod und Verwundung immer jünger werdenden Soldaten stets veränderte488, was sich im Krebsgang wiederspiegelt: „Die immer jüngeren U-Bootmatrosen – gegen Schluß nahmen sie Siebzehnjährige – kamen für ein Vierteljahr an Bord. Danach war vielen von ihnen der Tod sicher, sei es im Atlantik, im Mittelmeer, später auf Feindfahrt längs der nördlichsten Route nach Murmansk, auf der amerikanische Geleitzüge, beladen mit Rüstungsgütern für die Sowjetunion, ihren Kurs nahmen.“ (85) Für die frühen vierziger Jahre diagnostiziert der Historiker Aristole Kallis mit Blick auf die nationalsozialistische Propaganda einen Niedergang der Deutungsmacht, „die seit dem Beginn der schweren alliierten Bombenangriffe und durch die Niederlage in Stalingrad ihr `Monopol auf Wahrheit´ verloren habe. Die Propaganda stimmte nicht mehr mit den Erfahrungen derer überein, an die sie adressiert war.“489 In der Novelle versinnbildlich sich diese Abkehr in einer Szene um den Großadmiral Dönitz: „es sei denn, man bewertet den Auftritt des Großadmirals Dönitz bei seinem Besuch am Kai Gotenhafen-Oxhöft als ein Ereignis, von dem allerdings nur offizielle Fotos geblieben sind. Das fand im März dreiundvierzig statt. Da war Stalingrad bereits gefallen. Schon bewegten sich alle Frontlinien rückläufig.“ (86) Die ausbleibenden privaten Fotographien („nur offizielle Fotos“) verweisen auf die innere Abwendung der Soldaten, denn die schlagen bereits verlorene „Kesselschlachten im Osten“ (85). Die Vorstellung vom „deutschen Soldaten als fanatisiertem nationalsozialistischem Kämpfer“490 bricht somit auf. Wildt verweist darauf, dass sich dieses Bild bereits für 487 Jürgen Förster zitiert in: Wildt, ebd. Ebd. 489 Aristotle Kallis zitiert in: Wildt, S. 72. 490 Wildt, S. 73. 488 196 die Zeitgenossen auflöste, spätestens bei den Verhören in westalliierter Kriegsgefangenschaft.491 Die nachhaltige Teilnahme der Soldaten, wo eine massenweise Desertion hätte erwartet werden dürfen, erklärt sich vor allem durch die Kriegssituation Ende 1943, die sich „noch einmal zugunsten Nazideutschlands zu wenden schien“ und so das Vertrauen in den „Endsieg“ wieder habe aufleben lassen. Wildt ergänzt: „Nicht minder ungebrochen war der Glaube an die V-Waffen, als dürfe es nach all den Untaten, von denen die Soldaten zu berichten wussten, nur den Sieg geben, da die Vergeltung nach einer Niederlage mindestens so schrecklich ausfallen würde, wie es die eigenen Verbrechen gewesen waren.“492 Goebbel´s Diagnose der „verbrannten Brücken“ rundet sich ab. Die Abgründigkeit dieses Kampfes hinter „verbrannten Brücken“ offenbart sich vor allem auch in dem Krieg gegen die eigene Bevölkerung. 491 492 Ebd. Ebd. 197 Flucht und Vertreibung als „Krieg gegen die eigene Bevölkerung“ Die unmenschliche Brutalität machte selbst vor der eigenen Bevölkerung nicht halt: „Zumindest sei zu erahnen gewesen, dass der Rest der Familie (…) zu den tausend und noch mal tausend Flüchtlingen gehörte, die zuallerletzt auf der überladenen Gustloff Platz gefunden hätten, mitsamt der schwangeren Tulla.“ (77) Insbesondere das Konjunktiv „Platz gefunden hätten“ verweist auf den „Mythos von der Rettung“ über die Ostsee durch die Marine. Der Freiburger Historiker Heinrich Schwendemann493 umreißt den Gegenstand dieses Mythos´ mit der Behauptung der Militärs nach 1945 den Krieg im Osten weitergeführt zu haben, um die Bevölkerung vor der Roten Armee zu schützen. Tatsächlich hatten viele Einheiten im Osten im Sinne der Führung bis zum letzten Mann gekämpft. Als Motiv dafür erachtet Schwendemann die Angst vor russischer Gefangenschaft, wie oben ausgeführt. Das Bild der vorgeblich durch die Soldaten „zu beschützenden“ Bevölkerung bricht sich in einem Bild der Flucht im Krebsgang: „Von der Brücke her kamen nun Befehle, alle Nachdrängenden in das verglaste untere Promenadendeck zu lenken, dessen Türen zu verschließen und bewaffnet zu bewachen in der Hoffnung auf rettende Schiffe. Diese Maßnahme wurde strikt durchgeführt.“ (135) In dem Bild der Flüchtenden, die von den eigenen Soldaten bewaffnet bewacht werden, spiegelt sich Hitlers Befehl, der gelautet habe, „die Front zu halten ohne Rücksicht auf Verluste bei Zivilbevölkerung und Soldaten. Seine Politik und Kriegsführung im Frühjahr 1945 lief darauf hinaus, den Sieg doch noch zu erzwingen oder unterzugehen, und die militärische Führung hat das konsequent durchgesetzt.“494 Das Bild der eingezwängten Flüchtlinge spiegelt die von der Wehrmacht „strikt durchgeführten“ zahlreichen Befehle, wonach die Trecks von den Straßen zu drängen waren, um sie für die Wehrmacht freizumachen. Das Bild der Bollerwagen im Straßengraben vermischt sich im Krebsgang mit der Desinformation als bewusster Vertuschung wieder: „`Dabei hatt ech nur Strimpfe anne Füß, bis miä ne Oma, die 493 Die nachfolgenden Ausführungen in diesem Abschnitt entstammen einem Interview mit dem Historiker Heinrich Schwedemann, „Krieg gegen die eigene Bevölkerung“, geführt von Angelika Schindler für ARTE, April 2005: http://www.arte.tv/de/Die-Welt-verstehen/geschichte/Tabus-der-Geschichte/851210.html. 494 Ebd. 198 selber Flichtling war, paar Schuhe aussem Koffer raus jeschenkt hat. Die saß auffem Bollerwagen am Straßenrand ond hat janich jewußt, wo wir her sind ond was wir durchjemacht haben alles….“ (153). Weder wusste die „`Oma, die selber Flichtling war´“ vom Untergang der Gustloff, noch war diese Katastrophe in den Westen Deutschlands durchgedrungen: „Der Untergang des einst beliebten KdF-Schiffes wurde im Reich nicht bekanntgegeben. Solche Nachrichten hätte der Durchhaltestimmung schaden können.“ (153) Der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral Karl Dönitz, hatte Hitler Ende Januar 1945 – der Zeit des Beginns der Fluchtgeschichte im Krebsgang - versprochen, die Marine werde alles tun, um die in Ostpreußen, Lettland und Kurland eingeschlossenen Verbände mit Munition, Waffen, Sprit usw. zu versorgen, was nur über die Ostsee möglich war. Als Folge davon wurde dem Abtransport der Flüchtlinge über die Ostsee in keiner Weise die erste Priorität eingeräumt, wie Dönitz das nach dem Krieg behauptete. Als Beleg hierfür erweist sich das Kriegstagebuch der Seekriegsleitung. Flüchtlinge kamen nur mit, wenn noch Platz war. Im Krebsgang heißt es: „So bündelten sich auf der Brücke Gegensätze, aber auch die gemeinsame Verantwortung für des Schiffes schwer zu bestimmende Fracht: einerseits war es ein Truppentransporter, andererseits ein Flüchtlings- und Lazarettschiff.“ (111) Im Ergebnis haben „sich in den Hafenstädten an der Ostsee, Danzig, Gdingen, Pillau hunderttausende Menschen gestaut“, die „nicht wegkamen.“ Während seiner Gerichtsverhandlung beklagt Konny Pokriefke Dönitz als den Schuldigen: „Der Verbrecher heißt Dönitz!“ (192). Da diese großen Flüchtlingsstaus im Danziger Raum waren, hat man die Flüchtenden per Trecks zurück nach Pommern geschickt, trotz des Wissens darum, dass eine Offensive der Roten Armee bevorstand. Im Krebsgang ist diese erzwungene Rückkehr auf umkämpftes Ostgebiet auf die Zeit nach der durch den Untergang gescheiterten Flucht verlegt: „Eine Anzahl Lebender und Toter musste nach Gotenhafen zurück, wo die Lebenden auf Transport mit weiteren Flüchtlingsschiffen warten mussten. Seit Ende Februar war Danzig umkämpft, brannte nieder, entließ Flüchtlingsströme, die 199 sich bis zuletzt auf den von Dampfern, Fährprähmen und Fischkuttern belegten Kaianlagen stauten.“ (153) Schwendemann schätzt, dass mehrere 100.000 Menschen der ungeordneten Flucht zum Opfer fielen. Nach den vier vorangegangenen Abschnitten über die frühzeitig offenkundige Brutalität des NS-Regimes, die Folgen der arischen Rassenpolitik und die Gräueltaten, verübt durch große Teile der Wehrmacht, drängt sich die eingangs gestellte Frage erneut auf: warum fanden sich in den Reihen der „Verführten“ und der „Ängstlichen“ nicht doch jene „Sehenden“, die zum Widerstand entschlossen waren. 200 Der fast abwesende Widerstand im Krebsgang Die „deutsche Schuld“ ist, wie in der Einführung dargestellt, das zentrale Thema von Grass´ Werken zwischen 1959-1972, namentlich in der Danziger Trilogie, Örtlich betäubt und Aus dem Tagebuch einer Schnecke495: „Ja, das Schuldthema ist natürlich das Thema einer Epoche. Das schlägt sich dann in den Personen, jedenfalls bei mir, nieder. Es ist die Frage nach der Schuld oder nach der Mitschuld oder der eingebildeten Schuld, des Spiels mit der Schuld, Schuldbedürfnis (…).“496 Der Mittelpunkt von Grass´ Werk Krebsgang, der Untergang der Gustloff, rankt sich um eine „Leidensgeschichte“ der Deutschen im Krieg. Andererseits ist das Werk jedoch von zahlreichen Bezügen zu Hundejahre und Katz und Maus durchdrungen - allen voran in der Protagonistin Tulla. Daraus erhebt sich die Frage nach dem Umgang mit dem zentralen Thema der „deutschen Schuld“ in dieser ambivalenten Konzeption. Mit der Frage nach der Mitschuld des Einzelnen in einer Diktatur ist die nach dem Widerstand untrennbar verbunden. Dieser ist ein Indikator dafür, ob der Einzelne sich gegen den Sog zu stellen vermag, den die Dynamik eines „konstruierten Identitätsdiskurses“497 in einer Diktatur auslöst. Alfred Andersch schreibt über eine Begegnung mit Hitler: „Da öffnete auch ich den Mund und schrie: `Heil!´ und als die Menge sich zerstreute und ich wieder ins Freie trat, da dachte ich, wie ich es heute denke: Du hast einer Kanalratte zugejubelt.“498 Andersch glaubt selbst, diese passive Unterstützung hätte sich unter gewissen Umständen in aktive Bereitschaft wandeln können. Sein Kommentar nachdem er später als internierter Zeuge einer Erschießung im Konzentrationslager Dachau beiwohnen musste: „An jenem Tag wäre ich zu jeder Aussage bereit gewesen, die man von mir verlangt hätte. Man hätte mich noch nicht einmal zu schlagen brauchen.“499 Im Krebsgang ist die Thematik des Widerstands nur indirekt berührt und bereits auf die Zeit Tullas in der DDR-Diktatur bezogen. Der „Alte“ zeigt sich enttäuscht über 495 Sabine Moser, Günter Grass. Romane und Erzählungen, Berlin, 2000, S. 23. Grass/Getrude Cepl-Kaufmann, `Ein Gegner der Hegelschen Geschichtsphilosophie´, S. 106-121 in Klaus Stallbaum, (Hg.), Gespräche mit Günter Grass, in Neuhaus WA, Bd. 10, S. 111. 497 Winfried von Bredow, `Extreme Gewalt´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 27.03.2008, S. 7. 498 Alfred Andersch, Kirschen der Freiheit, Frankfurt, 1952, S. 33. 499 Ebd., S. 43. 496 201 ihre Regimefügigkeit, nachdem sie „inmitten willentlich Blinder“ den „Knochenberg“ (100) - als Synonym für Auschwitz - erkannt habe, „dass sich die überlebende Tulla Pokriefke in solch banale Richtung, etwa zur Parteifunktionärin und stramm das Soll erfüllenden Aktivistin (entwickelt). Eher wäre von ihr Anarchistisches, eine irrationale Tat, so etwas wie ein durch nichts zu motivierender Bombenanschlag zu erwarten gewesen oder eine im kalten Licht erschreckende Einsicht.“ (100) Einmal tritt die junge Tulla in offenem Widerstand ihrem Vater August gegenüber, der nach seiner KdF-Reise im August 1939 (65) von ihr verlangt, „daß ech bai de Jungmädels mecht Mitglied werden. Aber ech wollt nich. Och später nich, als wir ins Raich heimjeholt wurden ond alle Mädels im Bädeem rainjemußt ham…“ (67) Es handelt sich dabei nicht lediglich um ein Auflehnen gegenüber dem Vater, sondern um eine in der Realität des Sommers 1939 nahezu unmögliche Widerstandsleistung: Besonders die Jugend vermochte den nationalsozialistischen Ansprüchen und Zumutungen wenig entgegenzusetzen. Mit der gewaltsamen Übernahme des Reichsausschusses der Deutschen Jugendverbände hatte NS-Jugendführer Baldur von Schirach bereits im April 1933 erste Voraussetzungen für den Aufbau einer Staatsjugend geschaffen, (…). Seit 1936 stieg der Druck auf Jugendliche, die sich der HJ verweigerten stark an, aber erst im März 1939 machten Durchführungsverordnungen zum Gesetz über die Hitler-Jugend die `Jugenddienstpflicht´ obligatorisch.500 Die nationalsozialistische Jugendbewegung wurde bald zu einem Instrument totalitärer Erfassung und Indoktrination.501 Die Reaktion der Jugendlichen auf die zu leistende Pflichtübung war unterschiedlich und hing ab von deren Alter, Schichtenzugehörigkeit und vorangegangener Sozialisation.502 Mit der Reaktion Tullas („Aber ech wollt nich“) auf ihres Vaters Anliegen rückt Grass seine Protagonistin in dieser kurzen Sequenz in jene „große Teile der Jugend“, die sich keineswegs den Zumutungen des Regimes gefügt haben.503 Insbesondere während des Krieges entstanden junge Gruppierungen wie etwa die „Edelweißpiraten“, die auch bewaffneten Widerstand gegen die Nazis initiierten oder die studentische Oppositionsgruppe „Weiße Rose“, die zu politischem 500 Frei, Führerstaat, S. 101f. Ebd. 502 Ebd., S. 103. 503 Kleßmann, S. 72. 501 202 Widerstand aufrief. Insgesamt ist die Bedeutung des Segments jugendlichen Widerstands in der Geschichte des Widerstands insgesamt relativ gering. Der verhaltene, indirekte Umgang mit der Thematik des Widerstands im Krebsgang reflektiert die Schwierigkeit dieses Aspektes der NS-Herrschaftszeit. Sönke Neitzel verweist auf einen möglichen Grund für die Verschüttung des Widerstands in der Erinnerungskultur Nachkriegsdeutschlands, wenn er anmerkt, dass die Forschung zuweilen dazu neige, die Unterscheidung von `Gut´ und `Böse´ in einer „so wohl nur selten anzutreffenden Trennschärfe“ vorzunehmen.504 Bereits die Festlegung des Begriffs „Widerstand“ in Deutschland birgt zahlreiche Ambivalenzen, die die Schwierigkeit der Erfassung offenbaren: Was soll etwa Ernst von Weizsäcker gewesen sein, der zwar gegen die kriegerische Hybris Ribbentrops und Hitlers opponierte, aber doch bis 1943 Staatssekretär im Auswärtigen Amt blieb? Wie ist das `Nationalkomitee Freies Deutschland´ zu beurteilen, das sich (…) in Russland mit den Stalinisten einließ und doch stets das Ziel der Beendigung des Krieges vor Augen hatte? Wie sind die Fahnenflüchtigen zu kategorisieren (…)? Und wie die `Retter´ und `aktiv Anständigen´, etwa ein Hauptmann der Reserve, der unter Missbilligung seines Vorgesetzten im September 1943 630 sowjetische Kriegsgefangene freiließ, aber trotz seines Wissens über fürchterliche Verbrechen im August 1944 über Hitler schrieb: `Ich glaube wie bisher, dass er nicht das seelische Ungeheuer ist, zu dem ihn seine Gegner machen.505 Die nationalsozialistischen Verbrechen in Polen und während des Krieges gegen die Sowjetunion (Kommissarbefehl, Massenerschießungen von Juden und Kriegsgefangenen506) sind ein eindringliches Beispiel für das Versagen des militärischen Widerstands. Wohl gaben diese Fälle für „einzelne Offiziere den Anstoß zum Widerstand, die Wehrmachtsführung dagegen ließ sich zum aktiven Komplizen dieser Verbrechen machen, die den Rahmen traditioneller Kriegsführung bewusst sprengen sollten.507 Erst nach der militärischen Katastrophe von Stalingrad führte die Neitzel zitiert in Tagungsbericht: Timo Frasch, `Wie wird Widerstand aktenkundig?´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 26.02.2008, S. 35. 505 Klemens von Klemperer zitiert in: Tagungsbericht, ebd. 506 Kleßmann, S. 74. 507 Ebd. 504 203 Idee einer gewaltsamen Beseitigung Hitlers zur Bildung der Widerstandsgruppe des 20. Juli. Der letzte einer Serie gescheiterter Mordanschläge auf Hitler erfolgte durch diese Widerstandsbewegung des 20. Juli um Graf von Stauffenberg.508 Daraus erhebt sich die Frage, wieso erst 1944 und wieso nur durch vereinzelte Personen aus den Reihen des „mächtigsten potentiellen Träger(s) von Widerstand gegen den Nationalsozialismus“509 agiert worden ist. Stauffenberg war „eher die Ausnahme unter den hohen Militärs“ und zeigt als solche „wie groß immer die Loyalität gegenüber Hitler war und wie Zweifel, Unentschlossenheit und Blindheit große Teile der militärischen Elite bestimmten“.510 Als ein Indiz für Resignation erscheinen die ausbleibenden späteren Anschläge auf Hitler, denn nach dem gescheiterten Attentat am 20. Juli 1944 wurde kein wesentlicher Beitrag zur eigenen Befreiung mehr geleistet.511 Die deutsche Arbeiterbewegung, „in den Augen des Regimes das größte und gefährlichste Oppositionspotential“,512 war sich nach anfänglichen Illusionen darüber im Klaren, dass Hitler Krieg und Unglück für das ganze Volk bedeuten würde.“513 Über lange Zeit wurden die Hoffnungen auf Widerstand jedoch immer wieder enttäuscht, und man vergrub sich in der Illusion eines baldigen Zusammenbruchs.514 Die beiden Kirchen in Deutschland bezogen zwar offen gegen die Ermordung Geisteskranker Stellung, doch waren die Motive „deutlich auf rein kirchliche Belange und auf die Sicherung eines Freiraums“ gerichtet. Das politische Verhalten beider Kirchen blieb „mehrheitlich von Vorsicht und Anpassung bestimmt“515. Zunehmend deutlicher wurde, dass wer die Verfolgung politischer und rassischer Gegner schweigend duldete, „angesichts der permanenten Radikalisierung der 508 Vgl. ebd., S. 71. Ebd., S. 62. 510 Ebd., S. 75. 511 Ebd., S. 79. 512 Ebd., S. 64. 513 Ebd., S. 73. 514 Ebd. 515 Ebd. S. 74. 509 204 nationalsozialistischen Politik auf die Dauer auch nicht mehr die eigene Haut retten konnte.“516 Die Suche nach Motiven für die geringen (sichtbaren) Widerstandsbewegungen aus der Bevölkerung in Deutschland zwischen 1933 und 1945 lenkt den Blick auf die Organisation der „Volksgemeinschaft“: „Zweifellos ist eine der zentralen Institutionen der Volksgemeinschaftspolitik die NSDAP gewesen (…). Es gehört zu den merkwürdigen Tatsachen der Historiografie über den Nationalsozialismus, die inzwischen ja ganze Bibliotheken füllt, dass Studien zur NSDAP rar sind.“517 Das „institutionelle Geflecht“ zu entwirren, „das sich hinter dem Namen der Partei verbarg und die ganze deutsche Gesellschaft durchdrang“ gehört noch immer zur Grundlagenforschung. Der Historiker Armin Nolzen hat den Versuch einer Entflechtung vollzogen. Danach gehörten der Partei zu Kriegsbeginn über 5,3 Millionen Mitglieder an. Es gehörten zu ihr weitere Unterorganisationen wie die SS (235.000 Mitglieder), die SA (1,3 Millionen), die Hitler-Jugend, der Bund Deutscher Mädel (zusammen 8,7 Millionen) und die NS-Frauenschaft (1,4 Millionen). Angeschlossen waren darüber hinaus die Deutsche Arbeitsfront (DAF) als Zwangsnachfolgerin der freien Gewerkschaften, mit über 22 Millionen Mitglieder, die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt mit mehr als 14 Millionen Mitgliedern und weitere Berufsverbände. Zu Anfang des Jahres 1940 verfügte die NSDAP über mehr als 28.000 Ortsgruppen, in denen über einhunderttausend Zellenleiter und knapp 450.000 Blockwarte tätig waren.518 Diese Zahlen zeugen von der hohen Durchdringungsdichte des Regimes: „Es gab wohl kaum eine gesellschaftliche Angelegenheit, die ohne die Mitwirkung der NSDAP geregelt oder entschieden wurde.“519 Jene, die sich dem NS-Regime offen widersetzten, hatten schwere Repressalien zu erwarten. Eines der frühen Zeugnisse geistig-moralischer Auflehnung gegen die 516 Ebd., S. 74. Wildt, S. 67. 518 Armin von Nolzen zitiert in: Wildt, S. 68. 519 Wildt, S. 68. 517 205 judenfeindlichen Aktionen der neuen Machthaber entstand im April 1933.520 Ende März des gleichen Jahres hatte der Antisemit Julius Streicher öffentlich zum Boykott „jüdischer Warenhäuser, Kanzleien usw.“ aufgerufen. In einem „Sendschreiben an den Reichskanzler Adolf Hitler über die Vertreibung der Juden aus Deutschland“ lehnte sich der Schriftsteller Armin T. Wegner gegen dieses antisemitische Vorgehen auf. Erst 1952 erzählte Wegner welche Folgen diese Intervention für ihn hatte. Zunächst sei der Eingang des Briefes durch Martin Bormann schriftlich bestätigt worden. Einige Tage danach wurde er an wechselnden Orten, u.a. KZ Oranienburg als „staatsfeindliches Element“ Misshandlungen ausgesetzt, die er „zeitlebens nicht verwunden (konnte).“521 Aus einem im Nachlass Wegners 1970 gefundenen Text zitiert Jäckel eine Stelle, die den Prozess von der Angst über die Resignation und schließlich zur Verachtung gegenüber der eigenen Heimat nachzeichnen: „Den Glauben an mein Volk hatte ich verloren, nachdem es sich so niederträchtig unter Adolf Hitler benahm, sich an einen so bösartigen Narren verraten und zugrunde gerichtet hatte.“522 Aus Wegners Schilderung gehen zwei wesentliche Aspekte hervor. Zum einen offenbart sich die Dimension der Angst, mit der innere und/oder offen Andersdenkende in der NS-Diktatur leben mussten. Es zeigt das notwendige Ausmaß an Mut, das zur Auflehnung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime von Menschen und deren Familien gefordert war, „die ihren Alltag bestmöglich zu bewältigen versuchten.“ Zum zweiten zeigt Wegners Schilderung, wie wenig er sich selbst dieser Tatsache bewusst war. Nach niemals überwundener Folter zeigt er sich resigniert über jene, die sein Schicksal zu vermeiden suchten. Im Krebsgang gibt auch Tulla schließlich ihren Widerstand auf. Später im totalitären Regime der DDR widersetzt sie sich lediglich der freiwilligen Mitgliedschaft Pauls bei 520 Quelle der nachfolgende Fallschilderung: Hartmut Jäckel, `Wenn einmal die Städte zertrümmert liegen. Zum Sendschreiben Armin T. Wegners an Adolf Hitler vom 17. April 1933´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 17.04.2008, S. 38. 521 Ebd. 522 Ebd. 206 der FDJ: „Raicht das nich, wenn ech miä hier fier die Schufte abrackern muß!“ (67) In der stalinistischen DDR wird Tulla zur opportunistischen Mitläuferin, die als „SEDMitglied und ziemlich erfolgreiche Leiterin einer Tischlereibrigade (…) zumeist überm Soll lag“ (67). Die Schilderung des Kommunisten Alfred Andersch offenbart Angst als die Hauptquelle widerstrebender Bereitschaft zur aktiven oder passiven Anpassung in einem diktatorischen Regime. Einen Eindruck über die Abgründigkeit der menschenverachtenden Haltung der beiden mächtigsten Diktatoren Europas gegen Ende der 1930er Jahre lässt sich etwa aus dem Hitler-Stalin-Pakt gewinnen. 207 Der Hitler-Stalin-Pakt als Zeugnis zeitgenössischen Zynismus Eine Woche bevor die deutsche Wehrmacht mit dem Beschuss der Danziger Halbinsel Westerplatte den Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 auslöste, wurde ein Vertrag über die Aufteilung Polens in eine deutsche und eine russische Einflusssphäre abgeschlossen. Im Krebsgang formuliert Grass für den gleichen Zeitraum die Frage: „Und was tat Kapitän Marinesko. Als zuerst deutsche, dann aber, auf Grundlage des Hitler-Stalin-Paktes, auch russische Soldaten in Polen einmarschierten?“ (81) Gegenüber dem alten Verbündeten Polen begründete Stalin sein Vorgehen damit, dass der mit Polen bestehende Nichtsangriffspakt hinfällig geworden sei, da der polnische Staat infolge des deutschen Einmarschs praktisch nicht mehr existiere.523 Der Einmarsch der Roten Armee in das Territorium des ehemaligen Polens sei lediglich eine Rettungsaktion zu Gunsten ihrer dort lebenden ukrainischen und belorussischen Blutsbrüder.524 Die deutschen Besatzer vertrieben unmittelbar nach Kriegsbeginn hunderttausende Polen, um Platz für Deutsche aus dem Baltikum oder Bessarabien zu schaffen. Stalins Armeen deportierten gleichfalls zwischen Oktober 1939 und Juni 1941 ebenso viele polnische Staatsanghörige. Davon wurden 150.000 in die Rote Armee gezwungen, 440.000 verschwanden in Straflagern oder Gefängnissen, bei anderen Zwangsarbeiten wurden 20.000 eingesetzt und die übrigen nach Sibirien oder Zentralasien verschleppt.525 Daraus stellt sich die Frage, wie diese Entwicklung bis hin zu einem grenzenlosen Agieren Hitlers und Stalins in einem internationalen Umfeld anderer Mittel- und Großmächte möglich war. 523 Taub, in Die Flucht, S. 133. Ebd. 525 Ebd. 524 208 Tulla in der DDR Tullas Ankunft in Schwerin nach ihrer Flucht spannt den Bogen vom NS-Regime zum SED-Regime, das erst 1989 mit dem Fall der Mauer sein Ende nahm. Der gebürtige Rostocker und ehemaliger Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Stasi, Joachim Gauck, beschreibt einen womöglich prägenden Aspekt einer „fortdauernden Entmündigung bei fortdauernden politischen Ohnmachtserfahrungen“526 für die Menschen in diesem Zeitrahmen: „Von 1933 bis 1989 lernten Menschen ein Leitmotiv zu verinnerlichen: `Beuge das Haupt, höre auf deine Angst, widersprich nicht und gehorche´.“527 Über drei Generationen hinweg habe sich so ein Gefühl internalisiert von „Es lohnt sich nicht, ich selbst zu sein.“528 Tulla gerät aus dieser bipolaren Situation (NS/SED) heraus immer wieder in Bedrängnis: „Zum Beispiel soll sie sich in ihrem Betriebskollektiv vor den versammelten Genossen `Stalins letzte Getreue´ genannt und mit nächstem Satz die klassenlose KdF-Gesellschaft zum Vorbild für jeden wahren Kommunisten hochgelobt haben.“ (40) Gleich dem Erzählrahmen über die NS-Zeit bleiben im Krebsgang auch im Hinblick auf die DDR die Formen und das Ausmaß von Repressionen unscharf: „Als Genossin durfte sie keine Westkontakte haben, bestimmt nicht mit ihrem republikflüchtigen Sohn, der in der kapitalistischen Kampfpresse (…) Artikel gegen den Mauer- und Stacheldrahtkommunismus schrieb, was ihr Schwierigkeiten genug gemacht hat.“ (21) Die Protagonisten werden somit explizit weder im NS-Regime noch im SED-Regime als Opfer ihrer Staatsform gezeichnet. Veranschaulicht wird die Dimensionen hinter Pauls Flucht für Tulla durch die Schilderung über das Schicksal von Gaucks Vater, der 1951 „abgeholt“ wurde: „Wir verwendeten denselben Begriff, wie andere ihn in der Zeit der Nazi-Herrschaft verwendet hatte. Abgeholt werden konnte man zu Stalins Zeiten mit oder ohne Grund, vornehmlich aber ohne Grund, weil die Zahl der Sklavenarbeiter, die man brauchte und der Feinde, die man aus neurotischen Gründen zu erkennen meinte, groß war.“529 526 Gauck, in Trauma und Gesellschaft, S. 17. Ebd. 528 Ebd., S. 25. 529 Ebd., S. 15. 527 209 Der Kontakt zu einem in den Westen geflüchteten DDR-Bürger erbrachte Gaucks Vater eine Verurteilung zu „zweimal 25 Jahren Zwangsarbeit (in Sibirien), einer damals eher milden Strafe. Viele Tausende erlebten ein ähnliches Schicksal.530 Die Anpassung der erwachsenen Tulla an das Leben in der Diktatur der DDR, als „SEDMitglied und ziemlich erfolgreiche Leiterin einer Tischlereibrigade“ (67) rückt durch Gaucks Schilderung in eine andere Perspektive: (…) die pure Anwesenheit des Faktischen (führte) dazu, selbst größte moralische Widerstände vieler Menschen zu überwinden. Viele hatten sich angewöhnt, in den Status einer begrenzten (…) unüberzeugten Minimal-Loyalität einzutreten. Es ist interessant, dass es quasi mit diesem Hilfsmittel der Minimal-Loyalität lang funktionieren kann, dass eine Mehrheit der Gesellschaft in einer relativ großen Distanz zum politischen System lebt.531 Die inneren Prozesse hinter dieser äußeren Anpassung in einer Diktatur folgen einer ohnmächtigen Suche nach Ordnung, motiviert von der Unmöglichkeit, den Staat zu ändern: „Es gab, und zwar nicht aus Gründen der Einsicht, sondern aus Gründen der Ohnmacht, eine Neigung zur Internalisierung dessen, was man – von außen betrachtet – eigentlich immer noch ablehnte.“532 Bei Tulla zeigt sich dieses Ordnungsdenken in den brennenden Kerzen und ihren Tränen an Stalins Todestag. In diesem Bild verschmelzen beide Diktaturen, die Tulla in sich trägt: die götzengleiche Verehrung eines „Führer“ sieht über die Inhalte hinweg und stellt das äußerlich sichtbare Glaubensbekenntnis, das nach innen dringt, in den Mittelpunkt. Der Glaube wird gestützt durch eine Idealisierung, die aus dem Ordnungsdenken erwächst: Faschismus als Antipode zum Kommunismus; Kommunismus als Antipode zum Kapitalismus. „Die DDR als antifaschistische Alternative zum kapitalistischen Ausbeutersystem, (…) war plötzlich gar nicht mehr so schlimm.“533 530 Ebd. Ebd., S. 17f. 532 Ebd. 533 Ebd., S. 18f. 531 210 Im zweiten Kapitel „Wiederholen“ wird neben der Weitergabe von Traumata auch herausgearbeitet, wie sich die Erfahrung aus dem Leben in Diktaturen über mehrere Generationen hinweg übertragen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Analyse unbewusste Denkstrukturen und Handlungen als Symptome „transgenerationeller Übertragung“, wie sie sich im Krebsgang darstellen. Zuvor jedoch muss zeitlich noch einmal zurückgegangen werden in die Epoche zwischen 1933-45, um in einem gesonderten Abschnitt zwei historische „Phänomene“ aufzugreifen, die als das eigentlich „Unerklärliche“ der nationalsozialistischen Zeit in Deutschland in die Geschichte eingegangen sind: Antisemitismus und Holocaust. 211 Abschnitt „Antisemitismus“ 212 Vorbemerkung In diesem Abschnitt gilt es aufzuzeigen, wie im Krebsgang der Weg von den Ursprüngen der christlichen Judenfeindlichkeit bis in einen „latenten Antisemitismus“534 in der Gegenwart reflektiert ist. Als wichtige Etappen werden dabei die Ursprünge des modernen, rassenideologisch geprägten Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die radikalisierenden Tendenzen nach dem Ersten Weltkrieg und nicht zuletzt Hitlers obsessiver Antisemitismus näher untersucht. Bei der Betrachtung des Antisemitismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem Zeitraum, in dem die Novelle ihren Anfang nimmt, rücken für den Erkenntnisgewinn insbesondere zwei Fragestellungen in den Vordergrund. Erstens: wie die latente Judenfeindlichkeit in Deutschland und Europa in einen gewaltbereiten Antisemitismus mutieren konnte. Zweitens: ob der Antisemitismus auslösendes Moment für den Holocaust war oder nur einer der Wegbereiter in die Katastrophe.535 Hierüber besteht bis heute Uneinigkeit unter Historikern. Ian Kershaw, `German Popular Opinion and the „Jewish Question”, 1939-1943: Some further Reflections´, in Michael Marrus, (Hg.), The Nazi Holocaust. Historical Articles on the Destruction of European Jews, Bd., 5/1, London, 1989, S. 201. 535 vgl. Burrin, S. 8f. 534 213 Die Verteilung von Antisemitismus im Schweizer Gefängnis In Frankfurters Haftanstalt Sennhof entspricht „der Anteil von Antisemiten“ (81) in etwa dem, „was sich außerhalb der Mauern erkennen ließ: ein, die gesamte Eidgenossenschaft betreffend, ausgewogenes Verhältnis.“ (ebd.). Im Kontext der „Verteilung von Antisemitismus“ birgt der Begriff „Eidgenossenschaft“ zwei Assoziationen. Die erste Bedeutung ergibt sich aus der Mehrsprachigkeit der Eidgenossenschaft: „Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.“536 Drei dieser Sprachen stehen für die größten kontinentaleuropäischen Staaten Deutschland, Frankreich und Italien und verweisen damit auf die zentraleuropäische „Verteilung des Antisemitismus“. Dieser Aspekt wird im nachfolgenden Abschnitt betrachtet. An dieser Stelle soll das Hauptaugenmerk auf der zweiten Assoziation liegen, die sich aus dem Begriff der „Eidgenossenschaft“ ergibt. Während dieser Begriff im Hinblick auf die Schweiz deren förderale Struktur bezeichnet, ist eine „Genossenschaft“ im allgemeinen Sinne eine auf einen gemeinsamen Zweck ausgerichtete Gruppe. Konzeptionell entspricht dieses dem Kern der „Volksgemeinschaft“ als ein Kernpfeiler im nationalsozialistischen System zur Umsetzung der Ideologie im „Dritten Reich“. Die Assoziation der „Volksgemeinschaft“ richtet den Blick auf die „Verteilung des Antisemitismus“ in der deutschen Bevölkerung nach 1933. In einer Rede im Sommer 1925 erklärt Hitler: „Der Wert des Menschen (…) und sein Wert für die Volksgemeinschaft werden nur ausschließlich bestimmt durch die Form, in der er der ihm zugewiesenen Arbeit nachkommt.“537 Frei erläutert dazu: In seinem oft wiederholten Bekenntnis zu diesem Konstrukt völkischer Ideologie trafen rassenbiologische Vorstellungen, Antisemitismus und `Lebensraum´ - Idee zusammen: Nur als eine homogene und willensstarke, von allen inneren Auseinandersetzungen und Schwächen befreite `Volksgemeinschaft´, so Hitler´s These, werde Deutschland schließlich in der Lage sein, sich seiner äußeren Feinde zu erwehren und den erforderlichen `Lebensraum´ zu erobern.538 536 Anmerkung: seit 1999 im Artikel 4 der Schweizerischen Bundesverfassung verankert. Hitler, Reden I, S. 96f (12.6.1925) zitiert in: Frei, 1945 und Wir, S. 111. 538 Frei, ebd. 537 214 Hieran knüpft sich die Frage nach der Rezeption der antisemitischen Ideologie in der Bevölkerung. Ian Kershaw kommt nach einer Untersuchung der antisemitischen Kampagne des Jahres 1935, des Pogroms vom November 1938 und der Phase der Deportation und Massenmorde – zu der Schlussfolgerung, dass die Verfolgung der Juden ein breites Spektrum von Reaktionen hervorgerufen habe. Die Masse der Bevölkerung, geprägt durch antisemitische Vorurteile und mehr oder weniger beeinflusst von der NS-Propaganda, habe gesetzliche Beschränkungen für Juden befürwortet, Gewaltexzesse jedoch abgelehnt. Paranoide Judenhasser seien ebenso in der Minderheit gewesen wie diejenigen, die aus christlichen oder liberal-humanitären Motiven den nationalsozialistischen Rassismus abgelehnt hätten.539 Kershaws Schlussfolgerung zum Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung Mitte bis Ende der dreißiger Jahre – dem Zeitpunkt der Inhaftierung Frankfurters - lautet: „Das Hauptziel der NS-Propaganda, die Bevölkerung zu leidenschaftlichem Hass gegen Juden aufzustacheln, (ist) fehlgeschlagen.“540 Diese Diagnose spiegelt sich in der Ambivalenz wider, mit der man Frankfurter in der Haftanstalt gegenübertritt, „welcher Makel dem Juden Frankfurter anhing, welches Ansehen er zeitweise genoß.“ (81) Das Resümee Kershaws und Grass´ Verortung des Antisemitismus als „gleichverteilt“ stehen der These vom „eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen“ entgegen, mit der vor allem Daniel Goldhagen541 gearbeitet hat. Dem amerikanischen Historiker zufolge hat „Deutschland die `Eliminierung der Juden´ zu einem `nationalen Projekt´ gemacht“.542 Goldhagen setzt damit eine besonders gefährliche Form des Antisemitismus in der deutschen Nationalkultur voraus.543 Da diese These „auf einer sehr extensiven Interpretation des Schweigens (beruht), das in den Quellen zur Reaktion auf den Holocaust vorherrscht“, erachtet Peter Longerich Goldhagens Annahme als „weitgehend spekulativ“.544 Mit Blick auf die schwierige Beweisführung 539 Kershaw zitiert in: Frei (aktueller Forschungsstand), ebd., S. 11. Ebd. 541 vgl. Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Berlin, 1998. 542 Burrin, S. 9. 543 Ebd. 544 Longerich, S. 14. 540 215 dafür, „dass die Feindseligkeit gegenüber den Juden in Europa oder selbst in Deutschland vor der Katastrophe ein außergewöhnliches Ausmaß erreicht hatte“545, erachtet auch Burrin Goldhagens Theorie inzwischen als weitgehend isoliert.546 Ein weiteres Indiz gegen die Annahme eines „eliminatorischen Antisemitismus“ mag sich in einem Aspekt der Denunziationen während der NS-Zeit finden lassen. For the most important point to note about the prosecutions for `racial defilement´ is how most of them originated - not as the result of Gestapo investigations, but as the result of denunciations by members of the public. (…) Does this confirm the thesis that most ordinary Germans were anti-Semites? No. At most, denouncers amounted to just 2 per cent of the population. What it does suggest is that anti-Semitic legislation was a powerful weapon in the hands of a minority of Germans: (…) the lawyers (…) and the Gestapo.547 In indirekter Weise bestätigt die Figur Hedwig Gustloff, die Ehefrau Wilhelms, Fergusons Schlussfolgerung. Sie arbeitet in der neutralen Schweiz „bei einem Rechtsanwalt Moses Silberroth“ (9f), „ohne sich ihrer völkischen Gesinnung wegen überwinden zu müssen.“ (ebd.) Bezüglich der Wirkung der antisemitischen NS-Politik unterscheidet Ian Kershaw zwischen der Bevölkerung und den regimenahen Kreisen. Innerhalb der NS-Bewegung habe der Antisemitismus mit Sicherheit integrierend gewirkt, für die Beziehung zwischen Volk und Regierung gelte dies jedoch nicht. Hier sei in erster Linie die Attraktivität der vom Regime propagierten Vorstellung einer scheinbar sicheren sozialen, politischen und moralischen Ordnung, die sich im Begriff der „Volksgemeinschaft“ subsummierte – ausschlaggebend gewesen.548 Der Antisemitismus als verbindendes Element innerhalb der NS-Bewegung spiegelt sich in der Figur Wilhelm Gustloff. Obwohl dessen Vorbild Gregor Strasser als Hitlers Hauptgegenspieler von Nazischergen ermordet worden ist und Gustloff „kein Bild“ des Mentors aufstellt (27) steht er in der „Judenfrage“ seiner Partei nahe. Gleichfalls 545 Burrin, S. 10. Ebd. 547 Ferguson, S. 261f. 548 Kershaw zitiert in: Longerich (aktueller Forschungsstand), S. 12. 546 216 erachtet er diese als „unaufschiebbar“ (27). Die Begeisterung für die Konzeption der „Volksgemeinschaft“ und das daraus erwachsende Gefühl von Sicherheit, sind im Krebsgang vor allem in den Figuren August und Erna Pokriefke aufgegriffen (vgl. Abschnitt: „Nationalsozialismus“). Aus seiner Untersuchung leitet Kershaw ab, dass „die permanente Radikalisierung der antijüdischen Politik (…) daher kaum das Ergebnis populärer Forderungen gewesen sein“ können549. In der `Judenfrage´ habe das Regime nicht mit einem plebiszitären Mandat, sondern zunehmend autonom gehandelt. Die Geheimhaltung der `Endlösung´ sei der wichtigste Beleg dafür, dass das Regime sich darüber auch im Klaren war.550 Die mangelnde Unterstützung für den radikalen Antisemitismus durch die Bevölkerung spiegelt sich im Krebsgang indirekt: das Opfer von Tullas Denunziation ist Studienrat Oswald Brunies. Als Beamter ist er qua Status Teil des nationalsozialistischen Systems, das ihm zum Verhängnis wird: im Konzentrationslager Stutthof verliert er sein Leben. (211) Der „Jude Itzig“, Eduard Amsel551 hingegen wird „nur“ vom Hof gejagt (106)552. Man entledigt sich seiner Präsenz. Dieses Unsichtbarmachen entspricht den tatsächlichen Reaktionen in weiten Teilen der Bevölkerung. Der Verdrängungsmechanismus reichte bis in die osteuropäischen Konzentrationslager, da „weite Kreise der deutschen Bevölkerung, darunter Juden ebenso wie Nichtjuden, entweder gewusst oder geahnt haben“, was in Polen und Russland geschah.553 Doch blieben Wissen und Ahnungen über den industriellen Genozid nicht zuletzt aufgrund einer Mischung aus relativ geringfügigen Informationen und wohl auch unzureichender Vorstellungskraft schemenhaft: 549 Ebd. Ebd. 551 Anmerkung: Für den reichen Vater wird das Synonym „der Jud Amsel“ verwendet, Eduard wird jedoch nach dessen Tod 1917 katholisch getauft. – vgl. Bernhardt, S. 70 und Hundejahre, S. 33ff. 552 Grass, Hundejahre, S. 216. 553 David Bankier zitiert in: Longerich (aktueller Forschungsstand), S. 15. 550 217 Die diffusen Wechselströme von Ahnung und Verdrängung äußert sich in Tullas Beobachtung des „Knochenbergs“ (100): „Schließlich, sagt er, sei es die halbwüchsige Tulla gewesen, die in Kriegszeiten und also inmitten willentlich Blinder abseits der Flakbatterie Kaiserhafen eine weißlich gehäufte Masse als menschliches Gebein erkannt, laut den Knochenberg genannt habe: `Das issen Knochenberj!“ (100). Tulla ist unfähig oder unwillig, ihre Beobachtung mit dem nahe Danzig gelegenen KZStutthof in Verbindung zu bringen und hält sich an einer abstrakten Beschreibung fest, die das „menschliche“ des Knochenbergs nicht explizit zu denken wagt. Die vollkommene Verdrängung zeigt sich in Studienrat Brunies: anstatt Deutsch und Geschichte zu unterrichten „immigriert“ er in die „tote“ Gesteinswissenschaft.554 Tullas Verdrängung und die innere Immigration Brunies´ waren typische Reaktionen in der Gruppe der Mitläufer: „Um sein Gewissen zu beschwichtigen, habe man Informationen zu verdrängen versucht, um Schuldgefühle nicht aufkommen zu lassen, habe man die `Flucht ins Private und ins Nichtwissen´ ergriffen.“555 Neben dem Verdrängen motiviert aus Ignoranz, Indifferenz oder Schuldgefühlen verweist der israelische Antisemitismusforscher David Bankier auf eine entscheidende, bereits erwähnte, Barriere für die Wahrnehmung: Wegen der monströsen und beispiellosen Dimension des Verbrechens hätten selbst Gegner des Regimes vorhandene Informationen kaum zu einem Gesamtbild zusammensetzen können.556 Auf Seiten der Opfer des Antisemitismus ist die aus diffusem Wissen und Ahnen erwachsene Angst in der Reaktion Frankfurters beschrieben: „Überdies wuchs sich seine (Frankfurters) Berliner Kurzvisite bedrückend aus, sobald er in in- und ausländischen Zeitungen Berichte über Konzentrationslager in Oranienburg, Dachau und anderenorts las. So muss gegen Ende fünfunddreißig der Gedanke an Selbstmord aufgekommen sein und sich wiederholt haben.“ (17) Diese Sequenz verweist auf die Anfänge der NS-Antisemitismuspolitik, die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935, in denen nach „Ariern“ und „Nichtariern“ gesetzlich unterschieden worden war. 554 Grass, Hundejahre, S. 701. Bankier zitiert in: Longerich (dto.), S. 16. 556 Ebd. 555 218 Auf den „latenten Antisemitismus“, der Kershaw zufolge unzweifelhaft innerhalb der deutschen Bevölkerung existierte (s.o.), verweist Tullas abwertende Bezeichnung „Itzig“ für Anselm. Der Begriff „Itzig“ wird seit der Mitte des 19. Jahrhunderts umgangssprachlich abwertend für Juden gebraucht.557 Der „latente Antisemitismus“ ist zusammen mit dem „Fehlen einer in der Gesellschaft verankerten, organisierten Abwehr des Antisemitismus vor 1933 dafür verantwortlich (gewesen), dass die antisemitische Politik des Regimes sich auf eine fast unaufhaltsame Weise radikalisieren konnte.“558 „Latenter Antisemitismus“ und die fehlende institutionalisierte Abwehr gegenüber Judenfeindlichkeit reflektieren sich im Krebsgang in der Figur des misshandelten Onkels von Frankfurter. Anstelle seines rechtsradikalen Täters (16f) wird der Onkel von der Berliner Polizei „verhört“. (17) In dieser Sequenz tritt eine Zielgruppe zutage, die sich als besonders anfällig für die radikalisierte NS-Antisemitismuspolitik erwies. Die fehlende Popularität dieser Politik in der breiten Bevölkerung kann als ein Indiz für die Konzentration der Radikalisierung auf bestimmte Gruppen gewertet werden. Verschiedene Historiker „haben darauf aufmerksam gemacht, dass der Gewalttaten verübende nationalsozialistische Mob einen erheblichen Teil der männlichen Bevölkerung repräsentierte und dass insbesondere Jugendliche dazu neigten, sich an solchen von Parteiaktivisten organisierten Gewalttaten zu beteiligen beziehungsweise ihnen offen zuzustimmen.“559 In der Hauptstadt des „Reiches“ wird der Onkel „von einem jungen Mann, der laut `Jude, hepp, hepp´ schrie, am rötlichen Bart gezerrt“ (16). Auch sind es im Krebsgang ausschließlich „Studenten, die sich lauthals der arischen Rasse zuzählten“ (16). Dieser Vorfall am Beginn der Novelle ist auf das Jahr 1935 datiert (17) und spiegelt die 557 Bernhardt, S. 82. Kershaw zitiert in: Longerich, (dto.) S. 14. 559 Longerich, S. 19. 558 219 „zweite Welle jugendlicher Übergriffe und Ausschreitungen“, die die antisemitische Anhängerschaft der NSDAP in diesem Jahr in Gang gesetzt hatte.560 Eingeleitet wurden die Ausschreitungen durch antisemitische Klischees, die sich die NS-Propaganda zum Inhalt machte: Die Hintergründe für die neue (Anm. d. Autorin: zweite) Welle sind komplex. (…) Ganz allgemein handelte es sich um den Versuch, zwei Jahre nach der Machtergreifung die weit verbreitete Unzufriedenheit und Apathie in der Bevölkerung aufzufangen und die offenkundigen Mißstände, die in breiten Kreisen der Bevölkerung empfunden und artikuliert wurden, auf das Wirken von inneren Störenfrieden und Feinden zurückzuführen. Die nach wie vor miserable wirtschaftliche Lage sollte dem negativen Einfluss der Juden in der Wirtschaft zugeschrieben werden.561 Entsprechend schreibt der „Parteigenosse Diewerge“ im Krebsgang über den „Juden Frankfurter“, dieser „sei nicht nur ein schwächlicher, sondern ein dem Rabbi-Vater auf der Tasche liegender, so fauler wie verbummelter Student gewesen, ein stutzerhaft gekleideter Nichtsnutz“ (16). Um die 1940er Jahre trat eine Komponente hinzu, die im Krebsgang in der Figur von Tullas Cousin Harry Liebenau aufgegriffen wird, der „an einer der vielen rückläufigen Fronten kämpft“ (108) und in Tullas älteren Brüdern, die beide gefallen waren (77). Die Historiker Hans Mommsen und Dieter Obst sind überzeugt, dass die Bevölkerung seit Beginn der 1940er Jahre „von der Bewältigung der immer stärker den individuellen Lebensbereich erfassenden Kriegseinwirkungen weitgehend absorbiert war.“562 Auch Marlis Steinert führt die Gleichgültigkeit gegenüber jüdischen Schicksalen von den frühen vierziger Jahren an unter anderem auf die Tatsache zurück, „dass nur noch wenige Deutsche direkte Kontakte zu Juden hatten; man war in erster Linie mit den eigenen Problemen angesichts des Krieges beschäftigt.“563 560 Ebd. S. 75. Anmerkung: Die ersten Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte fanden im Zeitraum zwischen dem Weihnachtsgeschäft 1934 und Februar 1935 statt. 561 Longerich, S. 76. 562 Vgl. H. Mommsen; D. Obst, `Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 19331943´, S. 374-485 in H. Mommsen; S. Willems, (Hg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich, Düsseldorf, 1988. 563 Marlies Steinert zitiert in: Longerich, S. 10. 220 Diese wenigen Berührungspunkte zwischen Nichtjuden und Juden spiegeln sich im Krebsgang: ein großer Teil der Novelle spielt zur Zeit des Nationalsozialismus, dessen Kernpfeiler der Antisemitismus war. Neben David Frankfurter und dessen Onkel gibt es jedoch kein weiteres jüdisches Figurenensemble. Der „Itzig“ spielt keine aktive Rolle, sondern erscheint lediglich in Tullas Erinnerung in der Tischlerei. (109) Die Figur selbst bleibt im Verborgenen. Außer dem Mord Frankfurters an Gustloff und den Repressalien Jugendlicher gegenüber dem Onkel – beide Ereignisse fallen in die Zeit vor dem Krieg - gibt es keine Kontakte zwischen Juden und Nicht-Juden. Zum Zeitpunkt des Mordes an Gustloff ist Tulla acht Jahre alt und trauert um ihren ertrunkenen Bruder Konrad. (24) Von einem „Mord und dem Mörder“ (29) Frankfurter hat sie nie etwas gehört, „nur Märchenhaftes über ein Schiff.“ (ebd.) 221 Der Antisemitismus als europäisch verteiltes Phänomen Wie eingangs dargestellt, deutet „der Anteil von Antisemiten“ (81), der in der „gesamte(n) Eidgenossenschaft“ ein „ausgewogenes Verhältnis“ (ebd.) aufweist, über die Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch auf die Verteilung des Antisemitismus in Zentraleuropa hin. Verstärkt wird diese Lesart des Antisemitismus als europäisch „verteiltes“ Phänomen in der Beschreibung Berns – der Hauptstadt der neutralen Schweiz - als „vermeintlich sichere(r) Ort“ (16), an dem Frankfurter antisemitischen Repressalien zu entkommen versucht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts grassierte der Antisemitismus in ganz Europa.564 Unterschiede zeigten sich lediglich in seiner Präsenz im öffentlichen Raum, die nach Burrin vor allem auf den Grad der Modernisierung und die Art der politischen Kultur zurück zu führen waren.565 In Ländern mit liberalem Regime und einer kommerziellen Kultur wie England und Holland war die Situation der Juden am besten. Schematisch gesehen am schlechtesten gestaltete sich das Leben der Juden dagegen in autoritären Staaten klerikaler Ausrichtung mit einer monarchistischen, von Großgrundbesitzern geprägten Kultur wie Rumänien und Russland. Dort kam es häufig zu Pogromen, eine Emanzipation der Juden war nicht vorhanden.566 Letzteres reflektiert sich in der Figur Marineskos, der in Odessa aufwächst - dem Ort, an dem die ersten russischen Pogrome stattfinden (1821, 1849, 1859, 1871)567. Marineskos jüdische Identität ist nur schemenhaft; seine multikulturelle Herkunft erhebt das Bild des heimatlosen und vertriebenen Juden. Die Heimatlosigkeit findet sich in der Sprache wieder. Er spricht „ein Mischmasch aus vielerlei Sprachen“, das von „jiddischen Einschiebseln“ „durchsuppt“ ist (13). Durch Vater Marinesko, einen im rumänischen Heimatland zum Tode Verurteilten, wendet sich der Blick gleichfalls auf die Kategorie „autoritäre Staaten“ in Europa. 564 Burrin, S. 40. H. Mommsen; D. Obst, `Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933-1943´, in H. Mommsen; S. Willems, (Hg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich, Düsseldorf, 1988, S. 374-485. 566 Ebd. 567 vgl. Ferguson S. 60. 565 222 Niall Ferguson verweist auf die Unterstützung, die die Nationalsozialisten als “Architekten” des Holocaust in vielen europäischen Ländern fanden: In short, while the `final solution´ was unmistakeably German in design, it is impossible to overlook the enthusiasm with which many other European peoples joined the killing. (…) Collaborators could be found not only in countries that allied themselves with Germany – Italy, Romania, Hungary and Bulgaria – but also in Norway, Denmark, Holland, Belgium, France, Yugoslavia, Greece and the Soviet Union, countries the Germans invaded and occupied.568 Die Motive für diese Kollaboration lagen nicht ausschließlich in der Angst vor den Besatzern: “Some were undoubtedly motivated by a hatred of the Jews as violent as that felt by the Nazi leadership. Others were actuated by envy or base greed (…) Selfpreservation also played its part.“569 Die eingangs formulierte Frage, ob der gewaltbereite Antisemitismus in Deutschland und Europa ursächlich für den Holocaust war, schließt sich an dieser Stelle an. Historiker versuchen sich dieser Fragestellung durch einen Blick zurück in die Geschichte des Antisemitismus zu nähern. 568 569 Ferguson, S. 454f. Ebd., S. 455. 