KREUTZ-ARNOLDTrauma2010 - QMRO

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Ph.D Thesis
Das Trauma der
„Opfertäter“ und die
Psychoästhetik der Trauer
in Günter Grass´ Novelle
Im Krebsgang
Heike Kreutz-Arnold
Dissertation zur Erlangung des Grades
Doctor of Philosophy (Ph.D)
Queen Mary
University of London
April 2010
Eidesstattliche Erklärung
Ich versichere hiermit, dass ich die Arbeit selbständig angefertigt habe und keine anderen
als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt sowie die wörtlich oder inhaltlich
übernommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.
Düsseldorf, 27. April 2010
Heike Kreutz-Arnold
2
Alles, was der Mensch beim Spiel der Pest und des
Lebens gewinnen konnte,
waren Erkenntnis und Erinnerung.
Albert Camus, Die Pest
3
Inhaltsverzeichnis
Synopse
8
Zur Einführung: Perpetuierungen in der
Nachkriegsgeschichte
9
1. Kapitel: „Erinnern“
37
DIE INDIVIDUELLE ERINNERUNG
39
Abschnitt „Trauma“
40
Vorbemerkung
Die schwierige Trauer im Werk von Günter Grass
Die Erinnerung des Traumas
Die Sprachlosigkeit des Traumas als Leitmotiv der Novelle Im Krebsgang
Post-traumatische Belastungsstörungen als pathologische Folge des Traumas
Das Trauma in der Novellenform
Tullas Ambivalenz als Opfertäterin
Das Tätertrauma des Bootsmanns Kourotschkin
41
43
55
60
63
76
82
85
Abschnitt „Verdrängung“
87
Das untergegangene Schiff als Metapher für eine verdrängte Geschichte
Verdrängte Flucht und Vertreibung
Leben im Exil – Tullas Orientierungslosigkeit
Städtebombardements
Die „Verbotstafel“ des „Alten“
Pauls berufliche Entwicklung als Metapher für die drei Phasen der deutschen
Erinnerungskultur seit 1945
Tulla als Kaschubin
89
95
103
106
109
116
122
4
DIE KOLLEKTIVEN ERINNERUNGEN
Vorbemerkung
128
Ambivalente historische Identität als Vorbedingung für den Aufbruch des
Verdrängten
128
Von der individuellen Erinnerung zur „sinnlich und kognitiv erfahrbaren“
Geschichte im Krebsgang
133
Abschnitt „Nationalsozialismus“
144
Kontextualisierte Perspektiven im Krebsgang auf die Epoche des
Nationalsozialismus in Deutschland 1933-1945
145
Das Fundament: Globale historische Kontextualisierung vor 1933
Vorbemerkung
Das Trauma entfesselter Zivilisation im 20. Jahrhundert
Der Faschismus im Kontext der Moderne
Der Erste Weltkrieg und die Angst vor dem Bolschewismus
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert
147
Die Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland 1933-1945
Die „Verführung“: Historische Kontextualisierung von NS-Ideologie
und „Volksgemeinschaft“ („Freiwillige Beteiligung“)
Der „Nazi“ Gustloff im Kontext seiner Epoche
Der messianische „Führerkult“ um Hitler
Die Außenpolitik des „General Unblutig“
Die gefühlten „Guten Jahre“
Die Arbeiter im „Wirtschaftswunder“
Das unpolitische Milieu der „Kleinen Leute“
„Das Volk singt und tanzt“
161
147
148
151
155
159
163
164
167
172
174
176
181
183
Die „Gewalt“: Historische Kontextualisierung von NS-Diktatur, Staatsterror
und Krieg („Angstgesteuerte Beteiligung“)
185Paul als imaginierter Journalist in der NS Epoche
185
Die Anfänge: Wahlen für Hitler
187
Der Tod von Tullas Bruder Konrad und die arische Rassepolitik
190
Deutsche Soldaten und die Wehrmacht
195
Flucht und Vertreibung als „Krieg gegen die eigene Bevölkerung“
198
Der fast abwesende Widerstand im Krebsgang
201
Der Hitler-Stalin-Pakt als Zeugnis zeitgenössischen Zynismus
208
Tulla in der DDR
209
5
Abschnitt „Antisemitismus“
212
Vorbemerkung
Die Verteilung von Antisemitismus im Schweizer Gefängnis
Der Antisemitismus als europäisch verteiltes Phänomen
Die Geschichte vom feindlichen zum gewaltbereiten Antisemitismus
im Krebsgang
213
214
222
2. Kapitel: „Wiederholen“
224
234
Die transgenerationelle Übertragung von Schuldgefühlen und
Traumata
235
Vorbemerkung
Das Diktum der Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust seit 1945 bis
in die Gegenwart der Dritten Generation
Die Grenzverschiebung in der Novelle Im Krebsgang
Das Sichtbarmachen des Traumas
Das Gewesene im Sein
Die Tradierung der Geschichte
Das Schweigen der Eltern
Der Auftrag aus dem transgenerationell übertragenen Trauma
3. Kapitel: „Durcharbeiten“
Erkenntnisgewinn als ein Prozess von Verdrängung und Melancholie
hin zu einer Kultur „offener“ Trauerprozesse
Die Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit als
Erkenntnisprozess
Ansätze von offenen Trauerprozessen im Krebsgang
Tullas Hausaltar als Symbol der Unüberwindbarkeit des Traumas
Das zerstörte Mahnmal als Ursache für Tullas gescheiterte Trauer
Der Übertrag des Traumas an Konny
Diskrepanzen zwischen öffentlicher und privater Erinnerungskultur
Das unheilverkündende Ende der Novelle Im Krebsgang
Perpetuierende Gewalt und Gegengewalt als Resultat nicht
gewonnener Erkenntnis
Die Ambivalenz Konnys als Trauerprozess der nachfolgenden
Generationen
Die „68er“ im Spiegelbild des romantischen Nihilismus
Die „tragische“ Schuld der Protagonisten
Die biblische Wirkungsgeschichte des Apostel Paulus als
Horizonterweiterung zu den Opferanteilen der Protagonisten
Jennys Vergebung gegenüber Tulla
Die vergebende „Bewegung“ des Heinz Schön
237
239
249
253
257
260
264
268
277
279
285
289
297
306
310
317
325
330
339
349
354
367
370
377
6
Gewalt als Auslöser des Traumas – eine
Schlussbetrachtung
385
Anhang
400
Bibliographie
7
Synopse
Erstmals hat Günter Grass, dessen bisheriges Werk eine Beschäftigung mit den Fragen
um Schuld und Scham verfolgte, in seiner Novelle Im Krebsgang die Ambivalenz der
„Opfertäter“ aus Mitwissern, Mitläufern und Mittätern von NS-Regime und Holocaust
einerseits und als traumatisierte Opfer von Krieg, Flucht und Vertreibung andererseits
behandelt. Indem der Untergang des „Kraft durch Freude“-Schiffes Wilhelm Gustloff
in den Kontext der Geschichte, dem Vorher und dem Nachher der Katastrophe gesetzt
wird, rücken die historischen Prozesse in den Blickpunkt, die zu diesem Ereignis
geführt haben und die Folgen, die daraus entstanden sind. Dieser „kontextualisierte
Ansatz“ erfährt insofern eine Beschränkung, als er durch die Perspektive der
traumatisierten Opfertäter erfolgt. Durch die Erweiterung des Figurenensembles um
eine neue Generation - Konny Pokriefke und Wolfgang Stremplin als Repräsentanten
der dritten Nachkriegsgeneration - richtet die Novelle den Blick auf die Gegenwart
und Zukunft aus der Vergangenheit und somit implizit auf die historische
Verantwortung als Aufgabe für die nachfolgenden Generationen. Seit 1980 hat Grass
mit dem Begriff der „Vergegenkunft“ gearbeitet, einer Vergangenheit, die ihre
Schatten auf die Gegenwart und die Zukunft werfe. Die zunächst durch Schuld und
Scham besetzte Vergangenheit wird im Krebsgang erweitert um die Wahrnehmung
des Traumas und seiner pathologischen Wirkung. Durch die Einführung der zweiten
und dritten Nachkriegsgeneration in der Narration gewinnt die aus der Vergangenheit
überschattete Gegenwart und Zukunft eine Form, die die traumabedingten Brüche der
Identität als Grund für die Unmöglichkeit der Trauer offenbart. Der Stillstand der
Protagonisten, der sich als Wiederholung im finalen Moment des Mordes an Wolfgang
Stremplin alias David Frankfurter offenbart, entspringt im Krebsgang nicht einer
melancholischen Unfähigkeit zu trauern, weil die Schuld- und Schamgefühle
übermächtig sind. Vielmehr scheint das Erstarren der Protagonisten in ihren
unmittelbaren und mittelbaren traumatischen Erfahrungen begründet zu sein, die sie in
ihrem Bann gefangen halten. Es sind die vermeintlichen Schuld- und Schamgefühle
der Nebenprotagonisten, die eine Bearbeitung des Traumas als Vorbedingung der
Trauer unmöglich machen.
8
Zur Einführung:
Perpetuierungen in der
Nachkriegsgeschichte
9
(…) to reimagine the possibilities and the ambiguities of how we
identify with others: the emphasis here is on reimagining, on
going back over ground we took for granted, perhaps the work
human beings undertake with most reluctance. Without the
element of aesthetic pleasure, we might not undertake it at all.
Daniel Karlin, Rezension zu Sophie Ratcliffe: On Sympathie
10
Die epochalen Umwälzungen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts
haben tiefe Einschnitte in der kulturellen Entwicklung Europas hinterlassen.