223 Die Geschichte vom feindlichen zum gewaltbereiten Antisemitismus im Krebsgang Die Frage nach der Bedeutung des Antisemitismus für den Holocaust rückt zwei unterschiedliche Kategorien in den Blickpunkt: zum einen jene allgemeiner bzw. langfristiger Natur und zum anderen jene, die in den unmittelbaren Kontext des NSRegimes gehört. Burrin ordnet zu den langfristigen Faktoren die christliche Judenfeindlichkeit und die Epoche der Moderne bzw. deren zerstörerisches Potential.570 Im Krebsgang finden sich Bezüge zur Geschichte des Antisemitismus vorwiegend auf einer subtextualen Ebene. Der Antisemitismus wurde durch die Jahrhunderte aus einem Wechselspiel aus religiöser Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, sozialen und wirtschaftlichen Spannungen gespeist.571 Entsprechend lange instrumentalisierten elitäre Institutionen, Volk und Kirche diese Phänomene für eigene Zielsetzungen. Im ersten Jahrtausend, dessen allgemeinen kulturellen Rahmen das Christentum bildete, gab es zwar Spannungen zwischen den beiden Gruppierungen Christen und Juden, doch wurde das Verhältnis „nicht von Gewalt bestimmt“572. Burrin vergleicht die Auseinandersetzungen mit jenen, die man „in der Beziehung zwischen verwandten Sekten und Religionen antrifft“573. Erst mit der wachsenden Kommerzialisierung der Wirtschaft im 12. Jahrhundert, in der Juden eine exponierte Stellung im Waren- und Geldverkehr einnahmen, entwickelte sich in Nordeuropa „eine Judenfeindlichkeit, die stärker von Gewalt geprägt war und eine neue, im engeren Sinne phantasierte Dimension aufwies, wie sie in den Anschuldigungen des Ritualmords, der Hostienschändung oder der Brunnenvergiftung zum Ausdruck kam.“574 Im Krebsgang ist das Motiv des Ritualmords aufgegriffen: Frankfurter „opfert“ Gustloff, um auf diese Weise „sein Volk zum Widerstand aufzurufen“ (28). In alttestamentarischen Bezügen reflektiert sich gleichfalls der Ritualmord als das 570 Burrin, S. 27. Ebd. 572 Ebd. 573 Ebd. 574 Ebd. 571 224 vermeintliche „Motiv“ Frankfurters: dieser wird zum „Helden von biblischem Zuschnitt“ (ebd.) im „Kampf David gegen Goliath“ (ebd.). Auch das Motiv der Brunnenvergiftung findet sich indirekt in der Novelle. Vor Kriegsbeginn hat jemand den Hund vergiftet, in dessen Hütte Tulla nach dem Tod ihres Bruders eine Woche lebt (66): „`ain Kumpel von dem Itzich“ (108). Die Formulierung „Hofhund“ (ebd.) deutet auf den Wachhund einer Stätte, an der Ware produziert und Umsatz erzielt wird. Die von Burrin umrissenen Anfänge des gewalttätigen Antisemitismus, der mit der Kommerzialisierung im 12. Jahrhundert einsetzt (vgl. oben), werden hier assoziiert. Die Tat der Vergiftung des Hofhundes assoziiert das Bild der von Juden „vergifteten Brunnen“ als Bestandteil eines Hofes. Diesen beiden Urklischees „Ritualmord“ und „Brunnenvergiftung“ aus den Anfängen der gewaltbereiten Judenfeindlichkeit werden zwei der Leitklischees aus dem so genannten „modernen Antisemitismus“575 gegenüber gestellt. Burrin umschreibt die prägenden Vorurteile dieser Form der Judenfeindlichkeit mit: „der Jude, der den `jüdischen Krieg´ anzettelt, um daraus Profit zu schlagen oder die nichtjüdischen Nationen, die sich ihm widersetzen, gegeneinander zu hetzen.“576 Entsprechende Aussagen finden sich auf Konnys Homepage: „Ohne den Juden wäre es (…) nie zur größten Schiffskatastrophe aller Zeiten gekommen. Der Jude hat….Der Jude ist schuld.“ (14) Auch die „Frage nach den Hintermännern“ (35) des jüdischen „Meuchelmörder(s)“ Frankfurter wird gestellt: „Auftraggeber `der feigen Mordtat´ sei das organisierte Weltjudentum“ (ebd.). Ergänzt wird das Klischee des „Profitierens“ durch die Beschreibung Frankfurters als „ein dem Rabbi-Vater auf der Tasche liegender, so fauler wie verbummelter Student“. (16) In Europa tritt der moderne Antisemitismus auf, nachdem sich die christlich geprägte Stigmatisierung der Juden im 17./18. Jahrhundert unter dem Einfluss der Aufklärung, „die die Autorität der Kirche in Frage stellte und im Namen der Vernunft gegen Vorurteile kämpfte“, zunächst verbessert hatte.577 Allerdings erfolgt die rechtliche 575 Ebd., S. 30. Ebd., S. 36. 577 Ebd., S. 29. 576 225 Gleichstellung der Juden genau zu dem Zeitpunkt, als West- und Mitteleuropa von Industrialisierung, Verstädterung, Massenpolitik und Nationalismus erschüttert wurden.578 Aus verschiedenen Gründen gehörten die Juden zu den ersten, die von der wirtschaftlichen Modernisierung profitierten: berufliche Spezialisierung, hoher Alphabetisierungsgrad, städtische Standorte, typische Verbindungen innerhalb ethnischer Minderheiten.579 Der verbesserte Status vieler Juden spiegelt sich in der Berufswahl Frankfurters. Er studiert Medizin, und auch sein Vater und sein Großvater haben studiert. (16) Unter den von der Modernisierung nachteilig betroffenen Schichten bildet sich die Vorstellung, die Juden seien die treibende Kraft hinter den laufenden Veränderungen.580 Allgegenwart, Zusammenhalt und Fremdheit der Juden sowie das Bild einer geheimen, verschwörerischen Macht – die neuen Verhältnisse in der Welt, mit der Undurchsichtigkeit und Instabilität, die ein rascher Wandel mit sich bringt, und insbesondere mit der Aufweichung der überkommenen Grenzen zwischen den Konfessionen, den sozialen Schichten oder den Geschlechtern, gaben dem judenfeindlichen Wahn beträchtliche Nahrung.581 Ausschlaggebend für diesen Wahn war die mit der Modernisierung einhergehende Neuorientierung der Identität. Der Antisemitismus wurde zu einem Motiv mit Ersatzfunktion im Rahmen einer Identität, die sich den Herausforderungen einer Welt zu stellen versuchte, in der die alten Fundamente der christlichen Gesellschaft von der heraufziehenden Moderne erschüttert wurden.582 Die durch Umbrüche ausgelöste Identitätsfrage speiste sich aus dem Bedürfnis nach Selbstbehauptung und der diffusen Angst vor Neuen. Die Legende vom Mord an dem „reinrassigen“ Schäferhund durch den „Kumpel vom Itzich“ (108) im Krebsgang symbolisiert diese wahnhafte Angst. Die Mechanismen der Identität werden mit Blick auf Mehrheitsgesellschaften deutlich: 578 Ebd. Vgl. ebd., S. 31. 580 Vgl. ebd., S. 32. 581 Ebd., S. 33. 582 Ebd., S. 34. 579 226 Wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ist auch der Antisemitismus eine Waffe im Kampf um Identität. Über solche Konstruktionen bringt die Mehrheitsgesellschaft, die in der Regel einen Teil der betreffenden Gesellschaft darstellt, ihre Ängste und Spannungen zum Ausdruck und versucht, die Zweifel an der eigenen Identität zu überwinden.583 Die positive eigene Identität setzt somit die negative fremde Identität voraus. Im Krebsgang spiegeln sich diese beiden Seiten des Identitätsaspekts in der abwertenden Bezeichnung „Itzich“ (108), der vom Hof gejagt wird. Auf der Gegenwartsebene zeigt sich die Negativinterpretation fremder Identität in der „Freizeitbeschäftigung“ rechtsradikaler Jugendlicher: „Negerklatschen“. (82) Für Deutschland diagnostiziert Burrin aus dem modernen Antisemitismus eine Besonderheit, die er als spezifisch für den nationalsozialistischen Antisemitismus erachtet. Im Gegensatz zu Kershaw sieht Burrin integrative bzw. identitätsstiftende Elemente im Antisemitismus für sämtliche Bevölkerungsgruppen. Die integrativen Elemente führt Burrin vor allem auf den rassistischen Antisemitismus zurück, der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte und sich Begriffe aneignete, die zu dieser Zeit wissenschaftlich anmuteten. Diese „Rassenlehre“ wurde populär durch die „neue Welle des europäischen Kolonialimperialismus und die Ausbreitung des Sozialdarwinismus.“584 Allerdings hielt das Konzept der “Rassenlehre” in Deutschland erst relativ spät Einzug: Because they came so much later to (be an) overseas empire, Germans adopted `scientific´ racism at a relatively late date. There was no German translation of Gobineau (…) until 1898. (…) they were more likely to apply imported theories of Social Darwinism and `racial hygiene´ to Jews – the nearest identifiable `alien´ race – than to Africans or Asians.585 In der Novelle findet sich der Aspekt der „Rasse“ in der nationalsozialistischen Ideologie im „Zuchtrüden“ Harras, der im Zwinger der Schutzpolizei eine Hündin deckt, „aus deren Wurf des Führers Lieblingshund Prinz“ (65) hervorgeht. Eine 583 Ebd., S. 23. Ebd., S. 35. 585 Ferguson, S. 26. 584 227 Verbindung zwischen der „reinen Rasse“ und dem „formbaren Menschen“ entsteht, indem es immer „wenn es um den Hund ging“ auch um das formbare „Kind Tulla“ geht. (66) Lediglich in Deutschland führten die „Rassetheorien“ des 19. Jahrhunderts in eine neu erfundene Identität - „die des Ariers, des Germanen oder des nordischen Menschen.“586 Im Krebsgang wird das Zusammenspiel aus der „höheren arischen Rasse“ und dem Kolonialismus impliziert durch die gleichzeitige Nennung des „Konzentrationslager(s) Buchenwald“ (41) und „der deutschen Kolonie im brasilianischen Curitiba“ (ebd.). Die nordischen Länder Norwegen und Schweden als Destinationsort der Gustloff (78) verweisen auf das Ziel einer homogenen „Volksgemeinschaft“, bestehend aus „germanischen Ariern“. (vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“) In seiner 1946 veröffentlichten Schrift Die Massenpsychologie des Faschismus betrachtet auch der (kommunistische) Soziologe Wilhelm Reich den „rassischen“ Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland als eine besondere Entwicklung aus den sozialdarwinistischen Ideen des 19. Jahrhunderts: Die theoretische Achse des deutschen Faschismus ist seine Rassentheorie. Das Wirtschaftsprogramm der sog. 25 Punkte erscheint in der faschistischen Ideologie nur als ein Mittel zur `Höherzüchtung der germanischen Rasse und ihres Schutzes vor Rassenvermischung´, die nach Ansicht der Nationalsozialisten immer den Niedergang der `höheren Rasse´ bedeutet. Die `Reinhaltung der Rasse und des Blutes´ wäre daher die vornehmste Aufgabe einer Nation, zu deren Erfüllung man jedes Opfer bringen müsste. Diese Theorie wurde in Deutschland und in den besetzten Gebieten in Form der Judenverfolgung mit allen Mitteln in die Praxis umgesetzt. Die Rassentheorie geht von der Voraussetzung aus, dass als `ehernes Gesetz´ in der Natur die ausschließliche Paarung jedes Tieres mit seiner eigenen Art gelte. (…) Bei jeder Kreuzung zweier Lebewesen verschiedener `Höhe´ müsse die Nachkommenschaft ein Mittelding darstellen. Die Natur erstrebe aber eine Höherzüchtung des Lebens, daher widerspreche die Bastardierung dem Willen der Natur. Die Auslese der höheren Art erfolge auch im Kampf ums tägliche Brot, bei dem die schwächeren, also rassisch weniger wertigen Wesen untergehen. (…) Dieses Gesetz lasse sich auf Völkerschaften übertragen (…).587 586 587 Burrin, S. 39. Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, Wiesbaden, 2005, S. 85. 228 Im Krebsgang reflektiert sich die „Anschauung“ der „ordnenden Natur“ in der Beschreibung des Juden Frankfurters als „kränkelnd“ (35) und „schwächlich“ (16). Er fällt durch die Prüfungen seines Studiums, ist „faul“ und liegt „dem Rabbi-Vater auf der Tasche“ (ebd.) Der Nationalsozialist Gustloff hingegen kann von seiner Krankheit genesen (27). Die eugenisch-darwinistischen Ideen als Basis des rassistischen Antisemitismus geistern im Krebsgang auch in der zweiten Generation. Wiederholt macht Mutter Gabi die „Gene“ für die Verfehlungen Konnys verantwortlich (67). Ihre Folgerung daraus lautet: „Inzwischen bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß tief in ihm, und zwar bis in die letzten Gedanken hinein, alles gründlich verdorben ist. (…) Da wird sich nichts ändern lassen.“ (213). Indem sich die Pädagogin Gabi gegen jegliche Verharmlosung der braunen „Pseudo-Ideologie“ (184) ausspricht und „linke Positionen“ (ebd.) vertritt, offenbart ihre unreflektierte Aussage über die „Gene“ wie Strukturen prägend wirken, die dem Sprecher meist nicht bewusst sind. Werden diese Strukturen nicht offengelegt, besteht die Gefahr, dass sie unreflektiert von Mensch zu Mensch und von Generation zu Generation weitergereicht werden.588 Mit Blick auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Holocaust erachtet Burrin weder die Überreste christlicher Judenfeindlichkeit, noch die Einflüsse eugenisch-darwinistischer Ideen oder den Aspekt der Identität als Ursache für die extreme Gewalt und den Hass gegenüber Juden. „Die Deutschen erwiesen sich nach 1933 nicht plötzlich als Judenfeinde, die sie insgeheim alle seit langem schon gewesen wären.“589 Vielmehr sieht Burrin den Auslöser des extremen Antisemitismus in Deutschland in einer bestimmten Art von Vorstellungswelten bzw. in einer wahnhaften Interpretation der Realität: Aber der Hass muss sich in Vorstellungen niederschlagen, wenn er Wirkung und Bestand haben soll. Er muss Motive und Rationalisierungen besitzen, wenn daraus Handlungen werden sollen. Diese Vorstellungen gilt es zu erfassen, und 588 589 Vgl. Hannes Fricke, S. 165. Burrin, S. 15. 229 man muss versuchen zu verstehen, über welche Mechanismen die deutsche Gesellschaft sie sich in solchem Ausmaß aneignete, dass jeder ernsthafte Widerstand gegen eine radikale Verfolgung der Juden ausblieb.590 Der Politikwissenschaftler Winfried von Bredow teilt Burrins These einer Wahnvorstellung als Voraussetzung für einen gewaltbereiten Antisemitismus: Die sozialpsychologische Logik solcher Massengewalt, denn ihr wohnt in der Tat eine solche Logik inne, fußt auf der Sündenbockstrategie, einem mit kollektiven Ängsten besetzten und imaginär aufgebauschten Feindbild und der Tötung als Reinigungs- und Heilungsakt. Entscheidend ist die Angst: Verschwörungsdenken und kollektive Paranoia lassen sich mit ihrer Hilfe leicht in eine wahnhafte Rationalität ummünzen. Wahn und Kalkül, das Imaginäre und die Rationalität haben hier breite Schnittfelder.591 Das Abbild einer wahnhaften Interpretation der Realität, die zum Gewaltexzess führt (dem Mord an David), findet sich am Ende der Novelle Im Krebsgang in der Gerichtsszene. Konny äußert sich zur vorgegebenen jüdischen Identität Wolfgangs: „Das ändert nichts am Sachverhalt. Allein ich musste entscheiden, ob die mir als David bekannte Person als Jude sprach und handelte.“ (182) Auf die Frage des Richters, gibt Konny an, niemals einem Juden begegnet zu sein: „`Für meinen Entschluß war das nicht relevant. Ich schoß aus Prinzip´“ (ebd.). Burrins Aufforderung, antisemitische Wahnvorstellungen durch Aufklärung aufzubrechen, wird in der Novelle nicht entsprochen. Vielmehr wird jede Annäherung an den Kern des Mordmotivs – etwa die Forderung Konnys nach einer Gedenkstätte für Gustloff als Namensträger für das Trauma seiner Großmutter, unterdrückt, was im nachfolgenden Kapitel „Wiederholen“ ausführlich dargestellt werden soll. Zu den Vorbedingungen des Traumas seiner Großmutter, dem Nationalsozialismus mit seinem „rassistischen“ Antisemitismus (symbolisiert in dem Mord Frankfurters an Gustloff) kann somit nicht vorgedrungen werden. Die Hilflosigkeit der Elite gegenüber Konny mutiert schließlich in Zynismus, etwa indem der Jugendstaatsanwalt: „für Wolfgang Stremplin (…) einen, wie er sagte 590 591 Ebd., S. 16. Bredow, `Extreme Gewalt´. 230 `Nachweis arischer Herkunft´ vorlegte und sich dabei ironisch gab.“ (182) Die vermeintliche Aufklärung, die Konny über den Holocaust bekommen hat, hält ihn nicht von der Mordtat ab. Vielmehr ist ihm seine Mutter „mit ihrem dauernden Auschwitzgerede oft auf die Nerven gegangen.“ (195) Allein Paul sucht nach einer offenen Form der Aufklärung. Indem das Wahnhafte, d.h. das vermeintlich „Positive“ und die Realität von Auschwitz, Diktatur und Krieg nebeneinander gestellt werden, können die „Schnittflächen“ (s.o.: Bredow) bloßgelegt werden. Auf einer fiktiven Elternversammlung von Konnys Schulklasse ruft Paul dem Lehrer zu: „`Warum dieses Verbot? Wo bleibt die Toleranz!´ (…). Womöglich hätte Konnys Vortrag mit dem Untertitel `Die positiven Aspekte der NS-Gemeinschaft >Kraft durch Freude<´ etwas Farbe in das langweilige Unterrichtsfach Sozialkunde gebracht.“ (184) Der Begriff „Farbe“ verweist auf eine facettenreiche Ambivalenz, die sich durch die Offenlegung jener „positiven Aspekte der NS-Gemeinschaft“ (184) veranschaulichen ließe. Wie zuvor erwähnt, deutet Paul bereits im ersten Drittel der Novelle auf die Notwendigkeit dieser ambivalenten Perspektive: Menschen, die immer nur auf einen Punkt starren, bis es kokelt, qualmt zündelt, sind mir noch nie geheuer gewesen. Gustloff, zum Beispiel, dem einzig des Führers Wille das Ziel setzte, oder Marinesko, der in Friedenszeiten nur eines, das Schiffeversenken übte. Oder David Frankfurter, der eigentlich sich selbst erschießen wollte, dann aber, um seinem Volk ein Zeichen zu geben, eines anderen Fleisch mit vier Schüssen durchlöcherte. (68) Erst die Offenlegung des gesamten Spektrums - abgründige und verführende Anteile in der Zeit zwischen 1933-1945 – scheinen jene „Mechanismen der deutschen Gesellschaft“ offen legen zu können, die diese „sich in solchem Ausmaß aneignete, dass jeder ernsthafte Widerstand gegen eine radikale Verfolgung der Juden ausblieb.“592 592 Burrin, S. 16. 231 Die Figuren im Krebsgang gelangen nicht auf die (vorstehend) von Bredow beschriebenen Schnittfelder zwischen Wahn und Realität. Schon einmal hat der Wahn über die Realität triumphiert: „Ond maine Mama hädd nech aufheeren jekonnt, von dem ieberall mit bunte Bilder jekachelten Schwimmbad zu schwärmen, in dem später all die Helferinnen vonne Marine janz dichtjedrängt ham hocken jemußt, bis denn der Russki mit sainem zwaiten Torpedo jenau da all die jungen Dinger zermanscht hat…“ (33) Erst indem die Schnittfelder erinnernd begangen werden, lässt sich jedoch deren historische Entstehung erkennen: Solche Schnittfelder entstehen (…) nicht von selbst. Sie werden vielmehr in einem Identitätsdiskurs hergestellt oder, wie man heute in den Sozialwissenschaften sagt: konstruiert. Die Konstrukteure sind Politiker, Intellektuelle, zuweilen auch religiöse Führer. Ihr aufhetzender Diskurs bereitet die Legitimation extremer Gewalt vor. Medien schüren die Gewaltstimmung, die schließlich so aufgepeitscht ist, dass das Tötungstabu bröckelt. Der Mord unterliegt nicht mehr einem Verbot, das man respektieren muss. Es wird stattdessen zum Gründungsakt eines neuen, gereinigten Kollektivs. Diese Dynamik entwickelt einen Sog, gegen den die Einzelnen nur schwer ankommen.593 Der historische Auftakt dieser Dynamik erscheint in einer Parallele des NSDAPProgramms von 1920 und einer Äußerung Konnys. Während das Regime die Auswüchse, die der Holocaust angenommen hatte, zumindest anfänglich zu verbergen suchte594, wurde die Entrechtung der jüdischen Minderheit bereits im NSDAPProgramm von 1920 (Punkt 4) als Zielvorgabe aufgeführt: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist (…) Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“595 Konny reflektiert dieses NS-Reglement während seines Prozesses. Er habe nichts gegen Juden, sagt er gegenüber dem Jugendstaatsanwalt: „Doch vertrete ich, wie Wilhelm Gustloff, die Überzeugung, dass der Jude innerhalb der arischen Völker ein Fremdkörper ist. Sollen sie doch alle nach Israel gehen, wo sie hingehören.“ (196) 593 Bredow, ebd. vgl. Kershaw zitiert in: Longerich (aktueller Forschungsstand), S. 12. 595 Hartmut Jäckel, `Wenn einmal die Städte zertrümmert liegen´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 17.04.2008, S. 38. 594 232 Wie erörtert, wird der gewalttätige Antisemitismus im Krebsgang aus einem historischen Kontext zwischen christlicher Judenfeindlichkeit bis hin zur Moderne abgeleitet. Durch die zeitliche Umspannung des Phänomens Antisemitismus wird dessen Bedeutung als Erklärungsansatz für den Holocaust eingeschränkt (s. auch Kapitel „Holocaust“). Damit lässt sich der Krebsgang als literarisches Produkt dem Lager jener Historiker zuordnen, die dem Antisemitismus als Ursache für den Holocaust ein nur bestimmtes Maß an Bedeutung beimessen596 – etwa im Gegensatz zu Saul Friedländer oder Daniel Goldhagen. Burrin meint hierzu: „Gibt es zwischen der Katastrophe des Genozids und der Banalität, ja `Normalität´ des Antisemitismus vor und während des NS-Regimes nicht doch einen deutlichen Unterschied? Unsere Gesellschaften sind überfrachtet mit Vorurteilen, ohne dass dies zu solchen Tragödien führte“.597 Indem in der Novelle darin offen bleibt, ob der „Kumpel von dem Itzich“, der den Hofhund getötet hat (108), gleichfalls ein Jude war und die Aussage assoziativ mit dem antisemitischen Klischee des „Vergiftens“ ummantelt wird, ist vorgeführt, dass und wie die Mechanismen antisemitischer Vorurteile wirken. 596 597 Burrin, S. 10. Ebd. 233 2. Kapitel: „Wiederholen“ 234 Die transgenerationelle Übertragung von Schuldgefühlen und Traumata 235 Die Schriftsteller eines Volkes sagen, was ist. Sie können das Denken eines Volkes in Bewegung bringen durch Wahrhaftigkeit. Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Ein Schriftsteller, Kinder, ist jemand, der gegen die verstreichende Zeit schreibt. Günter Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnecke Denken und Handeln so einrichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik 236 Vorbemerkung Im Vergleich mit anderen Ländern formuliert Günter Grass im Jahr 1979 ein Spezifikum im Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte: Andere Völker sind auf fragwürdige Weise glücklicher, also vergesslicher. Niemand wird das russische Volk für den stalinistischen Massenmord, verübt im Namen der Revolution, schuldig sprechen. Nur vergleichsweise wenige Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika fühlen sich heute noch für das amerikanische Kriegsverbrechen des Vietnamkrieges verantwortlich. England, Frankreich, Holland haben das bis heute folgenreiche Unrecht ihrer Kolonialherrschaft zu den Akten gelegt: es zählt nicht mehr. Das ist Geschichte. Und die Geschichte geht weiter. Einzig den Deutschen ist kein Ausweichen erlaubt. Je harmloser sie sich geben, umso unheimlicher sind sie ihren Nachbarn. Ihr wirtschaftlicher Erfolg kann das moralische Vakuum ihrer unvergleichbaren Schuld nicht verdecken. Kein Hinweis auf die unschuldigen Nachgeborenen, kein Sichberufen auf die Verbrechen anderer Völker, nichts kann sie entlasten. Man zeigt auf sie, sie zeigen auf sich selbst. Mit genauso pedantischer Unerbittlichkeit, wie sie den Völkermord an sechs Millionen Juden geduldet, geplant und vollzogen haben, fragen sie sich immer wieder nach den Gründen, nach dem Grund und werden (von Generation zu Generation dringlicher) von ihren Kindern gefragt. Auf alttestamentarische Weise überdauert die Schuld, sie überträgt sich.598 Aus dieser sich „übertragenden Schuld“ stellt sich eine paradoxe Aufgabe: Wie kann eine Schuld von einer „unschuldigen“ Generation angenommen werden und wie soll damit verfahren werden? In einer Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes vom 8. Mai 1985 finden sich Antworten darauf: Sie (die Nachgeborenen) können nicht eine eigene Schuld bekennen für Taten, die sie gar nicht begangen haben (…) nur weil sie Deutsche sind. Aber die Vorfahren haben ihnen eine schwere Erbschaft hinterlassen. Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. (…) Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen, zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. (…) Wir suchen als Menschen Versöhnung. Gerade deshalb müssen wir verstehen, dass es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann.599 598 Grass, `Wie sagen wir es unseren Kindern´, S. 150-167 in ders., Aufsätze zur Literatur, Darmstadt, 1980, S. 151. 599 http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Reden-Richard-von-Weizsaecker,12166.629421/Rede-von-Bundespraesident-Rich.htm?global.back=/Reden-und-Interviews/%2C12166%2C0/Reden-Richard-von-Weizsaecker.htm%3Flink%3Dbpr_liste. 237 Vor dem Streben nach Versöhnung steht ein „praktisches“ Ziel für den Akt der Erinnerung im Vordergrund: wie können nachfolgende Generationen lernen, „Strukturen, die den Holocaust ermöglicht haben, zu verhindern.“600 Vor dem Diktum der Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust scheint es jedoch nahezu unmöglich, die Katastrophe in ihrer Entwicklung und ihren Auswüchsen zu erfassen. Hat Günter Grass diese Diskrepanz in seiner Novelle Im Krebsgang zu überwinden vermocht? 600 Paul Hara, `Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse des deutsch-israelischen Forschungsprojekts´, S. 273-284 in D. Bar-On, u.a., (Hg.), „Da ist etwas kaputtgegangen an den Wurzeln…“ Identitätsformation deutscher und israelischer Jugendlicher im Schatten des Holocaust, Frankfurt, 1997, S. 284. 238 Das Diktum der Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust seit 1945 bis in die Gegenwart der Dritten Generation Kämpfe und Kriege tragen nicht ausschließlich den Tod in ihrem Kern, sondern auch Verlierer und Gewinner.601 Durch epocheal Umwälzungen in der Vergangenheit haben nachfolgende Generationen einen Nutzen ziehen können: die Französische Revolution (1789) besetzt die Begriffe Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit mit seinerzeit neuen Inhalten, der Amerikanische Bürgerkrieg beendet die Sklaverei (1865), über 60 Jahre Frieden folgen den beiden Weltkriegen in Westeuropa. Hingegen endet Genozid bei Sinnlosigkeit und Unverständnis. Raul Hilberg, der „in einem heroischen Forscherleben den Gesamtumfang der Untaten, von Griechenland bis Norwegen, von Frankreich bis zur Krim, darzustellen versucht“, hinterlässt „eine bleibende Irritation“: Die Frage nach den Motiven der Täter, überhaupt jede historisch-psychologische Deutung des Geschehens hat er mit grimmiger Sachlichkeit in sich verschlossen. Sie mag ihm überflüssig oder frivol erschienen sein angesichts des Gewichts dessen, was sein Studium der Akten ans Licht brachte. (…) So gibt es von ihm auch keine `Lehren´, die aus dem Holocaust zu ziehen wären: Er, der am meisten zu sagen hätte ….602 Anders Primo Levi und Jean Améry, die bewusst den Weg der „Erkenntnis“ beschritten haben. Sie versuchten ihr Schicksal im Rahmen der europäischen Philosophie zu verstehen, und suchten den Dialog mit den Tätern. Sie erkannten, dass ihre Erfahrung in der europäischen Philosophie keine Heimat hatte. Darum ihr Leiden am Schweigen der Deutschen, der Europäer, trotz aller öffentlichen Anerkennung. (…) Améry und Levi richteten ihre Schriften an die Deutschen, von denen sie die Bestätigung ihrer Zeugenschaft durch grundlegende Verhaltensänderung erwarteten. Neue Generationen wuchsen heran, Deutschland normalisierte sich und ließ Améry und Levi emotional ins Leere laufen. Trotz offizieller Anerkennung sahen sie sich hilflos vor dem Schweigen der Deutschen.603 Ari Kelman, `For what?´, “Times Literary Supplement”, 25.07.08, S. 15. Lorenz Jäger, `Die Sache selbst. Zum Forschungsstand: Hilberg, Aly und die Vernichtungspolitik´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 27.01.2005, S. 33. 603 Susanne Klingenstein, `Nach Hiob. Elie Wiesels Erbschaft´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 5.11.2008, S. N 5. 601 602 239 Dieses Schweigen der Deutschen mag sein Motiv in jenem Unverständlichen haben, das der israelische Historiker Yehuda Bauer umschreibt, wenn er die „Normalität der Täter“ postuliert und dabei zugleich einen wichtigen Aspekt aufwirft: Das Fürchterlichste an der Shoa ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich waren, das Fürchterlichste ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich. Wenn wir sagen, dass sie anders waren als wir und dass wir in Ruhe schlafen können, denn die Nazis waren Teufel, und wir sind eben keine Teufel, weil wir keine Nazis sind, so ist das eine billige Ausflucht. Eine genauso billige Ausflucht ist es, wenn man sagt, dass die Deutschen irgendwie genetisch programmiert waren, diesen Massenmord durchzuführen. Da die meisten Menschen keine Deutschen sind, glauben viele, dass das was damals geschah, bei niemanden mehr passieren kann und es nur in Deutschland geschehen konnte.604 Hieraus ergibt sich die Zwangsläufigkeit einer humanistisch-evolutionären Aufgabe der Analyse des Zivilisationsbruchs, der jedoch eine Reihe unüberwindbar erscheinender Hindernisse vorstehen. Zunächst einmal verwischt sich das „Menschliche“ der „Nazis“ vor deren „Sinngebung“ des Massenmords: den nationalsozialistischen Tätern galt als das Ziel ihrer Bewegung der „Erschaffung des neuen Menschen“, was die „Entmenschlichung“ jener zur Folge hatte, die außerhalb eines Clusters wahnwitziger Merkmale lagen. Zu verstehen, wie jene „Sinninhalte“ aus geistigen Entartungen und perversen Ideen entstehen konnten, ist der Kern jener humanistisch-evolutionär begründeten Aufgabe nachfolgender Generationen, die etwa Levi und Améry einfordern. Als Vorbedingung für dieses Verstehen gilt es, die Dimensionen der historischen Katastrophe zu erfassen. Im Krebsgang ist die Bestandsaufnahme dieses Erfassens düster bewertet: „Alles vergangen, verweht! (…) Falls in einem Fernsehquiz nach Himmler oder Eichmann gefragt würde, könnte mit teils richtiger Antwort, aber auch mit ratloser Geschichtsferne gerechnet werden“. (37f) Das Diktum der „Nicht-Repräsentierbarkeit“ des Holocaust scheint dem Erfassen der historischen Katastrophe als Vorbedingung für die zivilisatorisch-evolutionäre 604 Yehuda Bauer, `Rede zum Gedenktag an die Opfer des Holocaust im Deutschen Bundestag am 27.1.1998´, „Frankfurter Rundschau“, 08.01.1998, S. 8. 240 Aufgabe in der Gegenwart entgegen zu stehen: „Nothing can convey the sheer, unimaginable horrors of Auschwitz.“605 In den Jahrzehnten nach 1945 bestand ein breiter Konsens darüber, dass es für „Auschwitz keine Sprache gibt“606, und in extremer Form, dass „nach Auschwitz keine Gedichte“ mehr geschrieben werden können (Adorno). Der Massenmord an zwei Dritteln der europäischen Juden mit seiner industriellen Vernichtung ohne Ansehen von Person, Alter und Geschlecht war für die Zeitzeugen nicht repräsentierbar. Die Angst vor der Trivialisierung durch Repräsentation ist im Krebsgang formuliert: „Doch die über viertausend Säuglinge, Kinder und Jugendlichen, für die es kein Überleben gab, waren, allein aus Kostengründen, nicht zu verfilmen, blieben und bleiben abstrakte Zahl, wie all die anderen in die Tausende, Hunderttausende, Millionen gehenden Zahlen, die damals wie heute nur grob zu schätzen waren und sind. Eine Null am Ende mehr oder weniger, was sagt das schon; in Statistiken verschwindet hinter Zahlenreihen der Tod.“ (136) Dennoch gab es Versuche, den Holocaust in der Literatur darzustellen, um so „den Anderen zum Zeugen nicht einer bloßen dichterischen Phantasie, sondern eines unvorstellbaren realen historischen Traumas zu machen“.607 Auch Günter Grass nahm sich als junger Autor vor, Adorno „schreibend zu widerlegen“608. Dennoch kapitulierten viele Autoren schließlich vor der selbst gestellten Aufgabe. Eines der prominentesten Beispiele aus der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur ist das Gedicht „Todesfuge“, das Paul Celan 1944 verfasste, noch während das Trauma andauerte. Paul Celans Todesfuge steht am Anfang einer umfangreichen Gruppe lyrischer Bemühungen, das umfaßbare Phänomen der Ermordung von Millionen Juden in William D. Rubinstein, `…and out of it´, Rezension zu Alfred Wetzler, Escape From Hell, “Times Literary Supplement”, 04.01.2008, S. 5. 606 Martin Walser, Düsseldorfer Schauspielhaus, 8.11.07. 607 Annegret Mahler-Bungers, `Zur Literatur und Dichtung des Holocaust´, S. 27-53, in Mauser; Pietzcker, (Hg.), Trauma, Bd. 19, Würzburg, 2000, S. 40. 608 Grass, Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung, Frankfurt, 1990, S. 18. 605 241 Klage und Anklage darzustellen, es ins Gedächtnis zu rufen und zu ihm auf eine jeweils andere, persönliche Weise ein inneres Verhältnis zu begründen.609 Doch spätestens im Frankfurter Auschwitz-Prozess zu Beginn der 1960er Jahre hatte die Sprachlosigkeit gegenüber dem Holocaust schließlich eine für alle sichtbare konkrete Form angenommen: die traumatisierten Zeugen hatten keine Worte, um das Grauen zu schildern, das sie erlebt haben.610 Auch die Literatur der „Betroffenen“ vermochte es nicht, das Unbeschreibliche in die Öffentlichkeit zu vermitteln. Wirkliche Breitenwirkung erzielte erst die amerikanische TV-Serie „Holocaust“, die in den späten 1970er Jahren in der Bundesrepublik ausgestrahlt worden war.611 Indem Täter und Opfer ein Gesicht erhielten, bewirkt diese TV-Serie erstmals eine breite Emotionalisierung. Über die Einsicht in die singuläre Dimension des industruiellen Massenmords an den Juden und vor dem Hintergrund einer Ausrichtung Westdeutschlands an einem westeuropäischen Erfahrungs- und Erinnerungshorizonts bildete sich in den 1980er Jahren in Westdeutschland ein breiter Konsens über die Verurteilung des NS-Herrschaftssystem.612 Die zahllosen Reflexionen des Holocaust in der Kunst weltweit seit 1945 offenbaren, dass das Bedürfnis nach Ausdruck stets stärker gewesen ist, als die Angst vor einer trivialisierenden Form der Repräsentation. Auch Adorno nahm später sein Diktum zurück: „Das perennierende Leiden hat so viel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen, darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht sich mehr schreiben.“613 Diesem Bedürfnis nach Ausdruck scheint bis in die Gegenwart der dritten Nachkriegsgeneration hinein der unbedingte Wille entgegen zu stehen, an der „Nicht-Repräsentierbarkeit“ festzuhalten: Die erinnernde Darstellung an den Holocaust wird als eine “Exkorporation des Traumas“ (Weinberg), als „ein() Frevel an der traumatischen Erinnerung“ (Caruth), als ein unzulässiges Spiel „mit der Realität der Vergangenheit“ (Caruth, Braese), als ein „den Toten die Treue“ brechen (Sebald, 609 Werner Brettschnieder, Zorn und Trauer. Aspekte deutscher Gegenwartsliteratur, Berlin, 1981, S. 31. Vgl. Irmtrud Wojak, Fritz Bauer. 1903-1968. Eine Biographie, München, 2009. 611 Vgl Cornelißen, S. 16. 612 Ebd. 613 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, 1966, S. 353. 610 242 Braese) oder zumindest das „Genießen“ des „traumatischen Wissens“ verderbend (Juranville) und es für die „narrative Lust“ aufopfernd (Roth) beschrieben. 614 Der Germanist und Psychotherapeut Harald Weilnböck offenbart das Paradox dieser Abwehr von Repräsentation aus psychologischer Sicht: „Allen gemeinsam (…) scheint die Grundüberzeugung zu sein: `Das Trauma (muss dem Gedächtnis) unverfügbar bleiben´.“615 Demnach sei die Verbalisierung und `Integration´ traumatischer Erfahrung kein Gewinn, „sondern ein Verlust der `wesentlichen Genauigkeit und starken Wirkung´ des Traumas.“616 Weilnböck verdeutlicht, dass es jedoch gerade diese Furcht vor dem Verlust ist, die sich der humanistisch-evolutionären Aufgabe des Verstehens in den Weg stellt: Dass die `schreckliche Vergangenheit durch die vorhandenen psychischen Strukturen´ (der Person) gereinigt werden könnte´ - ein Gedanke übrigens, welcher ex negativo die Möglichkeit von Trauma- und Psychotherapie in bezeichnender Weise überschätzt und geradezu messianischen Erwartungen Vorschub leistet -, hat in Roths Sichtweise die missliche Folge, dass dadurch die traumatische `Vergangenheit´ `relativiert´ und `normalisiert´ wird. Und Caruth fürchtet, dass die `wesentliche Unfassbarkeit´ des Traumas sowie sein aggressivdestruktives Potenzial, einen `massiven Anschlag auf das Verstehen´ auszuführen, verlorengeht. Darin aber erkennt sie keineswegs einen therapeutisch-zivilisatorischen Zuwachs an Gewaltverarbeitungskompetenz, sondern im Gegenteil einen zu beklagenden Sachverhalt, den es ausdrücklich zu verhindern gilt.617 Die Idee einer „Heilung“ durch Repräsentation ergo Konfrontation mit dem Trauma scheint in den Kulturwissenschaften fest verankert: „Während sich also die Psychoanalyse notwendig an einer `Heilung´ und somit Abschaffung des Traumas interessiert zeigt, ist dem Kulturwissenschaftler das Trauma unverzichtbar, und er wird alles daran setzen, gerade dessen `Unheilbarkeit´ zu erweisen.“618 In seiner konkreten Alle zitiert in: Harald Weilnböck, `„Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben.“ TraumaOntologie und anderer Miss-/Brauch von Traumakonzepten in geisteswissenschaftlichen Diskursen´, S. 2-64, „Mittelweg 36“. 16. Jahrgang, April/Mai 2007, S. 39. 615 Ebd., S. 40. 616 Ebd., S. 45. 617 Ebd., S. 45f. 618 Ebd., S. 51. 614 243 Kritik etwa an der Haltung Manfred Weinbergs verweist Weilnböck auf mögliche Folgen eines „inhumanen“ Paradoxes: Radikal bzw. extremistisch ist dieser Zugang jedoch vor allem deshalb, weil er den Ausweis der `Unheilbarkeit (des Traumas)´ als seine höchste Priorität formuliert und damit eine Unmöglichkeit bzw. Unsinnigkeit verabsolutiert – denn: spezifische Traumata sind durchaus als in spezifischem Ausmaß heilbar zu begreifen! – und unbedingt durchzusetzen gewillt ist. Der löbliche philosophische Grundtenor, den man in diesem Fall wohlwollend als einen Wunsch auslegen könnte, das Erbe der Geschichte westlicher Gewaltexzesse im öffentlichen Bewusstsein zu bewahren, kontrastiert mit einer eigentümlich radikalen und latent inhumanen Zielbestimmung. Auch wird dabei der geringsten der Forderungen, der man sich bei solchen Wagnissen stellen sollte, nicht nachgekommen, das heißt: die konkreten oder wahrscheinlich empirischen Konsequenzen, die die Folge des eigenen Denkens und Schreibens sein mögen, zu erwägen und ihnen nachzuforschen. Scheint es doch bei einer Zielsetzung, die sich die `Unheilbarkeit (des Traumas) zu beweisen´ vorsetzt und von allen Therapiebelangen absieht, beinahe unausweichlich, dass sie ungewollt `Funktionen´ ins Werk setzt oder mit ihnen kongruiert, welche, in der einen oder anderen Weise, den gesellschaftlichen Möglichkeiten der psycho- und/oder sozialtherapeutischen Gesundung und nachhaltigen Entwicklung entgegenarbeiten.619 Schließlich überführt Weilnböck die Notwendigkeit der Repräsentation aus einem rein psychologischen Feld in einen historisch-philosophischen Ansatz im Geist der Aufklärung: Wenn Weinberg und andere sich paradoxerweise für `Unheilbarkeit´ und implizit gegen Narration/Psychotherapie aussprechen und an Aspekten der Heilung und Linderung von psychotraumatisch bedingten Folgeschäden ausdrücklich `nicht interessiert´ sind – was genau ist dann ihr Interesse? Was sind die mehr oder weniger bewusstseinsnahen, konfliktdynamisch geprägten Bestrebungen, die diesem Interesse innewohnen? Und wie ist dieses Interesse mit Wissenschaftlichkeit in der Tradition der Aufklärung in Übereinstimmung zu bringen?620 Weilnböcks Diagnose findet sich in einer Kritik gegenüber Günter Grass wieder. Der Germanist und Antisemitismusforscher Klaus-Michael Bogdal kritisiert Grass im Jahr 2007 dafür, dass er einen „Gewinn“ aus Auschwitz ziehen wolle. Dieser hatte in seiner 619 620 Ebd., S. 52. Ebd. 244 Frankfurter Vorlesung von 1990 Schreiben nach Auschwitz gesagt: „weil Auschwitz (…) bleibendes Brandmal unserer Geschichte ist und – als Gewinn! – eine Einsicht möglich gemacht hat, die heißen könnte: jetzt endlich kennen wir uns.“621 Bogdal setzt dem entgegen: Auschwitz kann als Gewinn für die Selbsterkenntnis der Deutschen nur ernsthaft ins Spiel gebracht werden, wenn man davon abstrahiert, dass es um wirkliche, getötete oder überlebende Menschen geht. Doch diese verschwinden in der Darstellung von Grass hinter der vorrangigen Aufgabe, eine neue deutsche Literatur zu schreiben.622 Diese Kritik birgt zwei Aspekte, die - wie auch aus den oben aufgeführten Zitaten Weinbergs, Caruths, Braeses etc. ersichtlich - die öffentliche Erinnerungskultur Deutschlands in den vergangenen sechs Jahrzehnten mitgeprägt haben. Die Opfer sollen nicht „abstrahiert“ werden, was dem Kanon der Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust entspricht. Tulla verstößt gegen dieses Gebot und abstrahiert die als „menschliche(s) Gebein“ erkannte „Masse“ als „Knochenberg“ (100). Eine Verknüpfung zu dem nahegelegenen Konzentrationslager Stutthof vermag sie nicht herzustellen (vgl. Abschnitt „Antisemitismus“). Im weiteren Verlauf erweist sich nicht die Abstraktion selbst als fatal, sondern die Unmöglichkeit, diese mit äußerer Hilfe über die Narration aufzulösen – wie im Kapitel „Durcharbeiten“ ausführlich zu erörtern sein wird. Tullas Abstraktion erscheint als eine (natürliche) schockartige Reaktion des „Nichtwahrhabenwollens oder –könnens“ gegenüber dem Unaussprechlichen. Aus traumatologischer Sichtweise bietet sich für die Beobachtung des „Knochenberg“ der Begriff der Deckerinnerung (vgl. Abschnitt „Verdrängung“) als eine Erinnerung an, die ein „wichtigeres (…) Ereignis, das nicht erinnert wird“623 überdeckt. Im Ergebnis führt das Nichtauflösen der Abstraktion zur Bewegungsunfähigkeit. Die Figuren der Novelle verharren in der Stagnation, was sich in der Wiederholung von Vergangenem äußert: einer erneuten wahnwitzigen Gewalttat im Mord an David alias Wolfgang. Das „Verbot“ der Abstraktion umschließt das zweite Element, das die öffentliche Erinnerungskultur mit prägte: die Furcht vor dem 621 Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 42. Klaus Michael Bogdal, (Hg.), `Einführung´, in ders. Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart, 2007, S. 2. 623 Hirsch, Psychoanalytische Traumatologie – Das Trauma in der Familie, S. 21. 622 245 Entfernen. Bogdal impliziert durch das „Verschwinden der Getöteten“, dass die „gewonnene“ Erkenntnis eine Ordnung schafft, die es erlaubt sich abwendend fortzubewegen. Beide Elemente zusammen – Schockzustand und Bewegungsangst generieren eine Kultur sich selbst perpetuierender Erstarrung. Vor den seit den 1970er Jahren gewonnenen Erkenntnisse zur Traumatologie erscheint diese Erstarrung als unausweichlich und damit gewissermaßen legitim für die traumatisierten Opfer und die scham- und schulderfüllten Zeitzeugen (Mitwisser, Mitläufer, Mittäter). Inzwischen beginnt eine neue Epoche ohne Zeitzeugen anzubrechen: im Krebsgang repräsentiert durch Tullas Enkel Konny und Wolfgang alias David. In einer Welt ohne Menschen, die den Holocaust unmittelbar oder mittelbar erfahren haben, erscheint es unabdingbar, Brücken zu bauen, die den Gattungsbruch Holocaust in das Gedächtnis der Gegenwart - der dritten und den nachfolgenden Generationen – überführen können. Ohne Zeitzeugen kann das, wofür kein Medium gefunden wird, in einer alltäglichen Gegenwart nicht erinnert werden: „Unser Vorstellen und primäres Erkennen schneidet eben aus der unendlichen Fülle des Wirklichen und seinen unendlichen Auffassungsmöglichkeiten Bezirke heraus, wahrscheinlich so, dass die damit jeweils umgrenzte Größe als Grundlage unserer praktischen Verhaltungsweisen ausreicht.“624 Dass der Holocaust als „Verschnitt“ aus unserer Wirklichkeit vergessend überwunden wird, weil er jenseits der alltäglich gebrauchten „Grundlage unserer praktischen Verhaltungsweisen“ liegt, wird vorstellbar, möglicherweise wahrscheinlich. Auch darauf mag Grass hinweisen, wenn er die Architekten des Holocaust in die Vergessenheit verschwinden lässt („Falls in einem Fernsehquiz nach Himmler oder Eichmann gefragt würde, könnte mit teils richtiger Antwort, aber auch mit ratloser Geschichtsferne gerechnet werden.“ - 37) Die Frage nach der Form der Darstellung in einer Epoche ohne Zeitzeugen stellt sich vor einer Beobachtung Georg Simmels – lange vor dem Holocaust - umso dringlicher. „Spekulativ“ erscheint es möglich, dass der Holocaust erst nach dem Ableben der 624 Georg Simmel, `Lebensanschauungen: Die Transzendenz des Lebens´, S. 212-235 in Gregor Fitzi, Otthein Rammstedt, (Hg.), Georg Simmel. Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, Gesamtausgabe, Bd. 16, Frankfurt, 1999, S. 214. 246 Zeitzeugen in seinem tatsächlichen Kern darstellbar wird. In einer Nachwelt ohne Zeitzeugen mögen sich (Schutz-)Blockaden lösen, die als unüberwindbare Grenzschranken die Wiedergabe des Infernals bislang beeinträchtigt haben. Nicht grenzenlos enthemmte Darstellung ist als Gegenstand der Repräsentation gemeint, vielmehr eine „Grenzverschiebung“ im Sinne Georg Simmels: Über die Welt, die wir sozusagen in vollsinnlicher Realität haben, führen uns der Begriff und die Spekulation, die Konstruktion und die Berechnung hinaus und zeigen uns erst damit jene als eine begrenzte, lassen uns ihre Grenzen von außen sehen. (…) Dieses Sich-selbst-Überschreiten des Geistes vollzieht sich nicht nur an einzelnen Abschnitten, um deren quantitative Begrenzung wir von Fall zu Fall eine weitergehende legen, um sie so, indem wir sie sprengen, erst wirklich als Begrenzung zu erkennen. Auch die beherrschendsten Prinzipien des Bewusstseins werden von ihm beherrscht.625 In der Figur des Wolfgang Stremplin alias David scheint im Krebsgang der Versuch einer Grenzverschiebung erkennbar zu sein. Der deutsche Christ Wolfgang wünscht sich zu Weihnachten einen siebenarmigen Leuchter (185) und schlüpft, indem er für ihn fremde Sitten und Gebräuche annimmt, in die Rolle des jüdischen David (ebd.). Ihm scheint eine Grenzverschiebung möglich zu sein, indem er seine eigene Identität um die jüdische Kultur erweitert. Eine echte Erweiterung würde Verknüpfungen und Einsichten erlauben, die Erkenntnisse in sich bergen mögen. Allerdings scheitert der Versuch. Die Grenzverschiebung wird zur sinnlosen Grenzverlagerung, indem „David“ die Identitätsanteile von „Wolfgang“ negiert, dessen Mutter beklagt: „In letzter Zeit ist uns unser Bub unerreichbar gewesen.“ (ebd.) Selbst für den Fall, dass Raum für Wolfgangs Identität verblieben wäre, würde der Versuch scheitern: „So verlief ihr Rollenspiel“ (118) deutet auf die Wiedergabe bloßer Klischees, die jenseits Wolfgangs eigener Zeit in der Vergangenheit liegen. Der Ansatz zur Grenzverschiebung in der Gegenwart bleibt leblos und hohl. Simmels Ausführungen stellen die Schablonen „praktischer Verhaltensweisen“ als Hemmnis der „Grenzverschiebungen“ dar. Das Brückenschlagen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart als Akt der „Grenzverschiebung“ mag somit eher in 625 Ebd. 247 einem Raum jenseits „praktischer Verhaltensweisen“ vollziehbar sein: wie der Kunst bzw. der Literatur. Der Hinweis des „Auftraggeber(s)“, Pauls „Bericht“ (123) über die Vergangenheit habe „das Zeug zur Novelle“ (ebd.), mag darauf verweisen. Die Darstellung in der Literatur ist zunächst jedoch gleichfalls Begrenzung. Der Rezipient, lässt sich mit Ernst Cassierer folgern, empfindet den Mangel von der begrenzten Darstellung jedoch nicht.626 Dieser Mangel ermögliche im Gegenteil die eigenschöpferische Rezeption, wodurch das Werk seine eigentliche Aufgabe erfülle: „Es (das Werk) wird zum Vermittler zwischen Ich und Du, nicht indem es einen fertigen Gehalt von dem einen auf das andere überträgt, sondern indem sich an der Tätigkeit des einen die des anderen entzündet.“627 Die Literatur verfügt demnach über Spielräume und Mittel, um infernale Abgründe nachzuzeichnen. Sie kann mit Verstand und Emotion gleichermaßen „entzünden“ wie mit Lücken und Schweigen. Die Mittel, derer sie sich bedient, können dabei automatisch eine Grenzüberschreitung durchlaufen, wie Paul Celan deutlich macht: Erreichbar, nah und verloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie die Sprache, blieb verloren, ja, trotz allem. Aber sie musste hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, `angereichert´ von allem.628 Vor dem Diktum Albert Camus´ - „Alles, was der Mensch beim Spiel der Pest und des Lebens gewinnen konnte, waren Erkenntnis und Erinnerung“629 - sollen im nachfolgenden Abschnitt mögliche „Grenzverschiebungen“ im Krebsgang hin zum Erkennen und Erinnern untersucht werden. 626 Ernst Cassierer: `Die Tragödie der Kultur´, in: R. Konsermann, (Hg.), Kulturphilosophie, Leipzig 1996, S. 117. 627 Ebd. 628 Paul Celan: `Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen´, S. 185-189 in Beda Allemann, (Hg.), Gesammelte Werke, Bd. 3, Frankfurt, 1983, S. 185f. 629 Albert Camus, Die Pest, S. 330. 248 Die Grenzverschiebung in der Novelle Im Krebsgang Wiederholt finden sich im Krebsgang Hinweise auf die Schwierigkeit der Darstellung extrem traumatischer Ereignisse: „Was aber im Schiffsinneren geschah, ist mit Worten nicht zu fassen.“ (136) Auch der filmischen oder bildlichen Repräsentation wird eine Absage erteilt: „Das hat der Schwarzweißstreifen mit Bildern versucht….“ (136) oder „Eigentlich kann man so etwas Schreckliches gar nicht verfilmen.“ (114) Dass es für die Katastrophe keine Repräsentationsformen gibt, ist als Diktum unzertrennbar mit dem Holocaust verknüpft. Indem in einer Novelle über den Untergang der Gustloff das Fehlen von Repräsentationsformen für die Katastrophe explizit genannt wird, entsteht ein Subtext zur Problematik der Repräsentation des Holocaust. Die Formulierung des Erzählers Paul findet sich wieder bei Claude Lanzmann, dem Regisseur des Films „Shoa“: „Man kann um die Shoa und mit ihr sehr viel machen. Aber man kann nicht zeigen, wie dreitausend Menschen in der Gaskammer von Auschwitz-Birkenau sterben. Es gibt keine Fotografie, es gibt kein Bild davon. Es gibt nichts. Sie starben in der schwarzen Dunkelheit. Stumm. Darauf darf sich niemand einlassen.“630 Grass´ Erzähler hingegen begibt sich in diese Dunkelheit: „Beim Abseilen vom Bootsdeck erblickten die im Promenadendeck eingesperrten Frauen und Kinder durch die Panzerglasscheiben das nur halb besetzte Boot; und die Insassen der Pinasse sahen einen Augenblick lang, welche Masse Mensch sich hinter der Verglasung staute.“ (138) Indem er keine Worte findet, verharrt auch der Autor zunächst bei schockartiger Bewegungslosigkeit: „Was im Schiffsinneren weiterhin geschah, blieb ungesehen, kam nicht zu Wort.“ (ebd.) Indem sich der Erzähler in dieser Sequenz, die den Blick in die Gaskammern durch die in den Türen angebrachte „Verglasung“ assoziiert, nicht auf das Hineinschauen einlässt, folgt er Lanzmanns Überzeugung. Anstatt des Blickes in die Abgründe rückt vielmehr die Schuldfrage in den Vordergrund. Pauls Darstellung des Geschehens ist spiegelbildlich: nicht allein die im Schiffsbauch Eingeschlossenen sind Dunkelheit und Tod geweiht. „Wenn diese nicht Claude Lanzmann, `Littell hat die Sprache der Henker erfunden´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 28. 11.2007, S. 35. 630 249 auf dem Schiff bleiben, könnt ihr nicht gerettet werden“, sagt der Apostel Paulus zu den Matrosen während des Seesturms.631 Im Krebsgang werden die vermeintlich Geretteten in einem Boot in das dunkle, eisige Wasser hinab gelassen und sinken so in eine Zukunft, die bereits vernichtet ist: „…die über viertausend Säuglinge, Kinder und Jugendlichen, für die es kein Überleben gab“. (136) Diejenigen im Boot schauen in das Grauen hinein. Ihre Tatenlosigkeit bei dem Blick in diesen Abgrund hat ihre Menschlichkeit kompromittiert – auch wenn ihnen rettendes Handeln im Moment der Katastrophe unmöglich schien oder war. Die im Schiffsbauch Eingesperrten hingegen zeichnen das alttestamentarische Bild des Jonas im Bauch des Wals632. So wie dieser sein Leben zurück gewinnt, behalten die Eingesperrten ihre Menschlichkeit. Grass’ Erzähler verbleibt allerdings nicht bei dem Diktum, das bei der Wortlosigkeit enden will. Er „entzündet“ eine „Grenzverschiebung“: „Jetzt wird mir geraten, mich kurz zu fassen, nein, mein Arbeitgeber besteht darauf. Da es mir ohnehin nicht gelinge, das tausendmalige Sterben im Schiffsbauch und in der eisigen See in Worte zu fassen“ (139) und die Konsequenz daraus: es gelingt nicht, „ein deutsches Requiem oder einen maritimen Totentanz aufzuführen“. (138) Die Wortlosigkeit geht mit der Unfähigkeit zu trauern einher. Hierin lässt sich die Aufforderung erkennen, Grenzen zu überwinden und das für die Traumatisierten Unaussprechliche in Worte zu fassen. Verbleibt es bei der Wortlosigkeit, die das Trauma nicht benennen kann, wiederholt sich das Vergangene in der nachfolgenden Generation im Mord an Wolfgang alias David. Es bleibt nicht bei der Aufforderung allein. Das Mittel zur „Grenzverschiebung“ wird vorgeführt, indem der Erzähler Paul gleich seinem Namensvetter Paul Celan „aufschreibt“. Mit dem Aufschreiben in der Gegenwart wird dem Verstummen um die Gustloff in der Vergangenheit ein entschiedenes Sprechen entgegengesetzt. Auch Paul Pokriefkes Sprache scheint durch die Wortlosigkeit hindurch gehen zu wollen: „Das Gedicht spricht ja. Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht.“633 631 Apostelgeschichte 27, 31. Das Buch Jonas, 2, 1-11. 633 Paul Celan, `Meridian´, in Gesammelte Werke, Bd. 3 S. 196. 632 250 Der Empfang bedingt das Sprechen. Im Sinne Cassierers obliegt es dem Empfänger, die Worte in Erkenntnis zu formen. Dem Rezipienten wird eine Bahn angeboten, innerhalb der er formen kann. Indem der „Alte“, der sich „leergeschrieben zu haben“ (30) scheint, dem keine Worte mehr verfügbar sind, Paul auswählt (78), wählt er den „Anderen“. Paul ist das personifizierte Trauma (vgl. Abschnitt „Trauma“), dessen Kern die Sprachlosigkeit ist: Bezogen auf den Holocaust scheint daher der Zweifel an der Tauglichkeit der Sprache und ihrer Metaphern ein Konflikt des Überlebenden, des unmittelbaren Zeugen zu sein, der einerseits wünscht, vom Trauma und der verlorenen Objektwelt zu zeugen und andererseits befürchtet, sie gerade dadurch zu verraten. Diese Furcht rührt vor allem von der traumatischen Erschütterung des Vertrauens in das empathische, haltende Verstehen durch den Anderen her.634 Tatsächlich hat der „Alte“ Paul wie eine verlorene „Fundsache“ (78) wiedergefunden. Die dem Empfänger angebotene Bahn, auf der sich dessen grenzüberschreitende „Tätigkeit“ (Cassierer) der Suche nach Erkenntnis „entzünden“ kann, ist damit die des Traumas. Das Trauma erscheint als „Bahn“ geeignet, weil es die gesamte Dimension des Holocaust zu umfassen vermag: Die Furcht, eine sprachliche Beschreibung des Holocaust könne die Schrecken dieser Geschehnisse trivialisieren und abschwächen, ja, sie sogar vergessen machen, scheint mir daher ein Ausdruck dafür zu sein, dass unsere Kultur als ganze traumatisiert ist als Folge des `Zivilisationsbruches´, dessen Hinterlassenschaft ein Gewahrwerden genereller Hilflosigkeit ist.635 Indem das Trauma als eine Ursache für die Sprachlosigkeit sichtbar gemacht wird, kann sich die „Tätigkeit“ der Sprachfindung „entzünden“. Im Krebsgang findet sich eine Metapher gegen die Gefahr des Ablegens, der Endlichkeit des „Entzündens“. Das Wesen der Menschlichkeit leitet sich aus der 634 635 Mahler-Bungers, S. 35. Mahler-Bungers, S. 29. 251 Genesis ab: „Humanity, so the myth tells us, belongs within an ordered world, which can be seen to be good, and of which it is possible to make sense.”636 Durch die Narration versucht der Erzähler Paul Ordnung in einer zerstörten Welt zu schaffen. Dieses Vorhaben scheitert, denn „Nie hört das auf.“ (216) Mit diesem Hinweis auf „Sisyphos“, der in seinem Kampf gegen den Gipfel die Frage erhebt, ob das Leben die Mühe, gelebt zu werden, lohnt oder nicht, zeigt sich die Schranke für die Grenzverschiebung: Die Trauer kann niemals endlich sein, eine endgültige Antwort kann es nicht geben. Entsprechend „Sisyphos“ gilt es, stets und immer weiter fortzufahren im Prozess der Erkenntnis. Dies gilt für die Erste, Zweite und Dritte Generation gleichermaßen, denn „unsere Schande (wird) sich weder verdrängen noch bewältigen“ lassen und niemals aufhören „gegenwärtig zu bleiben.“637 John Habgood, `Bad as we are´, Rezension zu Paul W. Kahn, Out of Eden, “Times Literary Supplement”, 09.05.08, S. 25. 637 Grass, ebd, S. 9. 636 252 Das Sichtbarmachen des Traumas Eine Kritik von Grass betrifft das Schlüsselwort „Auschwitz“, das in seinem semantischen Gehalt gleichzeitig zuwenig und zuviel enthalte: einerseits reduziere es die auf grauenhafte Weise komplexe Realität der Vernichtungslager – aller Vernichtungslager – auf einen bloßen Ortsnamen, der es beinahe unmöglich mache, den alltäglichen Mechanismus dieser Lager zu erklären. Andererseits verweise der Name nur allzu leicht auf „jeglichen Völkermord“.638 Im Krebsgang ist dieses semantische Problem aufgegriffen. Indem das Unglück „einen Namen von globaler Bedeutung trug“ (135) ist das nicht Fassbare im „globalen“ anerkannt. Im Umkehrschluß findet sich ein Hinweis auf die Auflösung der NichtRepräsentierbarkeit: nur das „globale“ Gesamte ist nicht fassbar. Im März 2006 hat der spanische Aktionskünstler Santiago Sierra Autoabgase in eine Synagoge geleitet, die von den Besuchern mit Atemmasken und in Begleitung von Feuerwehrmännern betreten werden durfte. Das Projekt wurde bald gestoppt. Der belgische Maler Luc Tuymans beschreibt das Gefühl beim Durchschreiten der Synagoge: „Was bleibt, ist ein Glücksgefühl durch die Erfahrung des Schreckens. Man ist froh, dass einem nichts passiert ist. (…) In anderen Bereichen ist diese Katharsis zwar nicht grundsätzlich abzulehnen, aber bei diesem Thema fehlt die Distanz.“639 Distanz, erläutert Tuymans weiter, steht für „die Reflexion und für das Wissen um die Unmöglichkeit, die Gräueltaten sinnlich zu vermitteln.“ Tuymans kritisiert, Sierra habe „die Idee einer Tatsache zu seinem künstlerischen Objekt“ gemacht. „Es kann aber nicht darum gehen, den Horror nachzufühlen. Das ist unmöglich.“640 Tuymans bricht das Diktum der Nicht-Repräsentierbarkeit auf, indem er den Komplex „Auschwitz“ in Einzelteile fasst: Meine Meinung ist, dass es nicht der moralische Nachweis ist, der hier wichtig ist, sondern (…) dass wir begreifen, dass es Teil einer Kultur ist. Das Gefühl des Schreckens kann nicht der einzige und banale Zugang sein. (…) Der Holocaust 638 Ebd., S. 10. Luc Tuymans, `Wie darf Kunst den Holocaust zeigen?´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 17.03.2006, S. 40. 640 Ebd. 639 253 lässt sich nur in präziser Detailarbeit erahnen. Es ist ganz wichtig, dass man die Geschichte nicht als Ganzes versteht, das heißt Allgemeinplätze referiert, sondern sie in ihren Einzelheiten sieht.641 Die Abbildungen dieser Einzelheiten finden sich im Krebsgang. Die wenigen expliziten Bezüge zum Holocaust beschränken sich auf die Namen Dachau und Oranienburg (17), Stutthof (211) und Buchenwald (41). Indem die Einzelteile als Subtext unter der Schablone einer Geschichte über die Vertreibung der Deutschen hervor dringen, stechen sie umso deutlicher heraus. Durch die Konfrontation mit einzelnen Ausschnitten des Traumas als ein Weg der seelischen Integration (vgl. „Durcharbeiten“), bricht der „Schrecken“ als „einzige(r) banale(r) Zugang“ auf. Es sind die zahlreichen Bilder im Krebsgang, die als auf den „Holocaust“ zielenden Subtext untrennbar mit diesem verbunden sind: „Kinder sind ohne Mütter aufs Schiff gekommen. Und Mütter haben erleiden müssen, wie in dem Gedränge auf der Gangway ihr Kind von der Hand weggerissen (wurde)……Da half kein Schreien.“ (108) Eine Krankenschwester entscheidet, dass Eltern und Tochter Pokriefke getrennt voneinander untergebracht werden. (109) Die Figur der Krankenschwester assoziiert den mit einem Fingerzeig über Leben und Tod entscheidenden „Arzt“ auf der Rampe der ankommenden Züge. Das traumatische, „schreck-liche“ Wesen dieser Bilder wird anerkannt durch die „Spaltung zwischen dem Gesprochenem und dem Visuellen“ als ein Versuch, „dem Trauma als dem Unsichtbaren und dem Unartikulierbaren Ausdruck zu verleihen.642 Die „Einzelteil“-Konfrontation mit dem Holocaust findet sich auf mehreren Ebenen der Novelle. Grass hat das Trauma „Auschwitz“ als Zäsur gewertet. Diese Zäsur solle „unseren Begriff von menschlicher Existenz mit Ereignissen (…) datieren, die vor und nach Auschwitz geschehen sind.“643 Indem die Ereignisse vor und nach dem traumatischen Ereignis des Untergangs der Gustloff gegliedert sind, findet sich diese Struktur in der Erzählung der Novelle wieder. 641 Ebd. Koch, in Das Soziale Gedächtnis. S. 132. 643 Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 10. 642 254 Der Erzähler Paul bezeichnet den 30. Januar als das „verfluchte Datum, mit dem alles begann, sich mordsmäßig steigerte, zum Höhepunkt kam, zu Ende ging.“ (11) Durch das Datum, das Paul „anhängt, mich stempelt“ (116) entsteht eine Verbindung zur Erfahrung Paul Celans: „Vielleicht darf man sagen, dass jedem (jüdischen) Ich sein 20. Jänner eingeschrieben ist.“644 Tulla fordert Paul auf: „Das musste aufschraiben. Biste ons schuldig als glicklich Ieberlebender.“ (31) Als Ausgangspunkt steht Celan: „Ich hatte mich, das eine wie das andere Mal, von einem `20. Jänner´, von meinem `20. Jänner´ hergeschrieben.“645 In der Realität des Holocaust werden vier Tage vor dem Beschuss der Gustloff, am 26. Januar 1945 die Lager Auschwitz und Birkenau durch sowjetische Truppen befreit. Im Krebsgang zeichnet Paul das Bild dieser „verspäteten“ Befreiung: „Bald hielt die hundertsechsundsechzig Meter lange, Steuer- und Backbord umlaufende Vitrine tausend und mehr Menschen gefangen. Erst ganz zum Schluß, als es zu spät war, sind an einigen Abschnitten der Promenadenverglasung die Panzerglasscheiben zerborsten.“ (136) Das Motiv diese Bilder hinter der Schablone von Flucht und Vertreibung scheint nicht der Vergleich. Während das eine im diffusen Licht des Hintergrunds bleibt, weil es als Ganzes nicht darstellbar ist, war „zu riechen, zu sehen, zu zählen, zu fotografieren und für alle Kinos im Reich als Wochenschau zu filmen, wie viele Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt, danach totgeschlagen, an Scheunentore genagelt worden waren. T-34-Panzer hatten Flüchtende eingeholt und zermalmt. Erschossene Kinder lagen in Vorgärten und Straßengräben.“ (101) Luc Tuymans hält eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht zuletzt deshalb für unabdingbar, „weil er einen totalen, psychologischen Zusammenbruch von Westeuropa bedeutete.“646 Indem im Krebsgang das Trauma als „Bahn“ gelegt wird, wird an diesem psychologischen Zusammenbruch angesetzt. Im nachfolgenden 644 Celan, `Meridian´, S. 201. Anmerkung: Am 20. Januar 1942 fand die Wannseekonferenz statt, auf der Heydrich und die NS-Führungselite zusammenkamen und Heydrich nach dem gemeinsamen Essen von der beschlossenen „Endlösung“ Mitteilung machte - von der geplanten systematischen Ausrottung der gesamten europäischen Judenheit. 645 Celan, ebd. 646 Tuymans, ebd. 255 Kapitel „Transgenerationelle Übertragung“ soll untersucht werden, wie sich ein unbearbeiteter psychologischer Zusammenbruch in der Vergangenheit in die Zukunft verschleppt. Im abschließenden Kapitel dieser Arbeit „Durcharbeiten“ wird die Konfrontation des Traumas als „Bahn“ zur Erkenntnis weiter verfolgt. 256 Das Gewesene im Sein Aus der Koexistenz von „Jung und Alt“ in Deutschland hat Ralph Giordano im Zuge des Historikerstreiks Mitte der 1980er Jahre den Begriff der „Zweiten Schuld“ abgeleitet, die entstanden sei mit der „Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945“.647 Opfer dieser zweiten Schuld seien vornehmlich die Söhne, Töchter und Enkel, denn auf diese komme zu, was von den Älteren versäumt worden sei, die Aufarbeitung der Schuld.648 Giordanos Urteil der Schuldverweigerung der Deutschen nach 1945 lässt zwar die Wirkungen von Traumata aus Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust außen vor. Wie im Abschnitt „Verdrängung“ dargelegt, können Abwehrmechanismen, Verweigerung und Verleugnung im Wechsel mit zwanghafter Konfrontation mit dem Geschehenen (Wiederholungszwang) pathologische Merkmale als Folge von Traumatisierungen sein. Andererseits „begreift“ Giordano die Prozesse der transgenerationellen Übertragung auf der „Täterseite“, wenn er die nachfolgenden Generationen als „Opfer“ bezeichnet. Jörn Rüsen verweist darauf, dass vor allem die Erinnerungen als Faktoren der kulturellen Orientierung und Identität auf den Einfluss des Vergangenen auf das Gegenwärtige deuten: „Geschichte als Inhalt des Geschichtsbewusstseins ist eine Orientierungsgröße der menschlichen Lebenspraxis.“649 Um zu verstehen, wie die Inhalte dieser Geschichte als Orientierungsgröße in den nachfolgenden Generationen gestaltet sind, muss erfasst werden, was als Geschichte an sie weitergegeben worden ist. Vor dem Hintergrund, dass sich die Epoche der Zeitzeugen als Träger dieser Geschichte allmählich dem Ende neigt, sieht Werner Bohleber eine gewisse Brisanz für die Frage nach den Inhalten der übertragenen Geschichte: „(D)ie Historisierung der kollektiven Katastrophen des 20. Jahrhunderts (hat) durch das Aussterben der Zeitzeugen die Frage nach der transgenerationalen Weitergabe von Erinnerung individuell und gesellschaftlich erneut dringlich gemacht.“650 647 Ralph Girodano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg, 1987, S. 11. Ebd., S. 21. 649 Rüsen, Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln, 2006, S. 71. 650 Bohleber, in „Vergangenes“, S. 3. 648 257 Bohleber deutet in seiner Formulierung auf einen Kerninhalt der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es sind die „Katastrophen“, die Menschen erlebt haben und die (pathologischen) Traumatisierungen, die daraus entstanden sind. Die transgenerationelle Weitergabe von traumatischen Erlebnissen ist ein Phänomen, das bislang vorwiegend auf Seiten der Holocaustopfer untersucht worden ist. Erst seit den 1980er Jahren wurden die Folgen von Nationalsozialismus und Krieg für die nächste Generation vermehrt Gegenstand psychoanalytischer Untersuchung. Die Pathologie der Eltern, das Verleugnen der Beteiligung am Nationalsozialismus und an seinen Verbrechen, die Hörigkeit gegenüber seinen Idealen, die Korrumpierung des elterlichen Ich-Ideals, die Unfähigkeit, sich mit Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen, all das zeitigte für die Kinder Spätfolgen, weil die Eltern sie, vor allem wenn Schuld und Verantwortung verleugnet wurden, im Sinne ihrer Abwehr narzisstisch funktionalisierten und missbrauchten. Eine solche Situation konnte durchaus als traumatisch im Sinne einer lang einwirkenden Schädigung angesehen werden.651 In Anlehnung an Harold Marcuses „Generational Cohorts and the Shaping of Popular Attitudes towards the Holocaust“652 hat der Erziehungswissenschaftler Jürgen Zinnecker die “unbeteiligten” Generationen der Nachgeborenen kategorisiert und so die zeitliche Dimension der transgenerationellen Weitergabe definiert. Für die zwischen 1937-1953 geborene „Erste Nachkriegsgeneration“ benennt Zinnecker als prägende Erlebnisse die Studentenbewegung, die Auschwitzprozesse und den Vietnamkrieg. Diese Generation sei unmittelbar mit dem Schweigen der Eltern konfrontiert gewesen. Die „Zweite Nachkriegsgeneration“, geboren zwischen 1954-1966 ist in einem Umfeld der öffentlichen Aufarbeitung des Holocaust (z.B. TV-Serie „Holocaust“) und mit Eltern aufgewachsen, die die „Gnade der späten Geburt“ (1926-1936) hatten. Die „Dritte Nachkriegsgeneration“, die Kinder der „68er“ sei zwischen 1967-1976 geboren und geprägt durch eine mediale bzw. schulische Vermittlung von NS und Holocaust (z.B. Reagan in Bitburg).653 Bohleber, in „Trauma“ S. 820. University of California, USA, März 2000. 653 Vgl. Zinnecker, KWI-Tabelle. 651 652 258 Im Krebsgang sind Konny und Wolfgang Repräsentanten der „Dritten Generation“. Sie sind die Kinder der „68er“, in der Novelle besetzt mit den Figuren Gabi als Konnys Mutter und dem Ehepaar Stremplin als Eltern von Wolfgang. Paul ist auf der narrativen Ebene zwar Konnys Vater. Maßgeblich für dieses Kapitel ist jedoch dessen metaphorische Rolle als Trauma (vgl. Abschnitt „Trauma“). Nachfolgend wird das Phänomen der transgenerationellen Übertragung von erlebter Geschichte und historischen Traumata sowie deren nachhaltige traumatische Ausprägung (Bohleber) vor allem auf die Dritte Generation im Krebsgang untersucht, jene Generation die die größte zeitliche Distanz zu den Ereignissen vor 1945 hat und in einer Epoche mit nur noch wenigen Zeitzeugen lebt. Hierdurch wird die Intensität der Übertragung besonders deutlich. Die Prozesse von Generation zu Generation sind vergleichbar und gelten entsprechend für die Zweite Nachkriegsgeneration. 259 Die Tradierung der Geschichte Im Rahmen einer Mehrgenerationenstudie zur Thematik der „Tradierung von Geschichtsbewusstsein“ verweist Harald Welzer auf die identitätsbildende Wirkung von Familiengeschichten: Die kommunikative Vergegenwärtigung von Vergangenem in der Familie ist mithin kein bloßer Vorgang der Aktualisierung und der Weitergabe von Erlebnissen und Ereignissen, sondern immer auch eine gemeinsame Praxis, die die Familie als Gruppe definiert, die eine spezifische Geschichte hat, an der die einzelnen Mitglieder teilhaben und die sich – zumindest in ihrer Wahrnehmung – nicht verändert.654 Es ist die Erinnerung an Tullas Geschichte, die Konny „aufsaugt“ (44), aus der er die Bestätigung der „sozialen Identität der Familie“655 gewinnt: Die beiden verstanden sich auf Anhieb. (…) Bin sicher, dass Mutter ihn mit ihren Geschichten, die ja nicht nur auf dem Tischlereihof in Langfuhrs Elsenstraße spielten, vollgedröhnt hat. Alles, sogar ihre Abenteuer als Straßenbahnschaffnerin im letzten Kriegsjahr, hat sie ausgepackt. Wie ein Schwamm muß der Junge ihr Gerede aufgesogen haben. Natürlich hat sie ihn auch mit der Story vom ewigsinkenden Schiff abgefüttert. (44) Entsprechend ist es Tulla, die er „auf ihren Wunsch“ (44) hin „Oma“ nennt, zu der Konny eine innige familiäre Zugehörigkeit empfindet: „Mich wollte er nicht sehen, bevor er abgeführt wurde. Und noch im Gerichtssaal hat er nicht etwa seine Mutter, sondern seine Großmutter umarmt“. (198) Ob Tullas Erinnerungen wahrhaftig sind, oder traumatisch verzerrt hat für deren Wert als Identitätsfunktion für Konny keine Bedeutung: „Auch wenn sie es nicht immer sind, müssen wir unsere Erinnerungen doch für wahr halten, weil sie der Stoff sind, aus dem Erfahrungen, Beziehungen und vor allem das Bild der eigenen Identität gemacht ist. Ohne Erinnerungsvermögen könnten wir kein Selbst aufbauen und nicht mit anderen als individuelle Personen 654 Welzer, `Das gemeinsame Verfestigen von Vergangenheit im Gespräch´, S. 160-178 in Das Soziale Gedächtnis, S. 163. 655 Ebd. 260 kommunizieren.“656 Die fragmentarische Narration, die sich aus Tullas Traumatisierung ergibt (vgl. Abschnitt „Traumata“) ist dem Wesen des Familiengedächtnisses vergleichbar: „Das Familiengedächtnis ist kein umgrenztes und abrufbares Inventar von Geschichten, sondern besteht in der kommunikativen Vergegenwärtigung von Episoden, die in Beziehung zu den Familienmitgliedern stehen und über die sie gemeinsam sprechen.“657 Für Konny ist in dieser Fragmentierung nicht ersichtlich, dass Tullas Erinnerungen traumatisch geprägt sind. Er übernimmt diese als Familienerinnerung. Durch die Fragmentierung der Geschichten, die weder aus einem Stück, noch vollständig oder konsistent sind, werden „Anknüpfungspunkte für unterstützende, unterbrechende und korrigierende Kommentare und Ergänzungen (geboten).“658 In Konnys eigener Interpretation der Erlebnisse Tullas zeigen sich diese Ergänzungen: „Dieser Terror droht immer noch ganz Europa, falls gegen die asiatische Flut kein Damm errichtet wird…“: Konnys bedrohliches Bild beschwört die Botschaft eines CDU-Wahlplakats aus den 1950er Jahren „das ein gefräßiges Ungeheuer asiatischen Typs zur Schau stellte“ (101-2). Dieses Plakat agierte mit der diffusen Angst vor den „Russen“ in der deutschen Bevölkerung auch nach Kriegsende. Tullas nachhaltige Angst offenbart sich in dem Kauf einer Waffe, die sie sich „glaich nach de Wende auffem Russenmarkt“ (198) besorgt hatte. Unerheblich ist, ob die Geschichten der einzelnen Familienmitglieder übereinstimmen: Das Familiengedächtnis basiert nicht auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner Geschichten, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung des Erinnerns.659 Tatsächlich unterscheidet sich Konnys Version der Flucht von der Tullas, denn sie hat „ihn mit ihren Gräuelgeschichten, Vergewaltigungsgeschichten vollgepumpt, die sie zwar nicht leibhaftig erlebt hatte, die aber (…) überall erzählt und verbreitet wurden“. (100-1) Auf Konnys Internetseite heißt es: „In Ruhe und Ordnung nahm das Schiff die 656 A. Assmann, `Wie wahr sind Erinnerungen?´, in Welzer, S. 103. Welzer, ebd., S. 161. 658 Ebd., S. 164. 659 Ebd. 657 261 vor den russischen Bestien fliehenden Mädchen und Frauen, Mütter und Kinder auf….“. (102-3) Konnys Version indiziert bereits die Tradierung der Verdrängung von Tullas Trauma, das an späterer Stelle ausführlich untersucht wird (vgl. „Der Auftrag aus dem transgenerationell übertragenen Trauma“). Durch die Montage narrativer Versatzstücke aus der Gegenwart, aus Tullas Erlebnissen und der Historie entsteht eine besondere Eindringlichkeit: Indem verschiedene „historische und subjektive Zeitkerne aneinandermontiert werden“, wird ein „Prozess der Verlebendigung“ eingeleitet.660 Eine spezielle Situation ergibt sich im Fall vieler deutscher Familien. Bei Familienerzählungen an die NS-Vergangenheit besteht das Phänomen, dass eine auf der Ebene des kulturellen Gedächtnisses als verbrecherisch markierte Vergangenheit mit einem Familiengedächtnis in Übereinstimmung gebracht werden muss, „das unter den Erfordernissen von Kohärenz, Identität und wechselseitiger Loyalität jedes Mitglied dazu verpflichtet, die `gute Geschichte´ der Familie aufrechtzuerhalten und fortzuschreiben.“661 Tatsächlich nimmt Konny nur Tullas Seite der Geschichte wahr: Warum log Konny? Warum beschwindelte der Junge sich und andere? Warum wollte er, der sonst so penible Detailkrämer (…) nicht zugeben, dass weder ein Rotkreuztransporter noch ein ausschließlich mit Flüchtlingen beladener Großfrachter am Kai lag, sondern ein der Kriegsmarine unterstelltes, bewaffnetes Passagierschiff, in das unterschiedlichste Fracht gepfercht wurde? Warum leugnete er, was seit Jahren gedruckt vorlag und selbst von den Ewiggestrigen kaum mehr bestritten wurde? (103-4) Nicht selten resultierte die Unmöglichkeit eine „gute Geschichte“ aufrechtzuerhalten in einem Schweigen der Eltern: „In der Kriegsgeneration gab es vielfach kollektive Versuche, die eigene Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu relativieren bzw. zu verleugnen. Diese Phänomene haben sich auf familialer Ebene ebenfalls gezeigt.“662 Eine Folge 660 Ebd., S. 178. Ebd., S. 168. 662 Wolfgang Neumann, Spurensuche als psychologische Erinnerungsarbeit, Tübingen, 1999, S. 41. 661 262 davon war, dass das Ende des „Dritten Reiches“ vielfach auch das Ende von Erzähltraditionen in den Familien bewirkte.663 Entsprechend gehört zu den häufigsten Erfahrungen der nachfolgenden Generation, sowohl der Opfer- als auch der Täterkinder, das Schweigen der Eltern über die im Krieg oder Konzentrationslagern gemachten Erfahrungen.664 An dieser Stelle spaltet sich Konnys Rolle auf. Die historische Ambivalenz Tullas als „Opfertäterin“ bewirkt, dass Konny als ihr Nachfahre beide Ausprägungen in sich trägt: die aus dem Beschweigen des Traumas und die aus dem Verschweigen über die Schuld. Konny ist einerseits der Empfänger von traumatischen Erinnerungsfragmenten und andererseits von „leeren Stellen“ aus dem Schweigen über Tullas Schuld aus ihrer Denunziation gegenüber Studienrat Brunies. Diese beiden bilden für Konny das Familiengedächtnis, aus dem er seine Identität bezieht. Nachfolgend sollen zunächst die Tradierung des Schweigens (Schuld) und im Anschluss die Tradierung des Beschweigens (Trauma) als Inhalte des Familiengedächtnisses untersucht werden. 663 664 Ebd., S. 14. Vgl. Sebald, Luftkrieg und Literatur, S. 83. 263 Das Schweigen der Eltern Der 1944 geborene W.G. Sebald verbindet das Schweigen der (Mitläufer, Mitwisser, Mittäter-) Eltern für den Heranwachsenden mit dem Gefühl, „es würde mir etwas vorenthalten, zu Hause, in der Schule und auch von den deutschen Schriftstellern, deren Bücher ich in der Hoffnung las, mehr über die Ungeheuerlichkeiten im Hintergrund meines eigenen Lebens erfahren zu können.“665 Auch Konny liest Bücher deutscher Autoren. Zwei Bände Kafkas stehen im Regal seiner Gefängniszelle. (215) Rüdiger Görner erinnert daran, dass Grass Kafka „als einen Menschen und Schriftsteller (sah), der sich und seine Figuren Geschichte erleiden lässt.“666 Tulla selbst sieht Konny als das Opfer ihrer eigenen Geschichte und scheint so ihre „Zweite Schuld“ (Giordano) anzuerkennen: „Nich das Jungchen, mich hätten se ainlochen jemußt.“ (198) Jörn Rüsen diagnostiziert Folgen für die nachfolgenden Generationen aus diesem Schweigen: Man sollte aber nicht übersehen, dass das Beschweigen (…) eine mentale Innenseite hatte und dort einen hohen kulturellen Preis forderte. Da man die Vergangenheit ja nicht einfach durch Beschweigen zum Verschwinden bringen kann, blieb sie als Beschwiegene mental präsent und wurde im Schweigen der Öffentlichkeit so verarbeitet, dass sie auf der Oberfläche des Bewussteins ihren störenden und belastenden Charakter verlor. Das geschah teilweise durch schlichte Verdrängung. Aber viel wichtiger für die Mentalitätsgeschichte der BRD waren die (noch wenig erforschten) mentalen Vorgänge der Umdeutung, die sie erträglich machten. Zusammen mit der Kraft unbewusst gemachter Erinnerung braute sich eine Konstellation des Erinnerns und Vergessens zusammen, die von der nachfolgenden Generation als schwere Belastung empfunden wurde und in den Prozessen ihrer Bewältigungsversuche wirksam blieb. Man kann vom Zerbrechen einer intergenerationellen Erinnerungsgemeinschaft sprechen. Ein solches Zerbrechen stellt eine schwere Störung von historischer Identität dar.667 Als Konny den ehemaligen Ehrenhain Gustloffs als Ort für das erste Treffen vorschlägt, protestiert Wolfgang gegen Konnys „revisionistischen Geschichtsrelativismus“ (160). Dem entgegnet Konny: „Wer die Geschichte 665 Ebd. Görner in Honsza; Swiatlowska, (Hg.), S. 482. 667 Rüsen, `Holocaust, Erinnerung, Identität´, S. 243-259 in Das soziale Gedächtnis, S. 248f. 666 264 seines Volkes vergisst, ist ihrer nicht wert!“ (ebd.) In Konnys Reaktion zeichnet sich Rüsens Diagnose einer „schweren Störung von historischer Identität“ aus dem Erinnern und Vergessen ab. Was als unverfängliche Feststellung über die Historie zu beginnen scheint – „Wer die Geschichte seines Volkes vergisst“ – endet in der Ausgrenzung aus der (Erinnerungs-)Gemeinschaft – „ist ihrer nicht wert!“ In den Begriffen der Wertigkeit und der Ausgrenzung lassen sich die Merkmale nationalsozialistischer Ideologie wiedererkennen. Auch in der klischeehaft anmutenden Überreaktion Wolfgangs - „revisionistischen Geschichtsrelativismus“ - deutet sich eine Störung an. In beiden Fällen scheint das Wissen über die tatsächliche Ereigniskette unterbrochen durch „leere Stellen“, entstanden aus dem Schweigen der Zeitzeugen. Neumann veranschaulicht den Prozess der „leeren Stellen“ innerhalb der Familien: Aus den Familienbüchern und –biographien wurden aufgrund des `kollektiven Schweigens´ (…) viele Details gestrichen: Namen, Fakten, Orte, Personen, Tatbestände und Tathinweise, Tote und Verletzte, Materielles und Immaterielles, Ideale und Lebensinhalte sowie Erfahrungen mit Freud und Leid. Die nachfolgenden Generationen wurden und werden von ihren Eltern und Großeltern durch Verschleierung von Details der NS-Zeit über innerfamiliäre geschichtliche Wahrheiten im Unklaren gelassen, weil das konkrete Ausmaß von Schuld (…) vertuscht werden sollte. Dadurch erfolgt eine besonders starke und nicht `greifbare´ Übertragung tabuisierter Themen auf die nachfolgenden Generationen in Form familiärer Aufträge, deren Inhalte oft unbekannt bleiben und die von diffusen Gefühlen, von Spannung, Angst und Schuldgefühlen, begleitet werden.668 Besonders deutlich zeigen sich diese diffusen Schuldgefühle aus der „Übertragung tabuisierter Themen“ in der Figur Wolfgang Stremplin: „Doch habe ihr Sohn sich schon früh, seit seinem vierzehnten Lebensjahr, den Vornamen David auferlegt und sich wegen der, weiß Gott, sattsam bekannten Kriegsverbrechen und Massentötungen derart in Sühnegedanken gesteigert, daß ihm schließlich alles Jüdische irgendwie heilig gewesen sei.“ (185) Auf eine Bürde aus der Geschichte vergangener 668 Neumann, S. 14. 265 Generationen deutet insbesondere der Schlüsselbegriff des „auferlegten“ Namens David. Die Umschreibung der „sattsam bekannten Kriegsverbrechen und Massentötungen“ für den Holocaust offenbart die Verschleierung durch Mutter Stremplin, die einer „seit Generationen im Badischen ansässigen Bauernfamilie“ (181) entstammt, die den Mitläufern und Mitwissern zugeordnet werden kann.669 Das Ausblenden der Historie resultiert im Krebsgang in der Hilflosigkeit Mutter Stremplins gegenüber der eigenen Geschichte. Indem sie nur das Vordergründige in der philosemitischen Verwandlung ihres Sohnes zu sehen vermag, dem „schließlich alles Jüdische irgendwie heilig gewesen sei“ (185) - nicht aber die hintergründigen (Schuld-)Motive und deren Ursprünge dafür erkennt – „All das habe wohl mit diesem Gustloff (…) zu tun (…) hat es an Wissen, was den Fall Gustloff betrifft, leider gefehlt“ (186), bleibt ihr am Ende die Erkenntnis verschlossen. Sie ist geneigt, „alles irgendwie unerklärlich zu finden.“ (187) Entsprechend bleibt ihr der Zugang zu ihrem Sohn - auch als Metapher ihrer eigenen Zukunft - versagt: „In letzter Zeit ist uns unser Bub unerreichbar gewesen.“ (ebd.) Die leeren Stellen des Vergangenen resultieren in der (Erkenntnis-)Störung für zukünftige Identitätsentwürfe. Die eigene Hilflosigkeit lässt Mutter Stremplin in den geistigen Ausgangspunkt ihrer Existenz Mitte der 1950er Jahre, dem Wunsch nach „Tabula rasa“, regredieren: „irgendwann müsse Schluß sein mit den ewigen Anklagen“. (185) Der Psychologe Peter Pogany-Wnendt erklärt, wie sich aus dem Schweigen der Eltern ein Auftrag für die Kinder ergibt: Die unverarbeiteten Verlust- und Verfolgungserfahrungen der ÜberlebendenEltern, sowie die uneingestandenen Taten der Täter- bzw. Mitläufer-Eltern werden an die Kinder weitergegeben, die dann die Aufgabe aufgebürdet bekommen, sie zu verarbeiten. Da die Weitergabe zum größten Teil unbewusst geschieht, wissen die betroffenen Kinder nichts davon. Sie wissen ebenso wenig, wie sie die unmöglichen Aufgaben erledigen können und entwickeln oft 669 Vgl. Friedel Scheer-Nahor, `Händlergeschick traft Bauernschläue´, in Badische Bauern Zeitung, 15.04.2006, S. 4. 266 unbestimmte Gefühle von Hilflosigkeit, Unzulänglichkeit und Schuld gegenüber den Eltern.670 Diese „Hilflosigkeit, Unzulänglichkeit und Schuld“ offenbart sich in der Figur Wolfgang Stremplin, der die Identität David Frankfurters annimmt: So verlief ihr Rollenspiel: wie eingeübt. Und doch zweifelte ich mehr und mehr an meiner Annahme, es klicke sich Mal um Mal ein erfundener David ein, es quassle ein Homunkulus gestanzte Sätze, etwa diese: `Euch Deutschen wird Auschwitz als Zeichen der Schuld ewiglich eingebrannt sein…´Oder: `Du bist ein deutliches Beispiel für das nachwachsende Unheil…´ Oder Sätze, in denen sich David im Plural versteckte: `Uns Juden bleibt die nie endende Klage.´- `Wir Juden vergessen nie!´ (118). Mit der Annahme einer jüdischen Identität negiert der christliche Deutsche seine eigene. Der Preis für die Annahme der (fremden) jüdischen Identität als David Frankfurter (nachfolgend „David“) ist in letzter Konsequenz der Tod der eigenen – narrativ dargestellt in dem Tod Wolfgangs durch den Mord an „David“ (175). Der Tod Wolfgangs in der Rolle des historischen David offenbart den Bruch der intergenerationellen Erinnerungsgemeinschaft671. 670 Peter Pogany-Wnendt, `Dialog zwischen den Nachkommen der Opfer und den Nachkommen der Täter in der zweiten Generation nach dem Holocaust.´, Beitrag zu Kongress: “Memory, Narrative & Forgiveness. Reflecting on ten years of South Africa's Truth and Reconciliation Commission”, University of Capetown, 22.-26. November 2006, http://www.pakh.de/Archiv/Kongress_Kapstadt_2006/body_kongress_kapstadt_2006.html, S. 6. 671 Vgl. Rüsen. 267 Der Auftrag aus dem transgenerationell übertragenen Trauma Zu dem Ausblenden der Historie aus Schuld- und Schamgefühlen heraus, fügt sich das „Nicht-wissen“ des Traumas672 als leere Stellen. In der öffentlichen Aufarbeitung der NS-Zeit ab der zweiten Phase673 Mitte der 1960er Jahre (Auschwitz Prozesse) überlagerte das unfassbare Trauma des Holocaust andere Katastrophen zwischen 1933 und 1945. Als Folge davon blieb ein gesamthistorischer Ansatz in der Bearbeitung der erlebten Geschichte weitgehend aus. Erst im Jahr 2005 plädiert etwa Peter Glotz mit Blick auf die Vertriebenen für die öffentliche Anerkennung der Kriegsleiden: `Die Henker wollen sich als Opfer darstellen´, heißt eine weitverbreitete polnische These. Wir haben nicht vergessen, wer den Zweiten Weltkrieg angefangen hat – Hitler, und zwar mit Zustimmung vieler Deutscher. Das heißt aber nicht, dass es Täter- oder Opfervölker gäbe. Jedes Volks ist eine vertrackte Mischung aus Tätern, Mittätern, Mitläufern und Opfern. Wir haben nie bezweifelt, dass das deutsche Volk im Griff Hitlers viel zu viele Täter, Mittäter und Mitläufer hatte. Das ist aber kein Grund, der deutschen Opfer, die es eben auch gab, nicht zu gedenken.674 Die Gefahr der Vermengung von „Henkern und Opfern“ reflektiert sich im Krebsgang in der Metapher Paul als Trauma: „Wenn ich jetzt beginnen muss, mich selber abzuwickeln, wird alles, was mir schiefgegangen ist, dem Untergang eines Schiffes eingeschrieben sein“. (7) Auf die Gefahr der Schuldabwehr ist hingedeutet, indem das was Paul „schiefgegangen“ ist (er bewahrt seinen Sohn nicht vor einer Mordtat), dem Trauma des Untergangs zugeschrieben wird. Tatsächlich ist nicht das Trauma ursächlich „schuld“ an dem „Schiefgegangenen“ (Paul hat Konny nicht zum Mord aufgefordert), sondern die Katastrophe wiederholt sich, weil das Trauma sich nicht selbst „abwickelt“ und zur (Er-)Kenntnis „gebracht“ werden kann. Tullas Versuche ihr Trauma durchzuarbeiten, scheitern an „dessen“ Sprachlosigkeit. Die wiederholten Aufforderungen gegenüber Paul, er möge die Geschichte ihres Traumas „aufschraiben“ (31) scheitern, weil sich das Trauma nicht selbst „abwickeln“ (7) kann: „Traumatisierung schließt das Wissen vom Trauma aus.“675 Es bedarf der äußeren Hilfe, um ein Trauma zu bearbeiten (vgl. „Durcharbeiten“). Wie gestaltet sich nun der 672 Vgl. Laub Vgl. A. Assmann in „Einführung“ 674 Peter Glotz, Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers, Berlin, 2005, S. 36. 675 Laub, S. 866. 673 268 Einfluss des „Gewesenen auf das Sein“, wenn Geschichte außerhalb des Bewusstseins liegt? „Dieser Ausschluß (des Wissens über Trauma) sowie die dissoziierte Erfahrung und Erinnerung des Traumas sind kein passives Ende der Wahrnehmung oder Erinnerung. Das Nicht-Wissen ist vielmehr eine aktive, hartnäckige, gewaltsame Verweigerung, eine Auslöschung, eine Zerstörung von Form und Struktur.“676 Durch die Prozesse der transgenerationellen Übertragung wird diese zerstörte Form und Struktur zum unbewussten bzw. unterbewussten Inhalt des Geschichtsbewusstseins: „Wenn Verfolgte und Verfolger (…) nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, was sie erfahren oder getan haben zu verarbeiten, dann geben sie das Unverarbeitete an ihre Kinder weiter.“677 „Lauter Schnitzeljagten im familiären Gehege“ (193), fasst Paul die Gutachten der beiden Kriminalpsychologen zusammen, die die Ursachen von Konnys Mordtat erklären sollen, der „in Mutters Fänge geraten ist.“ (ebd.) Das (traumatisch) Fragmentarische – „Schnitzeljagten“ – aus dem Familienkanon des Familiengedächtnisses – „familiäres Gehege“ – dem nicht zu entkommen ist - „in Mutters Fängen“ – werden so als Quelle der Mordtat assoziativ miteinander verbunden.678 Tulla lässt Konny durch „ihre Geschichten“, beginnend beim Tischerleihof in Langfuhr, den Abenteuern als „Straßenbahnschaffnerin im letzten Kriegsjahr“ und dem „ewigsinkenden Schiff“ (44) an ihrem Trauma teilnehmen, das so zum prägenden Erlebnis in Konnys Leben wird. Diese Prägung zeigt sich in dem Trauma Paul als genealogisches Bindeglied zwischen Tulla und Konny als Sohn bzw. Vater. Im Krebsgang kulminiert das „Nicht-Wissen“ in der Auslöschung Wolfgangs alias David, nachdem Konny seiner Großmutter geschworen hat, „die Wahrheit, nichts als 676 Ebd. Pogany-Wnendt, S. 8. 678 Anmerkung: Maurice Halbwachs hat die Familie im Vergleich zu anderen sozialen Gruppen als eine „unauflösliche Einheit“ bezeichnet: selbst wenn die Familienbeziehungen aufgrund von Tod, Scheidung etc. zerreißen, blieben Väter Väter und Söhne Söhne. Vgl. hierzu Welzer in Das Soziale Gedächtnis, S. 168. 677 269 die Wahrheit zu bezeugen“ (73). Die Wahrheit verweigert sich jedoch im Traumatischen, indem die einzelnen Fragmente kein Gesamtbild ergeben. Dieses Gesamtbild erschlösse das historische Vorher und Nachher des Traumas. Entsprechend bleiben Tulla die historischen Zusammenhänge ihres Traumas verschlossen: „Mecht mal bloß wissen, was sich dieser Russki jedacht hat, als er Befehl jab, die drai Dinger direktemang auf ons loszuschicken….“ (11). Das sichtbare Zeichen der Wahrheit (des Traumas) seiner Großmutter ist für Konny der Ehrenhain Gustloffs. Er kämpft für die Wiedererrichtung des von den Russen zerstörten Mahnmals als einen Ort der Trauer für das schreckliche Erlebnis seiner Großmutter (192), das den Namen „Gustloff“ trägt: Da ich in der Stadt zwischen den sieben Seen aufgewachsen bin, weiß ich, wo später am Südufer des Schweriner Sees die Urne im Fundament eingemauert wurde. Drauf stand ein vier Meter hoher Granit, den eine keilförmig gemeißelte Inschrift beredt macht. Mit den Grabsteinen anderer Alter Kämpfer bildete er den Ehrenhain um die eigens gebaute Ehrenhalle. (…) Für mein mir vernetztes Gegenüber jedoch (Konny) bestand Bedarf, wiederum und an gleicher Stelle einen Gedenkstein zu errichten; nannte er doch Schwerin unentwegt die `Wilhelm-Gustloff-Stadt´. (37) Das Zerstörerische des Nicht-Wissens nimmt seinen Lauf, nachdem David alias Wolfgang „auf das vermooste Fundament gespuckt, also den Ort des Gedenkens, wie mein Sohn später aussagte, `entweiht´ haben (soll).“ (175) Das Zerstörerische in der Dritten Generation im Krebsgang, der Mord an Wolfgang alias David, ist somit die Folge der „leeren Stelle“ im Geschichtsbewusstsein: „Aus Gründen der Fairneß müsse gesagt werden: Wie er, so habe auch Frankfurter `ganz aus innerer Notwendigkeit´ gehandelt.“ (189-90) In dieser Verbindung zwischen der historischen Orientierung und dem gegenwärtigen Handeln zeigt sich die gestörte historische Identität im ungebrochenen Kreislauf der Gewalt. Ein Blick auf die psychologischen Abläufe der transgenerationellen Übertragung von Traumata verdeutlicht den Hintergrund von Konnys Mordmotiv. Die nachfolgenden Ausführungen über die transgenerationelle Weitergabe von Traumata sind der Holocaustforschung entlehnt. Die 270 Forschungsergebnisse in diesem Feld, beginnend in den 1960er Jahren, sind umfangreich und damit von entsprechend empirischem Gehalt. Derzeit liegen nach meinen Recherchen keine substantiellen Ergebnisse zur Erforschung der Prozesse transgenerationeller Weitergabe von Traumata von „Opfertäter“ an ihre Kinder vor. Die Ergebnisse aus der Holocaustforschung können aus offensichtlichen Gründen nur näherungsweise Erkenntnisse im Rahmen dieses Kapitels erbringen. Wesentlich zu beachten ist dabei, dass „die Folgen einer lang anhaltenden kumulativen Traumatisierung komplexer sind, vor allem auch in den langfristigen Auswirkungen auf soziale Beziehungen und in der Interdependenz mit dem sozialen Gefüge“ als bei kurzen, konkreten traumatischen Sequenzen.679 Für die nachfolgenden Generationen auf Seiten der „Opfertäter“ und Opfer liegt der gemeinsame Nenner in den pathologischen Grundmustern von extremer Traumatisierung durch Gewalt und Verfolgung. (vgl. hierzu Abschnitt „Trauma“) Ein Unterschied ergibt sich für letztere durch den Prozess der „Entmenschlichung“ in den Konzentrationslagern, was die Intensität der Traumasymptome bestimmt. Bohleber beschreibt, wie die genealogische Transmission von Traumata auch bei den Kindern der Betroffenen eine Traumatisierung bewirkt: Schwer traumatisierte Eltern waren nur sehr begrenzt in der Lage, für ihre Kinder eine Container-Funktion (...) zu übernehmen bzw. einen geschützten Raum für ihre Entwicklung bereitzustellen. Da die traumatisierte Mutter durch eigene Ängste, aufgestaute Hassimpulse, Bindung an verlorene Objekte, Affektlähmung und andere Formen der Ich-Regression sich nicht adäquat in die Bedürfnisse ihrer Kinder einfühlen konnte, wirkte die Extremtraumatisierung der Eltern auf die Kinder als ein kumulatives Trauma (...). Die Eltern konnten ihre Affekte und Phantasien und davon geprägten Selbstanteile nicht in sich halten und beruhigen oder sie symbolisch bearbeiten, sondern sie brauchten ihre Kinder, um sich von dem unerträglichen Übermaß an Trauer und Aggression projektiv zu entlasten. 680 679 Angela Kühner, Kollektive Traumata. Annahmen, Argumente, Konzepte. Eine Bestandsaufnahme nach dem 11. September, i.A. Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung, Berlin, 2002, S. 21. 680 Bohleber in „Trauma“, S. 815f. 271 Selbst nach dem Mord an Wolfgang kann Tulla ihre Projektion gegenüber Konny nicht beenden: sie schenkt ihm ein Modellschiff Gustloff:„Kann Mutter kein Ende finden?“ (208) Wesentliches Merkmal der transgenerationellen Weitergabe von Traumata ist die Erteilung eines „Auftrags“: „Unbewusst wird vom Kind erwartet, dass es die affektiv belasteten Traumata ungeschehen macht, die die seelische Struktur der Eltern zerstört haben.“681 Für die Zeit nach dem Treffen in Damp erzählt Paul: „Ab dann war Konny oder `Konradchen´, wie Mutter sagte, ihre große Hoffnung.“ (44) Da das Mahnmal als Ort der Trauer verweigert bleibt, versucht Konny durch den Mord an Wolfgang alias David am Geburtsort Wilhelm Gustloffs (172) die Vorzeichen umzukehren und so das Geschehen rückwirkend ungeschehen zu machen: ohne David Frankfurter kein Mord an Wilhelm Gustloff usw. Der Mord an Wolfgang alias David reflektiert ein weiteres Phänomen, das in der traumatisierten Tulla verborgen liegt: Für das Kind bedeutet dies682, dass es mit seiner Person einen psychischen Raum darstellt für Wünsche, Ängste und Affekte eines anderen, die nicht die seinen sind, ihm aber eingeschrieben werden. Aufgrund der engen Verbundenheit mit dem Elternteil ist es ihm nicht möglich, sie als fremd zu erkennen und seine Autonomie zu behaupten.683 Der besondere Auftrag, den das Kind zugeschrieben bekommt, wird zu seinem Lebensziel: das Kind soll den Familienstolz durch persönliche Leistungen wieder herstellen und vergangene Verletzungen heilen. „Indem nun das Kind diese elterlichen Phantasien übernimmt, rechtfertigt es die traumatisierten Erwachsenen, versucht ihnen zu helfen und erhält so die enge Beziehung aufrecht. Die ElternKind-Beziehung (hat) einen stark symbiotischen Charakter.“684 Die Symbiose zeigt sich in der Dimension der transgenerationellen Übertragung: „Mein Sohn hat offenbar eine Menge von Mutter mitbekommen. “ (67) 681 Ebd., S. 816. Anmerkung: der unbewusste Auftrag, das Trauma ungeschehen zu machen. 683 Ebd. 684 Ebd. 682 272 Ohne die direkte Erfahrung verheerender Gräueltaten, denen ihre Eltern ausgesetzt waren, sollen sie diese Realität durch eigene Vorstellung ins Bewusstsein rücken bzw. durcharbeiten: „(Dabei) verwandeln sich `die Ungeheuerlichkeit und der Schrecken schwerster Zerstörung´ bei Kindern von Überlebenden `zu primären Ereignissen, hemmen aber gleichzeitig genau jene imaginativen Prozesse, mit deren Hilfe sie zum Wissen gelangen.“685 Tulla hat Konny „(…) mit ihren Gräuelgeschichten, Vergewaltigungsgeschichten vollgepumpt, (…)“ (100-1) Auf Konnys Internetseite offenbart sich die Diskrepanz in der Imagination: „In Ruhe und Ordnung nahm das Schiff die vor den russischen Bestien fliehenden Mädchen und Frauen, Mütter und Kinder auf….“. (102-3) In Ermangelung von Imagination der Gräueltaten nähern sich die Kinder unbewusst auf andere Weise ihrem „Auftrag“: Vor allem bei Eltern, die ihre massive Traumatisierung nur abwehren konnten, indem sie ihre traumatischen Erfahrungen verleugneten bzw. entwirklichten, erfassen die Kinder unbewusst das Erlittene, bearbeiten Anzeichen mit ihrer Phantasie und agieren diese Phantasien in der äußeren Welt aus. Diese Kinder suchen das, was den Eltern zugestoßen ist und was sie erlebt haben zu verstehen, indem sie in ihrem Leben die Erfahrungen der Eltern und die dazugehörigen Affekte wiedererschaffen. Da diese nicht symbolisch zu verarbeiten sind, hat das Verhalten der Kinder eine Art von Konkretismus, der die unbewusste Identifizierung mit dem Schicksal der Eltern aufzeigt. Diese Externalisierung soll helfen, die schreckliche Realität ungeschehen zu machen oder sie zu verleugnen. Die Kinder leben in zwei Wirklichkeiten, der eigenen und der, die der traumatischen Geschichte der Eltern angehört.686 „Die Gustloff war ein schönes Schiff.“ (73) schreibt Konny auf seiner Homepage, die Erfahrungen Tullas aus ihrer Lebenszeit als junge Frau wiedergebend, die ihrerseits diese Attitüde von ihren Eltern übernommen hatte (66f). Die „dazugehörigen Affekte“ werden in dem Rollenspiel als Wilhelm Gustloff erschaffen. Im virtuellen Raum als Symbol für die zweite Wirklichkeit – Paul und Gabi sind sich einig, dass „all das Unglück“ begann, als Konny den Computer von Tulla geschenkt bekam (67-8) - in der 685 686 Laub, S. 867. Bohleber, „Trauma“, S. 816. 273 Konny als Gustloff „lebt“, trifft er auf Wolfgang alias David Frankfurter: „Der fortan immer wieder auflebende Disput wurde per Vornamen geführt, indem ein Wilhelm dem ermordeten Landesgruppenleiter Stimme gab und sich ein David als verhinderter Selbstmörder in Szene setzte.“ (48) Die eigentliche Wirklichkeit der beiden, die neben der angenommenen historischen Wirklichkeit steht, offenbart sich im Verhalten zueinander: „Man hätte sie für Freunde halten können, sosehr sie bemüht blieben, ihren wechselseitigen Haß wie ein Soll abzuarbeiten.“ (49) Beide scheinen gefangen in ihrem Rollenspiel, in dem sie sich gegenseitig die ‚Bälle zuspielen’: „Dazu fiele dem Duett Wilhelm und David ein Streitgespräch ein. Wie beim Tischtennis“. (64) Der Wunsch, die schreckliche Realität ungeschehen zu machen, zeigt sich bereits im virtuellen Raum: „Wilhelms in den Chatroom gestellt Frage `Würdest du, wenn mich der Führer ins Leben zurückriefe, abermals auf mich schießen?´ beantwortete David umgehend: `Nein, nächstes Mal darfst du mich abknallen`.“ (49) Das Rollenspiel geht mit einer Einbettung in das entsprechende historische Umfeld einher: Die Identifizierung findet nicht mit der Person oder den Eigenschaften von Vater oder Mutter alleine statt, sondern es ist ein Typus von Identifizierung mit einer Geschichte, die vor seiner Lebenszeit lag. Kerstenberg spricht von `Transposition´(...), einer unbewussten identifikatorischen Teilhabe an der vergangenen traumatischen Lebenszeit der Elterngeneration. Faimberg (...) kennzeichnet diesen Identifizierungstypus als `téles-copage´ (Telescoping), als ein Ineinanderrücken von drei Generationen. Klein und Kogan (...) verwenden das Konzept `Mythos of Survival´, das als unbewußtes Phantasma über die Geschichte der Eltern in die Psyche der Kinder eindringt und um Tod und Leben oder um die Rollen von `Mörder´ und `Opfer´ kreist.687 In der Rolle Gustloffs identifiziert sich Konny mit einer Geschichte, die „vor seiner Lebenszeit lag“ (s.o.) und die im Abschnitt „Nationalsozialismus“ dargelegt worden ist: Auf seiner Webseite www.blutzeuge.de „klopft“ Konny „markige Sprüche“ (8), behauptet etwa, ohne „den Juden wäre es (…) nie zur größten Schiffskatastrophe aller Zeiten gekommen. Der Jude hat….Der Jude ist schuld….“ 687 Ebd., S. 817. 274 (14) oder „Niemals hätte die Adolf Hitler sinken können, weil nämlich die Vorsehung….“ (41) Das Bild Konnys als vermeintlicher Neonazi bricht immer wieder auf und offenbart so die transgenerationelle Weitergabe von Tullas Vergangenheit in die Gegenwart: „Bei der Schilderung des Mordes in Davos, den er, nüchtern wie ein Kriminalbeamter auf Motivsuche, bis in alle Einzelheiten zerlegt hat, sprach er zwar wie auf seiner Website von mutmaßlichen Hintermännern des Mörders, vom `Weltjudentum´ und von der `jüdisch versippten Plutokratie´, aber Beschimpfungen wie `Schweinejuden´ oder der Ruf `Juda verrecke!´ standen nicht in seinem Redemanuskript. Selbst die Forderung nach der Wiederaufstellung eines Gedenksteins am Südufer des Schweriner Sees, `genau dort, wo seit 1937 der hochragende Granit zu Ehren des Blutzeugen gestanden hat´, war gesittet in Form eines Antrages gestellt, der die üblichen demokratischen Gepflogenheiten bemühte.