Das gilt insbesondere für die Deutschen mit einer Geschichte, die zur
unauflöslichen Ambivalenz von Tätern und Opfern geführt hat: dem Ersten
Weltkrieg als traumatische Erfahrung in der Moderne folgt die ideologische
Selbstverblendung des Nationalsozialismus, die Position als Aggressor des
Zweiten Weltkrieges mit den grausamen Höhepunkten im Osten Europas und
schließlich der „Zivilisationsbruch“1 Auschwitz. Dieser Dimension der
Mitwisser, Mitläufer und Mittäter stehen jene Erlebnisse gegenüber, die die
Menschen in Deutschland im Zweiten Weltkrieg erlitten haben: Verluste von
Familienangehörigen, Verlust der psychischen und physischen Gesundheit
durch Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung. Die Dimension dieses Krieges
umreisst der Historiker Niall Ferguson: „By any measure, the Second World
War was the greatest man-made catastrophe of all time. (…) Of the total deaths
attributed to the Second World War, half at least were of civilians.“2
Die Formen des Umgangs mit dieser Geschichte in den, seit Gründung der
Bundesrepublik vergangenen sechs Jahrzehnten, offenbaren sich in dem häufig
kontroversen Verlauf der (west-)deutschen Erinnerungskultur. Aleida Assmann
hat die Zeit zwischen 1945 und der Gegenwart in drei Phasen unterteilt. Für die
1950er Jahre steht die Phase des „offiziellen Gedächtnisses ohne biographische
Erinnerung“, des „kollektiven Beschweigens“ (Hermann Lübbe).3 Mit dem
Heranwachsen der so genannten Zweiten Generation zwischen den 1960er1980er Jahren beginnt eine Phase der „familiären, juristischen und historischen
Aufklärung“, des „unerbittlichen Nachfragens in bürgerlichen Wohnstuben“.
Mit dem Beginn der 1990er Jahre setzt eine „Globalisierung der Erinnerung des
Holocaust“ ein. International wird die Frage beraten, „wie der Holocaust
1
Dan Diner zitiert in: Franziska Augstein, `Taten und Täter. Ein Nachwort´, S. 177-195 in Hannah Arendt, Über
das Böse, München, 2006, S. 188.
2
Niall Ferguson, The War of the World. History´s Age of Hatred, London, 2006, S. XXIV.
3
Aleida Assmann, `Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis in Deutschland nach 1945´, S. 81-91 in
Wolfram Mauser, Joachim Pfeiffer, (Hg.), Erinnern. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch
für Literatur und Psychoanalyse 2004, Bd. 23, Würzburg, 2004, S. 88ff.
11
weltweit erinnert werden kann.“4 Einher mit einer gewissen
„Entkontextualisierung des Holocaust“, die das „Vorher und das Nachher von
Auschwitz in den Hintergrund treten lassen“, geht die Gefahr einer
„Profanisierung und Trivialisierung des Holocaust“.5 Als ein weiteres
wesentliches Merkmal der dritten Phase benennt Assmann für Deutschland, daß
„das Leiden der deutschen Bevölkerung während des Krieges und unmittelbar
danach in den öffentlichen Blickpunkt“ geraten ist.6 Als eines der literarischen
Zeugnisse für diese Entwicklung gilt Günter Grass´ Novelle Im Krebsgang.
Diese drei Phasen der deutschen Erinnerungskultur haben einander nicht
abgelöst. Vielmehr stehen sie in einem komplexen Überlappungsverhältnis
zueinander. Der Historiker Jörn Rüsen urteilt, dass die Beschweigestrategie der
ersten Epoche „bis heute eine Rolle gespielt habe oder zumindest mental
wirksam geblieben ist.“7 Dies gelte erst recht für die moralisch negative
Vergegenwärtigung des Holocaust der zweiten Epoche; die hier entwickelten
mentalen Konstellationen deutscher Identität bleiben auch in der dritten
Nachkriegsgeneration wirksam. Beim dritten Generationstyp handelt es sich
nach Rüsens Ansicht um Neuansätze, bei denen abzuwarten sei, „wie stark sie
sich im neuen deutschen Nationalstaat zur Geltung bringen werden.“8
Primo Levi umreißt die Ausgangslage, die sich aus dem Holocaust insgesamt
ergibt, indem er feststellt, „dass der Mensch, das menschliche Geschlecht, also
kurz gesagt: wir, potentiell in der Lage sind, unendliches Leid hervorzurufen“.9
Von der Gegenwart aus gesehen ergibt sich daraus für die am Verbrechen
Auschwitz schuldlosen Generationen eine historische Verantwortung, aus der
sich eine fortgesetzte Konfrontation als Aufgabe stellt.
4
Ebd.
Ebd.
6
Ebd.
7
Jörn Rüsen, `Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen generationeller Praktiken des Erinnerns´, S. 243259 in Harald Welzer, (Hg.), Das Soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg, 2001, S.
244.
8
Ebd.
9
Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München, 1990, S. 86.
5
12
Historisch verantwortungsvoll verhalten wir uns dann, wenn wir alle
geschichtlichen Geschehnisse, die unserer historischen Gegenwart (…)
zuzurechnen sind, einer Auseinandersetzung und Bearbeitung unterziehen,
die ihre Bedeutung angemessen interpretiert, gewichtet und, wo möglich,
moralische Konsequenzen aus ihnen zieht.10
Mit Blick auf Hannah Arendt formuliert Franziska Augstein die Frage, die sich
aus dieser historischen Verantwortung stellt: „Sie wollte wissen, was alle
wissen wollen, die angesichts der NS-Verbrechen fassungslos sind: Wie konnte
dies geschehen?“11
Hannah Arendt hatte sich die Aufgabe gestellt, „eine Definition des Bösen zu
erdenken, die es erlaubt, das Spezifische des Nationalsozialismus und seiner
Konzentrationslager in Abgrenzung zum universal Bösen darzustellen.“12 In
ihrer Studie Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen
gelangt sie zu dem Schluss:
Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, daß er war
wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern
schrecklich und erschreckend normal waren und sind. Vom Standpunkt
unserer Rechtsinstitutionen und an unseren moralischen Urteilsmaßstäben
gemessen, war diese Normalität viel erschreckender als all die Greuel
zusammengenommen, denn sie implizierte, (…) daß dieser neue
Verbrechertypus, der nun wirklich hostis generis humani ist, unter
Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner
Untaten bewusst zu werden.13
Dieser Befund offenbart, dass sich die Fragestellung „Wie konnte dies
geschehen?“ nicht im Tatbestand der „Banalität des Bösen“ auflöst. Vielmehr
wird der eigentlich ungeklärte Aspekt umso deutlicher, nämlich wie es zu den
„Bedingungen“ kommen konnte, unter denen „ganz normale Menschen“14 sich
ihrer Untaten nicht bewusst waren und auch im Nachhinein nicht bewusst
werden konnten oder wollten. Der Höhepunkt dieser Untaten findet sich bei
10
Rolf Zimmermann, `Was heißt historische Verantwortung? Ein systematischer Grundriss zum Verhältnis von
Moral und Geschichte´, in „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“, Berlin, Vol. 54, 6/2006, S. 856.
11
F. Augstein, S. 181.
12
Ebd.
13
Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München, 2006, S. 400f.
14
Vgl. Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt, 2005.
13
den schätzungsweise 150.000 Tätern des Holocaust15. Nicht minder erhebt sich
diese Frage gegenüber der großen Masse der Mitläufer und Mitwisser – der
„Volksgemeinschaft“ - des nationalsozialistischen Systems.
Die evolutionär-zivilisatorische Aufgabe der nachfolgenden Generationen,
Erkenntnisse aus der Geschichte zu gewinnen, indem sie die Prozessverläufe
„alle(r) geschichtlichen Geschehnisse“ (Zimmermann) erfassen, trifft auf ein
unüberwindbares Hindernis. Der israelische Psychologe Dan Bar-On
diagnostiziert Ende der 1990er Jahre die Identitätsformation deutscher (und
israelischer) Jugendlicher im Schatten des Holocaust und gelangt zu dem
Schluss: „Da ist etwas kaputt gegangen an den Wurzeln…“.16 Nach einer
empirischen Erhebung zur Rezeption der NS-Geschichte in der
Enkelgeneration und deren Auswirkungen auf das aktuelle Verhalten und
Identitätsgefühl kommt sein deutscher Kollege Konrad Brendler zum Ergebnis,
„daß auch noch für die Nachkommen, wenn diese `das Grauen´ von Auschwitz
wirklich `an sich herankommen lassen´, die Eindrücke so überwältigend
sind“17, dass sie deren seelische Kapazitäten überfordern können, „vor allem
dann, wenn die Älteren den Dialog verweigern.“18
Diese Erhebung rückt zwei wesentliche Aspekte in den Blickpunkt: die
Überforderung Nachgeborener mit den historischen Ereignissen in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts und das Schweigen der Zeitzeugen. Es offenbart
zugleich die weitgehende Beschränkung der Beschäftigung mit der
Vergangenheit in der deutschen Erinnerungskultur auf die Öffentlichkeit,
während im Privaten eine Mischung aus Scham, Betroffenheit und
Verdrängung vorherrschend geblieben sind, die oftmals in Sprachlosigkeit
enden. Versuche, diese Sprachlosigkeit durch Konfrontation mit dem Grauen in
Norbert Frei, 1945 und Wir – Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, (nachfolgend 1945 und Wir
genannt), München, 2005, S. 79.
16
Dan Bar-On; Konrad Brendler u.a., (Hg.), „Da ist etwas kaputtgegangen an den Wurzeln…“
Identitätsformation deutscher und israelischer Jugendlicher im Schatten des Holocaust,. Frankfurt, 1997.
17
Konrad Brendler, `NS-Geschichte als Sozialisationsfaktor und Identitätsballast´, S. 53-104 in Dan Bar-On, S.
54.
18
Ebd.
15
14
der öffentlichen Erinnerungskultur zu brechen, scheinen das „innere“
Schweigen und Verdrängen in der Gegenwart lediglich fortzuführen. Nicht
zuletzt findet sich jene Sprachlosigkeit spiegelverkehrt als Be-schwiegenes im
Diktum der Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust wieder. Was nicht
vorstellbar ist, kann nicht besprochen werden.