“ (82f) Auch ist Konnys Antisemitismus von vermeintlicher Natur, insofern sich die Übertragungen jener Attitüden, die „vor seiner Lebenszeit“ lagen, darin spiegeln: „`Im Prinzip habe ich nichts gegen Juden. Doch vertrete ich, wie Wilhelm Gustloff, die Überzeugung, dass der Jude innerhalb der arischen Völker ein Fremdkörper ist.“ (196) Hierin reflektiert sich vordergründig der nationalsozialistische Antisemitismus (vgl. Abschnitt „Antisemitismus“). Zugleich lässt sich darin der Wunsch nach Isolierung des „Traumaauslösers“ in Konnys Vorstellungswelt erkennen: „Sollen sie doch alle nach Israel gehen, wo sie hingehören. Hier sind sie nicht zu ertragen, dort braucht man sie dringend im Kampf gegen eine feindliche Umwelt.“ (ebd.) Konnys Agieren ist weder direkt noch indirekt von dem ideologischen Wunsch getrieben, einen „neuen Menschen“ zu schaffen (vgl. „Antisemitismus“). Sein Motiv ist der Wunsch, ein öffentlich sichtbares Zeugnis für das Trauma seiner Großmutter zu errichten. Dass es trotz der Identifikation als „Mörder“ und „Opfer“ stets bei einem Rollenspiel zwischen Konny und Wolfgang bleibt, zeigt sich in der gelegentlichen Distanz zu den selbst gewählten Figuren: 275 Doch gelegentlich fielen sie aus der Rolle, etwa, wenn mein Sohn, als Wilhelm die Schlagkraft der israelischen Armee lobte, hingegen David die jüdischen Siedlungen auf palästinensischem Grund und Boden als `aggressive Landnahme´ verurteilte. Auch konnte es geschehen, dass sich beide plötzlich bei der Beurteilung von Tischtennismeisterschaften sachkundig einig waren. So verriet ihr individueller, mal scharfer Ton, dass sich im virtuellen Raum zwei junge Leute gefunden hatten, die, bei allem feindseligem Getue, hätten Freunde werden können. (118f) Die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart resultiert in einer fragmentierten Identität: Indem die Geschichte eines anderen in das Kind hinein projeziert wird und es sich damit identifiziert, erlebt es in seinem Teil seines Selbst ein Gefühl der Entfremdung. Diese Identifizierungen können nicht ins Selbst assimiliert werden, sondern bilden einen Fremdkörper. (…) Indem diese Kinder in zwei Wirklichkeiten leben, ist die Vergangenheit mit der Gegenwart vermischt. Die Folge ist eine zumindest partielle Identitätsverwirrung oder das Gefühl einer fragmentierten Identität.688 Stellenweise verläuft Konnys und Wolfgangs Streit im Internet „bitterernst“ und „verbissen“ (48), um jedoch im nächsten Moment in den jugendlichen „Plauderton“ (48) einer wahren „Quasselbude“ (117) zu wechseln. Noch deutlicher offenbart sich die fehlende Innerlichkeit der angenommenen Rollen in der absurden Vermengung zwischen bemühtem „wechselseitigem Hass“ (49) und freundschaftlicher Zuneigung (ebd.), was schließlich in das geisterhaft und zugleich rührend anmutende Angebot Davids kulminiert, Konny dürfe das nächste Mal ihn „abknallen“ (49), wenn er vom Führer ins Leben zurückgeholt werde. Während vorstehend die Prozesse der transgenerationellen Weitergabe von Traumata vorwiegend auf die Dritten Generation nach Kriegsende dargestellt worden sind, werden im nachfolgenden Kapitel - „Durcharbeiten“ - Ansätze für die Bearbeitung der Traumata bei den Zeitzeugen (Tulla) und den transgenerationell traumatisierten Nachfahren (Konny und Wolfgang) im Krebsgang untersucht. 688 Bohleber, ebd., S. 817. 276 3. Kapitel: „Durcharbeiten“ 277 Wer wird, und wann, die Sprache wiederfinden. Einer, dem der Schmerz den Schädel spaltet, wird es sein. Und bis dahin, bis zu ihm hin, nur das Gebrüll und der Befehl und das Gewinsel und das Jawohl der Gehorchenden. Christa Wolf, Kassandra (…) das `Verstehen´ in der Tradition der Aufklärung und der selbstreflexiven Vertiefung der Analyse des Unbewussten (ist) eines der mächtigsten Hilfsmittel bei der besseren Integration dessen, was wir erlebt haben, sowie bei der Aufhebung des Kreislaufes von Gewalt und Leiden, der doch die unausbleibliche Folge von psychotraumatisch bedingtem Nichtverstehen ist. Harald Weilnböck, Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben 278 Erkenntnisgewinn als ein Prozess von Verdrängung und Melancholie hin zu einer Kultur „offener“ Trauerprozesse Anders als nach dem Ersten Weltkrieg ist nach dem Holocaust keine neue Literatur entstanden, durch die das Trauma in innovative Formen hätte gegossen werden können. Auch die bildenden Künste zeichneten sich nach 1945 vor allem durch die Abwesenheit ästhetischer Neuformulierungen aus. Die Bearbeitung des Holocaust wurde in jene Formen gegossen, „die der Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs bereits entwickelt hatte.“689 Allerdings wandelt sich nach 1945 das Verständnis gegenüber der Kunst. In den avantgardistischen Kunstströmungen der Moderne, die durch Abstraktion und Fragmentierung eine Form gefunden hatte, die dem Werteverlust infolge des Ersten Weltkriegs erfasste, war stets eine Erlösungsversprechen immanent. Kunst und Literatur nach dem Holocaust „waren im Gegensatz dazu in jeder Hinsicht antierlöserisch – unversöhnlich mit sich selbst und dem Grauen, das sie zu repräsentieren suchten.“690 Das „Anti-erlöserische“ wird zum Ausgangspunkt (auch) im Werk von Grass. Mit Blick auf die Blechtrommel schreibt er: Mich hat nicht edle Absicht getrieben, die deutsche Nachkriegsliteratur um ein robustes Vorzeigestück zu bereichern. Und auch der damals billigen Forderung nach `Bewältigung deutscher Vergangenheit´ wollte und konnte ich nicht genügen, denn mein Versuch, den eigenen (verlorenen) Ort zu vermessen und mit Vorzug die Ablagerungen der sogenannten Mittelschicht (proletarischkleinbürgerlicher Geschiebemergel) Schicht um Schicht abzutragen, blieb ohne Trost und Katharsis.691 Vor dem Hintergrund, dass Kunst, Literatur und Gesellschaft in einem Wechselverhältnis zueinander stehen, „insofern jede Kunstproduktion einerseits durch den gesellschaftlichen Kontext mit bedingt ist und andererseits wieder auf diesen 689 James E. Young, `Zwischen Geschichte und Erinnerung´, S. 41-62 in Das Soziale Gedächtnis, S. 43. Ebd. 691 Grass, `Rückblick auf die Blechtrommel´, S. 102-114 in ders. Der Autor als fragwürdiger Zeuge, S. 103f. 690 279 zurückwirkt“692, ist nach 1945 eine Lücke entstanden: die anti-erlöserische Auseinandersetzung in der Kunst hat die Alltagskultur der Nachkriegszeit nur wenig, wenn überhaupt durchdrungen. Betrachtet man diese Auseinandersetzung als Trauerarbeit, tritt insgesamt eher eine Verdrängung der anti-kathartischen Trauerprozesse zu Tage. Alessia Ricciardi glaubt darin eine Tendenz des „Auslagerns“ zu erkennen und meint, „consumerist pop culture might be understood to present itself as operating beyond the necessity of mourning and thus to transcend the ethical language of responsibility and regret for the past.”693 Vor diesem Symptom des Auslagerns oder auch Abschiebens der Trauer erhebt sich die grundsätzliche Frage, ob das Konzept der Trauer um den Anderen überhaupt der Ort für das ist, „was Anderen als Anderen widerfährt“694, d.h. nimmt die Trauer „überhaupt angemessen Maß an der Erfahrung, die sie unter dem reichlich abstrakten Begriff des `Übels´ zur Sprache bringt.“695 Am Ende des 19. Jahrhunderts hat Freud696 die kathartische Form der Trauer formuliert (1895)697. Dem Konzept liegt, wie eingangs kurz dargelegt, die Annahme zugrunde, dass ein (durch Verlust traumatisierter) Patient über das Offenlegen und wiederholte Durchleben seiner Gedanken und Träume unerwünschte Affekte bewältigen und somit zur Heilung gelangen kann.698 Dieser Anspruch auf Heilung, der „Loslösung“ von der „Libido“699 lässt den Prozess der Trauerarbeit im Freudschen Sinne als ungeeignet für die Bearbeitung der unheilbaren Brüche im 20. Jahrhundert erscheinen. Es bedarf daher einer anderen Wahrnehmung von Trauer. Jean Laplanche verweist in seinem Konzept der Trauer auf das „Mysterium“, aus dem sich stets offen bleibende Fragen ergeben, “because it confronts us with the ultimate enigma of the Other (…). If, as Laplanche asserts, death always entails some form of 692 Meike Steiger, `Kunst und Gesellschaft´, in Achim Trebeß, (Hg.), Metzler Lexikon Ästhetik, Stuttgart, 2006, S. 222. 693 Alessia Riccardi, The ends of Mourning. Psychoanalysis, Literatur and Film, Standfort, USA, 2003, S. 5. 694 Burkhard Liebsch, Revision der Trauer, Weiterswist, 2006, S. 43. 695 Ebd. 696 Anmerkung: in Zusammenarbeit mit Josef Breuer. 697 Franz Caspar, `Katharsis´ und `kathartische Methode´, in Dorsch Psychologisches Wörterbuch, Hartmut Häcker und Kurt H. Stapf, (Hg.), Bern, 1998, S. 425f. 698 Ebd. 699 Sigmund Freud (1916), `Trauer und Melancholie´, in Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt, 1946, S. 430. 280 the demand, `what would he/she have said?´, we must challenge ourselves to remain mindful of the alterity700 of the departed addressee”701. Aus der Sichtweise dieser perpetuierenden Fragestellung wird Trauer zu einem anti-kathartischen Vorgang, in dem es niemals (Los-)Lösung geben kann. Durch die stete Auseinandersetzung wird die „kathartische Trauerarbeit“ zum „offenen Trauerprozess“. Bezogen auf die Vergangenheit birgt die Auseinandersetzung mit dem „Anderssein“ des (historischen) Anderen, mit dessen „Mysteriösem“, die Chance, durch einen Prozess des „Re-kategorisierens“702 ein „Wiederverstehen von bereits irgendwie Verstandenem“703 zu erzielen. Dieser „offene Trauerprozess“ der steten Auseinandersetzung findet sich im Krebsgang wieder: dem mysteriösen „Alten“ in der Rolle des Fragenden (z.B. 54: „Doch Erinnerungsbrocken wie diese machen den Alten kaum satt.“) steht der um Formulierungen ringende Erzähler mit seinen „Sprachschwierigkeiten“ gegenüber (7: „Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir.“). Diese Thematisierung von Fragestellung und Sprachlosigkeit als einer unendlichen Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 20. Jahrhunderts entspricht einer Trauerarbeit ohne Katharsis. Für den äußeren Betrachter bleibt der „Alte“ als Figur unnahbar, da seine Innenansicht verschlossen bleibt. Als der einzig gesicherte Ort für dessen offene Fragen, das „Mysteriöse“, steht die Ewigkeit: „Nie hört das auf.“ (216) Vor der Forderung nach der Übernahme der historischen Verantwortung stellt sich die Frage nach der künftigen Ausgestaltung dessen, was den (traumatisierten) Zeitzeugen in der Gegenwart als anti-erlöserische Ewigkeit erscheint. Im Krebsgang stellt sie sich durch die Einführung einer weiteren Generation - Konny und Wolfgang. Die Fragestellung, ob „wir (die Zeitzeugen) es wagen (können), denen, die nach uns folgen, oder die wir ungefragt `in diese Welt hinübergezogen´ (…) haben, unter die Augen zu treten“704, weil (unsere) eigene Glaubwürdigkeit in dem Ansinnen, Anderen 700 Das Anders-sein, das jedem Seienden, sofern es ist, zukommt. Riccardi, S. 4. 702 Vgl. Strasser: Einführung. 703 Vgl. Kettner: ebd. 704 Liebsch, S. 192. 701 281 ein geschichtliches Leben zuzumuten“ auf dem Spiel stehe, muss ehrlicherweise zu der Diagnose gelangen: „Weder das Erinnern noch das Vergessen lässt sich aber in diesem Sinne (einer anti-erlöserischen Auseinandersetzung) einfach auf Dauer stellen, institutionalisieren und politisch garantieren. Wer das Gegenteil glauben macht, befördert ein noch tieferes Vergessen“.705 Hierin findet sich Riccardis Diagnose des “Auslagerns der Trauer” wieder, die demnach auf eine Überforderung zurückzuführen ist: eine anti-erlöserische Auseinandersetzung von einer schuldlosen Generation zu verlangen, erscheint als inkompatibel. Indem sie das „Vergessen“ oder „Auslagern“ fördert, lässt sich aus dieser Art des Umgangs mit der Vergangenheit kein „Gewinn von Einsicht“706 aus der Geschichte erreichen. Vereinzelte, dennoch sichtbare Aufbrüche des Unauflösbaren zeugen von Trauerprozessen, die aus einem melancholischen Kreislauf heraustreten: Whereas Kristeva´s work on mourning over the course of time has moved away from a largely aesthetic conception of melancholia (as in Black Sun) to a more engaged notion of mourning, other thinkers such as Judith Butler and Jacques Derrida have insisted even more strongly on the need for a political and ethical reinterpretation of the task of mourning.707 In Deutschland ist die Tendenz zu einer „engagierten“ und „politisch reinterpretierten“ Form der Trauerarbeit gegen Ende der 1960er Jahre in einer konkreten Form erkennbar. Als sichtbares Zeichen dieser Entwicklung steht insbesondere die Gesellschaftsanalyse der Mitscherlichs, durch deren Werk Die Unfähigkeit zu trauern (1967) die negativen gesellschaftlichen Folgen einer NichtTrauer sichtbar gemacht wurden und so der Prozess des Trauerns insgesamt eine Aufwertung erfahren hat. Im Resultat schärfte dieses Werk das allgemeine Bewusstsein für die vielfache Bedeutung der Trauer als notwendige Voraussetzung für die Erneuerung der menschlichen Situation, die sich in einer in die Melancholie 705 Ebd. Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 42. 707 Riccardi, S. 67. 706 282 abgleitenden Trauer nicht verwirklichen kann. „Dieses Bewusstsein schafft sich Ausdruck in Formulierungen wie `produktive Trauer´ (Hans Norbert Janoweski) und die scheinbare Paradoxie noch stärker heraus treibend, `optimistische Trauer´ (Christa Wolf).“708 Im Gegensatz zu den Mitscherlichs, die die Melancholie noch als pathogenen Zustand, bzw. als Blockade des Trauerprozesses bewerten, erachtet Grass sie als die Vorstufe bzw. die Voraussetzung zur Trauer. In seiner Rede zum Dürer-Jahr „Vom Stillstand im Fortschritt. Variationen zu Albrecht Dürers Kupferstich `Melancholia I´709 „wird (…) die Melancholie zu einer Erkenntnismöglichkeit, zur Voraussetzung von `Reue´ als `Utopie´.“710 Während in der Unfähigkeit zu trauern die Melancholie noch im Sinne einer jeden Fortschritt lähmenden Spätfolge der “deutsche(n) Art zu lieben“711 verstanden wird, will Grass die Melancholie als produktives Element in den Seelenhaushalt der siebziger Jahre einführen, in denen man zwischen “Freud und Marx“712 deren Namen „metonymisch für die pathogene Melancholie und die ebenso pathologische Formen annehmende Utopie stehen, die nötige Balance finden müsse.“713 Damit wandelt sich die „Unfähigkeit zu trauern“ zu einer prozesshaften Trauerarbeit um, in der Verdrängung und Konfrontation einander abwechseln und so die Voraussetzung für eine „Re-kategorisierung“, eine Erneuerung der menschlichen Situation schaffen (vgl. Abschnitt „Trauma“). Für die Trauerprozesse in der Gegenwart gilt es zwischen der Zeitzeugengeneration und den nachfolgenden Generationen zu unterscheiden. Über die „Vorstufe“ der Melancholie (Grass) würde die Zeitzeugengeneration zu einer steten – „ewigen“ – Auseinandersetzung gelangen können, weil ihr das historisch Mysteriöse (Traumatisierung) unauflösbar erscheint. Wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit an 708 Helmuth Kiesel, Literarische Trauerarbeit. Das Exil- und Spätwerk Alfred Döblins, Tübingen, 1986, S. 22. In: Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnecke in Volker Neuhaus, Werkausgabe (WA), Bd. 4, Darmstadt, 1987. 710 Thomas Kniesche, `“Das wird nicht aufhören, gegenwärtig zu bleiben. Grass und das Problem der deutschen Schuld´, S. 169-190 in Günter Grass. Ästhetik des Engagements, Hans Adler; Jost Herrmann (Hg.), New York, 1996, S. 181f. 711 Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München, 1998, S. 16. 712 Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnecke, S. 265-567 in Neuhaus WA, Bd. 4, S. 545. 713 Kniesche, ebd. 709 283 der Figur Tulla zu zeigen ist, gestaltet sich dabei insbesondere die Übernahme der Mitschuld durch die „Opfertäter“ als schwierig vor dem Hintergrund, dass selbst erlittene Traumata nicht durchgearbeitet werden können. Aus der Forderung nach Übernahme der historischen Verantwortung durch die nachfolgenden Generationen stellt sich die Aufgabe, Voraussetzungen für den Erkenntnisgewinn zu schaffen. „(U)m nicht ironischerweise im Erinnern zu vergessen“714, führt der Weg dorthin über das „sich stets neu und anders (E)rinnern“715, das „Re-kategorisieren“ und „Wiederverstehen“. Das „Wiederverstehen“ bedingt den Tod des bisher „Verstandenen“, im übertragenen Sinn auch die Loslösung des ererbten Traumas.716 In dem Tod Wolfgang Stremplins scheint dieses versinnbildlicht, indem das Trauma Paul nach dessen Tod feststellt: „Hinterher, heißt es, ist man klüger.“ (81) Dieses „klüger“ indiziert eine „Horizonterweiterung“ im Sinne Hans-Georg Gadamers. 714 Liebsch, S. 192. Ebd. 716 Vgl. „Wiederholen“. 715 284 Die Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit als Erkenntnisprozess Die Literatur hat eine lange Tradition als Ort der Trauer, nicht zuletzt wird Literatur als Ersatz sich auflösender gesellschaftlicher Trauerrituale selbst zu einer Form der Trauer um Verlorenes: „der Mythos von Orpheus lässt sich als eine frühe Spur solcher literarischer Verarbeitungsformen verstehen. Im `Trauerspiel´, in der `Tragödie´ ist Trauer seit jeher ein wesentlicher Bestandteil.“717 Ein Motiv für diese lange Tradition mag in dem Wissen des menschlichen Lebens um seine Sterblichkeit begründet liegen: Das Wissen darum, dass „uns der Tod sicher ist und dass uns die Traurigkeit sicher ist“, macht uns „zu Lesern und zu Zuhörern, zum Benützer von Geschichten“ 718. Peter Bichsel erkennt darin Auswirkungen auf die Verfassung unserer eigenen Lebengeschichten, wodurch man Literatur tatsächlich als Lebenshilfe verstehen könne, jedoch nicht im Sinne von Tröstung oder Betäubung. Die Tatsache, „dass es das Erzählen gibt, dass uns vordemonstriert wird, das lässt uns unsere eigenen Geschichten herstellen.“719 Wir könnten uns deshalb im Stillen unsere eigenen Geschichten erzählen, in Geschichten leben, denn unser Leben „wird dann sinnvoll, wenn wir es uns erzählen können“720. Als Aufgabe für die Literatur ergibt sich daraus, „die Tradition des Erzählens fortzusetzen, weil wir unser Leben nur erzählend bestehen können“721. Die Narration über das Leben in der Vergangenheit wird für die nachfolgenden Generationen dann sinnvoll, wenn sich eine Erkenntnis, eine „Wahrheit“ daraus gewinnen lässt. Um die Wahrheit einer der Historie entstammenden Narration, einer „Überlieferung“ im Sinne Hans-Georg Gadamers zu erfassen, bedarf es des „Aussich-heraus-tretens“ bzw. eines Herausgehens aus der eigenen Gegenwart: Wir sind immer von dem uns Nächsten hoffend und fürchtend eingenommen und treten in solcher Voreingenommenheit dem Zeugnis der Vergangenheit entgegen. Daher ist es eine beständige Aufgabe, die voreilige Angleichung der 717 Mauser und Pfeiffer, Trauer, S. 1. Peter Bichsel, `Die Zeit und das Erzählen´, S. 217-230 in Luc Ciompi, Hans-Peter Dauwalder, (Hg.), „Zeit und Psychiatrie. Sozialpsychiatrische Aspekte“, Bern, 1990, S. 223. 719 Ebd., S. 225. 720 Ebd., S. 226. 721 Ebd., S. 228. 718 285 Vergangenheit an die eigenen Sinnerwartungen zu hemmen. Nur dann wird man die Überlieferung so hören, wie sie sich in ihrem eigenen anderen Sinne hörbar zu machen vermag.722 Um diesen „anderen Sinn“ zu „hören“, bedarf es des Bewusstwerdens der eigenen „Vormeinung“: Wer verstehen will, wird sich von vorneherein nicht der Zufälligkeit der eigenen Vormeinung überlassen dürfen, um an der Meinung des Textes so konsequent und hartnäckig wie möglich vorbeizuhören (…). Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muss ein hermeneutisch geschultes Bewusstsein für die Andersheit des Textes von vorneherein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt aber weder sachliche `Neutralität´ noch gar Selbstauslöschung voraus, sondern schließt die abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein. Es gilt der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen. (…) Ein mit methodischem Bewusstsein geführtes Verstehen wird bestrebt sein müssen, seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewusst zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen.723 Dabei ist die eigene Vormeinung selbst nicht losgelöst von der Historie, sondern vielmehr ein Resultat daraus, was sich in der genealogischen Verbindung zwischen den Generationen reflektiert: Wenn sich unser historisches Bewusstsein in historische Horizonte versetzt, so bedeutet das nicht eine Entrückung in fremde Welten, die nichts mit unserer eigenen verbindet, sondern sie insgesamt bilden den einen großen, von innen her beweglichen Horizont, der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die Geschichtstiefe unseres Selbstbewussteins umfasst.724 Als Zielvorgabe für das Ver-setzen in Historie formuliert Gadamer die Erweiterung durch das Verstehen der „authentischen“ Geschichtswahrheit, versinnbildlicht mit dem Begriff der alles umschließenden „Horizonterweiterung“: 722 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen, 1990, S. 310. 723 Ebd., S. 273f. 724 Ebd., S. 309f. 286 Solches Sichversetzen ist weder Einfühlung einer Individualität in eine andere, noch auch Unterwerfung des Anderen unter die eigenen Maßstäbe, sondern bedeutet immer die Erhebung zu einer höheren Allgemeinheit, die nicht nur die eigene Partikularität, sondern auch die des anderen überwindet. Der Begriff `Horizont´ bietet sich hier an, weil er der überlegenen Weitsicht Ausdruck gibt, die der Verstehende haben muss. Horizont meint immer, dass man über das Nahe und Allzunahe hinaussehen lernt, nicht um von ihm wegzusehen, sondern um es in einem größeren Ganzen und in richtigeren Maßen besser zu sehen.725 Hierin eröffnet sich ein Aktionsfeld für den Rezipienten einer Narration, denn erst die Verschmelzung des historischen (aus der Narration überlieferten) und (seines eigenen) gegenwärtigen Horizonts führt zum Verstehen: In Wahrheit ist der Horizont der Gegenwart in steter Bildung begriffen, sofern wir alle unsere Vorurteile ständig erproben müssen. Zu solcher Erprobung gehört nicht zuletzt die Begegnung mit der Vergangenheit und das Verstehen der Überlieferung, aus der wir kommen. Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.726 Im ersten Kapitel dieser Arbeit „Erinnern“ steht das individuell erfahrene Trauma Tullas Erlebnis auf der Gustloff - der „kollektiven“ Geschichte aus Geschichtsbüchern gegenüber, entsprechend der jeweiligen Reflexion im Krebsgang. Es ergeben sich aus der traumabedingt verzerrten, bzw. eingeschränkten Wahrnehmung Diskrepanzen. 727 Anders gesagt: die „Vormeinung“ der Protagonisten gegenüber der subjektiven und der kollektiven Historie ist durch das Trauma beeinträchtigt. Dies gilt, wie im zweiten Kapitel „Wiederholen“ dargelegt, nicht nur für die Zeitzeugen. Im transgenerationellen Übertragungsprozess sind diese Diskrepanzen aus der Vergangenheit in die Gegenwart weiter gegeben worden. Nachfolgend sollen diese Diskrepanzen und deren Ursachen getrennt nach Zeitzeugengeneration und nachfolgenden Generationen umrissen werden. Darüber hinaus gilt es, die Hinweise des „Färtenlegers“ Grass in der Novelle Im Krebsgang herauszuarbeiten, die Wege aufzeigen, um diese Diskrepanzen in der Wahrnehmung aufzulösen, damit 725 Ebd. Ebd., S. 311. 727 Vgl. Abschnitt „Trauma“. 726 287 Gegenwarts- und Vergangenheitshorizont verschmelzen und zu einer „Erweiterung“ im Sinne Gadamers – einer Erkenntnis – gelangen. 288 Ansätze von offenen Trauerprozessen im Krebsgang Die Trauer beginnt mit der Erinnerung, deren Wesen im ersten Kapitel dargelegt worden ist. Die unterschiedlichen Formen des Gedächtnisses728 spiegeln eine „Fülle der Befunde“ und einen „Fortschritt der Theoriebildung“, die deutlich werden lassen, dass „ein zentraler Bereich der sozialen Erinnerungspraxis mit wissenschaftlichen Mitteln nur schwer zu erfassen ist“.729 Die komplexe und zugleich empheme Textur der Erinnerungen scheint „ Künstlern und Schriftstellern viel eher zugänglich (…) als Wissenschaftlern.“730 Grass beschreibt das komplexe und empheme Wesen der Erinnerung als „Material“ für den Autor: Erinnerung ist – so verschwommen und lückenhaft sie erscheint – mehr als das auf Genauigkeit zu schulende Gedächtnis. Erinnerung darf schummeln, schönfärben, vortäuschen, das Gedächtnis hingegen tritt gerne als unbestechlicher Buchhalter auf. (…) Der Schriftsteller erinnert sich professionell. Als Erzähler ist er in dieser Disziplin trainiert. Er weiß, dass die Erinnerung eine oft zitierte Katze ist, die gestreichelt sein will, manchmal sogar gegen den Strich, bis es knistert: dann schnurrt sie. So beutet er seine Erinnerung aus und notfalls die Erinnerung frei erfundener Personen. Erinnerung ist ihm Fundgrube, Müllhalde, Archiv. Er pflegt sie, wie man nachwachsenden Schnittlauch pflegt. Zwar weiß er, dass die Literatur ein Vielfraß ist und sogar Zeitungsnotizen und ähnlich unreife oder roh vom Messer springende – Aktualität verschlingt, aber wiedergekäute Erinnerungen sind sein Hauptnahrungsmittel; in Dürrezeiten erinnert er sich an bereits abgegraste Erinnerungen. Es mag eine berufliche Deformation sein, die es ihm erlaubt, Schmerzhaftes, Beschämendes, sogar erinnertes Versagen mit Lust zu verwerten.731 Der Erzähler Paul gibt Tullas Erinnerungen wieder. Ihr auf „Streichholzlänge“ (55) geschnittenes Haar, das „(k)nisterte, wenn ich drüberstrich“ (ebd.), lässt sich vor dieser Schilderung als ein Hinweis für ein Erinnern „gegen den Strich“ verstehen, d.h. zur „Re-kategorisierung“ und zum „Wiederverstehen von bereits irgendwie 728 Vgl. Welzer in Das Sozial Gedächtnis, S. 11. Ebd. 730 Ebd. 731 Grass, `Ich erinnere mich…´, in Wälde, (Hg.), S. 34. 729 289 Verstandenem“732 und somit als eine Öffnung im Prozess des Durcharbeitens. Wie gestaltet sich diese Öffnung aus dem Krebsgang für den Rezipienten? Das Kernthema der Handlung in der Novelle ist eine zerstörerische Vergangenheit, die die Protagonisten in der Gegenwart beherrscht. Das während der Zerstörung geborene Trauma Paul weiß als Erzähler nicht, „ob, wie gelernt, erst das eine, dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muss. Etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“ (8-9) Der Krebs ist als vorwiegend im Wasser lebendes Tier ein „Symbol der Urflut“733 und steht bis „in den neuzeitlichen Volksglauben hinein (…) in einem Bedeutungszusammenhang mit dem Weiblich-Mütterlichen“.734 Der seinen Panzer wechselnde, sich häutende Krebs wurde im Mittelalter zum Symbol der Auferstehung und damit vereinzelt auch zum symbolischen Hinweis auf Christus.735 Hierin findet sich ein erster Hinweis auf einen „offenen“ Trauerprozess: Erneuerung durch Tod, indem das „Wiederverstehen“ das Sterben des bisher „Verstandenen“ bedingt. Dabei stirbt die „alte Vormeinung“ durch Wandlung, indem sie durch eine Öffnung erweitert wird („Horizonterweiterung“) und zur „neuen Vormeinung“ wird. In der Novelle Im Krebsgang findet sich diese Öffnung etwa, indem die durch das Trauma in der Vergangenheit entstandene Schräglage jenes Weges erkannt wird, auf dem die „alte Vormeinung“ einst erlangt worden ist. Eine Aufforderung zur Re-Kategorisierung lässt sich zugleich in einer Aussage über den „Alten“ als Alter Ego von Grass finden: „Mein einstiger Dozent scheint sich hingegen leergeschrieben zu haben, sonst hätte er mich nicht als Ghostwriter in Dienst gestellt.“ (30) Wie eingangs dargelegt, hat Jacques Derrida den Begriff des „Hautology“ eingeführt, womit er das Phänomen der Erinnerungen umschreibt, die immer wieder zurück in das Gedächtnis „spuken“. Durch Paul in der Funktion des Traumas und dessen Symptom des Wiederholungszwangs gewinnt das „Haunting“ Vgl. Kettner in „Einführung“. Manfred Lurker, `Krebs´, in Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart, 1991, S. 403f. 734 Ebd. 735 Ebd. 732 733 290 aus der Vergangenheit konkrete Form. Die Schwierigkeit des kontinuierlichen Wiederverhandelns und Re-Kategorisierens, die auch bei Derrida Inhalte der Trauerarbeit darstellen, deutet sich in der Abwehr des Traumas Paul an: „Ich will aber nicht weiter im Krebsgang.“ (30) Das Trauma als Ausgangspunkt der Re-kategorisierung zeigt sich im Amorphen der Novelle: „Schwere psychische Traumatisierung hat eine amorphe Präsenz, die nicht durch Raum, Zeit und Handlungsfähigkeit eingegrenzt ist. Ohne Anfang, Mitte und Ende zieht sie sich durch die Erinnerung mehrerer Generation.“736 Indem das Amorphe das Traumatische symbolisiert, deutet es auf die traumatisierte Figur, insbesondere Tulla, als Plattform für die Re-Kategorisierung. Im Krebsgang erinnert sich der „Alte“: „Zu meiner Zeit hatte die etwa zehnjährige Tulla Pokriefke ein Punktkommastrichgesicht“. (55) In der Novelle Katz und Maus folgt der gleichen Beschreibung Tullas durch Pilenz - „Tullas Gesicht wäre mit einer Punkt Komma Strich Zeichnung wiederzugeben“737 - ein Hinweis auf Tulla als „Wasserwesen“: „Eigentlich hätte sie Schwimmhäute zwischen den Zehen haben müssen, so leicht lag sie im Wasser.“738 In Hundejahre, dem letzten Teil der Trilogie wird diese Verbindung zum Amorphen in Tullas Namen eingebunden: „Du wurdest auf den Namen Ursula gerufen. Wahrscheinlich leitet sich dieser Rufname von dem koschnäwjer Wassergeist Thula her“.739 Diese dem Untergang der Gustloff und dem Krebsgang zeitlich vorgelagerte Beschreibung erweitert den Blick auf Grass´ Protagonistin Tulla als eine bereits vor dem Untergang von Traumatischem Durchdrungene. Die amorphe Präsenz des Traumas symbolisiert sich zugleich in der Ostsee als Tatort des Untergangs - dem Auslöser des Traumas - und im Gang des Krebses. Dieser wandelt zwischen Land und Wasser, was sich narrativ in Pauls Wandern zwischen den Räumen (Ländern, Orten) und Zeiten (historischen Epochen, Generationen) des 20. Jahrhunderts vor und nach dem Trauma spiegelt. Eine Folge des Amorphen (der 736 Laub, S. 866f. Grass, Katz und Maus, S. 33. 738 Ebd. 739 Grass, Hundejahre, S. 108. 737 291 Traumatisierung) ist das Ineinanderfließen; eine Folge des Ineinanderfließens ist das Ununterscheidbare; eine Folge des Ununterscheidbaren ist eine desorientierte Vorausdeutung. Aus der Abwesenheit der erzählerischen Allwissenheit Pauls – er kann das Trauma nicht erfassen – ergibt sich die Abwesenheit der Vorausdeutung. Die Wirkung einer abwesenden Vorausdeutung in einem literarischen Werk erschließt sich über Wolfgang Kayser: „Die Vorausdeutungen in der Dichtung geben dem Leser die volle Gewissheit, dass die Welt des jeweiligen Werkes nicht amorph und diffus ist und dass sich die volle seelische Teilnahme an den Gestalten und ihren Erlebnissen lohnt. Eine Nebenfunktion der Vorausdeutung ist schließlich, dass auch sie an der Beglaubigung des Erzählten hilft.“740 Ist die Vorausdeutung abwesend, verbleibt der Rezipient in der Narration sich selbst in einer diffusen, amorphen und unsicheren Welt überlassen. Im Krebsgang scheint es allein dem Rezipienten zu obliegen, die „Fährten“ des Autors Grass aufzuspüren und die Stränge am Ende der Novelle weiter zu denken bzw. miteinander zu „verschmelzen“. Bei den Hauptprotagonisten spiegeln sich die Erfahrung von Traumatisierung durch Krieg, Bombardement, Flucht und Vertreibung sowie die Folgen davon in der ersten, zweiten und dritten Generation. In ihnen sind Gegenwartshorizont und Vergangenheitshorizont nicht zu einer Erweiterung miteinander verschmolzen. Vielmehr überlagert eine traumatische Vergangenheit die Gegenwart. Im Moment des Bombardements wird Tullas Haar schlohweiß: „Nicht silbrig weiß. Einfach nur weiß.“ (55) Das weiße Haar wird so zum äußeren Zeichen ihrer Traumatisierung. Jedem erzählt sie: „Das is passiert, als ech all die Kinderchen koppunter jesehn hab…“. (140) Indem die „toten Kinder“ eine Metapher für die Zukunft sind, wird die Beeinträchtigung der Zukunft durch die Vergangenheit indiziert. Das Trauma als Mittelpunkt der Re-Kategorisierung im Krebsgang ergibt sich zugleich aus dem Schluss der Novelle. Der letzte Satz „Nie hört das auf“ erinnert an die Tragödie. Diese ist „im wesentlichen gleichbedeutend mit dem Trauerspiel“741, in 740 741 Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern, 1976, S. 206. Gero von Wilpert, `Tragödie´, in ders., Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart, 1989, S. 960f. 292 dem ein „von außen herantretende(s) Schicksal (…) das Geschehen zum äußeren oder inneren Zusammenbruch führt, doch nicht unbedingt im Tod des Helden, sondern in seinem Unterliegen vor dem Ausweglosen gipfelt.“742 Es ist die Tragödie, die die „letzten Seinsfragen der Menschheit um Freiheit und Notwendigkeit, Charakter und Schicksal, Schuld und Sühne, Ich und Welt, Mensch und Gott“743 stellt. Der Krebsgang ist als Novelle ausgewiesen. Der Erzähler einer Novelle ist „nur äußerlich als Zuschauer am Geschehen teilnehmende(r) (…) Berichterstatter.“744 Das vorstehende Ziel der historischen Überlieferung Pauls scheint demnach nicht die Verschmelzung von Gegenwartshorizont und Vergangenheitshorizont in der Beschäftigung mit dem „Unterliegen vor dem Ausweglosen“ zu sein. Paul stellt nicht offen Fragen zu Schicksal, Charakter, Schuld oder Sühne. Als „Berichterstatter“ erfüllt er eine andere zunächst notwendige Vorbedingung: das Heraufholen von (historisch) verdrängten Traumata. Entsprechend wird auch das „Trauma“ Paul „aus der Versenkung geholt“. (30) Wie im Abschnitt „Trauma“ erläutert, verhindert das Trauma durch die Überflutung von Information, Ereignisse vollständig und in ihrem tatsächlichen Ablauf zu erinnern. Die Fähigkeit, die Ereignisse gedanklich zu integrieren, geht dadurch verloren. Durch den Verlust der Kontrolle, der Identität, des Erinnerungsvermögens und der Worte für die Erlebnisse bewirkt das Trauma eine Aufhebung des Selbst. Entsprechend wird der Kampf mit dem Trauma zu einem Kampf mit der Erinnerung. Das Trauma Paul führt diesen Kampf, indem „es“ von einem Auftraggeber gezwungen wird, zu berichten. „Dadurch dass die (Traumatisierten) aber darin unterstützt werden, traumatische Erinnerungen wiederholt hervorzurufen und zu beenden, kann auch der Eindruck der Kontrolle über diese Vorstellung entstehen.“745 Für den Rezipienten der Novelle Im Krebsgang, der Zeuge von Pauls „Kampf“ mit der Erinnerung wird, ergibt sich die Aufgabe einer Zusammenführung fragmentierter 742 Ebd. Ebd. 744 Wilpert, `Erzähler´, in ebd., S. 264. 745 Lamprecht, Praxis der Traumatherapie. Was kann EMDR leisten?, Stuttgart, 2000, S. 58. 743 293 Informationen, „um der Dissoziation entgegenzuwirken.“746: „Es geht darum, die fragmentierte Erfahrung in Bezug zu setzen, zu assoziieren.“747 Die Narration spielt dabei eine entscheidende Rolle, insofern als dass das „Versprachlichen der Erlebnisse (…), ein Verstehen des Sinnes der Symptomatik“748 bedingen kann. Um diesen „Sinn“ hinter den einzelnen Fragmenten zu verstehen, bedarf es des Deutens. „Die Narration ist eine Unterabteilung des Deutens im weiten Sinn. In unterschiedlichen Formen der Narration tragen wir unsere Erfahrungen zusammen und konstruieren so unser Wissen von der Welt und dem Leben, das wir leben.“749 Durch das Deuten vermag der Rezipient „andere Narrationen daraus (…) zu machen, die vollständiger, kohärenter, überzeugender und adaptiv nützlicher sind als jene, die zu konstruieren (er) gewohnt war.“750 Auf die Gefahr, die sich bei der Suche nach dem „anderen Sinn“ einstellt, verweist Gadamer: „Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch Vor-Meinungen ausgesetzt“.751 Vor diesem Hintergrund erweist sich die, wie eingangs ausgeführt, abwesende Vormeinung im Krebsgang als eine im Werk immanente Öffnung. Sämtliche Hauptprotagonisten im Krebsgang sind nahe dem Wasser verortet, worin sich, wie ausgeführt, die Durchdringung des Traumas manifestiert: Tulla und Konny in Schwerin, Paul in Kreuzberg (Spree, S. 206: „Kreuzberger Junggesellenchaos“). In der Folge des (allgegenwärtigen) Traumas ist die „Vormeinung“ der Protagonisten beeinträchtigt, eine Verschmelzung beider Horizonte zur „Erweiterung“ kann sich nicht vollziehen. Der Entwicklungsprozess im Zeitablauf, der durch die nachfolgenden Generationen dargestellt ist, führt im Krebsgang mithin anstatt zur „Erweiterung“ erneut in die Destruktivität - versinnbildlicht im Tod Wolfgangs. Der Schlusssatz der Novelle legt eine sich in die Unendlichkeit fortsetzende Destruktivität nahe, solange eine traumatische Vergangenheit die Gegenwart überlagert. Indem die Verschmelzung von Vergangenheitshorizont und Gegenwartshorizont im Krebsgang 746 Ebd., S. 111. Ebd. 748 Ebd. 749 Jürger Reeder, `Die Narration als hermeneutische Beziehung zum Unbewußten´, S. 22-34 in Bohleber, „Vergangenes“, S. 31. 750 Roy Schafer zitiert in: Reeder, S. 31. 751 Gadamer, S. 272. 747 294 ausbleibt, ist die historische „Wahrheit“ - die Motive für das Trauma in der Vergangenheit und die Motive für die Handlungen in der Gegenwart - verschlossen. Dieser Verschluss äußert sich in Tullas (politisch) ratloser Frage: „Mecht mal bloß wissen, was sich dieser Russki jedacht hat, als er Befehl jab, die drai Dinger direktemang auf ons loszuschicken…“(11) oder in Konnys (vermeintlichem) Rechtsextremismus. Indem sie ihr Trauma nicht aufzulösen vermag, ist es der Protagonisten Tulla nicht möglich, diesen Verschluss zu lösen. Die geringfügige Ausarbeitung der Hauptprotagonisten bewirkt deren Schemenhaftigkeit: „Dadurch legt sich um und in jede Einzelgestalt etwas Geheimnisvolles, Irrationales, das den Leser in dauernder Spannung hält. Er wird so zugleich aufgefordert, von sich aus in die Tiefe zu dringen.“752 Um über eine Verschmelzung aus Vergangenheit und Gegenwart zu einer Erweiterung zu gelangen, obliegt es dem Rezipienten die möglichen Motive der Protagonisten zu erkunden. Diese Motive stellen auch insofern eine „Erkenntniserweiterung“ dar, als die Protagonisten Symbole für bestimmte Kollektive sind. Die Abwesenheit konkreter Ausprägungen rückt die symbolische Bedeutung der Figuren in den Vordergrund.753 Durch die geringen konkreten Ausprägungen der Protagonisten im Krebsgang werden sie zu Repräsentanten eines ihnen zuzuordnenden Kollektivs: etwa der traumatisierten Zeitzeugen, der „Opfertäter“ und der transgenerationell traumatisierten zweiten und dritten Generation. Zugleich umwandert etwa die Abwesenheit der Innenperspektive der Hauptfiguren und anderer Prägungen die Gefahr, bestimmte Gedanken und Entwicklungen „zum Zwecke des Eingriffs in die Realität“754 zu unterstreichen: der Kern der Novelle ist nicht „von der rationalen Idee her geformt“755, etwa der Absicht bestimmte Erkenntnisse nahezulegen. Die Aufeinanderbezogenheit von Form und Gehalt, „die 752 Kayser, S. 213. Heinz Gockel, Grass´ Blechtrommel, München, 2001, S. 89. 754 Kayser, S. 223. 755 Ebd. 753 295 für alle Kunst wesensgemäß ist“756, würde durch die Gegenständlichkeit der rationalen Idee (Erkenntnis) aufgehoben. In der Novelle wird die Gegenständlichkeit der rationalen Idee als destruktive Kraft hervorgehoben, indem der „Auftraggeber“ dem Erzähler untersagt, in die Gedanken – die Ratio - der Protagonisten einzutauchen. (199) Die Abwesenheit der „Vormeinung“ im Krebsgang erweist sich damit erneut als raumgebend für den Rezipienten, der Vergangenheitshorizont und Gegenwartshorizont der Figuren in der Novelle miteinander verschmelzen kann. Als eine erste Plattform bietet sich hierfür, wie oben ausgeführt, die Hauptprotagonistin Tulla Pokriefke. 756 Ebd. 296 Tullas Hausaltar als Symbol der Unüberwindbarkeit des Traumas Wie im Abschnitt „Trauma“ erläutert, steht das Trauma als „unüberwindbarer Torwächter“757 der Trauer im Weg. In der Trauer geht es um Lösung bzw. Ablösung eines verlorenen Objekts und die Überführung in eine Re-Kategorisierung. Die Figurenkonstellation zwischen Tulla und Paul als Mutter und Kind deutet auf die Unmöglichkeit der Ablösung. „Wo jedoch keine Ablösung ist, kann auch keine Trauer erfolgen.“758 Die Unüberwindbarkeit des Traumas ergibt sich aus den, nachfolgend dargelegten, inneren psychologischen Abläufen der Betroffenen. Zugleich repräsentieren diese Prozesse die traumatisch bedingte Beeinträchtigung der „Vormeinung“ Tullas. In ihrer Wohnung hat Tulla, die „neuerdings den Glauben ihrer Kindheit wiederentdeckt hat“ (212) auf einem Hausaltar weiße Lilien, ein Marienbildchen und ein Bild Stalins im weißen Anzug aufgebaut. (212) Die Regression in den „Glauben ihrer Kindheit“ findet sich in der Traumatologie als das Phänomen der Reinfantilisierung des Opfers wieder: Die Situation der Ohnmacht gemeinsam mit der Überflutung mit existentiellen Ängsten erzwingt (…) eine umfassende Reinfantilisierung des Opfers. Die eigene Hilflosigkeit, die sich aus der Situation ergebende absolute Abhängigkeit von den Sichten eines anderen und die alles beherrschende Angst scheinen das Opfer buchstäblich in seine frühe Kindheit zurückzuversetzen, in der diese Abhängigkeit selbstverständlich war.759 Auch Paul als das „Kind“ Tullas, das im Moment des Angriffs durch den Täter, den „Russen“ Marinesko, geboren wird, kann als eine Metapher für die Reinfantilisierung infolge eines traumatischen Ereignisses gesehen werden. Durch die Reinfantilisierung werden „die elementarsten Kindheitsängste“ wiederbelebt. In der Folge entsteht der „Wunsch von Elternfiguren der frühen Vgl. A. Assmann in Abschnitt „Trauma“. Harald Weilnböck, `´“Dann bricht sie in Tränen aus“. Übertragung von Trauer/Abwehr im Text und im Gruppenanalytischen Literaturseminar über Judith Hermanns Hunter-Tompson-Musik, S. 241-262 in Mauser; Pfeiffer, Trauern, S. 255. 759 Pogany-Wnendt, S. 14. 757 758 297 Kindheit geliebt und beschützt zu werden“ erneut.760 Da Tullas Eltern mutmaßlich bei dem Untergang gestorben sind (109), regrediert sie unmittelbar nach dem traumatischen Erlebnis zurück in die andere autoritäre Umgebung ihrer Kindheit, die Schule. (154) Das Trauma Paul legt sie unterdessen unter die Schulbank (154), was einen Akt der Verdrängung zu symbolisieren vermag. Die Grundmotive, auf denen diese Abhängigkeit basiert, lassen sich mit dem Gefühl der Machtlosigkeit des noch ungeformten Kindes vergleichen: „Die Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können, die überwältigende Kraft und Autorität des Erwachsenen macht sie stumm“.761 Ehlert und Lorke leiten daraus ab, dass dieselbe Angst, wenn sie einen (traumatischen) Höhepunkt erreicht, das Opfer automatisch zwingt, „sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren. Durch die Identifizierung, sagen wir Introjektion des Angreifers, verschwindet dieser als äußere Realität und wird intrapsychisch.“762 Die glühende Anhängerschaft Tullas an Stalin, als Symbol des „obersten“ Russen, indiziert diese „Introjektion des Angreifers“. Getrieben wird dieser Prozess von dem Streben des Opfers nach Kontrolle: „Indem das Opfer die Realität in den intrapsychischen Raum verlagert, zieht es sich seelisch von ihr zurück, kapselt sich emotional von ihr ab und kann mit ihr in der Phantasie entsprechend `aktiv´ umgehen, was die Illusion erzeugt, sie steuern zu können.“763 Tulla verdreht „die Augäpfel bis zum Gehtnichtmehr“ (50), wenn sie mit dem Trauma konfrontiert wird. Ihr „Binnnichtzuhausegesicht“ (ebd.) zeugt von diesem Rückzug. 760 Ebd. Ebd. 762 Ehlert und Lorke zitiert in: Pogany-Wnendt, ebd. 763 Pogany-Wnendt, ebd. 761 298 Die Introjektion des Täters durch das Opfer führt zu der paradoxen Situation, dass das Opfer den Trost über das erfahrene Leid bei dem sucht, der es ihm zugefügt hat.764 Im Verlauf dieses Introjektionsprozesses wendet sich das Opfer so zwangsläufig gegen sich selbst: Die Delegation der Ichfunktion, das Liebesbedürfnis und die Verschmelzungswünsche, die das Verfolgungstrauma im Opfer induziert, richten sich auf niemand anderen als auf den Täter. (…) Indem das Opfer nun das Bild, das der Täter über die Tat von ihm konstituiert, als Selbstbild in sich aufnimmt, macht es sich in einem bestimmten Sinne tatsächlich zum Komplizen des Täters.765 Die Tränen Tullas bei Stalins Tod deuten auf diese Verbundenheit zum Täter. Die Überzeugung der eigenen Schlechtigkeit äußert Tulla, neben dem Altar in ihrer Wohnung sitzend, mit dem Satz: „`Was in ons drinsteckt im Kopp ond ieberall, das Beese muß raus…´.“(212). Die Verbundenheit mit dem Täter mutiert aufgrund der Identifikation mit ihm in eine Abhängigkeit, die auch nach der Verfolgung durch den Täter bestehen bleibt: Auf Grund seiner Identifikation mit dem Verfolger glaubt das Opfer auch nach Ende des Terrors, dass ihm die Würde und die Selbstachtung vom Täter genommen wurden. Folglich bleibt das Opfer (unbewusst) im Glauben, dass nur der Täter sie ihm wieder zurückgeben kann, wenn es sich mit ihm `versöhnt´. Indem das Opfer sich mit dem Täter identifiziert, übernimmt es auch (...) seine Schuldgefühle. Er fühlt sich (unbewusst) tatsächlich so `schlecht´ und `schuldig´ wie der Täter ihn behandelt. So kann es das Gefühl der Ohnmacht, indem es die Hoffnung aufrecht erhält, durch `gutes Benehmen´ sich die `Liebe´ des Täters wieder `verdienen´ zu können, überbrücken. Dies führt nach Beendigung des Terrors zu einer seelischen Abhängigkeit vom Täter: das Opfer glaubt, dass nur die `Liebe und Anerkennung´ des Täters ihm die verlorene Würde und Selbstachtung wiedergeben können. 766 Der menschliche Selbsterhaltungstrieb in seiner psychischen oder physischen Ausprägung wird zum Treiber für diesen Abhängigkeitsprozess: „Die völlige Unterwerfung und die damit verbundene illusorische Vorstellung, vom Täter `geliebt´ 764 Pogany-Wnendt, ebd. Ehlert und Lorke zitiert in: Pogany-Wnendt, S. 15. 766 Pogany-Wnendt, S. 15f. 765 299 zu werden, ist die letzte Möglichkeit, die Hoffnung auf Leben aufrechtzuerhalten.“ 767 Tullas Unterwerfung zeigt sich zugleich in ihrer bemühten Anpassung an das von Stalin mit geschaffene System. Als „mehrfach ausgezeichnete Aktivistin“ leitet sie eine Tischlereibrigarde beim „VEB Möbelkombinat“. (90) Dass diese Anpassung nicht ideologischer Überzeugung geschuldet ist, zeigt sich in Tullas Unmut über Pauls FDJ-Mitgliedschaft: „Raicht das nich, wenn ech miä hier fier die Schufte abrackern muß!“ (67) Die Abhängigkeit Tullas von ihrem Täter offenbart sich gleichfalls in der nach dem Mauerfall „unverändert(en)“ (212) Wohnung an ihrem bisherigen Wohnort Schwerin, die auf eine innere Stagnation deutet: „So diffus ihr Bild zu jener Zeit gewesen sein mag, genau besehen ist Mutter bis heute Stalinistin geblieben“. (170) In dieser Stagnation zeigt sich die Tragik der Opfer, die sich von ihrem Täter nicht lösen können, „weil die ersehnte Versöhnung, die allein dieses Introjekt auflösen könnte, ausbleibt. Das traumatische Introjekt kann nicht aufgegeben werden, weil es das Versprechen der Versöhnung enthält, auf die das Opfer nicht verzichten kann.“768 Das letzte Bild Tullas am Ende der Novelle entspricht dem. Sie bleibt zurück im Wohnzimmer ihrer Plattenbauwohnung, in dessen Ecke der Marienaltar mit dem Foto Stalins prangt. (212) „Trotz rationaler Einsicht in das Gegenteilige, das heißt in die Unmöglichkeit vom Täter `geliebt´ zu werden, entsteht hier eine, zwar für die Bewältigung der traumatischen Situation psychisch rettende Maßnahme, aber für die Bewältigung des `normalen´ Lebens nach der Verfolgung verhängnisvolle seelische Situation.“769 Das Bild Stalins im weißen Anzug auf dem Marienaltar Tullas macht diesen zum Symbol für eine angebetete Gestalt, die „lieben“ und „beschützen“ soll. Die „verhängnisvolle Situation“ zeigt sich darin, dass sie sich selbst „vor den versammelten Genossen `Stalins letzte Getreue´ genannt und mit dem nächsten Satz die klassenlose KdF-Gesellschaft zum Vorbild für jeden wahren Kommunisten 767 Ebd. S. 15. Ehlert und Lorke zitiert in: Pogany-Wnendt, S. 15. 769 Pogany-Wnendt, S. 15. 768 300 hochgelobt (hat)“. (40) Die „Täterintrojektion“ – und somit der Auslöser von Tullas Trauma - ist an dieser Stelle erweitert. Im übertragenen Sinn umfasst diese im Symbol „Stalins“ den Kommunismus und im Symbol der „KdF-Gesellschaft“ den Nationalsozialismus als den beiden polaren Ideologien der Moderne. Tulla vermag aufgrund ihrer traumatisch bedingten Desorientierung (vgl. Abschnitt „Trauma“) weder die historischen Zusammenhänge herzustellen, noch die sich daraus ergebenden Ambivalenzen zu erkennen. Präsenter noch als der Nationalsozialismus aus der Vergangenheit Tullas ist Stalin in der Gegenwart: in Tullas Welt ist Stalin der eigentlich Auslöser der Torpedos auf die Gustloff, die der Russe Marinesko abgeschossen hat, er ist der Initiator ihrer Vertreibung und Flucht, durch die sie die Heimat verlor, er ist der Initiator des „Eisernen Vorhangs“ hinter dem Tulla vierzig Jahre in der DDR gefangen war. Pauls Flucht in den Westen verdeutlicht in diesem Kontext die Gefangennahme Tullas. (18) Die Hoffnung des Opfers Tulla auf „Erlösung“ durch den Täter spiegelt sich in der Position des im weißen Anzug gekleideten Despoten (212) auf dem Marienbild auf Tullas Altar. Die Muttergottes dient, Jesus auf dem Schoß tragend, als Thron für den eigentlich Thronenden, den „Erlöser“ Jesus Christus. Solange Tulla von dem Traumatischen durchdrungen ist, bleibt das Opfer Tulla an den Täter Stalin, der zu ihrem „Erlöser“ wird, gebunden. Erschwerend tritt hinzu, dass sie ihr Trauma ohne äußere Hilfe nicht aufzulösen vermag. Die Unmöglichkeit für Tulla ihr Trauma selbst abzuwickeln und sich aus der Opferrolle zu lösen, zeigt sich narrativ in der Figur Paul. Dessen Merkmale sind Sprachlosigkeit und Empathielosigkeit: „Also versuche ich nicht, mir Schreckliches vorzustellen und das Grauenvolle in ausgepinselte Bilder zu zwingen, sosehr mich jetzt mein Arbeitgeber drängt, Einzelschicksale zu reihen, mit episch ausladender Gelassenheit und angestrengtem Einfühlungsvermögen den großen Bogen zu schlagen und so, mit Horrorwörtern, dem Ausmaß der Katastrophe gerecht zu werden.“ (136) Im Moment der vom Opfer als traumatisch empfundenen Gewalttat durch einen anderen Menschen geht das Urvertrauen in die mitmenschliche Empathie verloren: 301 Die traumatische Realität zerstört den empathischen Schutzschild, den das verinnerlichte Primärobjekt bildet, und destruiert das Vertrauen auf die kontinuierliche Präsenz guter Objekte und die Erwartbarkeit mitmenschlicher Empathie, nämlich dass andere die grundlegenden Bedürfnisse anerkennen und auf sie eingehen. Im Trauma verstummt das innere gute Objekt als empathischer Vermittler zwischen Selbst und Umwelt (…). Hoppe (...) hat diesen Sachverhalt als eine Zerstörung des Urvertrauens gekennzeichnet.770 Im Resultat bewirkt diese Zerstörung, dass das Trauma nicht wiedergegeben werden kann. Je nach Grad der Zerstörung lassen sich Traumatisierungen unterschiedlich typisieren und führen im Extremfall „zu einer völligen Durchtrennung der Verbindung zwischen Selbst und Objekt (...). Der Verlust des empathischen inneren Anderen zerstört die Fähigkeit, das Trauma zu erzählen. Es kann nicht in ein Narrativ eingebunden werden.