„So wie Kant mit positivem Tenor von der Französischen Revolution als einem
Ereignis gesprochen hat, `das sich nicht vergisst´, so steht Auschwitz für die
historische Gegenwart eines absoluten moralischen Negativums, das von
Deutschen in die Welt gebracht wurde.“19 Vor diesem ungreifbarem
„Negativum“ entsteht durch die raumgreifende öffentliche Erinnerungskultur in
der dritten Nachkriegsgeneration die paradoxe Situation wonach ein „relativ
differenziertes Fakten- und Erklärungswissen“20 zur NS-Zeit besteht, aber „eine
konstruktive Aufarbeitung narzistischer Kränkung und Affekte, die
Begleiterscheinungen jeder wirklichen Konfrontation“ mit der Geschichte ihrer
Vorfahren „in der Regel nur unzureichend“21 stattfand. Demzufolge scheint bei
der Bearbeitung der Vorgänge zwischen 1933 und 1945 kognitives Wissen
einer empathischen Leere gegenüber zu stehen.
Dieser Befund bleibt nicht allein auf Jugendliche beschränkt. Vielmehr stellt
der Historiker Norbert Frei eine ähnliche Diagnose für seine eigene Zunft –
sozusagen die Hauptquelle des „kognitiven Wissens“ - aus. Mit Blick auf die
erste Generation der Zeithistoriker nach 1945 schreibt Frei, dass
die kritischen Maßstäbe, mit denen die erste Generation empirischer
Zeithistoriker einst angetreten war und die nicht wenige von ihnen
jahrzehntelang mit erstaunlicher Konsequenz durchgehalten hatten, doch
auch ihre Abnutzung erfahren hatten: nicht zuletzt das in den Anfängen
der Disziplin geradezu existentiell bedeutsame, selbstauferlegte
Empathieverbot.22
19
Zimmermann, S. 857.
Brendler, ebd.
21
Ebd.
22
Frei, 1945 und Wir, S. 53.
20
15
Wodurch lässt sich das Paradox des „empathielosen Wissens“ erklären? Für
Millionen von Zeitzeugen in Deutschland waren die Erfahrungen aus dem II.
Weltkrieg, darunter Städtebombardements, Flucht und Vertreibung – und für
manche auch jene mit der NS-Diktatur – im Ergebnis traumatisch. In der
Sprachlosigkeit gegenüber dem Holocaust offenbart sich gleichfalls ein
traumatisches Symptom. Der Psychoanalytiker Werner Bohleber benennt die
Konsequenz, die sich daraus ergibt:
Die seelischen Nachwirkungen des Krieges waren bei den einzelnen
Deutschen unterschiedlich, je nach deren Involvierung in
Nationalsozialismus und seine Verbrechen und deren Verdrängung von
Schuld und Verantwortung. Dies hatte spezifische Folgen auch für die
Erinnerung und Auseinandersetzung mit der Realität und den
Konsequenzen des Krieges. (…) Darüber nachzudenken, ob eine
traumatische Störung vorliegt, heißt nicht, die Frage nach Schuld und
Verantwortung und die notwendige Unterscheidung zwischen Opfer und
Täter zu ersetzen. Trauma ist ein empirisch-klinischer Begriff und kann
helfen, die damalige Situation umfassender und differenzierter zu
verstehen.23
Die Konfrontation mit dem Grauen erfordert ein Maß an Kraft, die durch eine
Analogie Hannah Arendts, die sie in Anlehnung an Nietzsches Der Wille zur
Macht formuliert hat, in Umrissen erfassbar wird. In ihren Vorlesungen zu
Fragen der Ethik heißt es, dass das Vermögen des Willens im Menschen erst
dann entsteht, wenn er alles erhalten hat, was für sein Überleben notwendig ist.
In einer einfachen Analogie umreißt sie die Dimension dieses Notwendigen:
Genauso wie Sie ein Glas guten Weins nur dann genießen können, wenn
Sie nicht durstig sind (denn zum Durstlöschen wäre jede andere
Flüssigkeit auch geeignet), so würde das Vermögen des Willens in Ihnen
erst dann entstehen, wenn Sie alles erhalten haben, was wirklich für Ihr
reines Überleben unverzichtbar ist. Dieses mehr an Kraft wird dann von
Nietzsche mit dem schöpferischen Impuls gleichgesetzt; es ist die Wurzel
aller Produktivität. (…) Und natürlich ist auch dieses Mehr an Kraft, diese
extravagante Großzügigkeit oder der `überströmende, verschwenderische
23
Werner Bohleber, `Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse´, S. 797-839 in ders. (Hg.),
„Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen“, 54. Jahrgang, Heft 9/10, Sept./Okt. 2000:
Trauma, Gewalt und Kollektives Gedächtnis, S. 817f, (nachfolgend „Trauma“ genannt).
16
Wille´, der Menschen dazu veranlasst, Gutes tun zu wollen und es gerne
zu tun.24
Ein Blick auf die Symptomatik des pathologischen Traumas25 lässt erahnen,
wie viel Kraft durch das „Zuviel an Eindrücken“, die den seelischen Haushalt
überfordern, gebunden ist. Können Menschen ihre traumatischen Erfahrungen
nicht durcharbeiten, haben sie das Zuviel an Eindrücken mit sich zu tragen.
Gibt es für ihr zerbrochenes Innenleben keine Haltepunkte durch Reflektion in
der Außenwelt – die Leiden der deutschen Aggressoren galt es zu beschweigen
– stehen mutmaßlich nicht jene seelischen Kapazitäten bereit, um das Trauma
des Zivilisationsbruches Holocaust innerlich zu konfrontieren.
Die moralischen Motive des Beschweigens traumatischer Erlebnisse der
deutschen Aggressoren haben über sechzig Jahre nach Kriegsende insofern
keine Gültigkeit mehr, als es für die dritte Generation nicht mehr um die Frage
der Mitschuld geht. Diese Generation ist lange nach Kriegsende zwischen 1954
und 1966 geboren.26 Alexander Goeb fragt dennoch27, warum jüngere Deutsche
keinen Grund haben sollten, sich schuldig zu fühlen, wo doch die Holocaust
Überlebenden und ihre Nachkommen Schuld empfinden, überlebt zu haben und
lebenslang von Auschwitz begleitet werden.28 Goebs Fragestellung lässt die
Ergebnisse der empirischen Forschung zur transgenerationellen Weitergabe bei
Täterkindern außer acht, wonach diese zu Opfern werden, wie im zweiten
Kapitel „Wiederholen“ erläutert, indem sie die Scham- und Schuldgefühle ihrer
Vorfahren (unbewusst) übernehmen.
Wie stellt sich nun eine „Wissensgesellschaft ohne Einfühlung“ der Aufgabe
der historischen Verantwortung in der Gegenwart? Die öffentliche
„Erinnerungspolitik“ hat das Wissen um den Holocaust immer wieder erneuert.
24
Hannah Arendt, Über das Böse, München, 2006, S. 133-4.
Vgl. Abschnitte „Trauma“ und „Verdrängung“, Erstes Kapitel „Erinnern“.
26
vgl. Jürgen Zinnacker, `Politische Geburtskohorten und Familiengenerationen in (West)Deutschland –
Geburtsjahrgänge 1890-1976´, Vortrag (inkl. Handout), Kulturwissenschaftliches Institut Essen, 6.2.2005.
27
Alexander Goeb, `Der lebenslange Alptraum´, in „Auschwitz-Hefte“, Hamburger Institut für
Sozialforschung, (Hg.), 1988, S. 51.
28
Ebd.
25
17
Zu den Empfindungen hatte diese Politik kaum Zugang. Dem Sprechen über
das Trauma der Zeitzeugen in der Öffentlichkeit steht die Scham als einer der
häufigsten Begriffe in der deutschen Erinnerungskultur entgegen: „Sie verweist
auf einen `Makel´ (…), den man `vor sich selbst und anderen verbergen
will´.“29 Auf diesem Pfad führt Scham unmittelbar zur Verdrängung von
Wissen und Empathie, auch jenes und jener um das eigene Trauma.
In seinem Werk Im Krebsgang30, das in dieser Arbeit als paradigmatischer Fall
untersucht werden soll, hat Günter Grass die Abwesenheit dieser Empathie zum
Kernaspekt werden lassen, der sich durch die Novelle zieht, ohne aufzubrechen.
Wie ein Grenzwall steht die Empathielosigkeit zwischen den Figuren, die sich
nicht fortentwickeln, sondern die starr in ihren jeweiligen Ausgangspositionen
verharren. Was den Krebsgang von Grass´ anderen Werken unterscheidet und
es zum Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit werden lässt, ist das Schicksal
der Protagonisten. Sie werden nicht eindeutig gezeichnet als Mitwisser,
Mitläufer und Mittäter, sondern als ambivalente „Opfertäter“.
Erstmals hat der Autor das Thema der Traumatisierung der Opfertäter durch die
Erfahrung von Flucht, Vertreibung, Bombardements und Krieg in den
Vordergrund gerückt. Durch die Einführung einer weiteren Generation in das
Figurenensemble erhebt sich mit Blick auf die Übernahme der historischen
Verantwortung die Frage nach den Nachwirkungen dieser Traumatisierungen
auf die Nachgeborenen. Diese erweiterte Perspektive lässt sich als eine Zäsur
im Werk von Grass´ bewerten, der sich bislang vor allem mit der Schuld des
Einzelnen auseinander gesetzt hat.
Das Erscheinen der Novelle Im Krebsgang im Jahr 2002 avancierte durch eine Flut
von Kritiken und Rezensionen im In- und Ausland zu einem Medienereignis. Auslöser
dieser Flut war nicht zuletzt die Verwunderung über Günter Grass als Anwalt des
Leids der Deutschen während Krieg, Flucht und Vertreibung. Entsprechend
29
30
Brendler, S. 55.
Grass, Im Krebsgang, Göttingen, 2007, 3. Auflage.
18
dominierten eher sozialpolitische als literaturwissenschaftliche Aspekte die Diskussion
um die Novelle in der Öffentlichkeit. Zum einen wurde, nahezu sechzig Jahre nach
Kriegsende die Frage erhoben, ob die Repräsentation der Deutschen als Opfer in der
öffentlichen Erinnerungskultur legitim oder verwerflich sei. Dies in einem Umfeld, das
bereits durch andere Publikationen entsprechend sensibilisiert worden war, darunter
etwa Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995), W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur
(1997) oder nahezu zeitgleich Jörg Friedrichs Der Brand (2002). Ein sich thematisch
daran anschließender zweiter Schwerpunkt fokussierte sich auf die Frage, ob der
Nobelpreisträger mit seiner Geschichte über den Untergang des „Kraft-durch-Freude“
(„KdF“) Dampfers Wilhelm Gustloff einen Tabubruch begangen habe.
Auch in der literaturwissenschaftlichen Debatte wurde die These des Tabubruchs
ausführlich diskutiert, mit Hinweis auf einige früher erschienenen Werke, darunter
etwa von Alexander Kluge, oder wie erwähnt Sebald etc., jedoch verworfen. Den
Vorwurf einer Täter-Opfer Umkehr gegenüber Grass wies etwa Katharina Hall mit
dem Hinweis zurück, der Text sei „considerably more complex than such judgement
implies.“31 Halls Auseinandersetzung mit Grass´ zweiter Novelle fokussierte sich auf
die Zäsur zu dessen früheren Werken:
While Die Blechtrommel, Katz und Maus, Hundejahre und örtlich betäubt all
focus predominantly on the memory of German involvement in National
Socialism, Im Krebsgang foregrounds the memory of German suffering, and in
particular, the nine thousand Germans who lost their lives when the Gustloff was
torpedoed at the end of the war by a Soviet Submarine.32
Indem sie die genannten fünf Werke als „Danziger Quintett“ bezeichnete, hob sie den
Aspekt des Unfertigen in Grass´ Arbeit vor der Veröffentlichung von Im Krebsgang
hervor. Damit untermauerte sie insbesondere die Vielfalt der Perspektiven bei der
Betrachtung der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts durch den Autor Günter
Grass.
31
Katharina Hall, Günter Grass `Danzig Quintet´. Explorations in the Memory and History of the Nazi Era from
Blechtrommel to Im Krebsgang, Bern 2007, S. 171f.
32
Ebd., S. 163.
19
Auch Dieter Stolz verwies in seiner Beurteilung über den Krebsgang auf die
Gegenstimme, die er als „Gegenmärchen“ bezeichnete. Diese, der anderen Wahrheit
Stimme verleihende Poetik, habe „in allen Prosawerken von Günter Grass deutliche
Spuren hinterlassen (…).“33 Schließlich bescheinigte er dem Krebsgang alle „gängigen
Schwarz-Weiß-, Gut-Böse-, Freund-Feindbilder“ zu relativieren und aufzubrechen,34
indem eine unauflösliche Ambivalenz gezeichnet würde:
Das im Krebsgang immer wieder herbeizitierte Datum steht zum einen für das
Geburtsdatum der Figur Paul Pokriefke, zum anderen für den zwölften Jahrestag
der sogenannten Machtergreifung Hitlers und schließlich für ein von Menschen
zu verantwortendes anschließend zur Legendenbildung anregendes
Horrorszenario in der Ostsee. Bereits diese Aufzählung zeigt, dass es hier erneut
um das unauflösbare Spannungsverhältnis von historischen Fakten und fiktivem
Material geht.35
Stolz identifizierte den „unersetzbaren Verlust als Antriebskraft“ und hob damit
indirekt den Aspekt der Trauer hervor. Hall hingegen stellte eine Traumatisierung bei
Tulla fest und erwähnte die Übertragung des Traumas durch Tulla an die Protagonisten
der nachfolgende Generationen, Paul und Konny Pokriefke.36 Ausgerichtet auf die
nachfolgend auszuführenden Fragestellungen bilden diese Parameter – Trauer, Trauma
und dessen transgenerationelle Weitergabe – den Rahmen für die vorliegende Studie.
Der Schnitt im Werk Grass´ hin zu einer „ganzheitlichen“ Betrachtung der
Vergangenheit offenbart sich in der Hauptfigur Tulla Pokriefke. Die Protagonistin aus
der Danziger Trilogie wird als Mittäterin gezeichnet, die zugleich Opfer ist. Dieser
Opferstatus erstrebt kein Aufrechnen mit den Untaten, sondern will aufzeigen, wie
sich aus einer pathologischen Traumatisierung eine verzerrte Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit ergibt. Es wird deutlich, dass diese Verzerrung eine wahrhaftige
Übernahme von Schuld- und Reuegefühlen durch traumatisierte Menschen unmöglich
macht. Tatsächlich sind Traumatisierte unfähig um sich und um andere zu trauern,
weil ihnen die Fähigkeit zur Empathie abhanden gekommen ist. Indem das selbst
33
Dieter Stolz, Günter Grass. Der Schriftsteller. Eine Einführung, Göttingen, 2005, S. 173.
Ebd., S. 179.
35
Ebd., S. 171.
36
Hall, S. 174.
34
20
erlittene Trauma die Empathie zerstört, bildet sich eine Wirkungskette, die, mit Blick
auf die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, in ein sich selbst perpetuierendes
Nichts zu führen scheint: ohne Empathie kein Mitleiden mit dem Leid der Anderen,
ohne Mitleiden kein Schuldempfinden, ohne Schuldempfinden keine Trauer, ohne
Trauer keine Vergebung. Damit erscheint das Trauma der Opfertäter als Blockade bei
der Annahme von Schuld und historischer Verantwortung.
Durch die Gewalterfahrung während Flucht und Vertreibung hat die Protagonistin
Tulla Pokriefke ihre Heimat, ihre Eltern und ihre körperliche Integrität verloren.
Ihr „Binnichtzuhauseblick“ stellt sich in der Konfrontation mit diesen Verlusten
regelmäßig ein (z.B. 57/206). Es ist dieser Blick, hinter dem sich das Bild der
Trauer verbirgt: „In der deutschen Sprache leitet sich das Wort Trauer von der
Gebärde `die Augen niederschlagen´ ab. Der Blick ist abgewandt, richtet sich nach
innen, gibt aber gleichzeitig ein Zeichen des Leidens und der Schmerzen für
den/die Anderen der sozialen Umwelt.“37
Margarete Mitscherlich beschreibt Trauer als einen seelischen Vorgang, „in
dem ein Individuum einen Verlust mit Hilfe eines wiederholten schmerzlichen
Erinnerungsprozesses langsam zu ertragen und durchzuarbeiten lernt, um
danach zu einer Wiederaufnahme lebendiger Beziehungen zu den Menschen
und Dingen seiner Umgebung fähig zu werden.“38 Die Trauerarbeit umreißt
Mitscherlich als mühsamen Akt, der „eine Beschäftigung mit sich selbst
(erfordert), eine zeitweilige innere Einsamkeit, die für manche nur schwer
durchzustehen ist.“39
In seiner Trauer um die im Ersten Weltkrieg „vernichteten Kulturdenkmale und die
verlorenen Humanitätsideale vertraute (Sigmund) Freud auf die den Menschen
37
Petra Strasser, `Trauer versus Melancholie aus psychoanalytischer Sicht´, S. 37-52 in Wolfram Mauser;
Joachim Pfeiffer, (Hg.), Trauer. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und
Psychoanalyse 2003, Bd. 22, Würzburg, 2003, S. 39.
38
Margarete Mitscherlich, Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern, Frankfurt, 1987,
S. 149.
39
Ebd.
21
erneuernde Wirkung der Trauer und auf die Erneuerung.“40 Das konstruktive
Element der Trauerarbeit, die „Erneuerung“ bedingt die Erinnerung. Die Trauer wird
damit in einem erweiterten Sinne zur Arbeit an der Erinnerung.41 Im erinnernden
Blick zurück wird die Lösung und Trennung von dem geliebten aber verlorenen
Objekt vollzogen: „Erinnerung wird so zu einem hochdynamischen Dissoziierungs-,
Reassoziierungs- und Rekategorisierungsprozess oder zu einer aktualisierten
Neuinterpretation persönlicher Vergangenheit. Es ist kein Wiederfinden oder
Wiedererkennen von Objekten, sondern ein erneutes Verstehen.“42
Demgegenüber steht die Melancholie. Sie kann als eine Art ewig stockender
Trauerprozess umschrieben werden. Freud begreift die Melancholie als
„neurotische Form der Trauer, als pathologische Trauerarbeit“43, die zu einer
Störung des Selbstgefühls werde und die so den Objektverlust der Trauer
entziehe.44 Die geistige Verfassung der Melancholie als „eine schwermütige
Stimmung, eine verzweifelte Grundverfassung, eine Art innere Schwerkraft des
Gemüts“45 behindert die Trauerarbeit und damit die Fortentwicklung eines
Individuums infolge eines Verlusts. Tulla, die sich in der Trostlosigkeit
ewiggleicher Fragmente ihrer Vergangenheit bewegt, scheint unentrinnbar
einzementiert in diese Melancholie.
Die Kunst und die ästhetische Theorie sehen in der Melancholie ein wichtiges
Moment, „einen Gestus, der um Vergänglichkeit weiß, sie artikuliert und
gestaltet.“46 Mit Blick auf eine Kultur der humanistisch-zivilisatorischen
Fortentwicklung scheint sich diese melancholische Kunst jedoch in einer Blockade
aufzulösen:
Eine bloß um ständigen Zeitverlust besorgte Melancholie, die sich um die
ganze Welt bekümmert zeigt, schlägt am Ende unvermeidlich in deren völlige
40
Ebd.
Strasser, S. 42.
42
Ebd.
43
Sigmund Freud zitiert in: Strasser, S. 44.
44
Ebd.
45
Strasser, S. 42.
46
Ebd.
41
22
Vergleichgültigung um, wenn sie nicht an der Trauer Maß nimmt und sich
vom Betrauerten her die Frage vorgeben lässt, ob und wie wir uns künftig und
für die Zukunft zum Verlorenen verhalten wollen oder sollen. In der Trauer
ergeben sich Antworten auf diese Frage freilich keineswegs von selbst.47
Erst im schmerzlichen Prozess des Durcharbeitens (Mitscherlich) ergeben sich
Antworten, die jedoch nicht notwendigerweise kathartische Wirkung haben
müssen. Dennoch steckt im Begriff des Durcharbeitens ein „finales Moment“:
„Arbeit will erledigt sein, die Durchsetzung des Realitätsprinzips ist das Ziel.“48
Spekulativ ergibt sich aus dieser kathartischen Begriffsassoziation ein Motiv für
die Abwehrhaltung gegenüber der Trauerarbeit um die historischen Ereignisse.