“771 Die Unintegrierbarkeit des Traumas äußert sich etwa darin, dass der Traumatisierte keine sachlichen Zusammenhänge herzustellen vermag: Durch extreme Traumatisierung kann „die integrative Funktion des Verstandes beeinträchtigt sein. Dies hat potentiell weitreichende Konsequenzen für die Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu integrieren, Verluste zu betrauern“.772 Wie bereits gesehen, erlaubt ein eingeschränkter Sichtradius eine nur begrenzte Verarbeitung von Informationen: „Mecht mal bloß wissen, was sich dieser Russki jedacht hat, als er Befehl jab, die drai Dinger direktemang auf ons loszuschicken…“.(11) Hier steht nicht eine politisch denkende Tulla im Fokus, die als Betroffene historische Schuld und Gegenschuld abzuwägen oder sachlich zu ergründen sucht. Hier rückt allein der traumatisierte Mensch in den Mittelpunkt, der im engen Gesichtsfeld seines Traumas lebt. „Die Fähigkeit, (…) Bezüge herzustellen, ist im traumatischen Zustand stark eingeschränkt, die Aufmerksamkeit ist ähnlich der hypnotischen Trance äußerst begrenzt.“773 Bohleber, “Trauma“, S. 821. Ebd. 772 Sven Varrin, `Die gegenwärtige Vergangenheit. Extreme Traumatisierung und Psychotherapie´, S. 895-930 in Bohleber, „Trauma“, S. 895. 773 Henry Krystal, `Psychische Widerständigkeit bei Holocaust-Überlebenden´, S. 840-859 in Bohleber, „Trauma“, S. 847. 770 771 302 Somit wird Pauls Vorgehen, das Trauma, dessen Ursache (Rückblick in die Zeit vor dem Untergang) und dessen Wirkung (z.B. Tullas und Konnys Leben nach dem Trauma) in ein Narrativ einzubinden zum Versuch der Traumabearbeitung. Allerdings misslingt dieser Versuch, worin sich die Unmöglichkeit, das eigene Trauma selbst zu bearbeiten, offenbart. Das Trauma Paul scheitert als Erzähler, der die offenen Enden der Narration nicht miteinander zu verbinden vermag, da seine Geschichte kein wirkliches Ende hat, lediglich aufhört, ohne wirklich aufzuhören. Die Empathielosigkeit als Symptom des Traumas verhindert, das der Erzähler Paul Tullas Trauma erfassen kann. Bereits auf der ersten Seite impliziert das Trauma Paul, dass es sich nicht „selber abwickeln“ (7) kann. Es ist demnach die Funktion als Trauma, die die Funktion als Erzähler scheitern lässt. Der Kern dieses Scheiterns liegt in der Unfähigkeit die tiefen, unartikulierbaren Erinnerungen Tullas zu vermitteln. Anstatt die inneren Empfindungen Tullas zu übermitteln, versucht sich Paul als sachlicher Erzähler eines Berichts: „Das Ausschließen bestimmter Informationen führt (...) dazu, dass diese Informationen pathogene Wirkung haben können. Diese negativen Gefühle, die an der Entstehung von inneren und äußeren Konflikten beteiligt sind, werden aus dem Bewusstsein ausgeschlossen.“774 Allerdings ist die Präsenz dieser „negativen Gefühle“ im Krebsgang deutlich sichtbar: „Dafür, Mutter, und weil Du mich geboren hast, als das Schiff sank, hasse ich Dich. Auch dass ich überlebte, ist mir in Schüben hassenswert geblieben“. (70) Durch seinen „emotionslosen“ Bericht scheint Paul diese Emotionen auszuschließen, da sie ihn sonst überfluten würden. Somit stehen unverarbeitete - „ausgeschlossene“ - innere Emotionen aus dem Trauma einer äußeren Sachlichkeit unvereinbar gegenüber. Doch indem der Erzähler nicht erzählen kann, kann er den eigenen Vergangenheitshorizont als Zeitzeuge nicht „überliefern“ (Gadamer). Indem er den Vergangenheitshorizont nicht übermitteln kann, lässt sich dieser nicht mit dem Gegenwartshorizont zu einer Erweiterung verschmelzen. Die „pathogene Wirkung“ 774 Anna Buchheim, `Bindungsnarrative und psychoanalytische Interpretation eines Erstinterviews´, S. 35-50 in Bohleber, „Vergangenes“, S. 37. 303 der ausgeschlossenen „Informationen“ äußert sich in der Wiederholung der Katastrophe, dem Mord Wolfgangs alias Davids durch Tullas Enkel Konny. Die Unüberwindbarkeit des eigenen Traumas eröffnet die Perspektive auf eine mögliche Wirkungskette: das „(eigene) Leiden wahrzunehmen und zu trauern, bedeutet auch, das Leiden des anderen wahrzunehmen, mitzutrauern. Es macht deutlich, dass eine Aufteilung des Leidens zu einer bewussten Blockierung von Mitgefühl führt und der Chance des Mitempfindens dadurch verspielt wird.“775 Mit Blick auf die Erfassung des Vergangenheitshorizonts ergibt sich daraus: das selbst erlittene Trauma zerstört die Empathie, ohne Empathie kein Mitleiden, ohne Mitleiden kein Schuldempfinden, ohne Schuldempfinden keine Trauer, ohne Trauer keine Vergebung. Eine Untermauerung dieser Wirkungskette findet sich im Krebsgang in dem Indiz, dass Tulla die Anerkennung ihrer (Mit-)Schuld verweigert. In Katz und Maus taucht Mahlke am Ende nicht mehr von seinem untergegangenen Schiff auf. Tulla trägt daran eine gewisse Mitschuld. In Grass‘ zweitem Opus ist sie fasziniert „vom toten Mariner“776, einem ertrunkenen Matrosen im Minensuchboot. Sie stachelt die Jungenschar um sie herum an: „Wer mir den hochbringt, der darf mal.“777 Tulla wird so für „die Jungen Danzigs zur femme fatale, zu einer faszinierend-dämonisierten Gestalt, die Liebe verspricht und den Tod verheißt.“778 Vor allem Joachim Mahlke taucht immer wieder in den Kahn hinab „ohne es uns einzugestehen, nach einem halbaufgelösten polnischen Matrosen (suchend); nicht etwa um das unfertige Ding (Tulla) zu stoßen, sondern so, einfach so.“779 Mahlke, der sich zunächst nicht viel aus Tulla macht, „wenn sie auch später mit ihm zu tun bekommen haben soll“780, rückt Tulla „als Kontrastfigur an die Stelle der angebeteten Jungfrau Maria. Ihren Namen 775 Peter Steinbach zitiert in: Neumann, S. 57. Grass, Katz und Maus, S. 36. 777 Ebd. 778 Pasche, S. 49. 779 Grass, Katz und Maus, S. 36. 780 Ebd. 776 304 nennt er als Motiv für seine Desertion.“781 Tulla wird schuldig, indem sie ihn „in die Unterwelt“ zieht, in die Mahlke abtaucht, „um nie wieder zu erscheinen.“782 Im Krebsgang holt sie Joachim Mahlke immer wieder ein. Erwähnt wird ein Oberschüler Joachim, der „aber Jochen gerufen wurde“ (56) und den Tulla als Halbwüchsige kannte (56). Ihm folgen etwa zehn Jahr später ein „Jochen zwo“ (56) und weitere drei Jahre später ein Jochen „Nummer drai“ (56). Die jeweiligen Berufe der beiden Jochens unterstreichen Tullas Mitschuld. Jochen „zwo“ ist Maurerpolier und assoziiert damit den Jochen, der mörtelähnlichen weißen Mövendreck vom Schiffsboden abkratzt, die an die bloße „Fressgier“ der Vögel erinnert.783 Jochen „drai“ bringt Colgate Zahnpasta mit, die im trockenen Zustand die gleiche Konsistenz besitzt. Er ist Polizist und damit ein Mahner von Recht und Ordnung. Dieser Jochen will sie heiraten, aber Tulla kann keine Verbindung zu ihrer schuldbeladenen Vergangenheit herstellen und setzt schließlich beide Jochen vor die Tür. Noch fünfzehn Jahre und damit eine Menschengeneration später ist ihr das Trauma „Paul“ genug: „Du raichts miä grade“ (57), mehr kann sie nicht ertragen. Für den Trauerprozess ist damit eine Schlüsselszene hergestellt: Tulla kann ihre indirekte Mitschuld am Tod Jochens nicht konfrontieren, weil sie mit dem eigenen Trauma leben muss. Daraus ergibt sich: Niemand kann ihr diese Bürde abnehmen, aber niemand kann sie andererseits zwingen, sich eine weitere Bürde aufzuladen. Das eigene Trauma durchdringt ihr gesamtes Leben, für weitere Traumata ist kein Platz. Dennoch macht Tulla Versuche, zu trauern. Diese Versuche scheitern jedoch am Ende, weil der öffentliche Raum fehlt: Tulla kann ihre innere Trauer nicht nach außen bringen. 781 Pasche, S. 50. Ebd. 783 Pasche, S. 77. 782 305 Das zerstörte Mahnmal als Ursache für Tullas gescheiterte Trauer Die Berichtsform des Ich-Erzählers Paul und das dichte Geflecht historischer Fakten in der Narration, lassen stellenweise vergessen, dass es Pauls Sicht ist, aus der die Geschichte um die Gustloff, um Tulla und Konny erzählt wird. Geboren in der Stunde des traumatischen Untergangs und aufgewachsen mit Tullas fragmentarischen Erinnerungsstücken, scheint der Sohn Paul die Außen- und Innenperspektive (Ereignis und Trauma) des Geschehens zu kennen wie sonst niemand. Dies autorisiert ihn als (all)wissenden und zugleich als authentischen Erzähler. Untermauert wird diese Authentizität durch die Stellung Pauls als genealogisches Bindeglied zwischen Mutter Tulla und Sohn Konny. Paul scheint demnach eigentlich prädestiniert, das Geschehen in seinem Gesamtkontext wahrhaftig wiederzugeben. Wie oben dargelegt, bricht diese Autorität des Erzählers jedoch in dem Moment, in dem er sich den Emotionen Tullas, ihrem tiefen Inneren, das von dem Trauma durchdrungen ist, verschließt. Pauls Scheitern wird auf einer literarischen Ebene untermauert, indem er den Anforderungen der Novellenform nicht gerecht wird, die verlangt, die „Ereignisse von ihren Ursachen bis zum Abschluss der Handlung mit allen für das Verständnis notwendigen Zügen“784 zu erzählen. Indem die Fehlleistung der subjektiven bzw. eindimensionalen Perspektive offenbart wird, zeigt sich die Bedeutung einer Multiperspektivität. Nur durch vielfältige Sichtweisen und die Öffnung nach außen scheint sich der historische Horizont einer traumatischen Narration näherungsweise erfassen zu lassen. Paul scheint sich dessen bewusst, ohne dieses Bewusstsein jedoch für sich als Erzähler nutzen zu können: „Menschen, die immer nur auf einen Punkt starren, bis es kokelt, qualmt, zündelt, sind mir noch nie geheuer gewesen.“ (68) Diese These bestätigt sich auf der psychologischen Ebene, indem das Vorhandensein öffentlicher Räume, nicht zuletzt als Lieferant von Multiperspektivität, eine maßgebliche Bedeutung für traumatisierte Opfer hat: 784 Wilpert, `Novelle´, in Sachwörterbuch der Literatur, S. 629. 306 Die sogenannten `man made disasters´ wie Holocaust, Krieg, ethnische Verfolgung und Folter zielen auf die Annihilation der geschichtlich-sozialen Existenz des Menschen (…). Die traumatische Erfahrung in ein übergeordnetes Narrativ einzubinden, kann dem Einzelnen deshalb nicht in einem rein individuellen Akt gelingen, sondern es bedarf abgesehen von einem empathischen Zuhörer auch eines gesellschaftlichen Diskurses über die historische Wahrheit des traumatischen Geschehens und über dessen Verleugnung und Abwehr. Die Opfer sind gleichzeitig Zeugen einer besonderen geschichtlichen Realität. Die Anerkennung von Verursachung und Schuld restituiert überhaupt erst den zwischenmenschlichen Rahmen und damit die Möglichkeit, das Trauma angemessen zu verstehen. Nur dadurch kann sich dann auch das erschütterte Selbst- und Weltverständnis wieder regenerieren.785 Unmittelbar nach ihrer traumatischen Erfahrung, die für sie den Namen Gustloff trägt, sucht Tulla nach diesem öffentlichen Raum: „Als wir nach Schwerin kamen, war er, wohin man auch guckte, namentlich anwesend. So stand am Südufer des Sees noch unzerstört jener aus Findlingen erstellte Ehrenhain und in ihm der große Granit, der siebenunddreißig zu Ehren des Blutzeugen aufgestellt worden war. Ich bin sicher, dass Mutter nur deshalb mit mir in Schwerin geblieben ist.“ (157) Allerdings wird der Ort von Tullas Trauer, auf dem neben Gustloffs Name, „die Namen ihr unbekannter, doch offenbar verdienter Parteigenossen“ (164) standen, zerstört: am 10. September 1949 wird der Ehrenhain abgerissen und die Leichen und Urnen umgebettet. (167) Dabei können die „`Aschenreste des Wilhelm Gustloff´ nicht auf dem städtischen Friedhof überführt werden“. (ebd.) Dennoch sucht Tulla auch später in einer nächtlichen Aktion mit einer Taschenlampe jene Stelle, an der „der große Granit zu Ehren des Blutzeugen“ (91) stand, um „Punkt zehn Uhr achtzehn“, dem Moment des Untergangs, einen Strauß weiße Rosen abzulegen. Hierin verbildlicht sich die innere Trauer, die auf den leeren äußeren Raum stößt. Die Protagonistin ist dem Verdacht entzogen, eine „Ewiggestrige“ zu sein: weder zeigt Tulla revisionistische Tendenzen, indem sie sich mit organisierten „Heimwehfahrten“ (205) zufrieden gibt, noch begleitet sie Konny zu Versammlungen rechtsradikaler Parteien (82). Gegenüber Paul und Jenny stellt sie klar, wem ihre Trauer am ehemaligen Ehrenhain Gustloffs gilt: „Abä nich fier den Justloff bin ech 785 Bohleber, „Trauma“, S. 824. 307 mitte Blumen jekommen. Der war nur ain Nazi von viele, die abjemurkst wurden. Nai, fier das Schiff ond all die Kinderchen, die draufjegangen sind damals inne eiskalte See, hab ech (…) main Strauß weiße Rosen abjelegt. Ond jewaint hab ech dabai noch finfondvierzig Jahr danach….“. (91) Ihre Trauer drückt sich in einer scheinbar unauflösbaren Orientierungslosigkeit aus: sie sagt vieles „zu laut und zur falschen Zeit“. (39) Nach Bekanntgabe von Stalins Tod, im März 1953, hat sie „bei uns in der Küche Kerzen aufgestellt und richtig geweint. Nie wieder habe ich sie so weinen sehen.“ (40) Honnecker tut sie als ´bloßen Dachdecker´ ab, „(s)ie, die aufgeklärte Antifaschistin, hat dennoch über den um fünfzig herum zertrümmerten Gedenkstein für Wilhelm Gustloff gejammert und über die `schuftige Grabschändung´ geschimpft.“ (ebd.) Für Tulla ist „`Baadermeinhof´“ eine Person, die „im Kampf gegen den Faschismus gefallen sei. Unfassbar blieb, für wen, gegen wen sie war.“ (40) Ihre fragmentarischen Erzählungen drehen sich stets um die gleichen Bilder: „Wie aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle koppunter.“ (31) In dieser Orientierungslosigkeit der halben Sätze, der zahlreichen Leerstellen in den Erzählungen und dem Kreisen um das ewig Gleiche beginnt der Leser, die trostlose Landschaft des Traumas und der Trauer selbst zu durchschreiten. Das Aufschreiben soll Orientierung bringen. Entsprechend drängt Tulla Paul: „Das musste aufschraiben.“ (31) Indem Paul beginnt, wenn auch unter Zwang, aufzuschreiben, versucht er sich über die „resignative Hingabe des Traumatischen als Grundbedingung menschlicher Existenz“786 hinweg zu setzen. Die Verbotstafel des „Alten“, die Paul untersagt in das Innere zu schauen (199), symbolisiert auf der psychologischen Ebene jedoch eine weitere Dimension von Blockade. Tulla vermag ihr Trauma, das an die Oberfläche drängt, nicht durchzuarbeiten, weil sie keine Zuhörer findet, die in das Innere zu schauen gewillt sind: „Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht.“ (31) Um zu trauern, braucht Tulla Erinnerungen. Diese 786 Mahler-Bungers, in Mauser, Pietzcker, (Hg.), Trauma, S. 30. 308 Erinnerungen sind durch die Traumatisierung fragmentiert. Sie können nicht in eine in sich geschlossene Narration eingefügt werden, was eine Reflexion bedingen würde und einen Erkenntnisgewinn durch Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit ermöglichte. „Um Erinnerungen zurückzurufen und in Sprache zu fassen, brauchen wir ein Gegenüber, ein soziales Umfeld, das offen ist und wirklich wissen will, was der andere erlitten hat.“787 Die Tabuisierung der Traumata bei den Aggressoren des Krieges verhindert diesen Austausch und erschwert somit den daraus zu ziehenden Erkenntnisgewinn. Traumatische Erinnerungen, (…) dürfen sich nicht gegenseitig verdrängen, noch lassen sie sich einfach in abstrakte `Geschichte´ auflösen. Sie machen sich in problematischen Symptomen bemerkbar, wenn sie im Individuum eingeschlossen bleiben und als unbewusste Erbschaft auf nachfolgende Generationen übertragen werden. Vielmehr ist die Wahrheit dieser Erinnerungen angewiesen auf einen öffentlichen Kommunikationsraum, um erzählbar zu werden und in individuelle Lebensgeschichten integriert werden zu können. Eine solche Vervielfältigung der Perspektiven widersteht der Tendenz der Engfügung im kollektiven Gedächtnis, die eine einzige Opfergruppe auf Kosten anderer privilegiert, und sie bewahrt vor einer vereinnehmenden Identifikation mit den Holocaustopfern, die von der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte befreit.788 Indem Tulla der äußere Raum zur Auflösung ihrer Orientierungslosigkeit versagt bleibt, kann sie nicht erkennen, dass es gilt, zwischen dem Schiff - als einer Metapher für Nazi-Deutschland – und den ertrunkenen Kindern - als einer Metapher für die verlorene Zukunft – zu unterscheiden. Tullas Gegenwart und Zukunft bleiben so durch die Vergangenheit weiter zerstückelt. Indem Tulla ein Erkenntnisprozess verschlossen bleibt und sie das Trauma unbearbeitet auf ihren Enkel überträgt (vgl. Kapitel „Wiederholung“), nimmt die Geschichte ihren fatalen Verlauf. 787 I. Özkan, A. Streek-Fischer, U. Sachsse, `Einleitung´, in ders. et al., Trauma und Gesellschaft. Vergangenheit in der Gegenwart, Göttingen, 2002, S. 8. 788 A. Assmann, `Wie wahr sind Erinnerungen?´, in Das Soziale Gedächtnis, S. 122. 309 Der Übertrag des Traumas an Konny Durch die Zerstörung des Ehrenhains Gustloffs bleibt Tulla kein öffentlicher Raum für ihre Trauma- und Trauerarbeit. Wie im Kapitel „Wiederholen“ dargestellt, übertragen sich unbearbeitete Traumata auf die nachfolgenden Generationen. Die Wirkung dieses Übertrags von Tullas Trauma auf Konny indiziiert sich im Hinweis auf Freuds Nachträglichkeit. Nachdem Konny das Modellschiff Gustloff, das Tulla ihm schenkt, Paul gezeigt hat, erwiderte dieser: „`Ganz hübsch. Aber eigentlich solltest du aus dem Alter für solche Spielerein raus sein, oder?´ Und er gab mir sogar recht: `Weiß ich. Doch wenn du mir, als ich dreizehn oder vierzehn war, zum Geburtstag die Gustloff geschenkt hättest, müsste ich diesen Kinderkram jetzt nicht nachholen.“ (208) Das „Nachzuholende“ erfolgt „nachträglich“. Laplanche und Pontalis umreißen dieses Konzept Freuds: „Erfahrungen, Eindrücke, Erinnerungsspuren werden später aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen einer anderen Entwicklungsstufe umgearbeitet. Sie erhalten somit gleichzeitig einen neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit.“789 Hierin deutet sich der eingangs dargestellte iterative Wechsel zwischen Verdrängung und Konfrontation bei der Bearbeitung des Traumas an. Lacan greift die zeitliche und räumliche Bedeutung der Nachträglichkeit mit Blick auf die sich vollziehende Veränderung auf: „Was sich in meiner Geschichte verwirklicht, ist nicht die abgeschlossene Vergangenheit dessen, was war, weil es nicht mehr ist, auch nicht das Perfekt dessen, der in dem gewesen ist, was ich bin, sondern das zweite Futur (futur anterieur) dessen, was ich für das werde gewesen sein, was zu werden ich im Begriff stehe.“790 Der Kern dieser Umschreibung offenbart das Ziel von Lacans Konzept: „Lacan does not profess a model of desire grounded in romantic nostalgia for the lost object, but rather in an enlightened acceptance of loss as the condition of psychic functioning.“791 Die entscheidende Bedeutung kommt dabei der Sprache zu: „Lacan´s insistence on the future past might be explained by considering the retroactiv achievement of meaning that language 789 Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, 1972, S. 313. Jean Lacan, Schriften, Berlin, 1986, S. 143. 791 Riccardi, S. 46. 790 310 performs, for only at the end of a sentence, (…) does the logic of the contigent elements of a symbolic structure begin to appear.“792 Der Bedeutung „am Ende eines Satzes“ geht dessen Formulierung voraus, was sich in der Psychoanalyse als dem eingangs dargestellten Konzept der Rekategorisierung manifestiert: The task Lacan assigns to the patient is the knowing, deliberate `recitation´ of his or her past, not its repetition. The `full speech´ of analysis depends ultimately on the analysand´s responsiveness to the necessity of addressing a spectator rather than of incorporating a tragic chorus, and hence on the subject´s capacity to allow the emergence of a simulacrum of the past, not its replica.793 Der “spectator” als Rezipient der Novelle Krebsgang wird mit Pauls Rekonstruktion, d.h. aus der Warte des Traumas, mit den traumatischen Ereignissen in der Vergangenheit konfrontiert: „Wieder einmal muss ich rückwärts krebsen, um voranzukommen.“ (107) Dieses Rückwärtsgehen um voran zu kommen ist als Kernaspekt der Geschichte um die Gustloff mit dem Titel Im Krebsgang manifestiert. Dieser Titel umschreibt zugleich den Trauerprozess des Rückwärtsgehens um voran zu kommen. Lacans Konzept der „Vorzukunft“794 findet sich in Ansätzen wieder in Grass´ eingangs erwähnter „Vergegenkunft“ (Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus). Was jedoch bei Lacan eine Verschmelzung der Zeithorizonte aus Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart ist, wird bei Grass zu einer Vergangenheit, die ihre Schatten auf Zukunft und Gegenwart wirft, indem sie „nicht aufhören (wird), gegenwärtig zu bleiben.“795 Während Lacans Konzept eine prozesshafte Entwicklung aus dem Amalgam der Zeitdimensionen indiziert, in der sich das Subjekt als ein „Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Zukunft“796 denken lässt, fungiert die „Vergegenkunft“ bei Grass als Synonym für entwicklungslose – melancholische 792 Ebd., S. 41. Ebd. 794 Strasser, `Blick zurück in die Zukunft´, in Mauser; Pfeiffer, (Hg.), Erinnern, S. 138. 795 Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 9. 796 Strasser, S. 137. 793 311 „Endlosigkeit“797 durch das Verharren in der Vergangenheit. Im Krebsgang ist diese Endlosigkeit in der transgenerationellen Weitergabe des Traumas der Gewalterfahrung manifestiert. Aus psychologischer Sicht ist dieser Übertrag mit dem Auftrag der Auflösung des Traumas verbunden.798 Hierin reflektiert sich Grass‘ Idee von der Melancholie als Vorstufe zur Trauer. Allerdings bleiben die Möglichkeiten dieser (Trauma-) Auflösung in nachfolgenden Generationen im Krebsgang durch den äußeren Raum versagt. Der Enkel Konny übernimmt Tullas Auftrag, ihr Schicksal in den öffentlichen Raum einzubringen. Während der ersten Nachkriegsjahre ist „nicht nur auf Befehl der sowjetischen Besatzungsmacht“ alles abgeräumt worden, „was die Bürger der Stadt an den Blutzeugen hätte erinnern können.“ (37) Das, was von den „anderen“ zerstört worden war, will Konny zurück in die Erinnerung holen. Sein Ziel ist es, am Südufer des Schweriner Sees ein Mahnmal zu errichten (192), das den Namen des Traumas seiner Großmutter trägt: „Ich rufe dazu auf, am Südufer des Sees, dort, wo ich auf meine Weise des Blutzeugen gedacht habe, ein Mahnmal zu errichten, das uns und kommenden Generationen jenen Wilhelm Gustloff in Erinnerung ruft, der vom Juden gemeuchelt wurde.“ (192) Ein Mahnmal ist ein Symbol der Trauer. Symbolisch könnte Konny durch das Sichtbarmachen des Traumas der Großmutter jener Anteile, die er durch transgenerationelle Übertragung in sich trägt, nach außen bringen. Dies impliziert eine Loslösung im Inneren. Wie stark die traumatische Vergangenheit Tullas ihn gefangen hält, zeigt sich in seiner Forderung nach einem Gedenkstein: „…während das Erinnern ein `dynamischer Prozess´ ist, welcher `das Selbst (verändert) und Platz für neue Objekte schafft´, ist das Gedenken `statisch´.“799 Hirsch versteht das Gedenken „als eine unvorteilhafte Art der mentalen Interaktion, die darauf abzielt, `dem 797 Grass, ebd., S. 43. Vgl. Kapitel „Wiederholen“. 799 Hirsch zitiert in: Weilnböck, S. 37. 798 312 Vergangenen als Gegenwärtiges die Treue zu (bewahren).“800 Gedenken wird so zum „ungute(n) Gegenteil von erinnernder Loslösung“.801 Eine andere Möglichkeit der Loslösung wäre für Konny die historische Wahrheit über das Trauma seiner Großmutter zu erfahren, indem er in den öffentlichen Raum tritt: „Die Frage nach der Wahrheit von Erinnerungen hat nicht nur eine subjektive, sondern auch eine soziale Dimension. Ob Erinnerungen wahr sind, hängt zu einem gewissen Teil nicht nur davon ab, ob sie sinnlich körperlich eingeschrieben, sondern auch davon, ob sie in einem öffentlichen Kommunikationsraum erzählbar und akzeptabel sind.“802 Konnys „Wahrheiten“ sind für den öffentlichen Raum nicht akzeptabel: gemäß des Auftrags Tullas tritt Konny in der Absicht an die Öffentlichkeit, dort Unterstützung für sein Vorhaben zu gewinnen. Er will einen Vortrag über die Gustloff in seiner Schule halten. Ein weiterer Vortrag über den Untergang der Gustloff erfolgt vor rechtsradikalem Publikum. Anstatt jedoch Wahrheiten und Erkenntnisse in diesen beiden polaren Räumen der Öffentlichkeit zu gewinnen, wird er wegen seines neonazistischen Gebarens (188) respektive „Gesülze!“ (83) abgewiesen. Anstatt Loslösung und Erkenntnis aus Tullas Trauma zu gewinnen, indem die jeweiligen (Tullas historische und Konnys gegenwärtige) Anteile „richtig“ zugeordnet werden können, bleibt nach dem Kontakt mit der Öffentlichkeit vordergründig das Bild Konnys als rechtsradikaler „Neonazi“ zurück. Tatsächlich verwischt sich dieses Bild jedoch bereits bei der äußeren Betrachtung der Figur Konny: Ich versuche mir meinen Sohn vorzustellen, wie er sich, dünn und hochaufgeschlossen, mit Brille und lockenköpfig in seinem Norwegerpullover zwischen den Kahlköpfen bewegt. Er, der Safttrinker, umgeben von Fleischbergen, die mit Bierflaschen bewaffnet sind. (…) Nein, er hat sich nicht 800 Ebd. Ebd. 802 A. Assmann in Das soziale Gedächtnis, S. 117. 801 313 angepasst, blieb ein Fremdkörper inmitten der, üblicherweise, alles Fremde abstoßenden Szene. (82) Der „Fremdkörper“ kann hier als Synonym für das übertragene Trauma gelesen werden.803 Konnys Äußeres reflektiert das Innere: „Haß auf Türken, die Freizeitbeschäftigung Negerklatschen und die pauschale Beschimpfung von Kanaken waren ihm nicht abzufordern.“ (82) Konny bedient sich zwar antisemitischer Klischees. Diese sind jedoch dem Repertoire seines historischen Rollenspiels als Wilhelm Gustloff entnommen (durch das er versucht, das Trauma Tullas „ungeschehen“ zu machen804) und nicht der zeitgenössischen Haltung rechtsextremer Jugendlicher zuzuordnen, denn er „sprach (…) zwar (…) von mutmaßlichen Hintermännern des Mörders, vom `Weltjudentum´ und von der `jüdisch versippten Plutokratie´, aber Beschimpfungen wie `Schweinejuden´ oder der Ruf `Juda verrecke!´ standen nicht in seinem Redemanuskript.“ (82) Die „Glatzen“ sind an Konnys detaillierten Ausführungen über „Das Schicksal des KdF-Schiffs Wilhelm Gustloff von der Kiellegung bis zum Untergang“ nicht interessiert. (183) Anders als Konny suchen die rechtsradikalen Jugendlichen nicht nach Ursachen, Verlauf und Ende („Kiellegung bis zum Untergang“) der Geschichte. Spätestens das rechtsstaatliche Agieren Konnys verwässert das Bild des rechtsradikalen „Neonazis“: „Selbst die Forderung nach der Wiederaufstellung eines Gedenksteines am Südufer des Schweriner Sees, `genau dort, wo seit 1937 der hochragende Granit zu Ehren des Blutzeugen gestanden hat´, war gesittet in Form eines Antrages gestellt, der die üblichen demokratischen Gepflogenheiten bemühte.“ (82f) Konny bewegt sich an zwei Orten, die sich als deutsche Brennpunkte für Rechtsextremismus eingeprägt haben. Die Stadt Mölln, in der Konny die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens verbringt, assoziiert die Ereignisse der rechtsradikal motivierten Mordtaten im November 1992. Als Landeshauptstadt von Mecklenburg- 803 804 Vgl. Abschnitt „Trauma“. Vgl. Kapitel „Wiederholen“. 314 Vorpommern symbolisiert Schwerin einen Ort, an dem ein besonders starker Zulauf zur Nationalen Partei Deutschlands (NPD) zu verzeichnen ist.805 Als Grass der Gustloff seine Novelle widmete, „geschah dies in der erklärten Absicht, die Teilnahme am Leid deutscher Opfer des zweiten Weltkrieges nicht `den Rechtsradikalen´ zu überlassen. Es sollte möglich sein, von deutschen Leiden ohne Aufrechnung oder revanchistische Zungenschläge zu sprechen.“806 Dem Protagonisten Konny bleibt dieses versagt: er wird zum “Opfer“ von Rechtsradikalität (198): es ist dieser Übergriff, der die Wiederholung der Geschichte – die entwicklungslose Melancholie – bewirkt. Nach dem Übergriff durch Rechtsradikale gibt Tulla ihm die Mordwaffe, die sie auf dem „Russenmarkt“ (198) gekauft hat. Selbst nachdem die Katastrophe geschehen ist, bleibt Konny die Gelegenheit zur Reflexion des Traumas seiner Großmutter im öffentlichen Raum versagt: „Da Verhandlungen vor Jugendstrafkammern nicht öffentlich sind, fehlte für publikumswirksame Vorträge der Hallraum.“ (189) Konny ermordet Wolfgang alias David, nachdem dieser „dreimal auf das vermoste Fundament gespuckt, also den Ort des Gedenkens, wie mein Sohn später aussagte, `entweiht´“ hat. (174) Während seines Prozesses appelliert er: Doch bitte ich das Hohe Gericht, die von mir vollzogene Hinrichtung als etwas zu bewerten, das nur in größerem Zusammenhang zu begreifen ist. (…) Die Landeshauptstadt Schwerin muss endlich ihren großen Sohn namentlich ehren. Ich rufe dazu auf, am Südufer des Sees, dort wo ich auf meine Weise des Blutzeugen gedacht habe, ein Mahnmal zu errichten, das uns und kommenden Generationen jenen Wilhelm Gustloff in Erinnerung ruft, der vom Juden gemeuchelt wurde. (192) Auch in dieser scheinbar eindeutigen Sequenz entzieht sich der Protagonist dem Verdacht, ein Rechtsextremer zu sein: „Ich scheue mich nicht, anzuerkennen, dass es Vgl. Mathias Brodkorb, Thomas Schmidt, „Gibt es einen modernen Rechtsextremismus? Das Fallbeispiel Mecklenburg-Vorpommern“, Friedrich Ebert Stiftung, Oktober 2001, http://library.fes.de/pdffiles/bueros/schwerin/01185-tb.pdf. 806 Joachim Güntner, `Untergangsunterhaltung´, „Neue Züricher Zeitung“, 05.03.2008, http: neue.züricherzeitung.ch/nachrichten/kultur/aktuell/untergangsunterhaltung_1.683403.html. 805 315 auf jüdischer Seite gleichfalls Gründe gibt, entweder in Israel, wo David Frankfurter zweiundachtzig gestorben ist, oder in Davos mit einer Skulptur jenen Medizinstudenten zu ehren, der seinem Volk mit vier gezielten Schüssen ein Zeichen gegeben hat.“ (192f) Deutlich offensichtlich wird aus der Begriffsumschreibung des italienischen Faschismusforschers Emilo Gentile, dass Konnys Handeln nicht ideologisch getrieben ist: (Die Faschisten) sehen sich als Vollstrecker einer Mission der nationalen Erneuerung; im Kriegszustand mit den politischen Gegnern; sie wollen das Monopol der politischen Macht und setzen Terrormaßnahmen, parlamentarische Taktik und Kompromisse mit den führenden Schichten ein, um eine neue Ordnung zu errichten, welche die parlamentarische Demokratie zerstört. (…) eine Ideologie von antiideologischem und pragmatischem Charakter, die sich als antimaterialistisch, antiindividualistisch, antiliberal, antidemokratisch, antimarxistisch proklamiert, tendenziell populistisch und antikapitalistisch, eher ästhetisch als theoretisch formuliert mit den Mitteln eines neuen politischen Stils und den Mythen, Riten und Symbolen einer Laienreligion, die dazu dient, die Massen kulturell-sozial zu einer geschlossenen Glaubensgemeinschaft zu formen, deren Ziel die Schaffung eines `neuen Menschen´ ist.807 Der Distanzierung des Protagonisten Konnys von dem Bild des rechtsextremen Neonazis schließt sich der Hinweis auf den wirklichen Auslöser der Mordtat an Wolfgang alias David an: „Bin wiederholt dort (am Tatort) gewesen. Zuletzt vor wenigen Wochen, als wäre ich der Täter, als müsste ich immer wieder an den Tatort zurück, als liefe der Vater dem Sohn nach.“ (160) Das unbearbeitete Trauma Tullas wird somit zum eigentlichen Täter des Mordes an Wolfgang alias David. 807 Gentile, S. 98. 316 Diskrepanzen zwischen öffentlicher und privater Erinnerungskultur Zwar agiert der transgenerationell traumatisierte Konny auf mehreren exponierten Plattformen, dennoch bleibt ihm eine Orientierung von außen versagt. Er alleine vermag seine innere Vermengung von Tullas Vergangenheit und seiner eigenen Gegenwart nicht aufzulösen. Für die Außenwelt erscheint er als ein rechtsradikaler Neonazi. In den Protagonisten der Novelle – neben Tulla und Konny auch die während des Prozesses anwesenden Richter, Pädagogen, Eltern etc. - spiegelt sich eine Hilflosigkeit im Umgang mit der Vergangenheit, die Grass für die „Deutschen“ (und für sich selbst) diagnostiziert hat: Sobald sich die Deutschen – Täter wie Opfer, Ankläger und Beschuldigte, die Schuldigen und die nachgeborenen Unschuldigen – in ihre Vergangenheit verbeißen, nehmen sie eingefleischte Positionen ein, wollen sie Recht behalten, Recht bekommen. Blindlings – im Irrtum noch – machen sie deutsche Vergangenheit gegenwärtig, ist wieder die Wunde offen und wird die Zeit, die verstrichene, die glättende Zeit aufgehoben. Ich nehme mich nicht aus.808 Tulla ist überzeugt, dass das Schicksal ihres Enkels geschehen konnte, „weil immerzu nur von andre schlimme Sachen, von Auschwitz und so was jeredet (wird).“ (50) Als Journalist kann Paul Tullas Auftrag, aufzuschreiben, lange nicht erfüllen. Weder bei Springer noch bei der „taz“ findet er ein hierfür geeignetes Umfeld.809 Er versucht sich alternativen Themen – als ein Indiz für die Umgehung des „eigentlichen“ Themas - zu nähern und schreibt „Artikel für Naturzeitschriften, etwa über den biodynamischen Gemüseanbau und Umweltschäden im deutschen Wald…“ (32). Dennoch bricht die unbearbeitete Vergangenheit immer wieder an die Oberfläche: „auch Bekenntnishaftes zum Thema `Nie wieder Auschwitz´“ (32) liefert Paul. Er schafft es dabei „die Umstände (s)einer Geburt auszusparen.“ (32) Hierin deutet sich die Verdrängung des von Tulla erlittenen Traumas im öffentlichen Raum (bei „taz“ und Springer) als Folge der Schuld und Schande („Bekenntnishaftes“) gegenüber dem „Trauma Auschwitz“ an. 808 809 Grass, `Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus´, S. 139-270 in Neuhaus WA, Bd. 6, S. 151. Vgl. Abschnitt „Verdrängung“. 317 Diese Verdrängung im öffentlichen Raum steht diametral zur Verdrängung im privaten Bereich, worin sich die eingangs ausgeführte Diskrepanz in der deutschen Erinnerungskultur spiegelt. In Mein Jahrhundert sind im Jahr 1964 die Frankfurter Auschwitzprozesse thematisiert: `Davon haben wir nichts mitgekriegt. Wann soll das gewesen sein? Dreiundvierzig? Da gab´s bei uns nur noch Rückzug…´ Und Onkel Kurt sagte: `Als wir die Krim räumen mussten und ich endlich auf Urlaub kam, da waren wir ausgebombt hier. Aber über all den Terror, den die Amis und der Engländer mit uns angestellt haben, redet niemand. Klar, weil die gesiegt haben und schuldig nur immer die anderen sind. Hör endlich auf damit, Heidi!´.810 Der „Alte“ (99) hat die „Stoffmasse“, den Untergang der Gustloff, die ihm gleich „nach Erscheinen des Wälzers `Hundejahre´ auferlegt worden sei, nicht erfasst“. (77) Der „Alte“ ist „jemand, der nicht Günter Grass ist, aufgrund von biographischen Bezügen und intertextuellen Anspielungen aber stark an den LiteraturNobelpreisträger gleichen Namens erinnert.“811 Er gesteht ein: „Sein Versäumnis, bedauerlich, mehr noch: sein Versagen.“ (77) Der Zusatz „Er - wer sonst? - hätte sie abtragen müssen, Schicht für Schicht. Denn an Hinweisen auf das Schicksal der Pokriefkes, Tulla voran, habe es nicht gefehlt“ (77) offenbart die Ambivalenz des Wissens um die Geschehnisse von Flucht, Vertreibung, Bombardements einerseits und der Unfähigkeit dieses Wissen nach außen in den öffentlichen Raum zu bringen. Die Begründung für sein Schweigen ist, dass „er gegen Mitte der sechziger Jahre die Vergangenheit sattgehabt812, ihn die gefräßige, immerfort jetztjetztjetzt sagende Gegenwart gehindert habe, rechtzeitig auf etwa zweihundert Blatt Papier….Nun sei es zu spät für ihn.“ (77) Im Krebsgang „gesteht“ der „Alte“ ein, dass das Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart nicht möglich war, weil „die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen“ (99) sei. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt: man hat „das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen“, für den „Alten“ ein „bodenloses Versäumnis“ (99). 810 Grass, Mein Jahrhundert, Göttingen, 1999, S. 231. Dieter Stolz, `Im Krebsgang oder Das vergessene Gesicht der Geschichte´, S. 233-244 in Honsza; Swiatlowska, (Hg.), Günter Grass. Bürger und Schriftsteller, Dresden, 2008, S. 239. 812 Anmerkung: Frankfurter Auschwitz-Prozesse 811 318 Nach „langer Sucherei auf den Listen der Überlebenden“ (78) hat der „Alte“ schließlich Paul „wie eine Fundsache“ (78) entdeckt, nachdem er selbst sich „müdegeschrieben“ (99) hat. Dieser Paul ist als Fundsache nicht neu, sondern war schon immer vorhanden, jedoch „ übersehen“ bzw. verdrängt. Mit dem Erzähler Paul, der anders als er selbst “prädestiniert“ sei, weil „geboren, als das Schiff sank“ (78) verbleibt Grass zugleich in der Tradition der „Danziger Trilogie“ - zu der die Novelle Im Krebsgang zahlreiche Bezüge hat. Er bedient sich fiktiver Erzählerfiguren, „durch deren Perspektive dem Leser der Gegenstand des Erzählens nahegebracht wird.“813 Vor dem Hintergrund, „dass die literarisch konstruierte Perspektive der fiktiven Erzählerfiguren in engem Zusammenhang mit der Perspektive des Autors, seinen historischen, sozialen und politischen Vorstellungen steht, ja ohne sie gar nicht denkbar wäre“814, eröffnet sich eine kontextualisierte Herangehensweise, die die (traumatische) Verdrängung aufzubrechen vermag. Als eine Vorbedingung für das Verschmelzen von Historie und Gegenwart unternimmt der Erzähler Paul den Versuch, Tullas Schicksal in einen historischen Kontext zu setzen. Allerdings brechen die Versuche der Kontextualisierung immer wieder durch die Erinnerung an das Trauma. So beginnt Paul etwa den Anschlag auf den Pariser Diplomaten Ernst vom Rath aufzurollen, dessen Folge die Reichskristallnacht war (31). Doch bevor er die Hintergründe und Bedeutung dieses Ereignisses darlegen kann - das ein entscheidender Testfall für die Unterstützung der Bevölkerung für die nationalsozialistische „Judenpolitik“ war - ist er „wieder auf Spur“ - zurück bei der Katastrophe um das „Schiff“ (ebd.). Es ist nicht „weil mir der Alte im Nacken sitzt, eher weil Mutter niemals lockergelassen hat.“ (ebd.) Paul ist zwischen die traumatisierte Tulla, die „niemals“ lockerlässt (31), und den „Alten“ geraten, der Paul durch eine „Verbotstafel die von Beginn an stand“815 enge Grenzen setzt (199). Das Verbot, nach Innen zu schauen (ebd.), verhindert das Susanne Schröder, Erzählfiguren und Erzählperspektiven in Günter Grass´ “Danziger Trilogie“, Frankfurt, 1986, S. 1. 814 Ebd., S. 2. 815 Anmerkung: Grass Bezeichnung für Adornos Diktum, keine Gedichte nach Auschwitz zu schreiben, vgl. Einführung. 813 319 Durchdringen und Erfassen des Traumas. Das (innere) Trauma steht somit unbeweglich vor der (äußeren) Verbotstafel des „Alten“ als ein „Torwächter“816, der nicht zu überwinden ist. Unter diesen Umständen gelangt Paul schließlich zu der Überzeugung: „Es stocke, sagte ich ihm, lohne den Aufwand nicht.“ (30) Doch wird in dieser Sequenz sogleich ein Wandel sichtbar: „Nun aber hat er mich doch aus der Versenkung geholt: das Herkommen meiner verkorksten Existenz sei ein einmaliges Ereignis, exemplarisch und deshalb erzählenswert.“ (ebd.) Das Trauma gelangt in der Gegenwart der Jahrhundertwende schließlich doch an die Oberfläche. Für Grass selbst hat sich Adornos Diktum, nach Auschwitz sei kein Gedicht mehr zu schreiben, zum Gebot erhoben: Eines dieser Gewichte, das auch dann noch lastete, wenn man es als Gepäck ausschlug, war Theodor W. Adornos Gebot. Seiner Gesetzestafel entlehne ich meine Vorschrift. Und diese Vorschrift verlangte Verzicht auf reine Farbe; sie schrieb das Grau und dessen unendliche Abstufungen vor. Es galt, den absoluten Größen, dem ideologischen Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben Platzverweis zu erteilen und nur noch auf Zweifel zu setzen, der alles und selbst den Regenbogen graustichig werden ließ.817 Georg Steiner, der dafür plädiert, „Auschwitz ins Schweigen zu verbannen, um nicht die menschliche Sprache zu verunreinigen“818, sehnte sich nach einer Sprache, „welche vielleicht unsere einzig sinnvolle Assoziation zu `Auschwitz´ ist: niemals den Abgrund an Unmenschlichkeit zu vergessen, dessen der Mensch fähig ist.“819 In den traumatischen Sequenzen seiner Novelle Im Krebsgang wird Grass dieser Aufforderung gerecht. Er formt Bilder, die den Blick in jene Abgründe eröffnen, zu dem der Mensch fähig ist: die Kacheln des Schwimmbeckens, die der „zweite Torpedo“ in „Geschosse“ aus „Mosaikscherben“ verwandelt (60), die „T34-Panzer“, die Flüchtende einholen und zermalmen, die „(e)rschossenen Kinder“ in den Straßengräben (101). Diese Bilder von Flucht und Bombardierung werden mit Vgl. A. Assmann, „Einführung“. Grass, `Schreiben nach Auschwitz´, S. 203f. 818 George Steiner zitiert in: Schlant, S. 21. 819 Ebd. 816 817 320 assoziativen Bildern des Holocaust verknüpft, wodurch auf „reine Farbe“ verzichtet wird: „Später sprachen sie von Gasgeruch und von Mädchen, die durch die Splitter des zerbrostenen Glasmosaiks (…) in Stücke gerissen wurden.“ (132); „Von der Brücke her kamen nun Befehle, alle Nachdrängenden in das verglaste Untere Promenadendeck zu lenken, dessen Türen zu verschließen und bewaffnet zu bewachen in der Hoffnung auf rettende Schiffe. (…) Erst ganz zum Schluß (…) sind (…) die Panzerglasscheiben zerborsten.“ (135f) – als Assoziation von Menschen in den Gaskammern der Konzentrationslager; „Mutters für alles Unbeschreibliche stehender Satz `Da hab ech kaine Töne fier….“ – als Hinweis auf das Diktum der Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust. Schließlich wird die Hauptprotagonistin Tulla als Opfer von Flucht und Vertreibung selbst zum assoziativen Bild für den Holocaust: „Man hat Mutter, als die Pokriefkes unregistriert an Bord kamen, von ihren Eltern getrennt. Das entschied eine Krankenschwester.“ (107) – assoziiert die Ankunft auf den Rampen der Konzentrationslager; die Aufforderung an ihr eigenes Trauma, aufzuschreiben - „Ech leb nur noch dafier, dass main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen“ (19) – gibt die Überlebensstrategie vieler Holocaustopfer wieder während das Trauma anhielt. Die unmittelbaren und assoziativen Bilder menschlicher Abgründigkeit rücken die Unüberwindbarkeit extremer Traumatisierungen als deren Folge in den Mittelpunkt. Die Grenzen zwischen den einzelnen menschlichen Schicksalen werden somit verwischt – sie erscheinen ausschließlich im „graustichigen“ Licht der Gewalt. Durch dieses Verwischen einzelner Schicksale und der Konzentration auf das unüberwindbar Traumatische gerät die Frage nach den Ursprüngen dieser Abgründigkeit für die Nachgeborenen umso dringlicher an die Oberfläche. Dem entlarvenden Verdacht des Vergleichs zwischen den einzelnen (traumatischen) Schicksalen der Opfer und „Opfertäter“ kommt das Sichtbarmachen der Schuld in der Person Tullas zuvor: „Mutter roch nach Knochenleim“ (54). Hierdurch wird die Tischlerin Tulla mit dem „Barackenausbau“ (66) in den Konzentrationslagern in Verbindung gesetzt und so als Mittäterin entblößt. Der Begriff „Knochenleim“, der wiederholte Male als Tullas Geruch benannt wird, assoziiert dabei eine der unsäglichsten Abgründigkeiten des 321 Holocaust: dem Herstellen von Ge- und Verbrauchsprodukten aus menschlichen Überresten. Dem Trauma Paul bringt Tulla die Überreste aus ihrer „Tätigkeit“ zum Spielen mit nach Hause: „Na schön, Hobelspäne und Holzklötze, die sie mir aus der Werkstatt mitbrachte, hab ich langgelockt und getürmt einstürzend vor Augen. Ich spielte mit Spänen und Klötzen.“ (54) Hobelspäne und Holzklötze bleiben beim Bau von Baracken übrig. Im übertragenden Sinn spielt das Trauma Paul mit für ihn unkenntlichen Überresten des Holocaust. Aus der Beobachtung des kindlichen Spiels zog Walter Benjamin die ewige Wiederkehr des Gleichen: „In der Tat: jedwede tiefste Erfahrung will unersättlich, will bis ans Ende aller Dinge Wiederholung und Wiederkehr, Wiederherstellung einer Ursituation, von der sie den Ausgang nahm.“820 Benjamin sieht den Grund für die Wiederholung in der Einübung in fremde, feindliche Rhythmen, vor allem in der Überwindung von Fremdheit und Feindlichkeit „um durch Verwandlung der erschütterndsten Erfahrung in Gewohnheit sie dem Ich ein für allemal einzuprägen.“821 Im übertragenen Sinn lässt sich somit im Spielen nach Benjamin der Prozess des traumatisch bedingten Wiederholungszwangs erkennen: immer wieder versucht Paul die Holzklötze aufzubauen, zu einem Gebilde zusammen zu stellen, aber sie stürzen ein, ohne ein Ganzes ergeben zu haben, worin sich die NichtRepräsentierbarkeit des Traumas Holocaust reflektiert. Die Erschütterung darüber offenbart sich an dessen Sprachlosigkeit: „Da gibt´s nichts zu erinnern. (…) Ich spielte mit Spänen und Klötzen.“ (54) Das „Torwächtersyndrom“ des Traumas, worin dessen Unüberwindbarkeit symbolisiert ist, verhindert Erinnerungen. Entsprechend regredieren die Erinnerungen an den Holocaust in der Gegenwart der Jahrhundertwende im Krebsgang zur Quizfrage in einer Fernsehshow, in der es Geld zu gewinnen gibt. Auf die Frage nach den Architekten des Holocaust – Himmler und Walter Benjamin zitiert in: Winfried Happ, Nietzsches „Zarathustra“ als moderne Tragödie, Frankfurt, 1984, S. 141. 821 Ebd. 820 322 Eichmann – würde teils mit „ratloser Geschichtsferne“ reagiert werden, vermutet Paul, „und schon gäbe es für den alerten Quizmaster Anlaß, den Schwund von soundsoviel tausend Mark mit kleinem Lächeln zu quittieren.“ (39) Indem das einzubehaltende Geld die Perspektive der Schuldfrage im Diskurs um das Trauma Holocaust symbolisiert, gerät dessen „Ursituation, von der sie den Ausgang nahm“822 – versinnbildlicht in den Architekten des Holocaust Himmler und Eichmann – als Metapher für die Entstehung des Zivilisationsbruches in Vergessenheit. Tullas Trauma Paul kann die Holzklötze nicht zu einer „Ganzheitlichkeit“ verarbeiten, „denn die `erlösende´ Erzählung, die dem Holocaust einen (…) `Sinn´ unterlegt, dient der Verdrängung seiner traumatischen Realität und leistet ebenso wie die resignative Theorie einer grundsätzlich traumatischen Geschichte dem Wiederholungszwang bzw. der Wiederkehr des Verdrängten in Geschichtsverläufen Vorschub.“823 Dieser Wiederholungszwang des Traumatischen formuliert sich im Krebsgang mit Blick auf die gesamte abgründige Geschichte des 20. Jahrhunderts: „Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch. Zum Beispiel dieser vermaledeite Dreißigste. Wie er mir anhängt, mich stempelt.“ (116) In der Assoziation zu Paul Celan, dem sein Datum („20. Jänner“) nicht „eingestempelt“ aber „eingeschrieben ist“824, erscheint erneut die Unüberwindbarkeit des Traumas Holocaust hinter der Schablone des Traumas Untergang der Gustloff. Aleida Assmann verweist auf eine im Zeitablauf sich wandelnde Perspektive als die der Schuldfrage auf den Holocaust, an deren Ende eine Öffnung steht: Sobald es nicht mehr um die Konkurrenz von Ansprüchen geht und die Praxis gegenseitiger Verdrängung in einem erweiterten kulturellen Gedächtnis überwunden ist, könnte es auch zu einer öffentlichen Anerkennung anderer Formen von Traumatisierungen kommen, die neben dem Holocaust mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden sind, wie die Bombardierung deutscher Städte oder die Erfahrung der Vertreibung im Osten Europas. Solche Erinnerungen 822 Vgl. Benjamin. Annegret Mahler-Bungers, in Mauser; Pietzcker, (Hg.), Trauma, S. 30. 824 Vgl. Abschnitt „Holocaust“. 823 323 zuzulassen und in einem öffentlichen Kommunikationsraum zur Sprache zu bringen, bedeutet in keiner Weise, die Traumatisierungen der Holocaustopfer zu relativeren.825 Im Krebsgang ist diese Öffnung abwesend. Diese Abwesenheit bedingt ein Ende „dicker als befürchtet.“ (216) 825 A. Assmann in Das soziale Gedächtnis, S. 121. 324 Das unheilverkündende Ende der Novelle Im Krebsgang Für den „Alten“ erscheint es „(z)wecklos, die Hirnschale abzuheben.“ (199) Bereits im nächsten Halbsatz offenbart sich die Folge daraus, es „spricht keiner aus, was er denkt. Und wer es versucht, lügt mit dem ersten Halbsatz.“ (ebd.) Auch bei Paul mutiert das Verbot nach innen zu schauen in Unheilvolles: „Wie gut, dass er nicht ahnt, welche Gedanken ganz gegen meinen Willen aus linken und rechten Gehirnwindungen kriechen, entsetzlich Sinn machen, ängstlich gehütete Geheimnisse preisgeben, mich bloßstellen, so dass ich erschrocken bin und schnell versuche, anderes zu denken.“ (200) Die Folgen der Übertragung einer „unbewussten“ Vergangenheit (Trauma) aus der ein „verzerrter“ Horizont in der Gegenwart erwächst, schildert Paul: „Was tun, wenn der Sohn des Vaters verbotene, seit Jahren unter Hausarrest leidende Gedanken liest, auf einen Schlag in Besitz nimmt und sogar in die Tat umsetzt.“ (210) Dabei war Vater Paul bemüht „politisch richtig zu liegen“, „nichts Falsches zu sagen“, „nach außen hin korrekt zu erscheinen“ (210). Im nachfolgenden Satz offenbart der Erzähler, was sich wirklich hinter diesem „richtigen Verhalten“ verbirgt: „Den Haß zu Schaum schlagen, zynisch die Kurve kriegen, zwei Tätigkeiten, die mir wechselweise leichtfielen.“ (210) Dennoch hat es für einen Moment den Anschein, als habe sich Konny von den Fesseln der Vergangenheit seiner Großmutter befreit: er zerstört das Modellschiff Wilhelm Gustloff, und „verniedlicht“ das Trauma Tullas: „mein Sohn, der unverhofft `Vati´ zu mir gesagt hatte“. (213) Tatsächlich ist diese vermeintliche Loslösung Konnys lediglich der erste Schritt in eine fatale Richtung. Aus der Verschmelzung eines „unbewussten“ Vergangenheitshorizonts (das Trauma ist Tulla nicht bewusst826) und eines „verzerrten“ Gegenwartshorizonts (das Trauma Paul) erwächst eine (traumatisch bedingte) Wiederholung in der Zukunft. Konny, das Opfer von Rechtsradikalität und dem transgenerationell übertragenen Trauma mutiert als Einzelgänger (67) zum „Wiederkehrer“ Hitlers, der eine neue „Kameradschaft“ (216) um sich formiert: „Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer 826 Vgl. Abschnitt „Trauma“. 