Insbesondere mit Blick auf den Holocaust bestand und besteht die Angst vor dem
„finalen“ Durcharbeiten, die zum Status des „Erledigten“ und „Abzulegenden“
führt und so die Erinnerung aus dem „öffentlichen Raum“ verschwinden lässt.
Anstatt eines „Verschlusses“ birgt die Trauerarbeit im Idealfall unbedingt eine
Erweiterung: „Betrachtet man aber Trauern eher als einen prozesshaften Vorgang,
der zu neuen Kategorien der Selbsteinschätzung und Selbstbewertung führt, so
entsteht aus dem Erleben und Erleiden eines Verlusts auch eine neue Dimension
von Subjekthaftigkeit.“49 Die Chance auf Erweiterung liegt in einem Erinnern,
durch das ein „neues Bewusstsein für Vergangenes und damit auch für
Gegenwärtiges und Zukünftiges“50 entsteht.
Die Arbeit an der Trauer, verlaufe sie melancholisch-pathologisch oder
konstruktiv-erweiternd, ist ein Primäraffekt des Menschen und gehört damit zu den
„Grundgefühlen, die emotionspsychologisch, neurobiologisch und evolutionär
gesichert sind. Neben der Trauer sind dieses Interesse, Angst, Wut und Freude.“51
Dem „Subjekt“ obliegt somit keine Entscheidungsgewalt, der Trauerprozess setzt
47
Burkhard Liebsch, Revisionen der Trauer. In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und
ästhetischen Perspektiven, Weilerswist, 2006, S. 62f.
48
Strasser, S. 49.
49
Ebd.
50
Ebd.
51
Strasser, S. 39.
23
nach einem erlittenen Verlust automatisch ein. Der britische Psychoanalytiker John
Bowlby hat drei idealtypische Phasen der Trauer umrissen:
Die Phase der Betäubung, verbunden mit Gefühlen von Panik, Wut und Qual,
die Stunden bis Wochen anhalten kann. Sie wird abgelöst von einer Phase der
Sehnsucht und Suche nach dem verlorenen Objekt, die emotional zu Zorn,
Gram, Unruhe, Tränen, Schluchzen und Schlaflosigkeit führt und Monate bis
Jahre dauern kann und dann in eine Phase der Desorganisation und
Verzweiflung führt, in der die Trauer durchlebt wird, um dann zu einer mehr
oder weniger gelungenen Reorganisation zu gelangen. Der Trauernde
unterscheidet dann Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster, die nicht länger
angebracht sind, von solchen, die er beibehalten möchte.52
Der Verlauf der Trauer im Hinblick auf Dauer, Schmerz und Ausprägung wird von
einer Reihe von Variablen bestimmt, darunter etwa die Persönlichkeitsstruktur
sowie Alter und Geschlecht des Trauernden, die Identität und Rolle der oder des
Verlorenen für die Hinterbliebenen, Gegenstand, Ursache und Umstände des
Verlustes.53
Am Ende einer vollzogenen Trauerarbeit wird das Objekt „nicht im Sinne
Freuds `abgelöst´ durch andere“54, sondern mit der „Erinnerung an das
verlorene Objekt entwickelt sich eine Differenzierung, eine schmerzliche
Anerkennung dessen, was zum Objekt und was zum Selbst gehört.“55 Trauer ist
somit kein Prozess, der zu bewältigen ist, sondern eher ein Zustand, der nie
aufgelöst wird, der mehr oder weniger bewusst in der eigenen und der sozialen
Wahrnehmung erhalten bleibt.56 Auf dieser Basis unterscheidet Bowlby
deutlich die öffentliche Trauer, die kulturell bestimmt ist, und die individuelle
Reaktion, die alle bewussten und unbewussten Prozesse infolge eines Verlustes
umfasst.57
52
John Bowlby zitiert in: Strasser, S. 41.
Strasser, S. 41.
54
Ebd., S. 42.
55
Ebd., S. 40.
56
Ebd., S. 41.
57
Ebd.
53
24
In der Kategorisierung der Erinnerung, jenem ersten Schritt der Trauerarbeit,
wird deutlich, dass Traumatisierte unfähig sind, zu trauern:
Zu den (…) verfügbaren Erinnerungen kommen noch die unzugänglichen
Erinnerungen hinzu, die unter Verschluss gehalten werden, und deren
Torwächter Verdrängung oder Trauma heißen. Diese Erinnerungen sind
zu schmerzhaft oder zu beschämend, um ohne äußere Hilfe an die
Oberfläche des Bewusstseins zurückgeholt werden zu können.58
Trauerarbeit als „Arbeit an der Erinnerung“ lässt sich somit nicht bei einem
Verlust vollziehen, der mit der Erfahrung einer Traumatisierung verbunden ist,
weil die Erinnerungen unzugänglich sind: „Das Trauma verschließt die
Vergangenheit in der Zukunft als etwas, (…), (das) unfähig (ist), bewusst
erinnert zu werden und in einen Prozess des Durcharbeitens überführt zu
werden.“59 In dieser Beschreibung traumatisch verschlossener Erinnerungen
reflektiert sich Grass´ Begriff der „Vergegenkunft“, als „einer Vergangenheit,
die ihre Schatten auf die Gegenwart und die Zukunft“60 wirft. Es ist, als ob die
Betroffenen „unfähig geworden sind, eine persönliche Wahrnehmung ihrer
Erinnerung zu haben“.61
Nach Freud gliedert sich der Trauerprozess in die Phasen des „Erinnerns“, des
„Wiederholens“ und des „Durcharbeitens“.62 Die Narration im Krebsgang reflektiert
diese Struktur: die Vergangenheit um den Untergang der Gustloff repräsentiert das
Erinnern; die Gegenwart, die die Lebenszeit des Erzählers Paul umfasst, ist die Ebene
des Durcharbeitens und die Zukunft, symbolisiert im Enkel Konny, versinnbildlicht
die Wiederholung. Das Ende der Geschichte, der Mord Konnys an Wolfgang
Stremplin, alias David, offenbart die Unmöglichkeit eines „geradlinig“ verlaufenden
Trauerprozesses bei traumatischen Erfahrungen. Die Wiederholung, die beim
Trauerprozess zur allmählichen Einordnung des Verlustes führt, mutiert im Trauma
58
Aleida Assmann, `Wie wahr sind Erinnerungen?´, S. 103-122 in Harald Welzer, (Hg.), Das Soziale
Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg, 2001, S. 104.
59
Gertrud Koch, `Affekt und Effekt. Was haben Bilder, was Worte nicht haben?´, S. 123-133 in Welzer, ebd., S.
128.
60
Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 33.
61
Ebd., S. 130.
62
Vgl. Sigmund Freud, `Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten´, S. 205-215 in ders., Studienausgabe.
Ergänzungsband. Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt, 1975.
25
zum Wiederholungszwang. Der Verlust muss erneut durchgespielt werden, in der
Hoffnung, dieses Mal die Kontrolle zu haben und einer Traumatisierung zu entgehen.
Durch die Wiederholung macht die Narration der Novelle Im Krebsgang deutlich, wo
eine Trauerarbeit ansetzen muss: bei der Wahrnehmung und Bearbeitung des
Traumas.
Neben der Fragmentierung, sichtbar in Tullas Erinnerungsbrocken an die
Vergangenheit, ist die Erinnerung an das traumatische Ereignis durch Sprachlosigkeit
gekennzeichnet: die Nicht-Repräsentierbarkeit des Unaussprechlichen. Der Erzähler
Paul, dessen leidlich erfolgreiche Bemühungen, dem Schicksal seiner Mutter Tulla
Pokriefke, der jungen Tulla aus Katz und Maus, Ausdruck zu geben suchen, spiegelt
die Schwierigkeit des Rückwärtsgehens, um voranzukommen. Durch das Trauma,
dargestellt im Untergang der Gustloff, und den Erzähler Paul, werden die
Sprachlosigkeit, respektive das Wiederfinden der Sprache zum zentralen Motiv der
Novelle. Das Trauma wird bearbeitet, indem die Erlebnisse allmählich artikuliert und
in ihrem Gesamtkontext in den Fluss der eigenen Erinnerungen eingefügt werden
können. Die Bilder und Wörter, die der Sohn Paul für die Vergangenheit seiner Mutter
findet, umfassen neben dem Untergang des „KdF“ Dampfers Wilhelm Gustloff auch
das historische „Vorher“ und „Nachher“ der Katastrophe.
Das „Nachher“ umfasst die Erzählstränge auf der Gegenwartsebene seit der
Katastrophe. Diese Erzählstränge offenbaren die unmittelbaren pathologischen Folgen
einer Traumatisierung, die in den Abschnitten „Trauma“ und „Verdrängung“ in dieser
Arbeit dargestellt werden. Der Begriff der „Individuellen Erinnerung“ für diesen
Abschnitt über das Trauma unterstreicht die Dominanz traumatischer Erfahrungen im
Leben von Individuen. So können mitunter aufgrund der pathologischen Folgen des
Traumas die individuellen Erinnerungen nicht mit den entsprechenden historischen
Kontexten verknüpft werden. Dies drückt sich etwa in der Frage Tullas aus: „Mecht
mal bloß wissen, was sich dieser Russki jedacht hat, als er Befehl jab, die drai Dinger
direktemang auf ons loszuschicken….“ (11). Tulla vermag nicht, ihr individuelles
Erlebnis in ein historisches Erinnern zu setzen. Durch extreme Traumatisierung
während Kampfeinsätzen, Inhaftierungen, Bombardements, Flucht und Vertreibung
26
etc. wird die Erinnerung des betroffenen Individuums an die Vergangenheit
beeinträchtigt. Das Trauma der Zeitzeugen wirkt sich auf deren Gegenwart und
Zukunft aus, weil die Vergangenheit nur noch in Fragmenten zugänglich ist, wodurch
ein Gesamtbild der eigenen Identität und dem was sie geformt hat, hermetisch bleibt.