325 Sprache eine Website vor, die als `www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de´ für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßt System eingekerkert habe. `Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir…´.“ (216) Die Bedeutung der Kameradschaft in einer rechtsextremen Formation liegt in ihrem identitätsstiftendem Element als eine Massenbewegung mit klassenüberschreitenden Ausmaßen, wo sowohl in den Führungspositionen wie in der Masse der Anhängerschaft hauptsächlich junge Männer des Mittelstandes eine Rolle spielen, die vorher größtenteils nicht politisch engagiert waren, sich nun aber in der neuen, bisher unbekannten Gestalt der `Parteimiliz´ organisieren und ihre Identität nicht über die gesellschaftliche Hierarchie oder die Klassenherkunft bestimmen, sondern durch das Gefühl der Kameradschaft.827 Im nationalsozialistischen System umfasst der Begriff „Kameradschaft“ zwei Bedeutungsebenen: zum einen die kalte, abgründige Kameradschaft, die die „unwürdigen Anderen“ ausschließt; zum anderen die erhebende und wahrhaftige Kameradschaft im „heldenhaften“ Kampf gegen einen „ebenbürtigen Feind“. Diese Ambivalenz reflektiert ein Spannungsverhältnis, dem der Mensch in dieser Ideologie ausgesetzt ist. Die raumgreifende Dynamik, die dieses Spannungsverhältnis entwickeln kann, manifestiert sich im Krebsgang in der lingualen Weite der deutschen und (universalen) englischen Sprache der Website der „Kameradschaft-KonradPokriefke“. Konny, der noch im „verrotteten Kasten“ (214) sitzt, wird zum „Führer“ dieser neuen – universalen - „Kameradschaft-Konrad-Pokriefke“. Der Wiederholungszwang offenbart sich durch das Bild Hitlers in der Festungshaft Landsberg (1923-24), der dort den größten Teil von Mein Kampf verfasst. In Konnys „vergangenheitsbezogene(m)“ (67) Denken und Interesse für „technische Neuerungen“ (ebd.) reflektiert sich Hitlers wahnwitziges Streben nach mittelalterlicher Reichsgroßmacht (Hl. Römisches Reich Deutscher Nationen), die er 827 Gentile, S. 98. 326 durch moderne Waffentechnik zu verwirklichen suchte. Der Norwegerpulli, den Konny beim Eintritt seines Vaters in die Zelle trägt, versinnbildlicht in diesem Kontext die Vision des germanisch-nordischen und antichristlichen Flügels innerhalb des NS-Regimes (vor allem vertreten durch Himmler) mit einer Wiedervereinigung der rassisch verwandten Völker – der Deutschen, Skandinavier, Holländer etc. – in einem Großreich sowie einer umfassenden Kolonisierung der Gebiete im Osten.828 Auch das anscheinend asexuelle Verhältnis Konnys zu seiner Freundin Rosi (181, 188) offenbart Parallelen: „As for his sexuality, about which there have long been speculations on the basis of circumstantial or tainted evidence, he may have had none. Hitler hated. He did not love.“829 Konnys Eltern, das „Trauma“ Paul und die Pädagogin Gabi, gestehen am Ende ihr Versagen ein: „Nichts spricht uns frei. Man kann nicht alles auf Mutter oder die bornierte Paukermoral schieben. Und während der Prozess lief, haben meine Ehemalige und ich (…) unser beider Versagen eingestehen müssen.“ (184) Nicht alleine der traumatisierte Vergangenheitshorizont Tullas, sondern auch der daraus erwachsene „verzerrte“ Gegenwartshorizont (Paul und Gabi; letztere als „Mutter“ und „Pauker“) bewirken die Katastrophe, in die Konny hineingerät. Aus dieser Perpetuierung über die Generationen hinweg erschließt sich den Protagonisten lediglich ein Ausweg: „Ach, wäre ich, der Vaterlose, doch nie Vater geworden!“ (184) Auch Mutter Gabi flüchtet sich nach dem Bruch mit Konny zu einem „warmherzigen“ „Hausfreund“ (213). Als Gefangene ihrer eigenen Geschichte vermögen die Protagonisten im Krebsgang nicht, neue Wege zu beschreiten, sondern flüchten in vermeintlich bessere Welten („Hausfreund“) oder sogar in die Negierung der Existenz („nie Vater geworden“). Flucht und Negierung der Existenz deuten auf eine Lücke, die im narrativen Leben der Protagonisten klafft: die Figuren im Krebsgang teilen keine Fürsorglichkeit miteinander. Die Beziehung zwischen Paul und Konny ist lieblos (201), die Trennung zwischen Konny und Gabi „`einvernehmlich´“ (117), Paul empfindet Hass gegenüber 828 829 Burrin, S. 71. Ferguson, S. 233. 327 Tulla (70), Tulla scheint Konny ausschließlich für ihre Zwecke als „ihre große Hoffnung“ (44) zu missbrauchen, Paul und Gabi trennen sich nach wenigen Jahren der Ehe. Im ersten „Brief an die Korinther“ schreibt der Apostel Paulus: „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, aber die Liebe nicht hätte, wäre ich tönendes Blech oder lärmendes Schlagzeug.“830 Im Neuen Testament liegt der Stellenwert der Liebe über jener der Erkenntnis: „Die Liebe hört niemals auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, verzückte Rede verstummt, Erkenntnis vergeht.“831 Nach Paulus ist das, was bleibt, Glaube, Hoffnung – und allen voran Liebe.832 Während die Liebe Vereinigung mit anderen und somit Selbstaufopferung in sich birgt und Leben (er)schafft, indem sie ihm einen Sinn verleiht, ist im Umkehrschluss das Ergebnis von Hass die Zerstörung. Letzteres manifestiert sich in den Höhepunkten der Narration: in dem Mord Wilhelm Gustloffs durch Frankfurter, dem Beschuss der Gustloff durch Marinesko und dem Mord Wolfgangs durch Konny. Die Abwesenheit von „Liebe“ im Krebsgang erscheint in der Lebenstristesse der Protagnisten: As human beings we are (…) aware of our radical incompleteness, of being terrifyingly alone, of the need for action as well as contemplation, and of possessing a finite will that seeks to realize an infinite meaning. (…) `Love´ (…) is the sole necessity in a meaningful universe….without love we would still know good and evil but we would not care.833 Ohne die Liebe gleitet im Angesicht der Sterblichkeit das eigene Dasein in die Bedeutungslosigkeit ab. Die Abwesenheit von Liebe in bzw. zwischen Individuen zieht sich hinein bis in kollektive Ebenen: „Killing and being killed also lie at the heart of the nation state. The wars we fight tell us who we are. A willingness for selfsacrifice may appear senseless to those who observe only the suffering, but without such willingness there can be no love, and without love there can be no meaning to our communal identity.”834 830 Paulinische Briefe, 1 Kor, 13. Ebd., 8. 832 Ebd., 13. 833 John Habgood, `Bad as we are´, Rezension zu Paul W. Kahn, Out of Eden, “Times Literary Supplement”, 09.05.08, S. 25. 834 Ebd. 831 328 Dieser Gedanke stellt die Liebe als das zentrale Element für die Identifikation eines Individuums zu einem Kollektiv dar, etwa der Familie, des Dorfes, des Landes. Vor dem (realen) historischen Hintergrund, insbesondere der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Handlungsspektrum und „Vergangenheitshorizont“ der Novelle Im Krebsgang gestellt, wird die Entstehung dieser Liebe aufgrund der Erfahrung unmöglich, dass die Bereitschaft zur Selbstaufopferung in massenhafte Zerstörung und gattungsfremde Unmenschlichkeit pervertiert ist. In der Narration der Novelle Im Krebsgang sind die Folgen aus der Abwesenheit von Liebe kein statischer Zustand, der über Zeit sein Ende findet. Vielmehr sind sie als dynamischer Prozess ausgewiesen, der sich über die Generationen weiterträgt. Der Mord an Wolfgang durch Konny indiziert, dass ohne die Liebe Zerstörung und Unmenschlichkeit – hier in Form von Gewalt - unendlich perpetuiert werden. 329 Perpetuierende Gewalt und Gegengewalt als Resultat nicht gewonnener Erkenntnis In der Darstellung des 20. Jahrhundert im Krebsgang scheint der Zweite Weltkrieg eine vorrangige Stellung zu besetzen.835 Das Ausmaß an Brutalität - von der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik mit dem Höhepunkt Holocaust, den alliierten Städtebombardements und den Atombomben über Hiroshima und Nagasaki (assoziiert in der Figur Vater Stremplin)836 - hat vieles von dem überschattet, was davor lag. Dieser unerfassbaren Gewaltdimension gegen Mitte des 20. Jahrhunderts zeitlich vorgelagert ist eine weitere Dimension: die historische Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges, der ersten Begegnung der Menschheit mit modernen Waffen. 837 Aus psychologischer Perspektive kann die Nicht-Verarbeitung massenhafter Gewalterfahrung zu Wiederholung führen: „(Es) besteht die Gefahr, dass sich Grausamkeiten mit verheerenden Konsequenzen für die soziale Realität wiederholen können, wenn sie nicht sowohl im therapeutischen Behandlungszimmer als auch in der Gesellschaft insgesamt durchgearbeitet werden.“838 Vor allem über die Nebenfigur Wilhelm Gustloff entsteht eine Verbindung zum Ersten Weltkrieg. Mit ihm beginn die Suche nach dem Ausgangspunkt des Traumas der Hauptprotagnonistin Tulla: „Zuerst ist jemand dran, dessen Grabstein zertrümmert wurde.“ (9) Diese assoziativ antisemitische Gewalttat bezieht sich nicht auf den Juden David Frankfurter, sondern auf den Nationalsozialisten Wilhelm Gustloff (vgl. ebd.). Eine Lesart für diese umgekehrten Vorzeichen der Gewalt erhebt in einem Wechsel der Perspektive die Frage nach dem Mechanismus von Gewalt und Gegengewalt. Gustloffs Geburt im Jahr 1895 wird narrativ unmittelbar mit dem Ersten Weltkrieg und Hans Castrop verknüpft, der „auf Geheiß seines Erfinders den Zauberberg verlassen musste, um auf Seite 994 des gleichnamigen Romans in Flandern als Kriegsfreiwilliger zu fallen“. (9) Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“ Vgl. Kapitel „Wiederholen“ 837 Vgl. „Nationalsozialismus“ 838 Varrin in Bohleber, „Trauma“, S. 926. 835 836 330 Flandern liegt im nördlichen Teil Belgiens, dessen Grenze Anfang August 1914 deutsche Truppen überschritten. Das Ziel war ein Angriff auf den „Erbfeind“ Frankreich, bevor dieser seine Truppen nach Norden verlagern konnte. Der Vorstoß auf das neutrale Belgien wird zu einem der Ausgangspunkte für den Ersten Weltkrieg.839 Die literarische Figur Wilhelm Gustloff deckt sich weitgehend mit der historischen Figur Wilhelm Gustloff und gewinnt somit die konkrete Repräsentanz für einen Nationalsozialisten. Hervorgehoben wird der historische Kontext zwischen dessen Geburt und Tod.840 Gustloff repräsentiert die Generation der so genannten „1918er“, der auch Hitler (1889), Göring (1893), Goebbels (1897) und Himmler (1900) angehörten841. Diese Generation erlebte als Jugendliche die Gewalt und schließlich die Niederlage des Ersten Weltkriegs und die daraus entstehende politische und wirtschaftliche Desorientierung, was in einer Ablehnung der demokratischen Weimarer Republik kulminierte. Die „1918er“ sind die NS-Gründungsgeneration. Bestimmte charakterliche Attribute, die SS-Chef Heinrich Himmler zugeordnet werden, unterstreichen die Rolle des Protagonisten Gustloff als Repräsentant für die NS-Gründungsgeneration. Über Gustloff und dessen Frau heißt es im Krebsgang: „Bis hierhin ergeben die Fakten das Bild eines bürgerlich gefestigten Ehepaares, das aber, wie sich zeigen wird, eine dem schweizerischen Erwerbssinn angepasste Lebensart nur vortäuschte; (…) lange geduldet vom Arbeitgeber - nutzte der Observatoriumssekretär erfolgreich sein angeborenes Organisationstalent“. (10) Auch Himmler verfügte „über ein enormes Organisationstalent und war stets darum bemüht, sich jeder Gelegenheit anzupassen.“842 Dennoch ist die vordergründige Position Gustloffs im Krebsgang die des Opfers einer Gewalttat: der Jude David Frankfurter erschießt den Nationalsozialisten Gustloff. Die Gewalttat an Gustloff gesehen aus der Wechselwirkung von Gewalt und Gegengewalt 839 http://www.wdr.de/themen/kultur/stichtag/2009/08/04.jhtml. Vgl. Abschnitt: „Nationalsozialismus“. 841 Vgl. Zinnacker. 842 Rainer Blasius, `Heinrich der Unanständige´, Rezension zu Peter Longerich, Heinrich Himmler, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 15.12.08, S. 8. 840 331 rückt das zweite Opfer von Gewalt in den Mittelpunkt. Die Figur des jüdischen David Frankfurter repräsentiert eine genealogische Kette von Gewalterfahrung, die sich aus der Geschichte seiner ethnisch-religiösen Zugehörigkeit ergibt.843 Am Beginn der Novelle wird darauf verwiesen: der Name David assoziiert die alttestamentarische Figur des gegen Goliath kämpfenden. „Was bei Wolfgang Diewerge `eine feige Mordtat´ hieß, geriet dem Romanautor Emil Ludwig zum `Kampf Davids gegen Goliath´.“ (28) Der Protagonist David Frankfurter deckt sich, wie Gustloff, weitgehend mit der historischen Figur. Der 1909 in Serbien geborene Rabbinersohn bekommt „den tagtäglichen Haß auf die Juden zu spüren.“ (15) Der Antisemitismus seiner Epoche treibt Frankfurter in die Rolle des Messias, der sein Volk erretten will. „`Ich habe geschossen, weil ich Jude bin. Ich bin mir meiner Tat vollkommen bewusst und bereue sie auf keinen Fall´.“ (28) Frankfurter ist gezeichnet als ein Opfer und Zeuge von Gewalt, der zum Täter wird. Diese Konstellation zeigt sich in der Formulierung: er habe „die Kugel von sich selbst auf ein anderes Opfer abgelenkt.“ (17) Darüber hinaus entsteht eine assoziative Verbindung zur Gewalt des frühen 20. Jahrhunderts, der Gegenwartsepoche Frankfurters: geboren in Serbien als dem ursprünglichen Ausgangsort für den Ersten Weltkrieg (Mord an dem österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand); die symbolische Nähe zu Hans Castorp durch den „vermeintlich sicheren Ort“ Schweiz, in den sich der „Kettenraucher“ Frankfurter flüchtet (16).844 Über Hans Castorp wird so eine Verbindung zwischen Gustloff und Frankfurter hergestellt in der Konstellation des Opfers, das zum Täter wird. Die dritte Figur im Krebsgang, der diese Opfer-Täter-Konstellation zufällt, ist Alexander Marinesko. Er ist das Kind eines im rumänischen Heimatland zum Tode verurteilten Vaters und einer ukrainisch-jüdischen Mutter (13). Der Ort Odessa, an dem Marinesko aufwächst, und die jüdisch-rumänische Abstammung assoziieren das Bild von Gewalt: „Romanian troops were (…) responsible for some of the worst anti- 843 844 Vgl. Abschnitt „Antisemitismus“. Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“. 332 Semitic violence after the invation of the Soviet Union, notably in Odessa.“845 Bereits lange zuvor ist Odessa einer der Brennpunkte in der Geschichte des osteuropäischen Antisemitismus. Dieser hat Russland erst relativ spät erreicht, nachdem die Feindseligkeit gegenüber Juden von Europa zunehmend ostwärts strömte.846 Odessa war Ort der ersten großen antisemitischen Ausschreitungen in Russland: „The earliest recorded pogroms in Russian territory (were) in Odessa in 1821, 1849, 1859 and 1871.”847 Als Siebenjähriger wird Marinesko Zeuge der Säuberungen der Roten Brigaden. (13f) An dieser Stelle entsteht narrativ eine Verbindung zwischen Marinesko und Joachim Mahlke, dem Protagonisten aus Katz und Maus, der in der Ostsee „nach Münzen, die von schöngekleideten Passagieren ins Brackwasser geworfen wurden, mit Ausdauer und bald mit Geschick getaucht haben“ soll. (14) Die Erfahrung von Gewalt und Gegengewalt der Generationen am Beginn und in der Mitte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird hierdurch explizit hervorgehoben: The hundred years after 1900 were without question the bloodiest century in modern history, far more violent in relative as well as absolute terms than any previous era. Significantly larger percentages of the world´s population were killed in the two world wars that dominated the century than had been killed in any previous conflict of comparable geopolitical magnitude.848 Die Gewaltdimension in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschränkte sich nicht auf eine physische Erfahrung. Die zeitliche Verbindung zwischen dem tauchenden Mahlke (Mitte des 20. Jahrhunderts) und dem tauchenden Marinesko (Anfang des 20. Jahrhunderts) deutet zugleich auf die Orientierungslosigkeit infolge massiver politischer Umwälzungen, wie den untergehenden Monarchien zu neuartigen ideologischen Ordnungssystemen und den daraus erwachsenen Folgen, wie Genozid, Flucht und Vertreibung.849 Marinesko wächst im Hafenviertel auf, wo er auf viele fremde Nationalitäten trifft. Seine Identität kann das Flüchtlingskind dort nicht finden, 845 Ferguson, S. 454. Ferguson, S. 60. 847 Ebd. 848 Ferguson, S. xxxiv. 849 Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“. 846 333 was sich in seiner Sprache bemerkbar macht: „Sosehr er sich später bemühte, Russisch zu sprechen, nie wollte es ihm ganz gelingen, sein von jiddischen Einschiebseln durchsupptes Ukrainisch von seines Vaters rumänischen Flüchen zu säubern.“ (13) Im Ergebnis erfährt Marinesko Demütigungen: „Als er schon Maat auf einem Handelsschiff war, lachte man über sein Kauderwelsch.“ (ebd.) Der so Gedemütigte reagiert darauf, und “im Verlauf der Jahre wird vielen das Lachen vergangen sein, so komisch in späterer Zeit die Befehle des U-Bootkommandanten geklungen haben mögen.“ (13f) Ein sehr ähnliches Schicksal erlebt der schwächliche Mahlke, der das Gegenbild zum arischen Herren-Menschen der faschistischen Ideologie ist850: „Er kämpft um Integration, indem er körperliche Leistungen aufbietet, die keiner außer ihm zustande bringt.“851 Der übergroße Adamsapfel „gibt ihn der Lächerlichkeit preis“ und lässt ihn zum Opfer von Aggression und Aussonderung werden. Schließlich erkämpft sich Mahlke die höchste Kriegsauszeichnung, um von seinem Adamsapfel abzulenken.852 Der übergroße Adamsapfel Mahlkes entspricht dem Sprachgemisch Marineskos. Beide werden durch ihre Mankos zu Außenseitern. Der gedemütigte Marinesko reagiert wie Mahlke mit überdurchschnittlichen militärischen Leistungen und wird als U-Bootkommandant (14) Auslöser der größten Schiffskatastrophe der Seefahrtsgeschichte. Angst wird bei Marinesko gleichfalls zum Motiv für den Beschuss. Er fürchtet sich vor dem Kriegsgericht, das ihm nach erfolgloser Rückkehr zu seinem Stützpunkt droht. Der Grund seiner Furcht ist nicht sein überzogener Landurlaub, sondern „er stand unter Spionageverdacht, einer Beschuldigung, die seit Mitte der dreißiger Jahre in der Sowjetunion bei Säuberungen Praxis gewonnen hatte und durch nichts zu widerlegen war.“ (128f) Nur ein „unübersehbarer Erfolg“ (129) kann Marinesko retten. Aus der erfahrenen physischen und psychischen Gewalt entsteht Gegengewalt. 850 Pasche, S. 31. Ebd. 852 Ebd. 851 334 Durch die Verbindung von Mahlke und Marinesko rundet sich das Bild einer jungen Generation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab, die infolge der zeithistorischen Umbrüche ihrer Epoche durch Orientierungslosigkeit, Angst und Gewalterfahrung geprägt worden ist. Entsprechend wird der mutmaßende Erzähler bei seiner Motivsuche für die Gewalttat am Ende bei den vermeintlichen Ordnungssystemen der Epoche fündig: Das heimatlose Flüchtlingskind Marinesko will Rache üben gegen die „Faschistenhunde“ (ebd.), und impliziert so eine Zugehörigkeit zum ideologischen Gegenmodell, dem Kommunismus. Bereits zwei Wochen verläuft Marineskos Suche (ebd.) erfolglos: „Wie ausgehungert wird er gewesen sein.“ (ebd.) Tatsächlich entspricht dieses Motiv dem des wirklichen Alexander Marinesko, der seine “militärische” Tat rechtfertigte: „I was sure that it was packed with men who had tramped on Mother Russia and were now fleeing for their lives.”853 Marineskos Orientierungslosigkeit zeigt sich vor allem in dem Wunsch, einer Idee, einer Gruppierung nicht nur anzugehören. Wie Mahlke will er innerhalb dieser Gruppierung hervorragen: Marinesko will als Held der Sowjetunion gefeiert werden. (167) Das psychologische Motiv hinter dem Wunsch nach Heldentum liegt im Streben nach unabhängiger Macht: „Die Grenze zur vollkommenen souveränen Subjektivität wird durch die Figur des Helden dargestellt. Der Held steht außerhalb der gewöhnlichen Ordnung, er gehorcht nicht Regeln, sondern setzt sie neu, er verachtet den Tod und gewinnt dadurch Unsterblichkeit.“854 Im Umkehrschluss entspringt der Wunsch zum Helden zu werden, dem Bedürfnis, ein fremdes (i.S.v. neuartiges), unkontrollierbares und Angst verursachendes System durch die eigene Überlegenheit zu beherrschen oder sich zumindest in eine Position zu bringen, die eine Beherrschung der eigenen Person durch andere ausschließt: Im Krebsgang reflektiert sich dieser Prozess im Werdegang des U-Boot-Kapitäns Marinesko. Der Wunsch nach Heldentum findet sich mittelbar auch wieder in dem ehrgeizigen Nationalsozialisten Gustloff, der „nie den Grabenkrieg“ (37) des Ersten Weltkriegs 853 Ferguson, S. 579. Bernhard Giesen, `Das Tätertrauma der Deutschen`, S. 11-53, in ders. et al., (Hg.), Tätertrauma. Konstanz, 2004, S. 15. 854 335 erleben konnte und unmittelbar bei Frankfurter, dem „Helden von biblischem Zuschnitt“ (28). Alle drei Protagonisten entstammen als Betroffene und Zeugen einem Umfeld physischer und psychischer Gewalt. Die Gewalttat jedes einzelnen Nebenprotagonisten wird von dem Wunsch getrieben, eine „bessere“ Welt durch Gewalt- und Machtausübung zu erschaffen. Paul stellt in seiner Erzählung die Zusammenhänge zwischen Gewalt und Gegengewalt nicht explizit her. Als „Trauma“ kann er deren traumatisierende Auswirkungen nicht erfassen.855 Darüber hinaus liegen die Vorkommnisse in einer für ihn unzugänglichen Zeitdimension: „Nur soviel ist sicher: Die Natur oder genauer gesagt die Ostsee hat zu all dem, was hier zu berichten sein wird, schon vor länger als einem halben Jahrhundert ihr Ja und Amen gesagt.“ (9) Das Geschehen selbst, der Untergang der Gustloff, ist nicht mehr umzukehren. „Aber noch weiß ich nicht, ob, wie gelernt, erst das eine, dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muss, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“ (8f) Stückweise enthüllt Paul, wie die Lebensläufe der drei Nebenprotagonisten Gustloff, Frankfurter und Marinesko zur Schiffskatastrophe hin führen. Dies lässt sich als Versuch werten, die Ursachen des Mechanismus von Gewalt und Gegengewalt zu erkennen. Indem er sie jedoch nicht erfassen kann, kann er sie nicht durchbrechen. Trotz seiner „seitlichen“ Annäherung über die Vergangenheit zur Gegenwart gelingt Paul der Aufbruch der sich selbst perpetuierenden Gewalt- und Gegengewaltformation am Ende nicht: Konny begeht den Mord an Wolfgang und setzt somit die Kette von Gewalt und Gegengewalt fort. Die Gewalterfahrung Tullas löst die Gewalttat Konnys aus: die auf dem „Russenmarkt“ erstandene Waffe Tullas wird zur Mordwaffe Konnys. Im Krebsgang erscheint die Kette aneinandergereihter Glieder von Gewalt und Gegengewalt demzufolge unmöglich für die Protagonisten zu durchbrechen, weil sie sie nicht zu erkennen vermögen. Das als Spiegelbild darstellbare Motiv menschlicher Gewalt und Gegengewalt symbolisiert somit im 855 Vgl. Abschnitt „Trauma“. 336 Krebsgang die Grenzen der menschlichen Einsicht: „Jetzt schauen wir in einem Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich ganz erkennen, so wie ich auch ganz erkannt bin.“ 856 Hierin reflektiert sich die zuvor beschriebene Leere aus der „Lieblosigkeit“ der Hauptprotagonisten Tulla, Paul, Konny und Gabi auch in den Nebenprotagonisten Gustloff, Frankfurter und Marinesko als (historische) Repräsentanten ihrer Zeit: „Also bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: am größten unter ihnen ist die Liebe.“857 Das Trugbild beim „Blick in den Spiegel“ entspricht im Krebsgang der verzerrten Wahrnehmung aus (traumatischer) Gewalt und Gegengewalt als Gegenpole zur „Liebe“, wodurch eine „wahrhaftige“ Erkenntnis, insbesondere über die Wirkungskette traumatisierender Erfahrungen auf die menschliche Psyche, versagt bleibt. Nach vollbrachter Tat wirft Konny die russische Waffe in den Schweriner See (182), dem „amorphen“ Teil des Geburtsortes Wilhelm Gustloffs. Der Kreis im Krebsgang schließt sich, dabei bleibt die Erkenntnis aus. Gleichwohl lässt sich der Wunsch danach erkennen: wohl wissend, dass auch er das Geschehen in der Vergangenheit nicht ungeschehen machen kann, zeigt Konny durch die Zerstörung der ModellGustloff den Wunsch nach Befreiung von dieser historischen Gewalterinnerung, die nicht die seine ist (215), in der er aber dennoch verwurzelt bleibt. Am Ende scheint er sich jedoch dem Trauma seiner Großmutter zu unterwerfen: „`Zufrieden jetzt, Vati?´“ (216) Die Geste des Zerstörens mit der bloßen Faust in seiner Gefängniszelle zeigt seine Hilflosigkeit gegenüber der allmählich heraufziehenden Entwicklung: Die Website wirbt für jemanden, „dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaßte System eingekerkert habe.“ (216) Das Gefängnis als dem Ort, an dem der Rezipient den Protagonisten Konny verlässt, unterstreicht das Anbahnen des nächsten „Glieds“ in der Kette der Gewalt und Gegengewalt: „Durch tagtäglichen Umgang mit Kriminellen (…).“ (197). 856 857 Paulinische Briefe, 1. Kor. 13,12-13. Ebd. 337 Auch auf einer psychologischen Ebene reflektiert sich, dass nur die Erkenntnis, die durch das reflektierende, „empathische“ Gegenüber gewonnen werden kann, diese Kette aufzubrechen vermag: „Nach aller Erfahrung werden traumatisierte Menschen, die um ihre eigenen destruktiven Persönlichkeitsanteile wissen (…), nicht zu Tätern. Der Kreislauf der durch die Generationen weitergegebenen Gewalt lässt sich durchbrechen."858 Im Umkehrschluss bilden Gewalt und Gegengewalt über Generationen hinweg eine sich selbst perpetuierende Destruktion, worauf der letzte Satz der Novelle deutet: „Nie hört das auf.“ (216) 858 Martin Sack, `Die Behandlung Posttraumatischer Belastungsstörungen´, S. 63-113 in Lamprecht, S. 101. 338 Die Ambivalenz Konnys als Trauerprozess der nachfolgenden Generationen In seiner Rede „Schwierigkeiten eines Vaters, seinen Kindern Auschwitz zu erklären“ vom Mai 1970 diagnostiziert Grass Geschichtsmüdigkeit in der Nachkriegsgeneration.859 Es gelte, dieser Generation Auschwitz auf eine Weise nahezubringen, die das Gegenständliche eben so wenig ausblende, wie die geschichtliche Dimension dieses durch einen Ortsnamen nur unzulänglich Bezeichnete860: „Es stimmt. Ihr seid unschuldig. Auch ich, halbwegs spät genug geboren, gelte als unbelastet. Nur wenn ich vergessen wollte, wenn ihr nicht wissen wolltet, wie es langsam dazu gekommen ist, können uns einsilbig Worte einholen: die Schuld und die Scham; auch sie, zwei unentwegte Schnecken, nicht aufzuhalten.“861 Im Krebsgang ist die Vergangenheit selbst in der Dritten Generation nicht „vergessen“. Vielmehr beschäftigt sich Konny in obsessiver Weise damit. Er verfügt über ein weitgehend detailliertes Wissen der Zeit zwischen 1933-45862, das er weitergibt. Indem er sich dabei des Internets bedient, der „globalen Spielwiese, dem gepriesenen Ort letztmöglicher Kommunikation (…)“ (133) wo deutsch und englisch gesprochen wird (134) hebt er symbolisch die „Babylonische Sprachverwirrung“ auf. In der Theologie entspricht dies der als „Pfingstwunder“ bekannten Fähigkeit der Jünger, sämtliche Sprachen zu sprechen und zu verstehen (und so die Bestrafung Gottes der Menschen für die Hybris des Turmbaus zu Babel aufzuheben). Das Internet wird zur Metapher für einen Raum grenzenloser Kommunikation, in dem sich Menschen unabhängig von ihrer Nationalität und Ethnizität austauschen. Konny erzielt Resonanz, denn es erreicht ihn „eine Flut“ von Kommentaren „von allen Kontinenten“ (134). Im Begriff der „Flut“ und dessen Assoziation zur „Sintflut“ findet sich ein Hinweis auf den Ausgang dieser Sequenz. Was passiert in dem globalen Raum unendlicher Kommunikation? „Der übliche Haß, aber auch fromme Beschwörungen der Apokalypse füllten meinen Schirm. 859 Grass, `Schwierigkeiten eines Vaters, seinen Kindern Auschwitz zu erklären´, S. 458-461 in Neuhaus WA, Bd. 9, S. 460. 860 Ebd. 861 Grass, `Aus dem Tagebuch einer Schnecke´, in Neuhaus WA, S. 275. 862 Vgl. „Einführung“. 339 Ausrufezeichen hinter der Schreckensbilanz. Dazwischen zum Vergleich die Verlustzahlen anderer Schiffsuntergänge.“ (ebd.) Diese Opferstatistiken, Vergleiche mit anderen Schiffsuntergängen und die Erinnerung an die vermeintlich größte Schiffskatastrophe im kollektiven Gedächtnis, nämlich der Titanic, geben einen Kampf der Erinnerungen wieder. Da es dabei um die eigene Geschichte geht, um die Herkunft und Ursprünge von Individuen, ist dieser tatsächlich ein Kampf der Identitäten. Zum Verständnis über seine Herkunft ist diese Auseinandersetzung für Konny, der die Katastrophe der Gustloff nicht erlebt hat, elementar. Allerdings „überfluten“ sich die um Erinnerungen Konkurrierenden gegenseitig und verlieren sich dabei. Trotz der zahlreichen Stimmen im Internet scheint der eigentliche Gegenstand unbeachtet zu bleiben: „Doch mit dem, was am 30. Januar 1945 ab einundzwanzig Uhr sechzehn tatsächlich auf der Wilhelm Gustloff geschah, hatten die sich im Cyberspace übertrumpfenden Zahlen wenig zu tun.“ (135) Der Untergang der Gustloff lässt am Ende nur eines überleben: „ein Unglück an sich, (das) einen Namen von globaler Bedeutung trug.“ (135) Indem Konny sein Wissen nicht in der Außenwelt reflektieren kann, sucht er in seiner Innenwelt Anhaltspunkte durch Rollenspiele zu gewinnen. Konny hat das Bild des in seinen Augen tatsächlichen Täters in die eigene Identität impliziert: „`Wie ich, so hat David Frankfurter vier Mal getroffen.´ Auch dessen vor dem Kantonsgericht geäußerte Begründung der Tat, er habe geschossen, weil er Jude sei, wurde von meinem Sohn in Parallele gesetzt, dann aber erweitert: `Ich habe geschossen, weil ich Deutscher bin – und weil aus David der ewige Jude sprach.´“ (189). Für ihn ist Frankfurter der ursächliche Auslöser des Traumas seiner Großmutter, das er durch den Mord an David retrospektiv ungeschehen machen will.863 Diese Kluft zwischen innerem Trugbild und äußerer Realität wird für Konny zu einem unauflösbaren Konflikt. Er lebt zwischen der eigenen Wirklichkeit seiner Gegenwart in den 1990er Jahren und dem Trauma seiner Großmutter in der Vergangenheit der 1940er Jahre. Die Verwurzelung in der Vergangenheit seiner Großmutter wird 863 Vgl. Kapitel „Wiederholen“. 340 äußerlich manifestiert: er bekommt von Tulla den Namen des behinderten Lieblingsbruders Konrad - dem Unschuldigen in schuldbeladener Zeit - und hat gleich diesem ein „Lockenköpfchen“. (24) Im Sinne Ralph Giordanos wird er zum Opfer.864 Durch den Mord an Wolfgang wird Konny Täter. Damit verbinden sich zwei unterschiedliche Positionen in Konny, die des Opfers und des Täters: die Opferposition bedingt die Täterschaft Konnys. Indem Konny den Konflikt zwischen seiner Innenwelt und der Außenwelt nicht aufzulösen vermag, ist das Spannungsverhältnis daraus ursächlich für die Ambivalenz als „Opfertäter“. Im so genannten „Historikerstreit“ Mitte der 1980er Jahren hatte der Philosoph Jürgen Habermas darauf verwiesen, dass eine „Neuorientierung bei der Suche nach einer nationalen Identität der Deutschen nur dann möglich ist, wenn eine kritische Bestandsaufnahme des Traditionszusammenhanges stattfindet, in dem sich auch die Nachgeborenen immer schon befinden.“865 Implizit fordert Habermas jene Verhaltensweisen und Strukturen in der Gegenwart zu isolieren, die in der Vergangenheit zu NS-Regime und Holocaust geführt haben. Was im Äußeren bereits geschehen war, eine feste Etablierung des demokratischen Rechtsstaates der Bundesrepublik Deutschland, sollte nun auch innerlich bei den nachfolgenden Generationen vollzogen werden. Erschwert wurde diese Aufgabe durch eine Forderung, die Karl Jaspers formulierte: „Wir müssen übernehmen die Schuld der Väter.“866 Er plädierte dafür, dass die nationalsozialistische Zeit in Deutschland nicht ausschließlich auf bestimmte historische Konstellationen abzuwälzen sei.867 Ein Reflex gegen die Kontextualisierung historischer Konstellationen (in der Zeitzeugengeneration) unterminiert jedoch die Vergegenwärtigung bestimmter Vorgänge und Entwicklungen für die nachfolgenden Generationen. Die Gewinnung von Erkenntnis über „jene Verhaltensweisen und Strukturen“, „die in der Vergangenheit zu NS-Regime und Holocaust geführt haben“ (Habermas), erscheint dadurch erschwert. Vgl. Kapitel „Wiederholen“. Habernas zitiert in: Kniesche, S. 172. 866 Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Zürich, 1987, S. 53. 867 Ebd. 864 865 341 Bei Habermas bricht dieser Reflex gegen Kontextualisierung indirekt auf, indem er die Lebensform der Großeltern im Zusammenhang mit jener der Enkel sieht und damit impliziert, dass auch die Großeltern/Zeitzeugen-Generation bestimmten historischen Konstellationen ihrer Großeltern/Eltern „ausgeliefert“ war: Nach wie vor gibt es die einfache Tatsache, dass auch die Nachgeborenen in einer Lebensform aufgewachsen sind, in der das möglich war. Mit jenem Lebenszusammenhang, in dem Auschwitz möglich war, ist unser eigenes Leben nicht etwa durch kontingente Umstände, sondern innerlich verknüpft. Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familiaren, örtlichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen – durch ein geschichtliches Milieu also, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu heraus stehlen, weil mit ihm unsere Identität, sowohl als Individuen wie als Deutsche unauflöslich verwoben ist.868 Habermas´ Gedanken reflektieren zugleich eine Rede Theodor Adornos aus dem Jahre 1959, in der er darlegt, was Aufarbeitung der Vergangenheit aus seiner Sicht bedeutet: „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären.“869 Ursachen, die nicht bewusst sind oder verschwiegen werden, können nicht beseitigt werden: „Solange die verschwiegenen Fakten undiskutierbar sind, kann ihr Einfluss auf unsere Handlungen und unser Verstehen möglicherweise sehr viel stärker sein als diejenigen der gewöhnlich diskutierten Fakten.“870 Nach Ansicht von Wolfgang Benz871 ist die psychologische Dimension des ausgebliebenen „Generationsdialogs“ – neben der Mitschuld und Scham somit auch die unbewussten Prozesse durch Traumatisierungen - noch weitgehend unerforscht und unbewältigt. In den 1980er Jahren erweitert Margarete Mitscherlich die Diagnose eines „Wiederholungszwangs“, 868 Jürgen Haberrmas, `Vom öffentlichen Gebrauch der Historie. Das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik bricht auf.´ in: „Die Zeit“, 7.11.1986, S. 17. 869 Theodor Adorno, `Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit´, S. 10-28 in Adorno/Hellmut Becker, Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt, 1971, S. 28. 870 Dan Bar-On, `Das Undiskutierbare durcharbeiten´, S. 17-69 in Sigrid Weigel, (Hg.), 50 Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich, 1996, S. 18. 871 Wolfgang. Benz; u.a., (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München, 1997, S. 144. 342 die auf Studien über die Zeitzeugengeneration aus den 1960er Jahren fußt872, auf die nachfolgende Generation: Die junge Generation, die sich unschuldig fühlt, hat nicht die Bearbeitung unserer Vergangenheit angetreten, sondern deren Verleugnung und Verdrängung übernommen. Wenn aber Verleugnung, Verdrängung, Derealisierung der Vergangenheit an die Stelle der Durcharbeitung treten, ist ein Wiederholungszwang unvermeidbar. Es wiederholt sich dabei nicht der Inhalt eines Systems, sondern die Struktur einer Gesellschaft.873 Diese Beobachtung über die nachfolgende Generation spiegelt sich in Mutter Gabi, der Repräsentantin der Zweiten Generation im Krebsgang. Sie wählt als Wohnort die westdeutsche Stadt Mölln. In der Bezeichnung „(a)ltväterlich“ (43) klingt die brisante Mischung von Rechtsradikalität und Provinzialität in der Gegenwart an, die den Geist des Nationalsozialismus in der Vergangenheit mitgetragen hat.874 Indem sie dort lebt, wird Gabi Teil dieser Welt, ohne dies wahrzunehmen. Die Konstellation aus Verdrängung (sie verschließt sich den Aktionen ihres Sohnes, siehe unten) und Berührung mit der jüngeren deutschen Geschichte, resultiert in einem merkwürdigen Charaktermix. Ihr Glaube an „Gene“ (196), womit der Kern des Holocaust umrissen wird, ist mit einer zur Schau getragenen Linksliberalität als das „politisch korrekte“ Gegenmodell zum Nationalsozialismus durchsetzt. All dieses ist mit einer obsessiven Behandlung des Themas „Auschwitz“ vermengt: Gabi ist „strikt gegen jegliche Verharmlosung der braunen Psyeudo-Ideologie“ (184). Das Resultat aus Verdrängung und Konfrontation: Ihrem Sohn Konny geht sie mit ihrem „dauernden Auschwitzgerede oft auf die Nerven“ (195). In dem Mord an Wolfgang alias David scheint sich im Krebsgang die von Mitscherlich diagnostizierte Wiederholung zu vollziehen. Auf den ersten Blick scheint sich zugleich Grass´ Zitat über die Schuldverweigerung in nachfolgenden Generationen aus der „Rättin“ zu erfüllen: „Söhne, biblisch oder sonst wie versorgte / entlaufen früh. / Niemand will mehr den sterbenden Vater erleben, / den Segen 872 Vgl. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Mitscherlich, Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern, Frankfurt, 1987, S. 20. 874 Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“. 873 343 abwarten, Schuld auf sich nehmen.“875 Tatsächlich ist die Mordtat keine Wiederholung der Geschichte. Diese Wiederholung fußt nicht auf der (unbewussten) Weitergabe nationalsozialistischer Strukturen, wie Mitscherlich u.a. implizieren. Auslösendes Motiv für die Mordtat im Krebsgang ist die transgenerationelle Übertragung des Traumas aus einer Gewalterfahrung in früherer Generation. Indem dieses Trauma aus der Vergangenheit nicht aufgelöst werden kann, entsteht neue Gewalt in scheinbar alter Struktur: David ist jedoch lediglich das Abbild des Juden Frankfurter; Konny ist nur scheinbar ein rechtsextremistischer „Neonazi“. Das Ergebnis einer Studie vom Mai 2008876 offenbart, dass die NS-Vergangenheit auch für junge Menschen noch immer eine große Rolle spielt. Die Forscher messen ihrer mangelhaften oder verklärten Aufarbeitung sogar eine `Schlüsselposition´ bei der Entstehung rechtsextremer Tendenzen zu. Wer sich mit dem Grauen inhaltlich und emotional auseinandergesetzt hat, so die Schlussfolgerung in der Studie, der ist gegen rechtsextremes Denken besser gefeit. Konny beschäftigt sich mit dem historischen Grauen, allerdings aus der Perspektive seiner ihm emotional nahe stehenden Großmutter: „Seine Schwester jedoch (Anm. d. Autorin: Tulla), die ihn heißinnig liebte und die sich später, viel später vor den Schrecken des Krieges auf ein großes Schiff retten wollte, ertrank nicht, als das Schiff voller Flüchtlinge von drei feindlichen Torpedos getroffen wurde und im eiskalten Wasser versank…“ (73). Konny erhält keine Gelegenheit, sein inneres Wissen, seine Gedanken und Emotionen, die er aus der Perspektive Tullas bzw. deren Traumas gewonnen hat, nach außen zu tragen und durch Reflektion „richtig“ einzuordnen. Konnys Lehrer aus Mölln (West) und Schwerin (Ost) sagen vor Gericht übereinstimmend aus, dass die von Konny verfassten aber nicht gehaltenen Vorträge „vordringlich von nationalsozialitischem Gedankengut infiziert gewesen“ seien, was aber auf hinterhältig intelligente Weise zum Ausdruck gekommen sei, etwa durch Propagierung einer `klassenlosen Volksgemeinschaft´, aber auch durch die 875 Grass, Die Rättin, in Neuhaus WA, Bd. 7, S. 373. Vgl. Oliver Decker; Katharina Rothe; u.a., `Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und demokratischer Einstellung´, i.A.v. Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, 2008. 876 344 geschickt eingefädelte Forderung nach `ideologiefreiem Denkmalschutz´ in Hinblick auf das eliminierte Grabmal des einstigen Nazifunktionärs Gustloff, den der Schüler Konrad Pokriefke in seinem zweiten nicht zugelassenen Vortrag als `großen Sohn der Stadt Schwerin´ vorzustellen gedachte. Die Verbreitung solch gefährlichen Unsinns habe man aus pädagogischer Verantwortung verhindern müssen, zumal es – an beiden Schulen – in wachsender Zahl Schüler und Schülerinnen mit rechtsradikaler Neigung gebe. (188) Nach dieser Aussage ziehen sich die beiden Pädagogen im Krebsgang auf bekanntes Terrain zurück: „Der ostdeutsche Lehrer betonte abschließend die `antifaschistische Tradition´ seiner Schule; dem westdeutschen fiel nur die ziemlich abgenutzte Formel `Wehret den Anfängen!´ ein.“ (ebd.) Ein oft von Grass vorgebrachter Gedanke reflektiert sich in dieser Szene, „ihre Vergangenheit werde für die Deutschen etwas, das sich jeder Art von Bewältigung immer mehr entzieht und gleichzeitig etwas, das zum Sprechen gelangen will, das eine Einsicht ermöglichen kann, eine Selbsterkenntnis, ohne die diese Volk nicht fortbestehen könne.877 Im Kosmos der Novelle Krebsgang fehlt der öffentliche und private Dialog, der notwendig wäre, um in der Gegenwart zwischen individueller „Opfer-Geschichte“ von Krieg, Flucht und Vertreibung, Bombardement etc. einerseits und kollektiver „Täter-Geschichte“ von Nationalsozialismus und Holocaust andererseits rational und emotional unterscheiden zu lernen. Indem zwischen den kollektiven und den individuellen Erlebnissen der Zeitzeugengeneration getrennt wird, können auch jene Prozesse zutage treten, die Gewalt bei Individuen auslösen.878 Auf einer fiktiven Elternversammlung bemerkt das Trauma Paul: „`Warum dieses Verbot? Wo bleibt die Toleranz!´“ (…) Womöglich hätte Konnys Vortrag mit dem Untertitel `Die positiven Aspekte der NS-Gemeinschaft `Kraft durch Freude´ etwas Farbe in das langweilige Unterrichtsfach Sozialkunde gebracht.“ (184) In dem Begriff der „Farbe“ findet sich die facettenreiche Perspektivenvielfalt, die zum sinnlichen und kognitiven Verständnis der NS-Zeit notwendig ist. Dies bedingt ein empathisches Sich-Einlassen in die Zeit zwischen 1933-45 als Vorbedingung der Erkenntnisse, die daraus für die Nachgeborenen zu ziehen ist.879 877 Grass, `Vom Recht auf Widerstand´, S. 836-843 in Neuhaus WA, Bd. 9, S. 837. Vgl. „Perpetuierende Gewalt und Gegengewalt als Resultat nicht gewonnener Erkenntnis“ 879 Vgl. „DIE KOLLEKTIVEN ERINNERUNGEN“ 878 345 Das „Schießaisen“, das sich Tulla zu ihrem Schutz kauft (198) erhält Konny, um sich vor rechtsextremistischen „Neonazis“ zu schützen. Im übertragenen Sinn wird die Angst vor dem „Gespenst“ des Nationalsozialismus („Neonazis“) zur Mordwaffe und damit zum Auslöser für den Tod Wolfgangs. Diese Angst verhindert eine Auseinandersetzung mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 aus der Sicht der deutschen Opfer, die die Traumatisierungen der Zeitzeugen in den Blickpunkt rückte: „Aber vor Jericht hat mir ja kainer jefragt, na, wo es herkommt, das Ding (Anm. d. Autorin: die Mordwaffe vom „Russenmarkt“)…“ (198). Der Vergangenheitshorizont bleibt blockiert, denn Opfer und Täter vermischen sich scheinbar unauflöslich: `Durchaus verständlich, dass der Lehrer hat stopp sagen müssen. Schließlich ging es, was dieses Datum betrifft, um Hitlers Machtergreifung und nicht um den zufällig auf den gleichen Tag datierten Geburtstag einer Nebenfigur, über dessen tiefere Bedeutung sich unser Sohn lang und breit hatte auslassen wollen, insbesondere bei der Abhandlung seines Nebenthemas `Versäumter Denkmalschutz´…. (187f) Die Dimension der Blockade des Vergangenheitshorizonts („`Versäumter Denkmalschutz´“) in der Gegenwart offenbart sich darin, dass Konny auf keiner der vorhandenen Plattformen reden kann, weder in der Schule oder bei Gericht, noch in rechtsextremitischen Kreisen: „Mein Sohn hat seinen Vortrag nicht zu Ende bringen können. Rufe wie `Aufhören!´ und `Was soll das Gesülze!´ sowie Lärm, verursacht durch das Auftrumpfen mit Bierflaschen, führten dazu, dass er das weitere Schicksal des Schiffes, dessen Weg bis zum Untergang, nur verkürzt, grad noch bis zur Torpedierung vortragen konnte.“ (83f) Selbst seine Mutter Gabi verschließt sich: „Als ich meiner Ehemaligen gegenüber mein Sorgenpaket aufschnürte, hörte sie mir keine Minute zu: `Ich verbiete dir, in meinem Haus derartige Reden zu führen und meinen Sohn des Umgangs mit Rechtsradikalen zu bezichtigen…´.“ (74) Indem Konny nicht reden kann, verbleibt Tullas Trauma auch in der Gegenwart unkenntlich: „Absolutes Schweigen über alles, was mich betraf. Mein Sohn sparte mich aus. Online existierte ich nicht.“ (148) Im Krebsgang resultiert die Blockade des Vergangenheitshorizonts in der Katastrophe: „Ich behauptete, das Unglück unseres 346 Sohnes – und dessen schreckliche Folgen – sei ausgelöst worden, als man ihm untersagt habe, seine Sicht des 30. Januar dreiundreißig vorzutragen und darüber hinaus die soziale Bedeutung der NS-Organisation `Kraft durch Freude´ darzustellen.“ (187) Im Ergebnis verschmelzen Gegenwarts- und Vergangenheitshorizont ohne den Erkenntnisgewinn, die „Erweiterung“ der Protagonisten. Konny schlüpft in der realen Welt nach der Mordtat zwar nicht mehr in die Rolle Gustloffs. Er spaltet sich nach der fatalen Vereinigung mit Gustloffs Identität in der virtuellen Welt von diesem ab, was im Prozess deutlich wird: „Doch vertrete ich, wie Wilhelm Gustloff, die Überzeugung, (…)“ (196). Dennoch verbleiben aus der virtuellen Identitfizierung nach der Abspaltung Identitätsanteile zurück: „Dem Blutzeugen verdanke ich meine innere Haltung“ (195). Gustloff wird zum Vorbild und soll gerächt werden. (ebd.) Doch ist es nicht der Nationalsozialist Gustloff, den Konny meint. Ihm ist jener vor Augen, der „mehr von Gregor Strasser als vom Führer beeinflusst worden ist.“ (195) Erst in dem Moment wird Gustloff zur Vorbildfigur für Konny, als er Strassers Einflüsse auf diesen wahrnimmt. (ebd.) Vor dem Hintergrund, dass Strasser der stärkste Gegenspieler Hitlers innerhalb der NSDAP und eines der ersten Opfer von deren Säuberungsaktionen wird, distanziert sich Konny, fast unmerklich in dieser Sequenz von der nationalsozialistischen Epoche nach 1934 (Strasser stirbt am 30. Juni 1934). Dennoch scheint die Verwirrung Konnys aus dem blockierten Vergangenheitshoriziont, der einen Erkenntnisgewinn unmöglich macht, unwiderruflich, „denn das Gericht wird den in Konnys Redefluß mitschwimmenden und in sich schlüssigen Irrsinn erkannt haben; Wahnvorstellungen, die durch Gutachten mehr oder weniger überzeugend analysiert worden sind.“ (193) Als der Richter schließlich während des Prozesses Konny die Möglichkeit gewährt, „das Motiv seiner Tat zu belichten“, scheint es zu spät um Erkenntnisse zu gewinnen, denn Konnys Ausführungen werden erneut vorzeitig abgebrochen. Allerdings deutet der Moment der Unterbrechung durch den Richter auf weitere „Verwirrte“. 347 Der Richter versucht „den todernsten Hintergrund des Verfahrens aufzulockern, indem er „kleine Scherze“ (189) einstreut. Empört entzieht er Konny das Wort, nachdem dieser Gedenktafeln für David Frankfurter anerkennt. (192f) Viel eher hätte es Anlass zur Unterbrechung von Konnys Rede gegeben, etwa als dieser vorgibt, Gustloff habe sein Leben gegeben, um „Deutschland endlich vom Judenjoch“ (192) zu befreien. Die Forderung nach einer Gedenktafel für Frankfurter offenbart, dass Konny weder antisemitisch noch nationalsozialistische Motive für sein Handeln hat: Ich scheue mich nicht, anzuerkennen, dass es auf jüdischer Seite gleichfalls Gründe gibt, entweder in Israel, wo David Frankfurter zweiundachtzig gestorben ist, oder in Davos mit einer Skulptur jenen Medizinstudenten zu ehren, der seinem Volk mit vier gezielten Schüssen ein Zeichen gegeben hat. (…). Endlich raffte sich der Vorsitzende Richter auf: `Das reicht nun aber!´ (193) Der Richter unterbricht Konny in dem Moment, in dem deutlich wird, dass dessen Handeln nicht antisemitisch motiviert ist. Konnys vermeintlicher Antisemitismus tritt ausschließlich im Zusammenhang mit Tullas Trauma auf: „Ich habe geschossen, weil ich Deutscher bin – und weil aus David der ewige Jude sprach. (…) Aus Gründen der Fairneß müsse gesagt werden: Wie er, so habe auch Frankfurter `ganz aus innerer Notwendigkeit´ gehandelt.“ (189) Die Kluft, die sich durch das „Nicht-Wissen“ des Traumas formiert, jenen unauflösbaren Konflikt zwischen innerem Trugbild und äußerer Realität wird für Konny zum Abgrund. Die ununterscheidbar gewordene „Gegenwartsvergangenheit“880, aus der keine Erkenntnisse zu gewinnen sind, manifestieren sich im vermeintlichen Rechtsextremismus Konnys. Die psychologische Diagnose des Wiederholungszwangs wird bei Grass zum ewigen „Fluch“: „Es ist, als hinge den Deutschen der Fluch ihrer Opfer an. Alttestamentlich bis ins dritte, vierte, ins siebte Glied: was wir auch tun, der Makel bleibt.“881 Der Mord in der Dritten Generation steht damit auch für Destruktivität und Versagen gegenüber der historischen Verantwortung. 880 881 In Anlehnung an Gadamers Verschmelzung. Grass, `Geschenkte Freiheit. Rede zum 8. Mai 1945´, S. 891-906 in Neuhaus WA, Bd. 9, S. 903. 348 Die „68er“ im Spiegelbild des romantischen Nihilismus Im Krebsgang werden als Literaten, um die „es ging“ (30) in den Höllererschen Vorlesungen882 „Kleist, Grabbe, Büchner“ genannt, Autoren, die der Romantik und dem Vormärz zuzuordnen sind. Begeistert im „übervollen Hörsaal“ (30) lauschen die Studenten, Repräsentanten der Ersten Nachkriegsgeneration883, die so genannten „68er“. Ist diese Begeisterung auf die Identitfizierung mit dem „fundamentalen Ordnungs- und Identitätsverlust zurückzuführen“, der für „alle wichtigen Autoren der (romantischen) Zeit (Epoche)“884, der Ära der „Identitätsphilosophie“885 kennzeichnend ist? In seiner Schrift „Deutschland im Herbst“ hat Norbert Elias das „Problem der nationalen Identität“ für diese erste Nachkriegsgeneration umrissen.886 Elias verwies auf die zunehmende Entfremdung zwischen den Generationen, die sich in extremer oder extremistischer Weise in der Abspaltung einer Reihe von terroristischen Gruppen von der Gesellschaft und der unerbittlichen Verfolgung dieser Gruppen durch die politischen und wirtschaftlichen Eliten dieser Gesellschaft manifestierte. Die „schleichende Identitätskrise“, könne nur überwunden werden, wenn die auseinander driftenden Gruppen in einer öffentlichen Diskussion des gemeinsamen Erbes des Nationalsozialismus zusammenfinden. Vor allem ging es Elias dabei um den „Makel und (die) Schuldgefühle, die der Nationalsozialismus den nachfolgenden Generationen Deutschlands hinterlassen hat.