Anders gesagt, das Trauma verschließt die Vergangenheit in der Gegenwart und
Zukunft. Dieser als „Vergegenkunft“ in Grass´ Werk umschriebene Zustand reflektiert
sich in einem eigenen Abschnitt im Teil „Trauma“ dieser Studie. Einleitend wird dort
der bisherige „erinnernde“ Umgang mit einer traumatischen Vergangenheit im
Gesamtwerk Grass´ umrissen.
Umfasst das „Nachher“ die Dimension des Traumas, so reflektiert sich das „Vorher“
aus Pauls Erzählung im historischen Teil der vorliegenden Arbeit - „Kollektive
Erinnerungen“. Die kollektiven Erinnerungen, die Paul aus öffentlich zugänglichem
Material und Zeitzeugenberichten gewinnt – bilden den erweiterten Rahmen für Tullas
individuelle Erinnerung, bzw. Nichterinnerung an das Trauma, dessen (historische)
Ursachen und Folgen. Indem Paul das erweiterte Spektrum der Vergangenheit
offenbart, ergibt sich die Möglichkeit, die historischen Abläufe und Prozesse, die zu
dem Trauma des Untergangs geführt haben, in der Gegenwart zu verstehen. Diese
kontextualisierte Annäherung an die Katastrophe entspricht in der Traumatologie dem
Durcharbeiten einer traumatischen Erfahrung. Der Begriff der „Kollektiven
Erinnerung“ für den historischen Teil ergibt sich insbesondere aus der Beschäftigung
mit der, etwa von Hannah Arendt erhobenen und vom Erzähler explizit formulierten
Frage, wie ein ganzes Volk dem Nationalsozialismus anheimfallen konnte (39) –
Deutschland war das einzige Land, in dem diese Ideologie zur Massenbewegung
avancierte – und damit implizit wie es zu Mitwissern, Mitläufern und Mittätern des
Holocaust wurde. An dieser Stelle entfaltet sich das narrative Spektrum der
Vergangenheit aus individuellen und kollektiven Erinnerungen weit über den
Untergang der Gustloff hinaus.
Zu einem zunehmend zentralen Motiv ist für Grass die prozeßhafte Gewinnung von
Erkenntnissen aus der Geschichte geworden. Insbesondere in seinen Schriften örtlich
27
betäubt63 und „Vom Stillstand im Fortschritt“64 verweist der Autor auf die
Allmählichkeit dieses Prozesses, der bildlich gesprochen durch zwei Vorwärts- und
einen Rückwärtsschritt geprägt sein mag. Diese Form der Fortbewegung findet sich im
Bild des Krebsgangs und in der Narration des „Vorher“ und des „Nachher“ wieder.
Um notwendige Erkenntnisse aus der Geschichte zu gewinnen, wie Grass das vor
allem für Deutsche mit ihrem historischen Erbe postuliert, bedarf es im Sinne HansGeorg Gadamers eines authentischen Vergangenheitshorizonts. Ihm zufolge können
Erkenntnisse („Horizonterweiterung“) allein durch die „Verschmelzung“ einer
authentischen historischen „Überlieferung“ mit dem Gegenwartshorizont gewonnen
werden. Die Forderung nach einer authentischen historischen Überlieferung bedingt,
eindimensionale Betrachtungsweisen aufzubrechen und durch ein sachlich
differenziertes Erfassen der maßgeblichen Ereignisse, Entwicklungen und Prozesse zu
einem kognitiven Verstehen einer Epoche zu gelangen. Ungleich schwieriger gestaltet
sich das, zum authentischen Erfassen von Geschichte vor allem durch Nachgeborene
erforderliche, „sinnliche“ Verstehen von Geschichte.
Dieses „sinnliche“ Verstehen bedingt, sich in die Geisteshaltungen,
Unzulänglichkeiten, Ängste und Wünsche einer historischen Epoche gedanklich
einzulassen. „Finstere“ Geschichte aus dem „hellen“ Blickwinkel der Gegenwart
verzerrt wahrzunehmen und zu unzureichenden Schlussfolgerungen zu gelangen, mag
so umgehbar sein. Nur die Wahrnehmung der kognitiven und der sinnlichen
Dimension von Historie scheint den Nachgeborenen die Durchdringung des
Vergangenheitshorizonts in seiner tatsächlichen Ausprägung zu ermöglichen und die
Gewinnung von Erkenntnis aus der Geschichte zu erlauben. Dabei geht es keineswegs
um ein Verständnis, das jene Zeitgenossen in milderem Licht erschienen ließe. Die
Erkenntnis aus der Geschichte erscheint in Grass´ Krebsgang als eine Zielsetzung:
aufzuzeigen, wie und warum Menschen durch „revolutionäre“ politische und kulturelle
Strömungen in fatale Fahrwasser geraten können, wie und warum aus anfangs
„harmlos“ scheinenden Denkweisen fatale Konsequenzen entspringen können und wie
63
64
Grass, örtlich betäubt, in Volker Neuhaus, Werkausgabe (WA), Bd. 4, Darmstadt, 1987.
Grass, `Vom Stillstand im Fortschritt´, Aus dem Tagebuch einer Schnecke in ebd.
28
und warum fatale Denk- und Handlungsstrukturen unbewusst an nachfolgende
Generationen weitergegeben werden, wenn sich nicht in das Bewusstsein rücken.
Mit Blick auf die (traumatischen) Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt aber
auch auf die kulturellen, politischen Strömungen und Umbrüche im frühen 20.
Jahrhundert sind im ersten Abschnitt der „Kollektiven Erinnerungen“ - „Das
Fundament: Globale historische Kontextualisierung vor 1933“ - die
Rahmenbedingungen dargelegt, die sich aus dem Krebsgang als Weg zeichnen lassen,
der 1933 vorbereitet hat. Die Auseinandersetzung mit der „Epoche des
Nationalsozialismus in Deutschland 1933-1945“ als zweiten Abschnitt umreißt die
NS-Epoche nach den beiden maßgeblichen Erklärungsansätzen mit Blick auf ein
„kognitives“ und „sinnliches“ Verstehen, wie sie sich aus der Novelle entnehmen
lassen: „`Die Verführung´: Historische Kontextualisierung von NS-Ideologie und
`Volksgemeinschaft´“ und „Die `Gewalt´: Historische Kontextualisierung von NSDiktatur, Staatsterror und Krieg“. Im ersten Unterabschnitt werden Erklärungsansätze
für die „freiwillige“ Beteiligung am Massenappeal des Nationalsozialismus als
weltweit einzigartiges Phänomen umrissen. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem
„Führerkult“, dem „NS-Wirtschaftwunder“ aber auch der Frage nach möglichen
Gründen für die politische Apathie innerhalb der „Volksgemeinschaft“.
Demgegenüber steht die „angstgesteuerte Beteiligung“ bei einer differenzierten
Wahrnehmung der NS-Epoche. In diesem Unterabschnitt werden die Einflüsse
staatlichen Terrors in der NS-Diktatur und die durch Krieg entstandenen Zwänge in
Umrissen herausgearbeitet.
In einem weiteren historischen Teil über Antisemitismus gilt es gleichwohl
aufzuzeigen, wie die Deutschen zwischen 1933-45 als „ganz normale Menschen“
(Harald Welzer) im Krebsgang geschildert werden, deren Antisemitismus keine
„eliminatorischen Züge“ eines „nationalen Projekts“ (Daniel Goldhagen) zugrunde
lag. Nur diese gedankliche Ausgangsbasis erzielt in der Gegenwart die Öffnung für die
Erkenntnis, wie spezifische Denk- und Handlungsstrukturen in fatale Fahrwasser eines
„gewalttätigen Antisemitismus“ führen können. Der Denkansatz eines
„eliminatorischen Antisemitismus“ hingegen erweist sich als nicht weiterführend für
die Gewinnung der Erkenntnis, da er bestimmte menschliche Verhaltensweisen auf
29
enge Parameter begrenzt: in diesem Fall der „spezifische Charakter“ eines bestimmten
Volkes. Hierdurch erscheint die Bereitschaft gegenüber einer zivilisatorischevolutionären Aufgabe, Erkenntnisse aus Gattungsbrüchen in der Vergangenheit für
Gegenwart und Zukunft zu gewinnen, maßgeblich beeinträchtigt. Der Analyse
antisemitischer Entwicklungslinien immanent ist in diesem Zusammenhang zugleich
die Auseinandersetzung mit der, bis heute unter Historikern strittigen Frage, ob der
Antisemitismus in Deutschland originär für den Holocaust war.
Die kognitive und sinnliche Erfassung der nationalsozialistischen und antisemitischen
Entwicklungslinien von deren Ursprung, Ausprägung und Resultat erlaubt die
Gewinnung von Erkenntnissen in der Gegenwart für die Zukunft. Um ein
authentisches Verstehen (i.S.v. Gadamers „Überlieferung“) darüber zu gewinnen, wie
aus Begeisterung Wahnvorstellungen werden, die unmenschliche Gewalt erzeugt, gilt
es mitunter, dieser „Begeisterung“ in ihrem historischen Kontext „sinnlich“ nahe zu
kommen. Eine Voraussetzung dafür ist die Annahme der eigenen ambivalenten
Identität, die nicht nur die ausschließlich positiven Seiten einbezieht, sondern auch die
eigenen Schattenseiten annimmt.
Die kontextualisierte historische Darstellung im Krebsgang sucht im Blick zurück aus
der Gegenwart (Paul) auf die Vergangenheit (Tulla) nicht nach entlastenden
historischen Entwicklungen, Prozessen, Vorkommnissen, die die Schuld der
Zeitzeugen vermindern will. Vielmehr geht es in der kontextualisierten
Auseinandersetzung um die Analyse der historischen Entwicklung, Prozesse,
Vorkommnisse, durch die nachgeborenen Generationen die Möglichkeit erhalten,
Erkenntnisse über - oftmals unbewusste, weil der menschlichen Psyche immanent
(z.B. Fremdenangst) - kompromitierende Denkansätze (Gabi spricht über die
„schlechten Gene“ Konnys) in das Bewusstsein zu rücken.
Weiterhin reflektiert diese differenzierte Annäherung, wie schmal der Grad zwischen
kritikloser Begeisterung und abgründiger Kompromittierung sein kann. Durch die
Darstellung der historischen Entwicklungen verweist die Novelle auch darauf, wie
schnell und fast unmerklich bei einem unzureichenden Bekenntnis zu
30
kompromissloser Humanität dieser Grad überschritten werden kann. Darüber hinaus
soll die differenzierte Betrachtungsweise auch voreiligen Verurteilungen durch
nachgeborene Generationen entgegenwirken, die sich nur schwer ein Leben in Krieg
und Diktaturen vorzustellen vermögen. Erst indem ausschließlich verurteilende
Denkansätze aufgebrochen werden können, lassen sich authentische Erkenntnisse
gewinnen. Dieser Vorgang ist im Krebsgang etwa dargestellt in dem Treffen der
Überlebenden in Damp. Man schneidet Heinz Schön als „Russenfreund“, ist er doch
mithin der einzige, der über das Erfassen der authentischen Historie seinem Täter zu
verzeihen vermag, während für die anderen „der Krieg niemals aufgehört hat“.
Durch die Gegenüberstellung beider Erinnerungsmodi – den der traumatisierten Tulla
und den öffentlichen Konsensmodus (aus öffentlich zugänglichem Material) – deuten
sich die Diskrepanz zwischen einem Wissen an die Vergangenheit an, das traumatisch
beeinträchtigt ist (individuelle Perspektive) und dem historischen Wissen der
Ereignisse (kollektive Perspektive). Diese Diskrepanz spiegelt sich auch in den
entgegen gesetzten Positionen der Novellenform und des pathologischen Traumas.
Während die Novellenform eine ökonomisch klare und strenge Linie verlangt, ist das
Trauma ein Zuviel an Eindrücken, die nicht eingeordnet werden können. Erst in der
Kontextualisierung des Traumas, dem Vorher und Nachher des Untergangs, wie sie
sich aus Pauls Schilderung ergibt, scheint sich diese Diskrepanz allmählich auflösen zu
können. Erst indem diese Diskrepanz aufgelöst wird, scheint ein Identitätsdiskurs
möglich, der das eigene Trauma als Mitwisser, Mitläufer und Mittäter, der durch
Krieg, Flucht und Vertreibung zum Opfer wurde, einzubeziehen vermag. Dieses
wiederum ist die Grundvoraussetzung für die kognitive und empathische
Wahrnehmung des Traumas der Opfer von Nationalsozialismus und Holocaust. Erst
die empathische Anteilnahme ermöglicht das Bewusstsein für die historische
Verantwortung.
Allerdings scheitert Paul bei diesem Versuch, indem es ihm wegen der „Verbotstafel“
des Alten, als einen Hinweis auf Grass´ Verbots-Interpretation von Adornos
Forderung, kein Gedicht mehr nach Auschwitz zu schreiben, nicht gelingen will, in
den (sensuellen) Kern der Geschichte – dem Trauma – einzudringen. Dieses Agieren
31
spiegelt sich zugleich in der Symptomatik des Traumatisierten, dem das Wissen um
sein eigenes Trauma fehlt und der seine Empathiefähigkeit verliert. Indem das Trauma
nicht bearbeitet werden kann, scheitert der Prozess der integrativen Erinnerung, die ein
kognitives Verstehen mit seiner emotionalen und moralischen Bedeutung verbindet. In
diesem Scheitern wird die Bedeutung von Grass´ Forderung nach einer sinn-lichen
Wahrnehmung von Geschichte umso prägnanter65.
Die im zweiten Kapitel „Wiederholen“ dargestellten psychologischen Prozesse der so
genannten „transgenerationellen Weitergabe“ von Traumata durch Zeitzeugen auf
nachfolgende Generationen offenbaren, dass sich der (durch Großmutter Tulla)
transgenerationell traumatisierte Konny Pokriefke und sein Opfer Wolfgang Stremplin
in einer Welt bewegen, die nicht ihrer eigenen Zeit entspricht. Vielmehr lassen beide
in bizarrer Weise die Welt ihrer Vorväter wieder aufleben. Dabei wird erneut die
Diskrepanz zwischen der (durch Tulla übertragenen und verzerrten) individuellen
Erinnerung und der (historischen) kollektiven Erinnerung deutlich. Hier offenbart sich
eine mögliche Erklärung für die Lücke in der „empathielosen Wissensgesellschaft“ der
nachfolgenden Generationen: die verzerrte Wahrnehmung durch übertragene
Traumata.
Auch in diesem Kapitel steht die Kernfrage dieser Studie in entsprechender
Abwandlung im Mittelpunkt, wie (transgenerationell) traumatisierte Menschen
historische Verantwortung für ein schwieriges Erbe übernehmen können, dessen
Geschehen vor ihrer Zeit lag. Eine besondere Herausforderung ergibt sich für die
Nachgeborenen aus der Nicht-Repräsentierbarkeit des Traumas. Dieser Sachverhalt
findet sich sowohl im eigenen Trauma (vgl. Abschnitt „Trauma“) als auch im Trauma
Holocaust.
Um historische Verantwortung zu übernehmen, müssen den nachgeborenen
Generationen Wörter und Bilder für die Vergangenheit verfügbar sein. Nur so lassen
sich Erkenntnisse aus der Geschichte gewinnen, die zur Übernahme von
Verantwortung befähigen. Der das zweite Kapitel einleitende Abschnitt „Holocaust“
65
Neuhaus, Bd. X, S. 172
32
bezieht sich auf die eingangs dargestellte Blockade für die Nachgeborenen, denen der
(gedankliche) Zugang zu dieser Katastrophe verweigert scheint. Das Diktum der
„Nicht-Repräsentierbarkeit“ des Holocaust scheint dem Erfassen der historischen
Katastrophe als Vorbedingung für die zivilisatorisch-evolutionäre Aufgabe in der
Gegenwart entgegen zu stehen. Folglich steht in diesem Abschnitt die Frage im
Mittelpunkt, wie sich (mitunter transgenerationell traumatisierte) Nachgeborene einen
Zugang zum Holocaust schaffen können, der sie nicht bei Überforderung enden lässt
(Dan Diner), sondern ihnen die Annäherung an jene Aufgabe ermöglicht, die sich aus
dem Zivilisationsbruch ergibt.
Dringlich stellt sich diese Frage in einer Welt ohne Menschen, die den Holocaust
unmittelbar oder mittelbar erfahren haben. Es erscheint als unabdingbar, Brücken zu
bauen, die den Gattungsbruch Holocaust in das Gedächtnis der Gegenwart - der dritten
und den nachfolgenden Generationen – überführen können. Ohne Zeitzeugen kann
das, wofür kein Medium gefunden wird, in einer alltäglichen Gegenwart nicht erinnert
werden: „Unser Vorstellen und primäres Erkennen schneidet eben aus der unendlichen
Fülle des Wirklichen und seinen unendlichen Auffassungsmöglichkeiten Bezirke
heraus, wahrscheinlich so, dass die damit jeweils umgrenzte Größe als Grundlage
unserer praktischen Verhaltungsweisen ausreicht.“66 Dass der Holocaust als
„Verschnitt“ aus unserer Wirklichkeit vergessend überwunden wird, weil er jenseits
der alltäglich gebrauchten „Grundlage unserer praktischen Verhaltungsweisen“ liegt,
wird vorstellbar, möglicherweise wahrscheinlich. Auch darauf mag Grass hinweisen,
wenn er die Architekten des Holocaust in die Vergessenheit verschwinden lässt („Falls
in einem Fernsehquiz nach Himmler oder Eichmann gefragt würde, könnte mit teils
richtiger Antwort, aber auch mit ratloser Geschichtsferne gerechnet werden.“ - 37)
Im letzten Kapitel „Durcharbeiten“ sollen in einer konstruktiven Auseinandersetzung
die „historischen Überlieferungen“ und der „Gegenwartshorizont“, wie sich diese
jeweils im Krebsgang darstellen, miteinander „verschmolzen“ (Gadamer) und der sich
66
Georg Simmel, `Lebensanschauungen: Die Transzendenz des Lebens´, S. 212-235 in Gregor Fitzi, Otthein
Rammstedt, (Hg.), Georg Simmel. Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, Gesamtausgabe, Bd. 16,
Frankfurt, 1999, S. 214.
33
daraus ergebende Erkenntnisgewinn erarbeitet werden. Dieser kognitive und sinnliche
Erkenntnisgewinn aus der Geschichte der Novelle Im Krebsgang lässt sich als die
Voraussetzung für den Übergang von einer „empathielosen Wissensgesellschaft“ zur
Übernahme bewusster historischer Verantwortung begreifen. Indem das Trauma über
mehrere Generationen die Vergangenheit in der Gegenwart und Zukunft verschließt,
können beide Horizonte nicht zur Erkenntnis aus der Geschichte verschmelzen. Dem
Ende der Novelle Im Krebsgang entsprechend scheint sich Geschichte in weiteren
Gewalttaten zu perpetuieren: „Nie hört das auf!“
Gleich Gadamer ist es im Krebsgang die „Bewegung“ im Horizont, die diesen
Übergang generiert. Die Novelle verharrt nicht bei einer sich an Mitscherlichs´
Wiederholungszwang anlehnender Essenz (Die Unfähigkeit zu trauern) - denen am
Ende der 1960er Jahre noch keine empirische Traumatologie zur Verfügung stand. In
einem fast nebensächlichen Erzählstrang lässt Grass seinen Protagonisten Heinz
Schön, den früheren Zahlenmeisterassistenten auf der Gustloff, der das gleiche
traumatische Schicksal erlebt wie Tulla, eine wesentliche Entdeckung machen. Indem
sich Schön immer wieder mit dem Trauma konfrontiert und sich in die (sinn-liche)
Perspektive des Täters Kourotschkin, dem früheren Bootsmann des attakierenden UBoots S13, hineinversetzt, versteht er, dass die Handlung des Täters im Moment der
Bombardierung durch ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit ausgelöst worden ist. Durch
diese Bewegung der ständigen Konfrontation mit dem Trauma und des
Perspektivwechsels gewinnt er die Fähigkeit zur Vergebung. Andererseits bringt allein
der Dialog mit Schön dem früheren Bootsmann das Wissen um seine schreckliche Tat
und befähigt ihn, sich mit seiner (angenommenen) Schuld auseinander zu setzen. Im
Bild der gereichten Hände zwischen beiden Protagonisten spiegelt sich Gadamers
Verschmelzung zur (beidseitigen) Erkenntnis („Horizonterweiterung“) aus einer
authentischen historischen „Überlieferung“ mit dem Gegenwartshorizont
(„Vormeinung“).