“887 Der Kanzler der Großen Koalition,888 Kurt Georg Kiesinger, „der im Dritten Reich als NSDAP Mitglied eine kleine Karriere beim Rundfunk hatte machen können“,889 galt der neuen Linken, die sich aus den Studentenbewegungen formiert hatte, als Skandal 882 Anmerkung: ab 1959 bis 1987 lehrte Walter Höllerer als Professor für Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. 883 Anmerkung: geboren zwischen 1937-1953, vgl. Zinnacker. 884 Bernd Kortländer, `Christian Dietrich Grabbe´, S. 451-461 in Gunter Grimm, (Hg.), Deutsche Dichter. Romantik, Biedermeier und Vormärz, Bd. 5, Stuttgart, 1989, S. 451. 885 Günter Oesterle, `Einleitung´, S. 7-23 in ders. (Hg.), Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik, Würzburg, 2001, S. 7. 886 Norbert Elias, `Gedanken über die Bundesrepublik´, S. 733-755 in „Merkur“, 1985, Nr.18, S. 735. 887 Ebd. 888 Anmerkung: 1966-1969. 889 Jürgen Busche, Die 68er. Biographie einer Generation, Berlin, 2005, S. 93. 349 und Bestätigung der „vielfach vermutete(n) Frontstellung Demokraten gegen Faschisten“.890 Die Erbitterung über „die alten Nazis in der Bundesrepublik hatte durch den Auschwitz-Prozess (…), erheblich an intellektueller Schärfe und emotionaler Kraft hinzugewonnen.“891 Die Politik der Großen Koalition, insbesondere die Notstandsverfassung und die Notstandsgesetze,892 ließ die neue Linke argwöhnen, „es werde die Rückkehr zum autoritären Staat vorbereitet.“893 Man misstraute den Trägern der Staatsgewalt, „von denen die meisten allzu einverständig Naziuniformen getragen hatten.“894 Ärger und Frustration entluden sich in Demonstrationen und Protestkundgebungen, die nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke im April 1968 in gewalttätige Auseinandersetzungen und Blockaden kulminierten. Wut und Verzweifelung durchdringen auch Grabbes Werk, der die deutschen Zustände seiner Zeit zwischen 1815 und 1830 spiegelt. Seine literarische Reaktionen auf diese Epoche, die von „kleinlich-reaktionäre(m) Festhalten an Privilegien und überkommenen Herrschaftsstrukturen; rigorose Versuche zur Unterdrückung jeglicher Kritik; (…)“895 geprägt sind, ist „Haß, Ekel und Verachtung“.896 Sein Werk ist Ausdruck von Hoffnungslosigkeit: Grabbe schreibt in dem Bewusstsein, dass es keinen Ausweg aus den Verhältnissen gibt. Die Welt, die soziale Realität, ist unübersteigbarer Rahmen menschlicher Erfahrung. Ihre Grundsubstanz bildet ein Chaos aus Gemeinem, Niedrigem, Kleinem, Albernem, Hässlichem. Alle Versuche, dieses Chaos zu bändigen, die Welt von Grund auf zu verändern, scheitern oder sind nur von kurzer Dauer.897 Selbst die Literatur „`als das Jämmerlichste des Jämmerlichen´ bleibt von diesem totalen Sinnverlust nicht verschont“.898 890 Ebd. Ebd., S. 94. 892 Anmerkung: Neu geregelt wurden hierdurch die Einsatzmöglichkeiten von Bundeswehr und Polizei in Fällen des inneren und äußeren Notstands und in Unglücksfällen. Die alten Regelungen hatten durch Sicherheitsvorbehalte der Alliierten die Souveränität des jungen, noch ungefestigten Staates beschränkt. Vgl. Busche. 893 Ebd., S. 94. 894 Ebd. 895 Kortländer in Grimm, S. 451. 896 Ebd. 897 Ebd. 898 Ebd., S. 456. 891 350 Die Unmöglichkeit der Verständigung und Isolierung wird im Bild der „lächelnden Bestie“ symbolisiert.899 Allerdings verbleibt der Dichter scheinbar nicht dabei, „über das Überkommene ironisch zu meditieren. Die in der Sicht Grabbes illusionistischen überkommenen Ganzheiten und Einheiten um den Menschen her, und auch die Ganzheit Ich, wenn sie von dieser Umgebung befangen ist, sollen zerschlagen werden, damit sich offenbare, `was ist´.“900 Setzt man dieses „was ist“ nach einer zerstörten Ganzheit mit dem Status Quo nach einer traumatischen Situation gleich, blitzt zunächst ein konstruktives Element auf: die Zerstörung des Ganzen (der Identität) birgt zugleich den Auf- bzw. Ausbau in sich. In der Erkundung des „was ist“ liegt die Chance auf eine Horizonterweiterung. „Grabbe ist in seinen Eigeninterpretationen stets geneigt, die gesteigerte, Trümmer schaffende Dynamik als etwas Aufbauendes zu deuten; (…).“901 Allerdings verbleibt dieser Ansatz Grabbes stets im Angedeuteten und Programmatischen zurück, und wird schließlich beherrscht und gelenkt von der Destruktion: „Seine Problematik lag darin, dass die ihm zum Aufbau verfügbaren Elemente immer wieder unter seiner Hand zu zerstörenden Mächten wurden.“902 Die Destruktion ist zugleich der Ausgangspunkt Büchners: „Für Büchner steht der Schmerz der Kreatur im Mittelpunkt der Welt.“903. Der Zusatz, dass es sich um „lauter Genies auf der Flucht“ (30) handele, führt zu Büchners Dantons Tod. Das Werk, das der Dichter „in wilder Hast unter den Augen der Polizei“904 verfasst hat, „zeigt den Sieg der pessimistisch-skeptischen Anschauung und des zynischen Nihilismus. Alles menschliche Handeln nutzlos, alle Freiheitsversuche Illusion, aller Fortschritt sinnlos. Es bleiben immer Gebundenheit, erbarmungslose Gewalt und Chaos. Die menschliche Anstrengung ist stets ein lächerliches Ringen und ein Umsonst.“905 Büchners Danton 899 Walter Höllerer, `Christian Dietrich Grabbe´, S. 19-52 in ebd., Zwischen Klassik und Moderne, Köln, 2005, S. 25. 900 Ebd., S. 41. 901 Ebd., S. 42. 902 Ebd., S. 46. 903 Höllerer, `Georg Büchner´, S. 89-123, ebd. S. 120. 904 Ludwig Büttner, `Georg Büchner: Revolutionär und Pessimist (1948)´, S. 222-228 in Dietmar Goltschigg (Hg.), Büchner im Dritten Reich, Bielefeld, 1990. S. 222. 905 Ebd. 351 verfällt schließlich „dem radikalen Pessimismus“906. Das Drama Büchners bewegt sich nicht nur auf den Ebenen einer gescheiterten Revolution. Die politische Enttäuschung unterstützt lediglich die tief verankerte Weltauffassung, wonach „das Unberechenbare, Unbegreifbare und Dämonische zum Gesetz der Geschichte“907 erhoben wird. Schließlich „zerbrechen die Ideale der Menschheit. Was bleibt, ist eine bodenlose Weltverachtung, eine grundlose Tiefe von Hoffnungslosigkeit.“908 In Dantons Tod schreibt Büchner: „Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott“.909 Danton verfügt zwar über einen „ungeheure(n) Lebensüberschuss“; dieser sollte jedoch nicht für sich und ohne den tiefen lethargischen Pessimismus gedeutet werden.910 Eine „lebensvolle Weltüberwindung“ liegt nicht vor. Es handelt sich um ein ironischzynisches Über-der-Welt-stehen, nicht um wahre Befreiung.911 In der Realität entlud sich der Schock der so genannten „68er“ über das Handeln der Elterngeneration in einem Gefühl vergleichbar Grabbes´ Hass, Ekel und Verachtung in Aufbegehren gegen das „faschistische Establishment“ in der bundesdeutschen Elite. Die Situation in der sich die Elterngeneration nach 1945 befand, wurde (oder konnte) als Ursache für deren Verschweigen nicht wahrgenommen (werden): „Nach dem Zweiten Weltkrieg sei geblieben `ein Gefühl der Verfinsterung und Ausweglosigkeit´ und darin eine Dumpfheit und eine Angst, die von trübem Verantwortungsgefühl für die Zeit und für das Dasein fast erdrückt wird.“912 Eine „lebensvolle Weltüberwindung“ blieb der Ersten Nachkriegsgeneration versagt. Bei Walter Höllerer bricht sich der Nihilismus Büchners und gibt erste Ansatzpunkte für eine „lebensvolle Weltüberwindung“: „Grabbes kalt lächelnde Bestie ist für Büchner weder das Prinzip des Menschen (…), noch wird der `Tiger-Mensch´(Anm. d. Autorin: Büchners Bild für die Bestie) ohne weiteres bejahrt und verherrlicht.“913 906 Ebd. Ebd., S. 223. 908 Ebd. 909 Georg Büchner, Dantons Tod, Vierter Akt, fünfte Szene: Die Conciergerie http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=258&kapitel=29&cHash=7a0603f593dantn451. 910 Büttner, ebd. 911 Ebd. 912 Alfred Weber zitiert in: Albert Kopf, Der Weg des Nihilismus von Friedrich Nietzsche bis zur Atombombe, München, 1988, S. 27. 913 Höllerer, `Büchner´, S. 116. 907 352 Der leidende Mensch bei Büchner ist „mehr als eine nihilistische Figur“914. Der Nihilismus wird bei Büchner als eine Sehnsucht nach dem Nichts als „Einheit, Ordnung und Weltgott“ entlarvt und als Hoffnung schließlich „wieder fallengelassen, weil es diese „Einheit“ nicht gibt.915 Indem Büchner den Menschen aufbricht, tritt zwar das Bestialische hervor, doch „dicht dabei (ist) das unverstellt Menschliche, in seiner Hilflosigkeit und in seinem Sich-Aufbäumen.“916 Die Nennung des Autors Heinrich von Kleist in der Höllerschen Vorlesung eröffnet für das Agieren der Elterngeneration eine ambivalente Perspektive, die sich bei Büchner aus der Perspektive Höllerers zu zeigen beginnt. Als schwer fassbarer Dichter zeichnet sich Kleists Werk durch eine Ambivalenz aus, die unauflöslich erscheint. Mit Blick auf die Zeitzeugin Tulla erhebt sich bei Kleists Penthesilea die Ambivalenz einer Schuld aus dem Nichtwissen heraus. 914 Ebd., S. 105. Ebd. 916 Ebd., S. 116. 915 353 Die „tragische“ Schuld der Protagonisten An den Vorkommnissen, die Tullas Trauma auslösen – den Bombenangriff auf die Gustloff sowie die Flucht und Vertreibung - ist sie als Individuum nicht direkt beteiligt. Vordergründig ist die Hauptprotagonistin im Krebsgang als ein Opfer des Krieges und somit ihrer Zeitgeschichte dargestellt. Als Denunziantin beteiligt sich Tulla dennoch indirekt an dem vermeintlichen Ordnungssystem ihrer Epoche, dem Nationalsozialismus.917 Denunziation war eine wichtige Säule zur Stütze des NS-Regimes: „Die Denunziationen waren in kultureller wie politischer Hinsicht zweifellos systemstützend.“918 Häufige Motive waren Eifersucht, Groll und Rachsucht919 - nicht ideologische Überzeugungen. Indem Tulla das System stützt, wird sie zur Mitläuferin. Indem Vater Brunies durch ihre Denunziation zu Tode kommt, wird sie zur Mittäterin. In der totalitären DDR wird Tulla gleichfalls zur opportunistischen Mitläuferin, die als „SED-Mitglied und ziemlich erfolgreiche Leiterin einer Tischlereibrigade (…) zumeist überm Soll lag“ (67). Auch hierbei haben ideologische Überzeugungen keine Bewandtnis. Die inzwischen erwachsene Tulla fühlt sich dem System innerlich nicht verbunden: „`Raicht das nich, wenn ech miä hier fier die Schufte abrackern muß!´“ ( 67). Bis zu ihrem jeweiligen Untergang werden beide Systeme, erst Nationalsozialismus, dann Sozialismus, für Tulla zu den maßgeblichen Rahmenbedingungen ihres Lebens. Indem sie sich äußerlich anpasst, bedient sie sich des einzigen Freiheitsgrades, den sie als Individuum anscheinend unbeschadet innerhalb eines diktatorischen Regimes nutzen kann. Die zweifache Einbettung in menschenverachtende Systeme polarer Couleur – Nationalsozialismus und Kommunismus („DDR-Sozialismus“) – erhebt die Frage danach, ob Tulla selbst menschenverachtend wird durch ihr Mitläufertum bzw. die Frage nach ihrer individuellen Schuld. 917 Vgl. Vater Brunies in Hundejahre. Reichardt, S. 23. 919 Ebd. 918 354 Der Ausgangspunkt ihrer Schuld: die Denunziation eines Kindes führt zum Tod des verhassten Lehrers. Brunies wird Tullas Opfer, weil dieser den Schülern vorbehaltene Süßigkeiten gegessen hat.920 Auf den ersten Blick erscheint die Schlussfolgerung naheliegend, dass die Schuld denjenigen zuzuordnen ist, die ein System erschaffen und tragen, in dem diese unmenschliche Tat möglich ist. Allerdings verwischt sich diese Zuordnung bei näherer Betrachtung. „Will man Grass´ Schuldbegriff (…) charakterisieren, so lässt sich feststellen, dass vieles auf die von Jaspers unterschiedenen Kategorien der moralischen und metaphysischen Schuld verweist.“921 In dem Versuch, sich gegen den Vorwurf der Kollektivschuld zu verwehren, teilte Karl Jaspers 1946 in seiner Schrift „Die Schuldfrage“ den Begriff der Schuld in vier Kategorien. Er grenzte eine kriminelle von einer politischen, einer moralischen und einer metaphysischen Schuld ab. Ausschließlich die kriminelle Schuld kann als eindeutiger Verstoß gegen Gesetze juristisch geahndet werden. Die politische Schuld trägt jeder Staatsbürger, der für die Taten des von ihm mitgetragenen Staates einstehen muss. Die moralische und metaphysische Schuld sind individuell geltende Schuldbegriffe. Die moralische Schuld liegt auf dem individuellen Handeln und kann nicht umgangen werden etwa durch Befehlsnotstand. Die metaphysische Schuld betrifft vor allem das Nichthandeln, das Dabeistehen, das menschliche Versagen, das menschlich schuldig macht.922 Tulla ist fünf Jahre alt als das NS-Regime seine Herrschaft antritt. Sie wächst auf in einer Dekade des Enthusiasmus über den Anbruch der „neuen Zeit“923: ihr Vater, der Hilfsarbeiter Pokriefke, dessen Resignation sich darin äußert, dass er seinen Glauben an alles verloren hatte, „der hädd auf Kaadeäff schweeren jekonnt, weil er mit maine Mama zu ersten Mal in sein janzes Leben hat verraisen jedurft….“ (39). Aus dieser Begeisterung für die „neue“ Idee, die in der Katastrophe endet, lässt sich eine 920 Bernhardt, S. 76. Kniesche, S. 189. 922 Vgl. Karl Jaspers, `Die Schuldfrage´, in ders., Was ist der Mensch?, München, 2003, S. 337ff. 923 Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“. 921 355 Parallele zwischen Grass´ Krebsgang und Georg Büchners924 Dantons Tod herstellen. Büchners Drama über die Französische Revolution „atmet nicht den Geist des politischen Täters und des gläubigen Revolutionärs. Es bedeutet geradezu die Lähmung des politischen Handelns und revolutionären Kampfes.“925 Auch im Krebsgang zeigt sich die Lähmung der Protagonisten in der Wiederholung des Immergleichen („Nie hört das auf“), dem „grässlichen Fatalismus der Geschichte“926. Beide Autoren, Grass und Büchner, ziehen Schlüsse aus ihrer jeweiligen Warte, die zeitlich nah am historischen Geschehen liegt. Nationalsozialismus und Kommunismus als Gesellschaftsexperimente der Moderne gesehen, teilen mit der Französischen Revolution das Ziel einer völligen Umgestaltung der bestehenden Ordnung durch Terror und Gewalt. Zwar in völlig verschiedenen Dimensionen endeten sowohl 1789 als auch die Ideologien des frühen 20. Jahrhunderts in Destruktivität. Die Frage, die sich daraus stellen lässt, ist, ob die Lähmung der Protagonisten (i.S.v. „Mitläufer“) bei Büchner und Grass auf den historisch „gescheiterten“ politischen Kampf zurückzuführen ist, dem nihilistischen Fatalismus aus der „Unausweichlichkeit jenes geschichtlichen Mechanismus“927 aus dem sich ein Verrat an der menschlichen Moral ergibt. Oder, ob der Ursprung der Bewegungslosigkeit in dem Hass und in der Unbarmherzigkeit der beteiligten Personen liegt, die im Terror gefangen sind. Anders gefragt: wird die Lähmung aus einer inhumanen Historie bedingt, der nicht zu entkommen ist oder ist sie das Resultat einer Gegenwart, aus der keine Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der Humanität gewonnen werden können, weil die Vergangenheit nicht zu bewältigen ist – etwa in Abwesenheit einer „Weltüberwindung“ im Sinne einer „Selbstüberwindung“. Diese Fragestellung findet sich auch bei Heinrich von Kleist: „Die für das Verständnis jeder Dichtung Kleists zentrale Frage drängt sich auf, ob wir die Gründe im Menschen selbst suchen sollen oder außerhalb, ob es etwa das Schicksal ist, das ihn in solche 924 Anmerkung: Büchner erwähnt im Krebsgang, S. 30 Büttner, S. 222. 926 Georg Büchners so genannter „Fatalismus-Brief“ an seine Verlobte Minna Jaeglè im Januar 1834 in: Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden“, Henri Poschmann, (Hg.), Band 2, Frankfurt, 1999, S. 377f. 927 Markus Fischer, Dantons Tod, in: Harenberg Literaturlexikon, Dortmund, 1997, S. 235. 925 356 Versehen hineinlockt und zu verderben droht“.928 Kleists Figuren sind nicht völlig unbeteiligt an dem, was ihnen widerfährt: „Das Leid, das die Figuren Kleists erfahren, ist zutiefst und immer wieder ein Leid von innen her.“929 Wie groß ist der Schuldanteil der Protagonisten im Krebsgang? Im Ergebnis führt diese Frage zu einer ambivalenten Einordnung. Die Ambivalenz hinter der Schuldfrage zeigt sich deutlich in dem Mord Konnys an Wolfgang alias David. Konny ist durch seine Großmutter transgenerationell traumatisiert.930 Dennoch ist es Konny, der den Mord kaltblütig plant und ausführt. Diese Form der Ambivalenz als „Opfertäter“ zieht sich durch die gesamte Narration931: der russische U-Boot Kapitän Alexander Marinesko ist Sohn eines Flüchtlings und bereits als Kind Zeuge von Gewalt; David Frankfurter trägt eine über Jahrtausende transgenerationell übertragene Erfahrung von Gewalt und Verfolgung mit sich; Wilhelm Gustloff hat zwar nicht am Ersten Weltkrieg teilgenommen, aber aus dem Umfeld der zuhause Gebliebenen932 erwächst in dieser Generation vielfach der Wunsch, durch besonderes Engagement als Nationalsozialist das Manko wettzumachen. Kleists Figuren sind, „(a)ufgefordert zum rechten Gefühl zu finden, (…) nicht völlig schuldlos, wenn sie sich dabei `versehen´. (…) es (geht) daher in der Erkennung der in Frage stehenden Versehen immer zugleich um die Probleme der Schuld.“933 Auch das Trauma Paul sucht nach der Schuld und dem Schuldigen, indem er narrativ in die Ursprünge des Traumas versucht vorzudringen. Dort kommt er jedoch niemals an, weil er sich „versieht“. Indem er als Erzähler die äußerlich sichtbare Vergangenheit sachlich und nüchtern wie einen juristischen Streitfall aufzurollen sucht, gelangt er niemals zum Kern des Traumas und damit zur „inneren“ Wahrheit: er dreht sich stets im Kreis seiner eigenen Empathielosigkeit als Symptom des Traumas, das sich nicht selbst abzuwickeln vermag. Seine Empathielosigkeit verhindert, Tullas Trauma zu 928 Walter Müller-Seidel, Verstehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln, 1961, S. 194. Ebd. 930 Vgl. Kapitel „Wiederholen“. 931 Vgl. „Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt“. 932 Vgl. „Abschnitt „Nationalsozialismus“. 933 Müller-Seidel, ebd. 929 357 erkennen und somit kann er ihre Person nicht als Ganzes „sehen“ (Kleist) und verstehen. Pauls Herangehensweise an Tullas Geschichte legt nahe, dass er nach einer Art „juristischer Schuld“934 sucht, die sich dadurch hervorhebt, dass sie durch sachliche Gesetze und Urteile relativ klar umrissen ist. Indem er die Eindeutigkeit sucht, scheitert Paul. Er öffnet sich nicht für die andere Art der Schuld, die „tragische Schuld“: Einer tragischen Schuld liegt kein Schematismus zugrunde, sondern sie ermangelt jeder Eindeutigkeit.935 Das Tor zur Erkenntnis, das sich Paul durch seine Suche nach dem Schuldigen öffnet, schließt sich in dem Moment, in dem er die Mordtat seines Sohnes Konny an Wolfgang alias David nicht durch eine gewonnene Erkenntnis, durch „Einsicht“ verhindern kann. Vor dem Hintergrund, dass die beiden Jugendlichen Konny und Wolfgang alias David ein ausgelassenes freundschaftliches Verhältnis zueinander haben und kein von Hass geprägtes, wird die Tragik der Schuld deutlich sichtbar. Indem Konny seiner Großmutter die Treue hält und ihren Auftrag auszuführen meint, belädt er sich mit einer „tragischen Schuld“. Da er von Vater Paul und Großmutter Tulla die Fähigkeit zur Empathie nicht erlernt, bleiben die seelischen Prozesse für ihn hermetisch: ohne die Fähigkeit der Empathie wird Konny zum kaltblütigen Mörder. Auch Paul hat auf der narrativen Ebene als Sohn der traumatisierten Tulla nicht lernen können, sich auf ihr Leid, ihren Schmerz und ihre Angst einzulassen. Er verfügt deshalb nicht über die Gabe, menschliche Verbindungen herzustellen – auch nicht zu seinem Sohn Konny. Paul kann deshalb weder seine eigene Isolation, noch die seiner Mutter oder die seines Sohnes überwinden. Ihm ist die Erkennung bis zur Unmöglichkeit erschwert. Daraus ergibt sich, dass eine inhumane Vergangenheit (Tulla) in der Gegenwart nicht verarbeitet werden kann. Im Resultat verhindert die Unfähigkeit des Durcharbeitens einer traumatischen Vergangenheit ein empathisches Miteinander (vgl. oben). Erneut kann so Gewalt und damit Schuld entstehen. Dieses Ergebnis führt zurück zum Ausgangspunkt, zu Tulla als der „ursprünglichen“ Trägerin der „tragischen Schuld“. 934 935 Vgl. Jaspers. Müller-Seidel, S. 195. 358 Wie Grass bei Kriegsende selbst, ist Tulla siebzehn Jahre alt, als die Gustloff sinkt. „Grass gehört, wie er selber immer wieder aufs Neue betont, einer Generation an, die zu jung war, um schuldig zu werden und zu alt, um unschuldig zu sein. Er spricht aus einer Position zwischen den Generationen der Schuldigen und der Unschuldigen und bleibt dieser Position verhaftet.“936 Als Mitläuferin repräsentiert Tulla den Großteil der deutschen Bevölkerung. Ihre tragische Schuld liegt darin begründet, dass sie unfähig ist, das eigene Trauma aufzuarbeiten. Wie bereits ausgeführt, sind Menschen, die traumatisierenden Gewalterfahrungen ausgesetzt waren, nicht in der Lage, sich dem Schmerz der Traumatisierung erneut auszusetzen. Sie laufen Gefahr, „retraumatisiert“ zu werden.937 Diese (unbewusste) Angst vor einer Retraumatisierung zeigt sich in der Weitergabe ihres Traumas an ihre Nachkommen, was ein Abschieben, ein Verdrängen anstatt eines Konfrontierens impliziert. Die Weitergabe des Traumas, symbolisiert in Tullas Aufforderung gegenüber Sohn und Enkel, ihre Geschichte aufzuschreiben, impliziert die Unmöglichkeit der Verarbeitung in den nächsten Generationen. Nicht nur das Trauma wird weitergegeben, sondern auch die Unfähigkeit der Bearbeitung.938 Tulla fordert implizit und unbewusst, dass nur ihre Version der Erlebnisse aufgeschrieben wird. Ihre aus dem Trauma entstandene Orientierungslosigkeit verstellt ihr den Blick auf die Zusammenhänge. Neben der Gefahr einer Re-traumatisierung ist Tulla im Dialog der Trauerarbeit mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert: der des Identitätsverlustes als Opfer.939 Durch die Trauerarbeit bricht diese Identität auf, weil eigene Anteile von Unmenschlichkeit konfrontiert und angenommen werden müssen. Als einzige erkennt Tulla den „Knochenberg“, auf dem symbolisch auch „ihr Opfer“ Brunies liegt. Da sie diesen Anblick nicht in eine kausale Verbindung mit ihrem eigenen Trauma setzen kann – NS-Regime, Holocaust, Krieg, Flucht und Vertreibung - bleibt nichts als ein 936 Kniesche, S. 187. Vgl. Abschnitt „Trauma“. 938 Vgl. Kapitel „Wiederholen“. 939 Vgl. „Tullas Hausaltar als Symbol der Unüberwindbarkeit des Traumas“. 937 359 abstraktes Bild zurück.940 Die Anteile der eigenen „Täterschaft“ würden sich in dem Moment auftun, in dem Tulla den Untergang der Gustloff in einen historischen Kontext zu setzen vermag. Durch die Verschmelzung ihres historischen und gegenwärtigen Horizonts würde die eigene Identität eine Erweiterung um diese „Täteranteile“, die im Bild des „Knochenbergs“ symbolisiert sind, erfahren. Nur das Bewusstmachen dieser Anteile und deren Wissen um sie erlauben den bewussten und wissentlichen Umgang mit ihnen. Tulla verschließt sich dieser schmerzhaften Erweiterung. Der Schmerz dieser Erweiterung entspringt dem Tod der eindeutigen Identität als Opfer und der Geburt der ambivalenten Identität als „Opfertäter“. Anders als Tulla agiert Kleists „Penthesilea“: Was sie getan, ist ihr zunächst noch verborgen. (…) Gleichwohl macht ihr Ende deutlich, dass sie nicht unter den Priesterinnen und Amazonen ihres Staates die einzig Schuldigen sucht. Sie bezieht sich ein. Sie meint ihre `Schuld´ in erster Linie. Das bezeugt ihr Tod. Er ist zuletzt ein Akt des Bewusstseins, eine Form ihrer Selbsterkenntnis. Indem sie des Widerspruchs inne wird, (…) begibt sie sich des Scheins. Sie kehrt in die Wahrheit des Menschlichen zurück und erst jetzt in die Wahrheit des unverwirrten Gefühls.941 Das innere Trugbild wird aufgelöst, indem die alte Identität stirbt, um einer neuen, „wahrhaftigen“ Raum zu gewähren. Die Anerkennung der Schuld lässt die Frage nach deren Ursprung dennoch unberührt. Kleist gibt Hinweise auf diesen Ursprung in seiner Penthesilea: „Die Schuld liegt im Nichtwissen. Alle Gräuel, Schrecken und Rätsel sind nur die Folgen des Nichtwissens. Insofern werden alle unbewusst und unwillkürlich schuldig. Die furchtbare Tat enthüllt nur, was verborgen war.“942 Daraus ergibt sich: „Das Bewusstsein wird erst durch diese Schuld (Penthesilea) möglich. Bewusstsein, Erkennen und Schuld werden identisch.“943 Vgl. „Tulla will keine Verbindung zu ihrer Mitschuld“. Müller-Seidel, S. 203. 942 Ebd. 943 Ebd. 940 941 360 Doch wie kann der Pfad des Nicht-wissens verlassen werden und der Weg zu Bewusstsein, Erkennen und Schuld(anerkennung) führen? Am Ende von Pauls Versuch nach „juristischer Schuld“ zu suchen, verweist der Satz „Nie hört das auf!“ auf den „vollkommenen Nihilisten“ Friedrich Nietzsche, für den „die Vollendung des Nihilismus alles (…) (ist), was wir erwarten und hoffen dürfen.“944 Diese „vollkommen“ anmutende Destruktion ist jedoch nicht der Endpunkt. Auf einer symbolischen Ebene im Krebsgang ist sie der Beginn einer Weiterentwicklung. In der Figur Tulla deutet sich ein möglicher Ausweg an, auch wenn dieser nur als schemenhafte Vorlage verbleibt und von den Protagonisten nicht beschritten wird: die Wandlung Tullas durch die „drei Stufen des Geistes“ aus Nietzsches Also sprach Zarathustra (nachfolgend auch Zarathustra genannt)945. In dem Moment, in dem Tulla Trauerarbeit leisten würde, wäre sie erneut mit den traumatischen Erlebnissen konfrontiert. Doch nur indem sie ihr Trauma bewältigt, wäre sie in der Lage, die Ursachen zu erkennen und Erkenntnis zu gewinnen. Sie muss zuerst sich selbst überwinden, erneut durch die Hölle der traumatischen Erlebnisses gehen, bevor sie durch Erkenntnisgewinn Freiheit von ihrem Trauma und den damit verbundenen Ängsten gewinnt. Das zentrale Motiv der befreienden Selbstüberwindung in Nietzsches Werk946 findet sich in Zarathustra: „`Siehe´, sprach es (das Leben), `ich bin das, was sich immer selber überwinden muss´.“947 Doch wie ist dieses Überwinden zu bewältigen und welche Anstrengung ist damit verbunden? Nietzsche schreibt: „Die höchste Liebe zum Ich, wenn sie als Heroismus sich äußert, hat Lust zum Selbst-Untergange neben sich, also Grausamkeit, Selbst-Vergewaltigung.“948 Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen: „Mithin erfordert Selbstüberwindung die Überwindung der 944 Margot Fleischer, Nietzsche. Eine kurze Einführung, Berlin, 2006, CD, Titel 05. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, S. 545-778 in Ivo Frenzel, Friedrich Nietzsche. Werke in zwei Bänden, München, 1973 (nachfolgend Zarathustra). 946 Rüdiger Görner, `Wie ich Nietzsche überwand. Zu einem Motiv der Nietzsche-Rezeption bei Rilke, Döblin und Hugo Ball´, S. 193-203 in ders., (Hg.), Ecce Opus: Nietzsche Revisionen im 20. Jahrhundert, Göttingen, 2003, S. 194. 947 Zarathustra, S. 623. 948 Nietzsche zitiert in: Görner, S. 194. 945 361 Selbstliebe (…).“949 Demnach müsste Tulla gleich einem Zarathustra eine „übermenschliche“ Leistung vollbringen und sich dem Trauma ihres Lebens „sehend“ nähern, um in der Folge die Täteranteile ihres Selbst annehmen zu können. Aus der Einsiedelei zurückgekehrt will Nietzsches Zarathustra den Menschen die Lehre des Übermenschen bringen.950 Der Übermensch ist die Überwindung des Menschen und der „Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ Die diesseitige Welt ist die einzige Welt, die es gibt, denn „Gott starb“. Damit wird der „Übermensch (…) der Sinn der Erde“. Der Mensch ist ein „Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch“. Stehenbleiben, schaudern zurückblicken werden lebensgefährlich. Der Mensch ist ein Übergang vom Mensch zum Übermenschen, und zwar ein gefährlicher. Das Seil, oder besser der Seiltänzer muss alles hinter sich zurücklassen, sonst fällt er in den Abgrund, der unter ihm gähnt, jener Abgrund des Nihilismus, in den abzustürzen ihn vernichten würde.951 Gelingt es ihm jedoch die andere Seite des Seils zu erreichen, dann ist er zum Übermenschen übergegangen, der höchsten Form von Lebewesen. In Zarathustras Gleichnis werden drei für das Ziel des Übermenschen notwendige Verwandlungen vorgestellt952: die zum Kamel, die des Kamels zum Löwen und die des Löwen zum Kind. Es handelt sich dabei um drei Stufen des Geistes. Das Kamel versinnbildlicht, dass es „vieles Schwere“ dem tragsamen Geist gibt, „dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.“ („Dem Kamele gleich kniet er nieder und lässt sich gut aufladen.“) Ein Geist ist erfordert, der Ehrfurcht hat vor den überkommenden Werten. (…) Das Kamel, das lastbare Tier, das entsagt und ehrfürchtig ist, verwandelt sich zum Löwen, wenn der Übergang vollzogen wird von dem Entsagen zum machtvollen Ergreifen von Freiheit. Tullas rötlich blondes Haar, das sie als junges Mädchen trägt (55) kann als die äußerliche Metapher für Nietzsches Gleichnis der ersten Stufe des Geistes als 949 Görner, ebd. Gesamter Absatz ist eine Zusammenfassung aus Zarathustra, `Vorrede´, S. 549-551. 951 Ebd., S. 554. 952 Gesamter Absatz ist eine Zusammenfassung aus Zarathustra, `Von den drei Verwandlungen´, Ebd., S. 554f. 950 362 „Kamel“ gewertet werden. Sie verliert diese Haarfarbe im Moment des Untergangs. Ihr Haar nimmt eine Nicht-Farbe („schlohweiß“, 55) an im Übergang von der Gustloff auf das Rettungsboot „Löwe“ (ebd.). „Als Löwe widersetzt sich der Geist seinem früheren Herrn. Er erobert sich sein eigenes Herrsein in der Zurückweisung alles Sollens.“953 („Bessere Raubtiere sollen sie also werden, feinere, klügere, menschähnlichere.“954) Tatsächlich erobert sich Tulla in ihrer neuen, gleichfalls totalitären Heimat ein gewisses Maß an Freiheit, indem sie sich nicht organisieren lässt. Neue Werte vermag auch der Löwe noch nicht zu schaffen, aber sich Freiheit verschaffen zu neuem Schaffen, das vermag die Macht des Löwen.955 Um neue Werte schaffen zu können, muss der Geist vom Löwen zum Kind werden. „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginn, (…), ein heiliges Ja-Jasagen.“956 Tulla geht mit ihrem „Wickelkind, das Paul heißt“ von Bord des Torpedobootes Löwe an Land am Tag nach dem Angriff auf die Gustloff (153). „Euer Kinder Land sollt ihr lieben: diese Liebe sei euer neuer Adel – das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heiße ich eure Segel suchen und suchen! (…) Alles Vergangene sollt ihr so erlösen!“957 Tullas Gebärde versinnbildlicht diesen nächsten Schritt des Geistes hin zu Nietzsches Übermensch. Pauls Name „ (…) jenau wie der Käpten vonne Leewe“ (147) impliziert, dass die dritte Stufe die voran gegangene Stufe enthält. Sie fordert dieses Kind auf, das Vergessene hervorzuholen, indem es die Geschehnisse aufschreibt. Indem das Vergessene, das „Vergangene“ an die Oberfläche geholt wird, um es zu „er-lösen“ (Nietzsche), können neue Werte durch die veränderten, weiterentwickelten Parameter des Geistes geschaffen werden. Hierin läßt sich die Traumabearbeitung als Vorbedingung der „Erweiterung“ erkennen. Zarathustra zögert nicht, dem Menschen als „Übermenschen“ Größe zuzusprechen: „Darum, o meine Brüder, bedarf es eines neuen Adels, der allem Pöbel und allem 953 Ebd. Ebd., S. 692. 955 Ebd., S. 560. 956 Ebd. 957 Ebd., S. 686. 954 363 Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt `edel´. Vieler Edlen nämlich bedarf es und vielerlei Edlem, dass es Adel gebe! Oder, wie ich einst im Gleichnis sprach: `Das eben ist Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott gibt!“958 Doch Zarathustra muss erfahren, dass die Menschen aus seiner Lehre des Übermenschen nicht gelernt haben: „Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund für diese Ohren.“959 Schließlich scheitert er mit seinem Bemühen, das Volk für den Übermenschen zu gewinnen. Auch Paul scheitert an seiner Aufgabe, das Vergangene zu „er-lösen“ und neue Werte zu schaffen. Indem diese Aufgabe unmöglich ist, weil sich das Trauma Paul nicht selbst überwinden kann, offenbart sich erneut der Weg der zu begehen ist: die Bearbeitung des Traumas. Zarathustras Erkenntnis bringt ihn zur Einsicht, dass er Gefährten braucht, die ihm folgen, weil sie sich selber folgen wollen: „Gefährten brauche ich, und lebendige – nicht tote Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will. Sondern lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen – und dorthin, wohin ich will.“960 Für Zarathustra erfordert es für sein Ziel die Umwertung von Werten, die Zerstörung der alten und Schaffung der neuen. Jene, die von den alten Werten nicht lassen wollen, sind Verächter der Moral. Die anderen sind die, die Neues schaffen, die bejahend sind: es sind die Schaffenden, die Erntenden. Denen wendet Zarathustra sich zu und beginnt seine Reden: O meine Brüder, verstandet ihr auch dies Wort? Und was ich einst sagte vom `letzten Menschen´? – Bei welchen liegt die größte Gefahr aller Menschen Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? Zerbrecht, zerbrecht mir die Guten und Gerechten! O meine Brüder, verstandet ihr auch dies Wort? (…) Die Guten nämlich – die können nicht schaffen: die sind immer der Anfang vom Ende: - sie kreuzigen den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft – sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft! Die Guten – die waren immer der Anfang vom Ende.961 Stalin als der Thronende auf Tullas Altar verweist darauf, dass in Tullas Wahrnehmung das Böse im Vordergrund, das Gute – in Gestalt Marias als 958 Ebd. Ebd., S. 553. 960 Ebd., S. 557. 961 Ebd., S. 694. 959 364 „Verkörperung des erlösten Menschen“962– im rückwärtigen Teil steht. Hierin deutet sich Tullas Vergangenheitshorizont als eine Ambivalenz aus „Gut“ und „Böse“ an. Die symbolische Verbindung zwischen Marienbildchen und weißer Lilie rückt die unbefleckte Empfängnis in den Blickpunkt.963 Auf Tullas Altar symbolisieren das Marienbild und Stalins Bild die Geburt des Bösen aus dem Guten heraus. Die Verführung des Menschen zur Sünde entspringt dem Dualismus von Gut und Böse, der alttestamentarisch auf Gott selbst zurückgeht. Der Gott des Alten Testaments initiiert neben dem Guten auch das Böse oder lässt es durch seine Boten, vor allem den `Verderber´ initiieren. Der gemeinsame Ursprung von Gut und Böse erlaubt, das im Teufel verkörperte Böse lediglich als einen Aspekt des Guten zu verstehen.964 Dem Menschen bleibt somit nicht die Wahl zwischen Gut und Böse, sondern er kann lediglich reagieren: gegen das „Böse“ indem er das „Gute“ wählt. „`Der Mensch ist böse´ - so sprachen mir zum Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch wahr ist! Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft. `Der Mensch muss besser und böser werden´ - so lehre ich. Das Böseste ist nötig zu dem Übermenschen Bestem.“965 Eine „gute“ Reaktion bedingt jedoch das „Sichtbarmachen, Bestrafen und Korrigieren menschlichen Fehlverhaltens.“966 Das „Böse“ muss als solches erkannt werden, um sich von ihm lösen zu können. Jenny hat verstanden: „Das ist das Böse, das rauswill. Meine Jugendfreundin Tulla, deine liebe Mutter kennt das Problem. Oje, wie oft habe ich als Kind unter ihren Ausbrüchen leiden müssen. Und auch mein Adoptivvater (…). Doch am Ende ist fast alles gut geworden. (…) Tulla hat an sich selbst erfahren, wie gründlich ein Mensch sich wandeln kann…“. (211) Tulla scheint auf die Erfüllung dieser Loslösung zu hoffen. Indem die Lilie aus Plastik ist, wird sie lediglich zum Abbild einer Lilie. Die Interpretationsmöglichkeiten ihrer Gestaltung rücken dadurch in den Vordergrund. Bei dem Mystiker und Philosophen 962 Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 463. Ebd., S. 435. 964 Porrmann, S. 390. 965 Zarathustra, S. 747f. 966 Ebd. 963 365 Jakob Böhme (1575-1624) „steht die Lilie im Zusammenhang mit der Wiedergeburt.“967 Die Wiedergeburt als Wiederholung kann als auf das Trauma gerichtet gedeutet werden. Die Anwesenheit des (Traumas) Paul in der erzählten Szene unterstützt diese Deutung. Die Wiedergeburt als Erneuerung deutet aber auch auf die Hoffnung. Das Bild Marias als „symbolische Gestalt für alle Gläubigen, Hoffenden und Gehorchenden“968unterstreicht diese Hoffnung auf Erneuerung. Tullas Hoffnungen erfüllen sich nicht. Sie bekommt nach außen keine Gelegenheit, das selbst erlebte „Böse“ sichtbar und so auch ihr eigenes menschliches Fehlverhalten für sich erkennbar zu machen. Als Konsequenz daraus wird das Konstruktive (Erkenntnis) durch das Destruktive (Mord an Wolfgang) ersetzt: „Ohnehin stand für sie fest, dass so was nur passieren konnte, weil man jahrzehntelang `ieber die Justloff nicht reden jedurft hat´“. (50) Die abstrakte äußere Konfrontation mit Auschwitz „immerzu nur von andre schlimme Sachen, von Auschwitz und so was jeredet.“ (ebd.) - steigert das überwältigend Böse des eigenen inneren Erlebens in ein Unermessliches und Unerfaßbares, an dessen Ende Destruktion und Nihilismus steht: „Nie hört das auf.“ (216) Im Umkehrschluss: hätte Tulla das Trauma durch Sprache und Reflektion im äußeren Raum überwinden können, wäre der innere Raum frei geworden zur Erkenntnis. Tullas Erkenntnis jedoch bleibt in den „Kinderschuhen“ stecken ohne jemals darüber hinaus zu wachsen: Als Jenny ihr zu verzeihen scheint, „wirkte sie schüchtern und gab sich als kleines Mädchen, das ihr kürzlich noch einen üblen Streich gespielt hatte.“ (207) Tulla will „den Schaden wiedergutmachen“ (ebd.) weil sie Jenny liebt. Die reinste Form der Humanität des Menschen gebärt den Wunsch nach Erkenntnis. 967 968 Lurker, S. 436. Lurker, S. 463. 366 Die biblische Wirkungsgeschichte des Apostel Paulus als Horizonterweiterung zu den Opferanteilen der Protagonisten Die Überwindung des Bösen (als „Anfang“) wird zur Vorbedingung für die Entwicklung hin zum Guten (als „Ende“). Entsprechend wird die Bearbeitung des Traumas zur Vorbedingung für die Gewinnung der Erkenntnis, die in die Zukunft führt: „Was Vaterland! Dorthin will unser Steuer, wo unser Kinder-Land ist! Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre große Sehnsucht!“969 Vor diesem Hintergrund erschließt sich für das Trauma Paul eine weitere Funktion als Metapher für den Apostel Paulus, der die „Heilsbotschaft“ verkündet: „(…) wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden. Denn wie die Sünde herrschte und zum Tod führte, so soll auch die Gnade herrschen und durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben führen.“970 In der Blechtrommel gibt es „keinen Paulus, der Mann hieß Saulus und war ein Saulus und erzählte als Saulus den Leuten aus Korinth etwas von ungeheuer preiswerten Würsten, die er Glaube, Hoffnung und Liebe nannte, als leicht verdaulich pries, die er heute noch in immer wechselnder Saulusgestalt an den Mann bringt.“971 Diese Schilderung ist eingebetet in die Beschreibung der Pogromnacht vom 9. November 1938, die als Ausgangspunkt des Holocaust zu verstehen ist972: „Er kommt! Er kommt! Das Christkindchen, der Heiland? Oder kam der himmlische Gasmann mit der Gasuhr unter dem Arm, die immer ticktick macht? (…) Und er ließ mit sich reden, bot einen günstigen Tarif an, drehte die frischgeputzten Gashähnchen auf und ließ ausströmen den Heiligen Geist, damit man die Taube kochen konnte.“973 Das Trauma des Zivilisationsbruches Holocaust findet sich in der Negierung des christlichen Glaubens als der Grundlage abendländischer Kultur wieder. Deutlich wird diese Negierung in der Farce auf den ersten Korintherbrief, auf den in der Blechtrommel explizit hingewiesen ist.974 Dieser Brief enthält mit dem „Hohelied auf 969 Zarathustra, S. 694. Paulinische Briefe: Röm 5, 20-21. 971 Grass, Die Blechtrommel, S. 192. 972 Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“. 973 Die Blechtrommel, S. 190. 974 Ebd. 970 367 die Liebe“ ein Kernelement der christlichen Lehre, die sich vor allem in der Bergpredigt reflektiert, die Nächstenliebe: „Also bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; am größten unter ihnen ist die Liebe.“975 Das (pathologische) Trauma des Zivilisationsbruchs scheint im Krebsgang eine neue Entwicklungsphase erreicht zu haben:„(E)s gibt keinen Paulus, der Mann hieß Saulus“, sagt Oskar in der Blechtrommel.976 Im Neuen Testament wird Saulus, als der unbarmherzige Verfolger der Anhänger Jesus, zu Paulus als dem Verkünder der christlichen „Heilslehre.“977 Indem der Autor Grass seinem Erzähler im Krebsgang den Namen Paul gibt, und ihm den Auftrag erteilen lässt, das Trauma Tullas aufzuschreiben (99), ist Saulus zu Paulus mutiert. Die Bedeutung als Metapher eines vergessenen Traumas gibt Paul sich selbst, wenn er sich als „Überlebender eines von aller Welt vergessenen Unglücks“ (41) bezeichnet. Das Trauma Paul soll als Sprachrohr für den „Alten“ fungieren, der ihn wie eine Fundsache aufgespürt hat (gleich Paulus, der auserwählt und beauftragt wird). Indem sich das Trauma nicht selbst abwickeln kann, wird der Ansatz von Pauls „Heilsbotschaft“ offenbart: würde das (selbst erlittene) Trauma der „Opfertäterin“ Tulla „geheilt“ werden, könnte die Erinnerung an den „Knochenberg“ aus der Abstraktion („`Das issen Knochenberj!´“ 100) in ein deutliches Bild überführt werden: als einzige hat Tulla „inmitten willentlich Blinder (…) eine weißlich gehäufe Masse als menschliches Gebein erkannt (…).“ (100) Mehr als vierzig Jahre liegen zwischen Blechtrommel und Krebsgang, doch scheint sich bereits in ersterer diese Erkenntnis anzukündigen, „denn die Liebe kennt keine Tageszeiten, und die Hoffnung ist ohne Ende, und der Glaube kennt keine Grenzen, nur das Wissen und das Nichtwissen sind an Zeiten und Grenzen gebunden.“978 Das Wissen und Nichtwissen um das Trauma als Inhalte der „Heilsbotschaft“ des Protagonisten Pauls lässt sich auf die kurze, bereits dargestellte Formel bringen: die Sprachlosigkeit infolge des (pathologischen) Traumas gilt es aufzubrechen, um Raum 975 Paulinische Briefe: 1 Kor 13, 13. Die Blechtrommel, S. 192. 977 Apostelgeschichte, 9. 978 Die Blechtrommel, S. 191. 976 368 für Empathie zu schaffen. Durch Empathie kann ein wahrhaftiges Gefühl von Schuld und Scham bei den Zeitzeugen und die historische Verantwortung in den nachfolgenden Generationen geschaffen werden. Im Werk des zwischen den Generationen stehenden Autors Grass kann dieser Prozess auch nach der Dauer von vierzig Jahren nicht vollständig vollzogen werden, denn das Trauma erscheint grenzenlos und somit unüberwindbar. Grass hat sich in seinen früheren Werken der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive der „Täter“ und der „Schuld“ genähert. Im Krebsgang nimmt er erstmals die Perspektive der „Opfertäter“ ein. Die Verschmelzung des „wahren“, im Sinne von einem vollständigen Vergangenheitshorizont als Opfer von Krieg, Städtebombardements, Flucht und Vertreibung einerseits und als Täter im Nationalsozialismus und Holocaust andererseits mit der Gegenwart, d.h. der Traumabearbeitung in der Dritten Generation, öffnet dennoch den Weg für eine Erweiterung, der sich in den beiden Nebenprotagonisten Jenny und Heinz Schön andeutet. 369 Jennys Vergebung gegenüber Tulla Die Erzählstränge der Novelle gelangen nicht zum Abschluß und bleiben so stets präsent. „Das hört nicht auf. Nie hört das auf“ (216), scheint die eigentliche Botschaft, das eigentliche (offene) Trauerangebot an den Rezipienten zu sein. Die düstere Zukunft, die das Ende der Narration verheißt, scheint zu anderen, als den im Krebsgang beschrittenen Wegen aufzufordern. Durch die Offenlegung der zerstörerischen Kraft der Sprachlosigkeit fordert die Novelle implizit zum Sprechen auf, um das Konstruktive zu erlangen. Indem sie zum Sprechen auffordert, bedingt sie die Konfrontation mit dem Traumatischen und Beschwiegenen. Diese Konfrontation hat das Potential mit dem Unbegriffenen zu brechen und zur Erkenntnis zu führen. Pogany-Wnendt verweist darauf, dass eine echte Auseinandersetzung mit dem Trauma und damit eine wirkliche Trauer nur im Dialog möglich ist.979 Dem Dialog kommt bei dem Versuch, das Trauma in ein Narrativ einzubinden, eine besondere Bedeutung zu: „Erst in Gegenwart eines empathischen Zuhörers können die Fragmente zu einem Narrativ zusammenwachsen und die Geschichte bezeugt werden. Durch die Erzählung wird Distanz geschaffen. Das traumatische Ereignis und Erleben wird zum Zeugnis, und damit ein Stück weit reexternalisiert.“980 Ein Dialog bedingt die Nutzung von Sprache. Die Bedeutung der Sprache in der Psychoanalyse und damit auch für die Trauer hat ursprünglich Lacan erkannt. Wie bereits oben dargelegt, sieht Lacan durch das Sprechen die entscheidende Entwicklung vollzogen: „The task Lacan assigns to the patient is the knowing, deliberate `recitation´ of his or her past, not its repetition.“981 Lacans Theorie, die sich im Begriff der „Re-kategorisierung“982 wiederfindet, veranschaulicht: die Erkenntnis bedingt das Wort. Die implizit gestellte Anforderung an den Rezipienten, die „offenen Enden“ im Dialog (durch Sprache) zusammen zu fügen, ergibt sich indirekt aus einem Gattungsmerkmal der Novelle: „Die Herkunft der Novelle aus dem Gespräch besiegelt ihre Sozialität, so dass ihre Form – rückwirkend – den normativen Bestand 979 Vgl. Pogany-Wnendt, S. 7-9. Laub zitiert in Bohleber: „Trauma“, S. 821. 981 Riccardi, S. 41. 982 Vgl. Strasser, Kettner: Abschnitt „Trauma“. 980 370 einer Gemeinschaft anzeigt bzw. konstituiert.“983 Daraus ergibt sich eine mögliche Wechselwirkung mit dem Rezipienten: „Indem das Erzählen dem Gespräch entspringt, bewahrt es selbst in seiner ausschließlichen Monologhaftigkeit Spuren der Wechselrede; d.h. die Frage nach dem produktiven Anteil des Publikums ist grundsätzlich berechtigt, und zwar unabhängig von der Konturenschärfe der jeweiligen (Erzähl-)Gesellschaftsdarstellung.“984 Als Angehörige der Minderheit der „Zigeuner“ (211) repräsentiert die Figur Jenny eine Opfergruppe des Holocaust. Im Roman Hundejahre wird sie von Studienrat Brunies adoptiert. Ihre „liebe Freundin Tulla“ (31), die in Hundejahre als „hart, starr und böse“985 bezeichnet und als „boshaft und absonderlich“986 beschrieben wird, hat Vater Brunies denunziert (211). Er wird in das KZ-Stutthof gebracht und stirbt im November 1943.987 Der Hinweis Pauls: „Bei ihr konnte man abladen. Das war sie gewohnt, vermutlich von Jugend an.“ (ebd.) kann als Jennys Erfahrung mit Diskriminierung gelesen werden, die sie in Hundejahre durch Tulla erleben musste (Tulla baut eine Art Fluch über Jenny auf und spuckt dreimal in Jennys leeren Kinderwagen988). Jenny wird Tänzerin und glänzt „gertenschlank“ auf den Bühnen Berlins.989 Im Krebsgang verliert sie bei einem alliierten Bombenangriff die Zehen beider Füße und kann ihren Beruf nicht mehr ausüben. Wie Mahlke in Katz und Maus ist Jenny in der erzählten Gegenwart der Novelle Krebsgang von den Zeugnissen ihres früheren Lebens umringt: Ballettfigürchen aus Porzellan, Fotos als Ballerina. Niemals verändert sich ihre Umgebung, was als Anzeichen für ihr inneres (traumabedingtes) Erstarren gewertet werden kann. Allerdings anders als bei Mahlke, der schließlich untergeht, scheinen bei Jenny die äußeren Zeichen für eine innere Erstarrung zu täuschen. 983 Aust, Novelle, S. 3. Ebd. 985 Bernhardt, S. 40. 986 Ebd. 987 Ebd., S. 76. 988 Ebd., S. 40. 989 Ebd., S. 76. 984 371 Metaphorisch mag es an der Vogelperspektive liegen, die ihr die Einsamkeit ihrer Dachwohnung gewährt, in der sie auf engstem Raum mit den Zeugnissen ihrer Verluste täglich konfrontiert ist: Jenny scheint den Verlust des Vaters (metaphorisch auch Vaterland und Heimat) und den ihrer Profession (metaphorisch auch Identität) betrauert zu haben. Bereits in den 1960er Jahren ist Jenny bereit, das Trauma Paul – im übertragenen Sinne - bei ihr zur Untermiete zuzulassen. Diese Geste deutet auf die Gemeinsamkeit zwischen Jenny und Tulla: beide haben infolge feindlicher Angriffe schwere körperliche bzw. seelische Schäden erlitten. Jennys Einsamkeit – nur von Paul und Tulla wird sie besucht – deuten zunächst an, dass sie als Einzige zu vergeben vermag. Explizit betont das Trauma Paul, dass er bei den Zusammenkünften zwischen Jenny und Tulla nach dem Mauerfall Zeuge war (207), wie es eine Versöhnung zwischen beiden gab: „Tante Jenny hingegen schien alles, was vor vielen Jahren an Schlimmem geschehen war, verziehen zu haben. Ich sah, wie sie Mutter im Vorbeihumpeln gestreichelt hat. Dabei lispelte sie: `Ist ja gut, Tulla, ist ja gut.´ Dann schwiegen beide.“ (ebd.) Die Anstrengung und der Schmerz, der diese Vergebung mit sich bringt, zeigt sich in der Überwindung, immer wieder heiße Zitrone zu trinken, die jedoch bewirkt, die ständig frierende Jenny vor Erkältung zu schützen als Metapher vor seelischer Erstarrung. Diese idyllisch anmutende Szene der Vergebung könnte der Schlusspunkt einer Schreckensphase und ein Neuanfang zugleich sein. Jenny weiß, wie sehr sich Menschen ändern können: „Tulla hat an sich selber erfahren, wie gründlich ein Mensch sich wandeln kann.“ (211) Doch erscheint die Idylle wie ein potemkinsches Dorf. Das Opfer Jenny ist alleine. Im Kosmos der Novelle sind Tulla und Paul ihre einzigen Besucher. Es scheint ihr keine andere Wahl zu bleiben, als sich mit dem Vorhandenen zu arrangieren. Tulla hingegen erscheint durch die Vergebung entlastet. Sie fühlt sich Jenny genauso nah wie ihrem ertrunkenen Bruder, um den sie als Mädchen eine Woche in einer Hundehütte getrauert hat. (207) Nach der Vergebung schrumpft die Gustloff für sie zu 372 einem Modell. Bei einem ihrer Besuche bei Jenny kauft sie einen Modellbausatz der Gustloff: „Nichts Militärisches hat sie ausgewählt; dem Passagierschiff Wilhelm Gustloff galt ihre Vorliebe.“ (208) Doch rächt sich diese behagliche Entlastung. Zwar zerstört Konny am Ende den Ort der Traumatisierung Tullas, nachdem er ihn in naturgetreuer Miniaturform gesehen hat, aber der Keim für die nächste Katastrophe ist gelegt: Anstatt eines „passenden Schlusswortes“ (216) findet sich die unheilverkündende Website „www.kammeradschaft-konrad-pokriefke.de“ (ebd.). Offen bleibt in dieser Schluss-Szene zwischen Jenny und Tulla, wieso das Verzeihen des Opfers gegenüber dem Täter nicht überzeugt. Die Vergebung Jennys hätte als eine Harmonisierung der Narration am Ende einen Neubeginn bewirken können. Grass bleibt jedoch seiner Richtung treu und endet mit dem Hinweis, niemals höre das auf. Dem Scheitern kommt in Grass´ Werk eine besondere Bedeutung zu. Seine Romane leben von der Erfahrung fundamentaler Negativität oder Schuld, die nicht in einer harmonischen Form aufgehoben werden (können), weshalb als Prämisse für sein Gelingen gleichfalls ein `Scheitern´ angenommen werden muss. (…) Dem Glücksversprechen, das jedem ästhetischen Gelingen beigegeben ist, haftet ein negatives Moment an, das unaufhebbar ist. In dieser Weise mag das Werk dem Leser gegenübertreten: Vergangenheitsbewältigung, wie sie mit dem Anspruch des Gelingens versucht wird, verweist auf die Vorstellung einer negativen Identität, wie sie im Anschluss an Adorno – mit dem Hinweis auf das `unwahre Ganze´ - beschrieben werden kann. Wie das Werk durch sein Gelingen die Möglichkeit einer kulturellen Identität nach Auschwitz verspricht, so besteht es auf deren Negativität. Ohne das Offenhalten der Geschichtserfahrung von Auschwitz – als ` bewältigte´ wäre sie abgeschlossen, und `Trost und Katharsis´ träten an die Stelle der immer noch offenen Wunde – kann Identität positiv nicht gesetzt werden.990 Vor dem Hintergrund Lacans „Reformulierung“ zeichnet sich jedoch eine Weiterführung ab: Gerade das Scheitern im Versuch, die eigene Geschichte zu ordnen, könnte nämlich für das Publikum interessant sein, da im Scheitern die Dringlichkeit der 990 Klaus von Schilling, Schuldmotoren. Ästhetisches Erzählen in Günter Grass´ Danziger Trilogie´, Bielefeld, 2002, S. 80f. 373 für jeden Menschen anstehenden Aufgabe besonders deutlich aufscheint – und so vom Extrem des Scheiterns her gesehen auch den weniger stark Belasteten bei der Verfassung der eigenen Lebensgeschichte hilfreich sein kann.991 Aus dieser Sichtweise wird das Scheitern zum Beginn eines Prozesses, nicht zu dessen Endpunkt. Tulla und Jenny reden während ihrer Zusammenkünfte über ihre gemeinsame Kindheit. Damit ist der Raum für einen Dialog gegeben, der unabdingbar ist für echte Vergebung: „Forgiveness is not achieved unilaterally: it is the result of a dialogue, which may be tacit, but which involves reciprocal communication of an extended and delicate kind.“992 Trotz dieses Dialogs als einer Voraussetzung für die Annahme von Schuld einerseits und die Vergebung andererseits, bleibt das Bild der Vergebungszene zwischen Tulla und Jenny unstimmig. „The one who forgives goes out to the one who has injured him (…).“993 Die Unstimmigkeit zeigt sich somit in dem Zugehen Tullas auf Jenny. Es scheint als suche Tulla Entlastung für ihre Sünden bei Jenny. Problematisch ist dabei, dass sie sich die Schuld gegenüber Jenny nicht einzugestehen vermag, sondern diese vielmehr durch Gesten vor sich selbst als Streich abtut (207): (T)his gesture (forgiveness) involves a changed state of mind, a reorientation towards the other, and a setting aside of resentment. Such an existential transformation is not always or easily attained, and can only be achieved, (…) through an effort of cooperation and sympathy, in which each person strives to set his own interests aside and look on the other from the posture of the `impartial spectator´.994 Die Vergebung scheitert somit an Tulla: You don´t succeed in forgiving when you have shown no recognition of the fault, and you don´t recognize a fault if you regard it with indifference, and without the natural resentment with which one moral being receives the injuries inflicted by another. The one who forgives changes his whole posture towards the one who had injured him, and cannot do this without the other´s cooperation. 991 Fricke, Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie, Göttingen, 2004, S. 247. Roger Scruton, `Sorry´, Rezension: Charles Griswold, Forgiveness, “Times Literary Supplement”, 14.12.2007, S. 3. 993 Ebd. 994 Ebd. 992 374 Resentment must be felt; but resentment is a moral emotion, founded in judgement and can, in the course of rational dialogue be `set aside´.995 Diese Diagnose findet sich in der psychologischen Analyse des Verhältnisses zwischen Täter und Opfer wieder: Täter, die nicht bereit waren, sich der Wahrheit und der eigenen Schuld zu stellen, gerieten in eine seelische Abhängigkeit vom Opfer. Sie versuchten die eigene Selbstachtung, die sie durch ihre Taten verraten hatten, dadurch wieder zu erlangen, dass sie die Pose der `Freundlichkeit´ gegenüber den Opfern einnahmen, ohne wirkliche Einsicht in die eigene Schuld gewonnen zu haben. Sie erwarteten von ihnen `Schuldentlastung´ durch Vergebung und Versöhnung. Diese Erwartung traf auf den Wunsch des Opfers, vom Täter `geliebt´ und endlich `als Mensch´ gesehen und anerkannt zu werden, seinerseits in der Hoffnung, die `verlorene´ (…) Würde und Selbstachtung zurück zu bekommen. Opfer und Täter wünschten sich jeweils `Erlösung´ durch den Anderen und gerieten nach Ende des Terrors in eine emotionale Abhängigkeit voneinander. Diese Abhängigkeit ist ein primär innerseelischer, meist unbewusster Prozeß, der sich in den inneren Repräsentanzen der Betroffenen abspielt.996 Aus diesen inneren Repräsentanzen des Wunsches nach Schuldentlastung (Täter) und nach Anerkennung (Opfer) kann sich im Resultat Hass entwickeln: Sowohl der Wunsch des Täters nach Schuldentlastung durch das Opfer, wie auch dessen Wunsch, vom Täter Anerkennung zu finden, führen zur Abspaltung einer destruktiven, vom Hass getragenen Seite: Das Opfer muss den Hass auf den Verfolger, für das was er ihm angetan hat, sowie die Rachegefühle abspalten, will er von ihm anerkannt werden.997 Die Unauflösbarkeit der Schuldverstrickung zwischen Opfer Jenny und Täter(opfer) Tulla offenbart sich in der Unmöglichkeit der Absichten Tullas: „Nun wollte sie den Schaden wiedergutmachen. Tante Jenny hingegen schien alles, was vor vielen Jahren an Schlimmem geschehen war, verziehen zu haben.“ (207) Tulla kann die Schuld am Tod von Jennys Vater nicht „wiedergutmachen“; die Versöhnungsgeste ist aus der Perspektive Tullas geschildert. Das Trauma Paul gibt die Versöhnungszene aus seiner Sicht wieder: „Tante Jenny schien alles (…) verziehen zu haben.“ (207) Hierin wird impliziert: es gibt keine Versöhnung, lediglich scheint es eine Versöhnung zu geben. 995 Ebd. Pogany-Wnendt, S. 18. 997 Ebd. 996 375 Das Scheinbare der Versöhnung geht auf die Unmöglichkeit der Schuldanerkennung von Seiten Tullas zurück998: (D)er Täter, der keine Einsicht in seine Schuld gewonnen hat, behält seinerseits die ursprüngliche feindselige Einstellung (…) auf das Opfer bei, muss sie aber leugnen, will er von seiner Schuld entlastet werden. Gegenseitiger Hass und Verachtung bleiben, häufig hinter dem Deckmantel von Vergebung und Versöhnung (…) verborgen. (…) Weder kann das Opfer den Täter von seiner Schuld entlasten, noch kann der Täter dem Opfer seine Würde wiedergeben. Würde und Selbstachtung sind völlig autonome, dem Menschen aufgrund seines Menschseins innewohnende Werte.999 Der Figur Tulla bleibt eine „reorientation towards the other“1000 unmöglich, da sie nicht in der Lage ist, ihre „own interests asides“1001 zu setzen. Mittelpunkt ist und bleibt für sie ihr Trauma, das sie nicht bearbeiten kann. Das Scheitern als vermeintlicher Endpunkt wird zum Anfangspunkt durch den etwa gleichaltrigen Protagonisten Heinz Schön. Er hat das gleiche Schicksal auf der Gustloff erlitten wie Tulla. Im Gegensatz zu Tulla hat er als Opfer tatsächlich einen Prozess durchlaufen und sein Trauma mithin überwunden. Vgl. „Tulla will keine Verbindung zu ihrer Mitschuld“. Ebd. 1000 Scruton. 1001 Ebd. 998 999 376 Die vergebende „Bewegung“ des Heinz Schön Die Erkenntnis aus dem Verstehen heraus, sprich die „Horizonterweiterung“, bedarf nach Gadamer der „Bewegung“: Wie der Einzelne nie ein Einzelner ist, weil er sich immer schon mit anderen versteht, so ist auch der geschlossene Horizont, der eine Kultur einschließen soll, eine Abstraktion. Es macht die geschichtliche Bewegtheit des menschlichen Daseins aus, dass es keine schlechthinnige Standortgebundenheit besitzt und daher auch niemals einen wahrhaft geschlossenen Horizont. Der Horizont ist vielmehr etwas, in das wir hineinwandern und das mit uns mitwandert. Dem Beweglichen verschieben sich die Horizonte. So ist auch der Vergangenheitshorizont, aus dem alles menschliche Leben lebt und der in der Weise der Überlieferung da ist, immer schon in Bewegung.1002 In der Theorie Gadamers wird diese Bewegung durch ein Spannungsverhältnis zwischen der Gegenwart und der (historischen) „Überlieferung“ ausgelöst: „Jede Begegnung mit der Überlieferung, die mit historischem Bewusstsein vollzogen wird, erfährt an sich das Spannungsverhältnis zwischen Text und Gegenwart. Die hermeneutische Aufgabe besteht darin, diese Spannung nicht in naiver Angleichung zuzudecken, sondern bewusst zu entfalten.“1003 Dabei ist das historische Bewusstsein nicht in sich „verfestigt“ (Gadamer), sondern ist lediglich als ein „Phasenmoment im Vollzug des Verstehens“1004 zu werten, der von „dem eigenen Verstehenshorizont der Gegenwart eingeholt“1005 wird: „Im Vollzug des Verstehens geschieht eine wirkliche Horizontverschmelzung, die mit dem Entwurf des historischen Horizontes zugleich dessen Aufhebung vollbringt. Wir bezeichnen den kontrollierten Vollzug solcher Verschmelzung als die Wachheit des wirkungsgeschichtlichen Bewussteins.“1006 Tullas Trauma, personifiziert durch Paul, bleibt im Endresultat mit sich selbst allein. Es wird nicht von der Gemeinschaft der Überlebenden in Damp angenommen. Der Moment der Besinnung im Gedenkgottesdienst veranlasst „es“, am „nachtdunklen Strand (…) auf und ab“ (98) zu laufen und also ohne Ziel vor und zurück zu gehen. 1002 Gadamer, S. 309. Ebd. 1004 Ebd. 1005 Ebd. 1006 Ebd., S. 312. 1003 377 Eine Aussicht auf Besserung dieser Situation ist nicht in Sicht: „es“ ist „gedankenleer“ (ebd.), hat keine inneren Anknüpfungspunkte und auch die „Ostsee“ als Metapher für die Schmelztiegel der individuellen Erinnerungen zur gemeinsamen Geschichte1007 schlägt „nur matt und nichtssagend an“ (ebd.), sodass auch aus dieser (historischen) Ebene der Erinnerungen keine Impulse zu erwarten sind. Im „nachtdunklen“ Himmel ist der Horizont nicht zu erkennen, sodass es keine Erweiterung dorthin geben kann. Der ehemalige Zahlmeisterassistent auf der Gustloff, Heinz Schön, versucht auf andere Weise als die anderen Überlebenden und als Tulla sich dem Trauma des Untergangs zu nähern. Im Krebsgang hält er einen Vortrag zum Thema: „Die Versenkung der Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 aus der Sicht der Russen.“ (96f) Diese Annäherung an das Thema aus der umgekehrten Perspektive bringt ihm den Verlust von Freundschaften in den Reihen der Überlebenden: man schneidet Heinz Schön nach dem Vortrag. Eine offenkundige Tatsache bleibt den Überlebenden verborgen, denn sie sind im Trauma gefangen: „Für sie hatte der Krieg nie aufgehört. Für sie war der Russe der Iwan, die drei Torpedos Mordwaffen.“ (97) Solange das Trauma durch Überlebende und zeitliche Nähe omnipräsent ist, erscheint eine „Horizonterweiterung“ unmöglich. Das Trauma verstellt den Blick auf die „historische Überlieferung“. Im Krebsgang führt diese Blockade in ein schreckliches Ende. Wie bereits erwähnt, ist Tulla überzeugt, dass die Mordtat Konnys an David nur passieren konnte, „weil man jahrzehntelang `ieber die Justloff nicht reden jedurft hat. Bai ons im Osten sowieso nich. Ond bai dir im Westen ham se, wenn ieberhaupt von frieher, denn immerzu nur von andre schlimme Sachen, von Auschwitz und so was jeredet.“ (50) Heinz Schön scheint den richtigen Weg zu beschreiten, denn das Foto der händeschüttelnden Männer Heinz Schön und des früheren Bootsmanns der S13, mit dem Schön eine „freundschaftliche Verbindung“ (ebd.) pflegt, spricht von Versöhnung. Sein Vortrag zeigt den Weg auf, der zu dieser Versöhnung führt: die 1007 Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“. 378 Erkenntnis durch den Perspektivwechsel - die „Bewegung“ (Gadamer) - auf die Historie der „Gegenseite“. Heinz Schön setzt sich seit seinem Erlebnis auf der Gustloff im Alter von achtzehn Jahren mit dem Untergang auseinander - Paul bezeichnet ihn als „Gustloff-Forscher (97). Anders als Tulla und die anderen Überlebenden hat Schön seine Verdrängung aufgebrochen: Die Ich-Psychologie hat (…) in der Aufhebung der Verdrängung und der genetischen Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Vergangenheit die Voraussetzung erkannt, um Erinnerungsverzerrungen durch unbewusste Phantasien deuten zu können. (…) Geschichte muss erzählt werden (…). Die Narrativität des Menschen ist das Mittel, durch das die menschliche Zeitlichkeit zur Sprache gebracht wird. Erzählungen haben einen Referenzpunkt, auf den sie sich beziehen und von dem sie erzählen, d.h. sie verweisen auf etwas außerhalb ihrer selbst. Aber (…) (wir kommen) nie in Kontakt mit der Realität, sondern immer nur mit deren Beschreibung durch den Patienten, d.h. wir verbleiben stets im Feld der Subjektivität und der Bedeutung. Wahrheit ist deshalb nicht wie etwas Verborgenes zu entdecken, sondern sie ist stets in ein Narrativ eingebunden, das erst wahr wird, wenn es für den Patienten plausibel und vertraut wird und unverbunden gebliebene narrative Lebensfragmente dadurch eine kohärentere Bedeutung erlangen.1008 Schön hat diese Plausibilität für sich gefunden: durch seine intensive Konfrontation mit der Katastrophe hat er es vermocht, das Trauma so weit zu überwinden, dass er auf die andere Seite zugehen konnte, dort hat er eine Erkenntnis gewonnen, die ihm das Händereichen mit dem Bootsmann der S13 ermöglicht: „Für Wladimir Kourotschkin jedoch ist das aus seiner Sicht namenlos sinkende Schiff vollbeladen mit Nazis gewesen, die sein Heimatland überfallen und beim Rückzug nur verbrannte Erde hinterlassen hatten.“(97) Das Verhältnis zwischen dem „Zahlenmeisterassistent auf der Gustloff“ (96), Heinz Schön und dem Bootsmann der S13, Wladimir Kourotschkin (97) ist das zwischen Opfer und Täter. Der Unterschied zu Tulla und dem „Russki“ (11) Marinesko besteht in der „freundschaftlichen Verbindung“ (97) zwischen beiden. Wie ist es dazu 1008 Bohleber, „Vergangenes“, S. 5. 379 gekommen, obwohl Schön die gleichen traumatischen Erfahrungen wie die gleichaltrige Tulla machen musste? Das Foto der beiden – miteinander versöhnte Täter und Opfer – gibt Zeugnis davon, dass keine Versöhnung ohne beidseitige Annäherung und keine Annäherung ohne Perspektivwechsel („Bewegung“) möglich ist. Wie bereits aufgeführt, gehört es zu den Merkmalen der Opfer von Gewalttaten sich mit dem Täter zu identifizieren, sich zu dessen Komplizen machen.1009 Auch für Heinz Schön als Opfer kann dieser Reflex vorausgesetzt werden. Wie Pogany-Wnendt beschrieben hat, kann sich das Opfer nur durch einen autonomen Akt aus eigener Kraft aus dieser Komplizenschaft mit seinem Täter befreien.1010 Dazu werde die Aufgabe der Identifikation mit dem Peiniger und damit der Verzicht auf die Verheißung vom Täter „geliebt“ zu werden, notwendig. Damit aber wird das Opfer auf sich selbst zurückgeworfen. Es wird erneut mit dem Terror, mit der unliebsamen Trauer und mit seinem Schmerz konfrontiert, ebenso wie mit seinem Hass. Die notwendig werdende Trauerarbeit lässt die Erinnerung an die Schrecken der Verfolgung erneut lebendig werden. Nur dann kann der Überlebende Verantwortung für sein – wenn auch nicht selbst verschuldetes – Schicksal und für das Leid, das ihm zugefügt wurde, übernehmen. Er definiert sich nicht mehr als Opfer und kann sich `vom seelischen Tod, vom Haß´ retten. Dadurch gewinnt er seine Selbstachtung wieder.1011 Am Ende des Trennungsprozesses zwischen Täter und Opfer hin zum „freundschaftlichen Verhältnis“ steht für den Protagonisten Schön die Trennung zwischen sich als autonomer Person und als abhängiges Opfer. Heinz Schön hat sich mit dem „Schrecken“ konfrontiert. Als „Chronist() der Gustloff“ (71), hat er „beinahe alles gesammelt und erforscht (…), was nach dem Unglück ausfindig zu machen war“. (96) Schöns Konfrontation mit seinem Trauma und sein Werdegang – er war erst „achtzehn, als das Schiff sank“ (96) - ist gleich dem Pauls „auf das Unglücksschiff fixiert“ (61) Anders als Pauls endet Schöns Vgl. „Tullas Hausaltar“. Vgl. Pogany-Wnendt, S. 19. 1011 Ebd. 1009 1010 380 Auseinandersetzung jedoch nicht bei einer zurückgezogenen Recherche in Büchern, Zeitschriften und dem Internet. Vielmehr begibt er sich direkt zu dem Täter, dem Bootsmann des U-Bootes S 13, „der die drei Torpedos auf den Weg gebracht hatte“ (97). Schön erkennt durch die Auseinandersetzung und die Annäherung die Motive des Täters, für den das „namenlose Schiff vollbeladen mit Nazis gewesen (war), die sein Heimatland überfallen“ (97) hatten, was in seinem Vortrag mündet. Grass lässt seinen Protagonisten Heinz Schön erkennen, dass die Perspektive des Täters im Moment der Tat auf eine andere gerichtet war als auf die Realität: „Erst durch Heinz Schön erfuhr er (Kourotschkin), dass nach der Torpedierung mehr als viertausend Kinder ertrunken, erfroren sind oder mit dem Schiff in die Tiefe gerissen wurden.“ (97) Für viele Überlebende gilt Schön bei dem Treffen in Damp „als Russenfreund“ (97). Während jener jedoch seinem Täter vergeben hat, hört für die anderen „der Krieg nie“ (97) auf. Die Prozesse des Durcharbeitens und der Konfrontation auf Seiten des Täters sind ähnlich schmerzhaft. Pogany-Wnendt verweist auf einen wichtigen Aspekt nach dem Zerfall der selbstgebauten Subjektivität des Täters1012: „Der Täter hat durch die Unmenschlichkeit seiner Taten die eigene Würde verraten und die Selbstachtung verloren.“1013 Um die eigene Würde wiederherzustellen, müsse der Täter die Schuld bekennen und sich mit seinem Inneren konfrontieren. Auf die Nachricht über die tatsächlichen Passagiere auf der Gustloff reagiert Kourotschkin mit Alpträumen (97): Allein „mit der Schuld, mit dem Schrecken über die eigene Unmenschlichkeit, mit dem Schmerz über das Leid, das er über andere gebracht hat, mit der Trauer über den Verlust der Selbstachtung und mit der Angst vor der Rache und der Verurteilung“1014 sind die Voraussetzungen gegeben, um Reue, Mitgefühl und die Bereitschaft zur Wiedergutmachung zu entwickeln. Täter und Opfer müssen sich dem schmerzhaften Prozess der Trauer unterwerfen, um sich voneinander lösen zu können: „Unter diesen Umständen würden Opfer und Täter Vgl. Giessen, Abschnitt „Trauma“. Pogany-Wnendt, S. 19. 1014 Ebd. 1012 1013 381 jeweils aus eigener Kraft die Autonomie wiedererlangen. Versöhnung und Dialog könnten möglich werden, das Trauma hätte sein destruktives Potential verloren.“1015 Heinz Schön und Kourotschkin werden in keiner weiteren Sequenz der Novelle erwähnt. Ihre Verabschiedung aus dem Ensemble der traumatisierten Protagonisten mit einem Bild, in dem sich beide die Hände reichen (97) indiziert, dass sich der Zahlmeisterassistent und der Bootsmann für den Prozess der Trauer entschieden haben. Wie anhand Gadamers veranschaulicht, steht hinter dieser „Verschmelzung“ nicht die Unterdrückung der eigenen Subjektivität, sondern ihre Erweiterung. Am Ende des schmerzhaften Trauerprozesses, des Durcharbeitens des Traumas und des Schreckens über „die eigene Unmenschlichkeit“, erfolgt diese „Erweiterung“ im Sinne Gadamers auch auf psychologischer Ebene: Wie viele Berichte von Traumaopfern bestätigen, kann es gelingen, auch schwerste Traumatisierungen zu bewältigen und das Geschehene in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren. Manchmal wird beschrieben, dass es so ist, als ob ein innerer Frieden geschlossen werden konnte mit dem, was passiert ist. Erfahrungsgemäß ist es ein langer Prozess, bis jemand an den Punkt gelangt, dass die Traumatisierung nicht mehr weiter schmerzt und quält. Was es so schwer macht, ist der notwendige Verzicht auf gerechte Wiedergutmachung und darauf, `offene Rechnungen´ zu begleichen. Nicht selten sind die Täter auch nicht bekannt, nicht erreichbar oder schon verstorben. Es handelt sich also um einen innerlichen Prozess der Verabschiedung von Wünschen und Ansprüchen, letztlich um einen Verzicht auf etwas gerechterweise dem Opfer Zustehendes.1016 Der gewonnene „innere Frieden“ führt nach dem Sturz aus der Ordnung in das Chaos wieder zurück in die Ordnung, aber eine gereiftere Ordnung. Schwere Traumatisierungen stellen die eigene Welt in Frage. Zunehmend wird in der traumatologischen Forschung das Augenmerk auf das konstruktive Element aus diesem Zusammenbruch gerichtet: Nichts ist mehr so, wie es vorher war. Dass es auch zu positiven Veränderungen nach Traumatisierungen kommen kann, ist wenig bekannt und wird wohl auch häufig übersehen. Menschen, denen es gelungen ist, eine Traumatisierung zu bewältigen, berichten nicht selten, dass sie durch diese Erfahrung an 1015 1016 Ebd. Sack in Lamprecht, S. 105f. 382 persönlicher Reife gewonnen haben. Traumatisierungen führen zu Konfrontation und Auseinandersetzung mit existenziellen Problemen und Sinnfragen. Durch Traumatisierungen kommt es zu einer Revision der persönlichen Lebensphilosophie, von Prioritäten und Zielsetzungen. Diese als posttraumatische Reifungserfahrung bezeichneten positiven Entwicklungen werden inzwischen auch systematisch erforscht: Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen, Besinnung auf das Wesentliche im Leben, Verbesserung der Fähigkeiten, mit Alltagsproblemen umzugehen, Sinnfindung und spirituelles Wachstum, tiefere Wahrnehmung der Natur und Umwelt (zählen dazu).1017 Diese Art des Durcharbeitens erfordert ein Maß an seelischer Kraft, über die Tulla, die „femme fatal Langfuhrs“1018, zu verfügen scheint. Die bruchstückhaften Erzählungen ihres traumatischen Erlebnisses reflektieren in Ansätzen ein konstruktives Weltverständnis. Streckenweise scheint Tulla selbst das Konstruktive in der Wiedergabe ihres Traumas zu suchen: „Mutter sagte mir, dass sich bei immer stärkerer Schlagseite eines der 3-cm-Flakgeschütze vom Achterdeck aus den Halterungen gelöst habe, über Bord gestürzt sei und ein schon abgefiertes Rettungsboot, das voll besetzt war, zerschmettert habe. `Das ist glaich neben ons passiert. Son Glick ham wiä jehabt…´.“ (138f) Es scheint als erahne sie das konstruktive Potential der Traumabearbeitung: Trotz der Erfahrung hat sie überlebt. Entsprechend stellt Tulla das äußere Zeichen der Katastrophe, die weißen Haare „…wie eine Trophäe zur Schau.“ (140) Allerdings bleibt Tulla die Möglichkeit des Durcharbeitens verwehrt. Niemand in ihrem Umfeld will davon etwas wissen. Sie zieht sich vor dem eigenen Trauma in ihren Alltag zurück, in dem sie berufliche Erfolge erzielt. Die prägnante Stellung des Flüchtlings Tulla in ihrer neuen Heimat nach dem Trauma ist die der „Überlebenden“ (55): „Sie werden zu Überlebenden im Exil, so wie sie während ihrer Verfolgung Überlebende waren.“1019 Dieser Tatbestand bringt mit sich, dass viele trotz „ungünstiger Umstände, geringer Mittel und mächtiger psychischer Barrieren“1020 ihr Leben in einer neuen Heimat meistern. Dabei ist jedoch die Wahrnehmung und Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse – im Krebsgang 1017 Ebd. Vgl. Pasche, S. 49. 1019 Varrin in Bohleber, „Trauma“, S. 896. 1020 Ebd. 1018 383 symbolisiert durch die Erfahrung auf der Gustloff - öffentlich außer Acht geblieben. „Die Gustloff und ihre verfluchte Geschichte waren jahrzehntelang tabu, gesamtdeutsch sozusagen.“ (31) Hierin kündigt sich nicht der Tabubruch als solches an. Vielmehr indiziert die Vergangenheitsform ein für die Zeitzeugen vorhandenes Tabu. Dieses erweist sich als Blockade bei der Traumabearbeitung der deutschen Opfertäter von Krieg, Städtebombardements, Flucht und Vertreibung sowie von Nationalsozialismus und Holocaust als Weg zur Erkenntnis (Horizonterweiterung) in der Zeitzeugengeneration bzw. der Übernahme der historischen Verantwortung in der Dritten Generation. 384 Gewalt als Auslöser des Traumas – eine Schlussbetrachtung 385 …ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er seinen bösen Weg verlässt und umkehrt und am Leben bleibt. Ezechiel: 33,11 Auf vielerlei Weg und Weise kam ich zu meiner Wahrheit: nicht auf einer Leiter stieg ich zur Höhe, wo mein Auge in meine Ferne schweift. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 386 Bereits in dem 1986 erschienenen Roman Die Rättin deutet sich an, dass das Schicksal der Wilhelm Gustloff und die damit verbundene Thematik Grass beschäftigen. Dort lässt er Oskar Matzerath vermuten, Tulla sei im Januar 1945 mit der Gustloff untergegangen.1021 Mehr als fünfzehn Jahre später sind Grass´ Figuren im Krebsgang in diesem Erlebnis gefangen, indem sie dessen traumatische Erfahrung nicht durchzuarbeiten vermögen. Über die (unbewusste) transgenerationelle Weitergabe überträgt sich das Trauma auf die Enkelgeneration, in der es schließlich zur Katastrophe führt. Im Krebsgang erweisen sich die unverarbeiteten Erfahrungen von Gewalt (als Opfer) und Gegengewalt (als Täter) in den Hauptprotagonisten Tulla, Paul und Konny und den Nebenfiguren Gustloff, Frankfurter und Marinesko als eine Kette aneinander gereihter Glieder, die in eine sich selbst perpetuierende Destruktion führt. Der unheilvolle Schlusssatz, wonach es niemals aufhöre (216), erhebt im Umkehrschluss die Frage, ob und wie die Unendlichkeit der Destruktion im Lebenslauf der Opfertäter zu durchbrechen ist. Entsprechend dem Bild der Kette bilden Anfangs- und Endpunkt der Novelle Krebsgang zwei Katastrophen, wobei die erstere die letztere bedingt. Der Erzähler beginnt seine Geschichte über den Untergang der Gustloff mit dem 1895 geborenen Wilhelm Gustloff. Diese Eröffnung richtet den Blick zurück auf jene Generation, die während des Ersten Weltkriegs aufwächst. Spätestens die Verbindung zu Hans Castrop macht das Datum 1914 zum Ausgangspunkt der Erzählung. Vor diesem Zeithorizont wird aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, der 1945 endet, eine Art „Dreißigjähriger Krieg“, der seine Essenz in der Erfahrung von Gewalt und Gegengewalt durch moderne Waffen hat. Die Fokussierung auf den Aspekt von Gewalt und Gegengewalt – und das daraus entstehende Trauma - wird durch die Verknüpfung hin zu der Erfahrung einer neuartigen Gewaltdimension während des Dreißigjährigen Kriegs zwischen 1618 und 1648 untermauert: „Ich wollte die Kinder lehren, dass jede Geschichte, die heute in Deutschland handelt, schon vor Jahrhunderten begonnen hat“.1022 1021 1022 Grass, Die Rättin, S. 83. Grass, `Wie sagen wir es unseren Kindern´, S. 164. 387 Der britische Historiker Christopher Clark beschreibt die Wirkung der Gewalterfahrung im europäischen Macht- und Glaubenskrieg des 17. Jahrhunderts als nachhaltig: Gräueltaten waren das charakteristische Kennzeichen dieses Krieges. Sie drücken etwas aus, das sich tief in das Gedächtnis der Bevölkerung eingrub: die Aufhebung jeglicher Ordnung, die Erfahrung, dass Männer, Frauen und Kinder der Gewalt schutzlos ausgeliefert waren, einer Gewalt, die völlig uneingeschränkt und unkontrolliert wütete.1023 Die Erzählungen über extreme Gewalt und Grausamkeit der Soldaten gegenüber Zivilisten im Dreißigjährigen Krieg, aus denen sich ein eigenständiges literarisches Genre entwickelte, waren von solcher Eindringlichkeit, dass Historiker versucht waren, sie als überzogenen Mythos des alles zerstörenden Wütens anzutun. „Der sensationslüsterne Charakter vieler dieser Gräuelberichte sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie zumindest indirekt auf den tatsächlichen Erfahrungen von Menschen beruhen.“1024 Das wichtigste Werk dieses Genres ist der 1668 erschienene, autobiographisch gefärbte Roman Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (nachfolgend Simplicissimus). Dieser Schelmenroman, als „erzählerische Darstellung einer Lebensgeschichte“1025 über Simplicissimus, den sein Weg durch die Wirren jenes Krieges nach einem Schiffsuntergang auf eine einsame Insel führt, findet in der Novelle Krebsgang Parallelen. Gleich Simplicissimus ist Tulla „unfreiwillig, vagabundierende Außenseiterin aus niedrigem Milieu“1026, die „mit moralisch nicht unbedenklichen (Agieren), (…) aber auch mit Zähigkeit (…) in einer feindlichen Welt abenteuerliche Gefahren überlebt.“1027 Tulla, die Dinge oft zur falschen Zeit am falschen Ort sagt („`So ist Tulla schon immer gewesen. Sie sagt, was andere ungern hören wollen. Dabei übertreibt sie manchmal ein wenig´“, S. 40) erinnert 1023 Christopher Clark, Preußen, München, 2007, S. 54. Ebd. 1025 Jan-Dirk Müller, `Schelmenroman´, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Klaus Weimar, (Hg.), Bd. 3, Berlin, 2003, S. 371. 1026 Ebd. 1027 Ebd. 1024 388 an den närrischen Pagen Simplicissimus am Hanauer Hof, der die Anstandsregeln nicht kennt, allen naiven Glauben schenkt und so die wahren Götter der Weltmenschen entlarvt.1028 Aus dem „schockartigen Initiationserlebnis“ als „(t)ypischer Bestandteil“ des Schelmenromans, „das dem Protagonisten die moralische Fragwürdigkeit und die Bosheit seiner Mitmenschen vor Augen führt und das dadurch zum Ausgangspunkt der pikaresken Laufbahn wird“1029, geht der Ich-Erzähler hervor, das Trauma Paul, das untrennbar mit Tulla verbunden ist, was sich in der Mutter-Sohn-Metapher versinnbildlicht. In Hundejahre verbringt Tulla nach dem Tod ihres Bruders sprachlos eine Woche in der Hütte des Hundes Harras, aus dessen Fressnapf sie isst. Der Schock um den Verlust des behinderten Bruders im nationalsozialistischen System lässt sie selber Züge eines Hundes annehmen. Die Bezüge im Krebsgang zum Roman Hundejahre legen ein Grundmotiv nahe, das sich bereits bei dem englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679) und bei Grimmelshausen findet. Durch die historische Zuordnung des Romans in der Zeit von 1926 und 1962, insbesondere jedoch 1933 bis 1945, steht der Titel Hundejahre für „keine Menschenjahre“1030, für eine unmenschliche Zeit. Der Schäferhund als ein vom Menschen gezüchteter Nachfahre des Wolfes erlangt durch Thomas Hobbes eine universelle Bedeutung: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“1031 Gleiches spiegelt sich in Grimmelshausens Simplicissimus, der inmitten der Wirren des Dreißigjährigen Krieges lebt. Er ist ein einfältiger Naturbursche, dessen Seele noch unbeschrieben ist. Als er das Vieh auf der Weide vor den Wölfen beschützen soll, weiß er nicht was ein Wolf ist. Für die wahren Wölfe hält er schließlich die entmenschlichten Soldaten, die den Hof seines Vaters zerstören, die Menschen berauben, foltern, töten und vergewaltigen.1032 Vgl. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“, Berlin, 1984, S. 53-129. 1029 Müller, ebd. 1030 Bernhardt, S. 5. 1031 Rüdiger Voigt, `Der Leviathan´: http://www.staff.uni-marburg.de/~hueningd/lesehobbes.html. 1032 Grimmelshausen, S. 10-16. 1028 389 Diese Unbeschriebenheit findet ihre Parallelität in der jungen Tulla: „Zu meiner Zeit hatte die etwa zehnjährige Tulla Pokriefke ein Punktkommastrichgesicht“ (55). Hierdurch wird die Entwicklung des Menschen hin zur Gewalt nicht als ein von Geburt an bestehendes Merkmal evoziert. Mit besonderer Härte wütete der Dreißigjährige Krieg in der Mark Brandenburg. Den chaotischen Wirren und der unmenschlichen Gewalt in dieser Region, der etwa die Hälfte der Bevölkerung zum Opfer fiel, folgt der wegen seiner militärischen und ordnungspolitischen Funktion in die Geschichte eingegangene preußische Staat1033: Das alles zerstörende Wüten des Dreißigjährigen Krieges wurde zum Mythos – nicht in dem Sinn, dass es keine Entsprechung in der Realität gehabt hätte, sondern in dem Sinn, dass es sich fest ins kollektive Gedächtnis eingegraben und dadurch das Nachdenken über die Welt beeinflusst hat. So wurde das Wüten des religiös motivierten Bürgerkrieges (…) für Thomas Hobbes der Auslöser, im Leviathan das staatliche Gewaltmonopol als Rettungsanker der Zivilisation zu feiern. Es sei sicher besser, so Hobbes, die Macht einem monarchischen Staat zu übertragen, wenn im Gegenzug die Sicherheit von Person und Eigentum garantiert wird, als mit anzusehen, wie Gerechtigkeit und Ordnung durch gesellschaftlichen Zwist außer Kraft gesetzt werden.1034 Das Motiv einer Sehnsucht nach staatlicher Ordnungsmacht als eine Reaktion auf extreme Gewalt und Orientierungslosigkeit lässt sich auch in der Geschichte der 1920er und frühen 1930er Jahre erkennen. Die Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges, gefolgt von den ordnungspolitischen Wirren der Weimarer Republik und der wirtschaftlichen Rezession in den 1920er Jahren als Vorgeschichte des Nationalsozialistischen Regimes wird vor der Schablone der Historie des 17. Jahrhunderts zur Aufforderung, die Geschichte kontextualisiert mit ihrem Vorher und Nachher zu betrachten. Dieser Aspekt wird mit dem Titel Im Krebsgang impliziert: „(…) nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“ (8f) 1033 C. Clark, S. 58; Anmerkung: Das schlagkräftige preußische Heer macht Brandenburg zu einem begehrten Verbündeten der europäischen Mächte; die Entmachtung der Stände zugunsten einer absolutistischen Zentralverwaltung wird zur Grundlage für ein effizientes Beamtentum; das „Edikt von Potsdam“ führte zur Ansiedlung tausender vertriebener Hugenotten. Vgl. Clark. 1034 Ebd., S. 59. 390 Als Erzähler der kontextualisierten Geschichte wird das Trauma Paul von dem „Auftraggeber“ wie eine „Fundsache“ aufgespürt. Sprachlosigkeit ist das hervorstechende Merkmal Pauls, der im Moment der Gewalterfahrung geboren ist. In der Blechtrommel, in Katz und Maus und in Hundejahre sind Pauls Vorgänger davon getrieben aufzuschreiben, um offenzulegen und abzutragen. Im Krebsgang stehen Schuld und Sühne als zentrales Motiv nicht im Vordergrund. Der Treiber, um das Unaussprechliche aufzuschreiben ist die durch den Untergang traumatisierte Tulla. Pauls krebsartiges Vorgehen, das Vorher und Nachher des Traumas als dessen Ursache und Wirkung in ein Narrativ einzubinden, wird somit zum Versuch einer Traumabearbeitung. Dieser Versuch misslingt, weil Paul die offenen Enden der Narration nicht zum Ende zu führen vermag. Als besondere Form des Gedächtnisses verweist das Trauma auf etwas, das dem Gedächtnis notwenig als NichtRepräsentierbar vorausgeht und sich in jeder Repräsentation zugleich mit überträgt. Die ungeformte Fragmentierung aus Tullas traumatischem Erinnerungsmodus lassen die Geschichte aufhören, ohne sie zu beenden. Die Empathielosigkeit als ein zentrales Symptom des Traumas verhindert, dass Paul den (traumatischen) Kern der Geschichte erkennt. Indem sich das Trauma selbst nicht erkennen kann, kann es sich nicht selber abwickeln. (7) Im Gegensatz zu dem abwesend erscheinenden Erzähler, der sich als neutrales Medium nur selten oder überhaupt nicht in die Handlung einmischt1035, sieht der Leser im Krebsgang ausschließlich durch die Augen des ständig anwesenden Erzählers Paul. Während ersteres zur Lebendigkeit und Unmittelbarkeit einer Erzählung beiträgt, äußert sich letzteres in der Starre und Unerreichbarkeit der Figuren. Entsprechend „krebst“ Paul um den Untergang der Gustloff, dessen historisches Vorher und dessen zeitgeschichtliches Nachher sowie den damit verbundenen Protagonisten. Die Unfähigkeit, in das eigentliche Geschehen der Gewalterfahrung – das Trauma – einzutauchen, macht es ihm unmöglich, Erkenntnisse aus seiner Narration zu gewinnen. 1035 Daniel Weidner, Lebendige Erzählung, IASL Online, 01.05.2007, ISSN 1612-0442, http://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=1653. 391 Im Falle von Traumatisierungen ist der Akt des Deutens, der sich durch das Sprechen, Träumen, Phantasieren, Erzählen vollzieht, durch die Sprachlosigkeit beeinträchtigt. Da nicht begriffen werden kann, solange nicht gedeutet ist, kann sich die Spur einer künftigen Vervollständigung im Sinne eines Erkenntnisgewinns aus der Verschmelzung von Historie und Gegenwart nicht bilden. Indem das Trauma aus der Gewalterfahrung nicht verarbeitet werden kann, bleibt die daraus zu gewinnende Erkenntnis aus. Indem Tulla das unbewältigte Trauma an ihren Enkel Konny weitergibt, scheint es sich durch den Mord an Wolfgang Stremplin alias David mit umgekehrten Vorzeichen zu wiederholen, denn Tulla glaubt, „(i)m Grunde sei die schreckliche Tat auch ihr schmerzhaft zugefügt worden.“ (179) Pauls Scheitern als Erzähler manifestiert sich hierin zugleich in seinem Scheitern als Vater. Hätte Paul seinem Sohn Konny schon früher von der Gustloff erzählt, müsste er diesen „Kinderkram“ jetzt nicht nachholen. Durch Freuds Konzept der Nachträglichkeit („nachholen“) wird die Übertragung des unbearbeiteten Traumas auf die nachfolgende Generation hervorgehoben. Nach dem Treffen der Überlebenden im Damp wird Konny zu Tullas großer Hoffnung und soll nun jenen Auftrag erfüllen, an dem (das Trauma) Paul gescheitert ist. Konny will das traumatische Erlebnis seiner Großmutter Tulla, die als Flüchtlingsfrau aus dem Osten den Untergang der Gustloff als einzige ihrer Familie überlebt hat, in das Bewusstsein der Gegenwart bringen. Sein Ziel ist es, eine Gedenktafel für Wilhelm Gustloff anbringen zu lassen – den Namensträger der traumatischen Erfahrung. Als er mit diesem „demokratisch vorgebrachten“ Anliegen scheitert, versucht er dem Auftrag Tullas auf andere Weise gerecht zu werden. „Das nächste Mal darfst du auf mich schießen“, ist eine Einladung Wolfgangs alias David, der er nachkommt. Er begeht den Mord an seinem „Freundfeind“ Wolfgang, nachdem dieser die „Gedenkstätte“ des Traumas seiner Großmutter „entweiht“ hat. Indem er den Attentäter des Namensgebers der Gustloff auslöscht, scheint Konny die Vorzeichen umkehren zu wollen und das 392 Geschehen retrospektiv ungeschehen zu machen. Im Rollenspiel als Wilhelm Gustloff wird er selbst zum Mörder, der dem Mord an seiner Person zuvorkommt, indem er den Täter tötet. Damit nachfolgende Generationen der zivilisatorisch-evolutionären Aufgabe des Erkenntnisgewinns aus einer gewaltsamen Geschichte gerecht werden können (historische Verantwortung), bedarf es der Bearbeitung der Traumata aus dieser Geschichte. Der Übertrag von Tullas unbearbeiteten Trauma an Konny reflektiert sich in Eric Santner Schlussfolgerung: „Die (nachfolgende) Generation erbte nicht nur die unbetrauerten Traumata ihrer Eltern, sondern auch die seelischen Strukturen, die die Trauerarbeit der älteren Generation überhaupt erst verhindert haben.“1036 Um ein Trauma durchzuarbeiten, bedarf es der Öffentlichkeit. Allerdings bleibt Konny diese Öffentlichkeit als Plattform, auf der er sein Inneres im Äußeren reflektieren könnte, verschlossen. Anders als Joachim Mahlke aus Katz und Maus, der während seines Heimaturlaubs einen Vortrag über seine Heldentaten als Panzerschütze an seiner Schule halten will, möchte Konny detailliert über den Untergang der Gustloff - das traumatische Erlebnis seiner Großmutter - berichten. Gleich Mahlke bleibt auch Konny der Auftritt in der Schule versagt, nicht wegen des Diebstahls eines symbolträchtigen Gegenstands, sondern um sich der vermeintlichen Anfänge zu „erwehren“. Im Krebsgang ist es der Protagonist Konny, der bestohlen wird: Er ist beraubt um seine Gegenwart, weil ihn die Vergangenheit seiner Großmutter fest im Griff behält und ihm die Öffentlichkeit keine Fläche bietet, um sich dieses Erbes zu entledigen. Konnys Eltern nehmen zwar die Schuld für sein Schicksal an, flüchten jedoch in vermeintlich bessere Welten (Gabis neuer Hausfreund - 213) bzw. die Negierung der eigenen Existenz („Ach, wäre ich, der Vaterlose, doch nie Vater geworden!“ - 184) Schließlich kommt es am Ende „dicker als befürchtet“ (216). Konnys „in sich schlüssiger Ideologie-Wahnsinn (…) (wird) von vermeintlich Gleichgesinnten 1036 Eric Santner zitiert in: Schlant, S. 27. 393 bereits zur Ersatzreligion verklärt (…), ganz zeitgemäß, im Netz. Vorerst rein virtuell mutiert Konny unter www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de zum Märtyrer, Messias, Führer einer sich kämpferisch gebenden Bewegung.“1037 Nicht nur drängen sich „Analogien zu anderen Verblendungslehren auf“.1038 Vielmehr weist der Schluss zurück in die Anfänge des Führer-Mythos, der einst Kern des Erfolgs der NSDAP gewesen ist.1039 Tatsächlich scheint sich nun die unverarbeitete Geschichte zu wiederholen, gleich einem traumatisch getriebenen Wiederholungszwang im Sinne Mitscherlichs1040. Die Novelle Im Krebsgang offenbart die Folgen einer Übertragung der Denk- und Handlungsmechanismen der Eltern- und Großelterngeneration auf die Dritte Generation. Diese Mechanismen verhindern, die Geschichte der Zeitzeugen in ihrer Ambivalenz und ihrem Kontext zu erfassen – im Falle der Traumatisierung erfolgt die Narration fragmentiert und kreist um das ewig Gleiche. Insbesondere die Ambivalenzen der Historie bedürfen neben einer kognitiven auch einer sinnlichen Wahrnehmung durch die Dritte Generation. „Das Verstehen ist selbst nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überliefungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.“1041 Im Krebsgang jedoch waren „(d)ie Gustloff und ihre verfluchte Geschichte (…) jahrzehntelang tabu, gesamtdeutsch sozusagen.“ (31) Die Vergangenheitsform, die ausschließlich die Zeitzeugen zu betreffen scheint, indiziert das Aufbrechen dieses bislang blockierten “Überlieferungsschemas“ in der Epoche der Dritten Generation. Beide Katastrophen, der Untergang der Gustloff und der Mord an Wolfgang alias David sind zeitlich im 20. Jahrhundert verortet. In seinem Werk Mein Jahrhundert blickt Grass auf diesen Zeitrahmen zurück. Die “Retrospektive” verbleibt jedoch im Fragmentarischen, worin Rüdiger Görner eine unbotmäßige Distanz erkennt: 1037 Stolz in Honsza, Swiatlowska, S. 242. Ebd. 1039 Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“. 1040 Vgl. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 82f. 1041 Gadamer, S. 295. 1038 394 „In this fragmented narrative every event becomes `gleichgültig´, that is to say it acquires the same value as the other, and thus ceases to concern us.”1042 Im Krebsgang blickt Grass durch die Figuren Konny und Wolfgang, die Repräsentanten der Dritten Generation, in die Zukunft. Seine Vorausschau verfinstert sich in dem Mord an Wolfgang alias David. Doch zugleich schimmert in dieser Düsternis, manifestiert in dem Scheitern der Protagonisten, eine Botschaft durch: „Gerade das Scheitern im Versuch, die eigene Geschichte zu ordnen, könnte nämlich für das Publikum interessant sein, da im Scheitern die Dringlichkeit der für jeden Menschen anstehenden Aufgabe besonders deutlich aufscheint – und so vom Extrem des Scheitern her gesehen auch den weniger stark Belasteten bei der Verfassung der eigenen Lebensgeschichte hilfreich sein kann.“1043 Hierin spiegelt sich zugleich Lacans Aufforderung der „Reformulierung“ als Prozess des Durcharbeitens wider. Die erste öffentliche Plattform im wiedervereinigten Deutschland wird der traumatisierten Tulla dreiundsechzig Jahre nach dem Untergang der Gustloff bei dem Prozess um Konnys Mordtat gewährt. Sie soll Zeugnis ablegen. Das „weißlodernde Haar“ der „magersüchtige(n) Diva“, die von einem „farbigen Fell“ (179) umringt ist, gibt ihr die Erscheinung eines Propheten. Sie redet wie zu einer „Pfingstgemeinde“ (ebd.) und bedient sich dabei apostolischer Bilder: sie spricht von einer „riesigen Faust“, die sie zerschmettert, von einem „feurigen Schwert“, das sie zerteilt (180). Der Beginn der Apostelgeschichte lautet: Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie vom Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.1044 Görner, `Grass´s Century´, Rezension: Günter Grass, Mein Jahrhundert, “Times Literary Supplement”, 8.10.1999. 1043 Fricke, S. 247. 1044 Apostelgeschichte 2, 1-4. 1042 395 Der Ort, an dem alle „beieinander“ sind, findet sich im Prozesssaal Konnys; das „Brausen vom Himmel“ erinnert an die von Tulla geschilderte „riesige zerschmetternde Faust“; die „wie vom Feuer zerteilten Zungen“ finden ihre Parallele im „feurigen Schwert“, von dem Tulla glaubt, zerteilt zu werden; und schließlich spricht Tulla im Zeugenstand während der Verhandlung Hochdeutsch, gleich den Predigern, die plötzlich in „anderen Sprachen“ sprechen. Der Geist, der Tulla „gibt auszusprechen“, ist der des Traumas. Entsprechend der griechischen Bedeutung von Pfingsten - „der fünfzigste Tag“ – sitzen dem Prozess fünf Urteilssuchende vor, drei Richter und zwei Jugendschöffen. Wolfgang Stremplin alias David ist mit vier Schüssen ermordet worden. Mit dem Tod Jesus am Kreuz beginnt die Apostelgeschichte. Sie wird durch Paulus verkündet, der die Botschaft Jesus verbreitet. In dem Erzähler (und Trauma) Paul als Kurzform für Paulus findet sich die Parallele hierzu. Durch das Pfingstfest wird im christlichen Glauben das von Jesus angekündigte Kommen des Heiligen Geistes gefeiert. Im jüdischen wie im christlichen Glauben hat Pfingsten die Bedeutung der Offenbarung und Verkündung.1045 Bereits im Alten Testament wird der Erzählprozess durch die Trauer um das verlorene Land Juda initiiert und im Erzählen seine vergangenen – wie vor allem zukünftig erwartete – Gegenwart beschworen. (…) Auch im Neuen Testament setzt der Erzählprozess, der schließlich in der Konzeption der Evangelien mündet, aus Trauer um das verlorene Objekt Jesus ein. Seine Gegenwart wird im Erzählen erneuert und bestätigt.1046 Bei dem Treffen der Überlebenden in Damp erscheint Konny „wie eine Mischung aus Konfirmand und Erzengel. Er trat auf, als habe er eine Mission zu bereiten, als werde er demnächst etwas Erhabenes verkünden, als sei ihm eine Erleuchtung zuteil geworden.“ (96) Ihm soll gelingen, was seinem Vater Paul nicht gelang. Am dritten Tag nach der Kreuzigung holt der Erzengel Gabriel Jesu aus dessen Grab. 1045 Anmerkung: Das christliche Pfingstereignis hat nach Apg. 2, 1 am jüdischen Fest Schawout stattgefunden. Dieses Fest feiert die Offenbarung der Tora an das Volk Israel und gehört zu den Hauptfesten des Judentums. 1046 Heide Rohse, `Trauern – Erinnern – Erzählen, Marie Luise Kaschnitz Geschichte Adam und Eva und die biblische Erzählung von Paradies und Vertreibung´, S. 227-240 in Mauser, Pfeiffer, (Hg.), Trauer, S. 237. 396 Die Auferstehung ist der Anfang einer neuen Religion. Konnys Mutter „Gabriele, die von jedermann Gabi genannt wurde“ (42), ist jedoch nicht die Wegbereiterin einer neuen Religion. Vielmehr sagt sich ihr Sohn von ihr los. (213) Tullas zwanghafte Erinnerungen an die Gustloff kreisen um die „ertrunkenen Kinderchen“ (140). Sie symbolisieren die Zukunft, die mit deren Tod gestorben ist. Das Neue, das nach dem Tod des Alten kommt, manifestiert sich in der geretteten Tulla. Allerdings kann das Neue nicht entstehen, weil die Vergangenheit jenen Raum einnimmt, der der Gegenwart und der Zukunft gehört. Vergangenheitshorizont und Gegenwartshorizont können nicht miteinander zu einer Erweiterung verschmelzen. Das Neue bleibt im Krebsgang versagt. „Traumatisierte erwarten weitere Katastrophen und ihre Zukunftsperspektive ist in ihrer Ausdehnung eingeschränkt. (…) Das Urvertrauen bezieht sich auch auf die Zeitperspektive, und mit seiner Zerstörung durch das Trauma gerät für den Traumatisierten auch die Zeit aus den Fugen.“1047 Tatsächlich hört „es“ somit niemals auf. Im Umkehrschluss daraus ergibt sich als Botschaft Pauls die Aufforderung zur Wendung: die öffentliche Sprachlosigkeit über das Trauma gilt es aufzubrechen, um durch Verschmelzung des Vergangenheitshorizonts und des Gegenwartshorizonts zu einer Erweiterung zu gelangen und so der historischen Verantwortung aus der Geschichte Folge leisten zu können. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Mord an Wolfgang alias David aus einer anderen Perspektive betrachten. Im Abschnitt des Römerbriefes über „Sterben und Leben mit Christus“1048 heißt es: Heißt das nun, dass wir an der Sünde festhalten sollen, damit die Gnade mächtiger werde? Keineswegs! Wie können wir, die wir für die Sünde tot sind, noch in ihr leben? (…) Wenn wir nämlich mit der Gestalt seines Todes vereinigt worden sind, dann werden wir es auch mit der Gestalt seiner 1047 1048 Bohleber, „Trauma“, S. 828. Röm 6. 397 Auferstehung sein. Das wissen wir: unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der Leib der Sünde vernichtet wird und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. (…) Ebenso urteilt über euch selbst: ihr seid tot für die Sünde, aber ihr lebt für Gott in Christus Jesus. Zu der Konsequenz, die sich aus der „Sünde“ ergibt, heißt es: (…) ihr seid entweder Sklaven der Sünde, die zum Tod führt. Oder des Gehorsams, der zur Gerechtigkeit führt. Gott aber sei Dank; denn ihr wart Sklaven der Sünde, seid jedoch von Herzen gehorsam geworden und habt jene Lehre angenommen, an die ihr übergeben wurdet: befreit aus der Macht der Sünde, seid ihr zu Sklaven der Gerechtigkeit geworden (…) Wie ihr eure Glieder in den Dienst der Unreinheit und der Gesetzlosigkeit gestellt habt, so dass ihr gesetzlos wurdet, so stellt jetzt eure Glieder in den Dienst der Gerechtigkeit, so dass ihr heilig werdet.1049 Das Prinzip der „Sünde“, des „Bösen“ als Auslöser von „Gnade und Gerechtigkeit“, des „Guten“, findet sich in umgekehrten Vorzeichen zugleich in Nietzsches Spielart des „letzten Menschen“: „`Wir haben das Glück erfunden´, sagen die letzten Menschen und blinzeln.“1050 Sie lullen sich bescheiden in ein illusionäres Glück´- das „`grüne Weideglück der Herde´ - ein und schließen die Augen (`blinzeln´) vor dem Licht jeglicher Erkenntnis, durch die ihre beschauliche Ruhe gestört werden könnte. Sie haben schließlich, wie Becketts allerletzte Menschen, nichts mehr zu tun, als auf das Ende zu warten, das Leben hat keinen Sinn mehr.“1051 Aus Paulus Römerbrief und Zarathustras Vorrede lässt sich ein und dieselbe Folgerung ziehen: zuerst muss das (destruktive) Falsche sterben, bevor die (konstruktive) Erkenntnis geboren werden kann - ohne Destruktion keine Konstruktion. Grass’ Protagonistinnen Tulla („Was in ons drinsteckt im Kopp ond ieberall, das Beese muss raus…“ – 212) und Jenny („Das ist das Böse, das rauswill.“ – 211) scheinen als einzige Figuren im Krebsgang das Böse als Teil des Guten akzeptieren zu können. Sie verfügen damit über die Grundbedingung, das 1049 Ebd. Zarathustra, S. 553. 1051 Kopf, S. 15. 1050 398 eigene Leiden als Teil des Lebens anzunehmen. Wo die Akzeptanz gegenüber dem Leiden zur persönlichen Integrität gehört, besteht Offenheit gegenüber der Konfrontation mit schmerzhafter Trauerarbeit. 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