Im dritten Kapitel „Durcharbeiten“ wird nicht zuletzt dargestellt, welche
Prozesse sich in der Beziehung zwischen Opfern und Tätern bzw. deren
Nachkommen ergeben und welche Aufgaben sich daraus für Opfer und Täter
34
bzw. deren Nachkommen mit Blick auf die „Horizonterweiterung“ stellen.
Diese Analyse basiert auf der These, dass die Verschmelzung von
Vergangenheits- und Gegenwartshorizont zu einer Erweiterung bzw.
Erkenntnis gelingt, wenn unmittelbare (Zeitzeugen) und mittelbare
(transgenerationell übertragene) Traumata als eine verzerrende Perspektive
gegenüber der Realität wahrgenommen werden.
Die Empathielosigkeit als Symptom pathologischer Traumatisierungen zieht sich im
lieblosen Umgang der Protagonisten miteinander als roter Faden durch die Novelle.
Diese Empathielosigkeit verhindert ein Mitleiden mit dem Schicksal anderer.
Entsprechend werden in einer Schlußbetrachtung die Mechanismen von (jeweils
empathieloser) Gewalt und Gegengewalt im Verlauf der Geschichte, wie sie sich aus
dem Krebsgang ergeben, noch einmal konzentriert aufgegriffen. In diesem
abschließenden Teil tritt die Notwendigkeit der Erkenntnisgewinnung aus der
Geschichte als Plädoyer von Grass besonders hervor.
Zu Gunsten einer klaren Struktur der zahlreichen psychologischen, historischen
und erinnerungskulturellen Einzelthemen als Bausteine der jeweiligen Kapitel
erfolgt eine Gliederung dieser Studie in Textblöcken, versehen mit
entsprechenden thematisch zugeordneten Überschriften, in denen jeweils
bestimmte Aspekte in den Blickpunkt rücken.
Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Auseinandersetzung mit den Traumata jener
Mitwisser, Mitläufer und Mittäter des NS-Regimes, die zu Opfern wurden und die
transgenerationelle Weitergabe dieser Traumata aus der individuellen und kollektiven
Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die nachfolgenden
Generationen, wie sie sich in Günter Grass´ Novelle Im Krebsgang darstellt. Der
Fokus liegt dabei auf Fragen nach möglichen Perspektiven, die eine Übernahme der
historischen Verantwortung gegenüber Nationalsozialismus und Holocaust vor allem
durch transgenerationell traumatisierte Protagonisten der nachgeborenen Generationen
ermöglichen.
35
Nicht Gegenstand dieser Dissertation sind etwaige Fragen im Rahmen eines
moralisch-philosophischen Kontextes nach Schuld und Sühne gegenüber
Nationalsozialismus, Krieg oder Holocaust oder etwaige Vergleiche zwischen den
Schicksalen von Tätern und Opfern. Die theoretische Basis dieser Arbeit ist die
offizielle Definition des Krankheitsbildes pathologischer Traumatisierungen durch die
Weltgesundheitsorganisation WHO67 sowie die empirischen Ergebnisse zur
transgenerationellen Übertragung von Traumata.
67
Vgl. Abschnitt „Trauma“.
36
1. Kapitel: „Erinnern“
37
Und wir: Zuschauer, immer, überall,
dem allen zugewandt und nie hinaus!
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt,
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
Rainer Maria Rilke, 8. Duineser Elegie
38
DIE INDIVIDUELLE
ERINNERUNG
39
Abschnitt: „Trauma“
40
Vorbemerkung
Der Novelle Krebsgang ist als Motto „in memoriam“ - im Gedenken - vorangestellt.
Das Gedenken ist ein Akt des Erinnerns. Das Erinnern steht am Beginn der
Trauerarbeit. Im Prozess der Trauer werden die Objekte „nicht im Sinn der Theorie
Freuds abgelöst durch andere, sondern erfahren eine sie erhaltende neue innere
Wirklichkeit.“68 Zu fragen steht somit nach dem Weg von der Erinnerung zu der neuen
(inneren) Wirklichkeit.
In seinem Bericht über eine Arbeitstagung zum Thema Erinnerung und Gedächtnis im
Jahr 1964 schreibt Hans-Georg Gadamer, es handle sich bei der memoria um ein
`Riesenthema´, das immer nur `in Bruchstücken und Teilsaspekten´ diskutiert werden
könne.69 Am Ende seines Berichts führt Gadamer die Formel vom „unendlichen
Thema“ der memoria ein. Manfred Weinberg leitet daraus ab, dass die Erinnerung ein
„Widerspiel von Unendlichkeit und Thematisierung“ ist, das nicht anders als
„bruchstückhaft zu beschreiben“ sei.70 Diese Bruchstückhaftigkeit der Erinnerung
bedingt, dass es „in ihrer Beschreibung aber auch darum (geht), das je Begrenzte zum
es begründenden Unendlichen ins Verhältnis zu setzen.“71
In diesem Kapitel über die individuelle und kollektive Erinnerung geht es um das
„Mit- und Gegeneinander von Unendlichkeit und Thematisierung“ bei der
„Beschreibung des Erinnerungsgeschehens“72 im Krebsgang. Prägend ist dabei die
beschränkende Sichtweise des Traumas, das die Protagonistin Tulla erlebt. Es gilt
aufzuzeigen, welche Wirkung die individuelle (traumatische) Erfahrung auf die
individuelle und somit auf die kollektive Erinnerung hat. Während sich das
„Miteinander“ in den Erinnerungen findet, liegt das „Gegeneinander“ in dem
Verdrängten verborgen. Beides zusammen ergibt den „Vergangenheitshorizont“ im
Sinne Gadamers und stellt eine Grundlage für das dritte Kapitel „Durcharbeiten“
68
Petra Strasser, `Trauer versus Melancholie aus psychoanalytischer Sicht´, in Mauser, Pfeiffer, (Hg.) Trauer, S.
42.
69
Hans-Georg Gadamer, `Bericht über die Arbeitstagung vom Oktober 1959´ in: Archiv für Begriffsgeschichte 9,
S. 15-18, Mainz, 1964, S. 15.
70
Manfred Weinberg, `Nächtens mehr. Erinnerung und Gedächtnis in Hölderlins Hyperion´, S. 97-116 in Günter
Oesterle (Hg.), Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik, Würzburg, 2001, S. 97.
71
Ebd.
72
Ebd., S. 99
41
bereit. Zunächst sei einleitend ein Blick auf den bisherigen „erinnernden“ Umgang mit
einer traumatischen Vergangenheit im Gesamtwerk Grass´ geworfen.
42
Die schwierige Trauer im Werk von Günter Grass
In ihrer Schrift Über das Böse umreißt Hannah Arendt das „größte begangene
Böse“ als das
Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt, von menschlichen
Wesen, die sich weigern, Personen zu sein. Im konzeptionellen Rahmen
dieser Betrachtung könnten wir feststellen, dass Übeltäter, die sich
weigern, selbst darüber nachzudenken, was sie tun, und die sich auch im
Nachhinein gegen das Denken wehren – also sich weigern, zurückzugehen
und sich an das zu erinnern, was sie taten (…) – es eigentlich versäumt
haben, sich als ein Jemand zu konstituieren. Indem sie sturköpfig ein
Niemand bleiben, erweisen sie sich als unfähig, mit Anderen zu
kommunizieren, die, ob nun gut, böse oder in dieser Hinsicht
unbestimmbar, zumindest aber Personen sind.73
In den Augen vieler hat Grass dieses „größte Böse“ begangen, indem er, der „in
Fragen der historischen Schuld zum womöglich wichtigsten Auskunftsgeber
der Deutschen wurde“74, über sechzig Jahre verschwiegen hatte, Mitglied bei
der Waffen-SS als Panzerschütze der 10. SS-Panzerdivision „Frundsberg“
gewesen zu sein. „Er selbst schwieg ja auch, wie alle, die er angegriffen hatte,
er zählt gleichfalls zu all denen.“75
Das Sich-Zurück-Erinnern an den jungen Günter Grass in der 2006
erschienenen Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel geriet in den Verdacht
des „hämischen“ Strebens nach „Freispruch in einem Schauprozess befangener
Richter“:
Grass dokumentiert eine objektive Falschheit, sich selbst eingeschlossen,
ob absichtlich oder nicht. Diese Form der Enthüllung verträgt – nach
seinen Maßstäben – das Authentische nicht, und so setzt er dazu an, den
Jungen, der er war, zu verleugnen. Insofern geschieht nichts Neues: Grass
enthüllt wie seit jeher (und wie es heute alle machen) und er leugnet
weiterhin, performativ, indem er von dem Jungen nichts wissen will oder
ihn verachtet. Das ist dem Werk aufgetragen und prägt seine Form. 76
73
Arendt, S. 101-102.
Frank Schirrmacher, `Das Geständnis´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 12.08.06, S. 1.
75
Christoph König, Häme als literarisches Verfahren. Günter Grass, Walter Jens und die Mühen des Erinnerns,
Göttingen, 2008, S. 8.
76
Ebd.
74
43
Das „Rechthabenwollen“ des Autors, der sich schlicht von seinem früheren Ich
abspalte, gebe dessen Werk einen neuen, schalen Beigeschmack:
Sein Autor verträgt keine Schwächung der eigenen politischen `persona´.
(…) Der Wille politisch und also öffentlich rechtzuhaben, will im Werk
die sprachlichen Möglichkeiten, sich zu erinnern, in seinen Dienst
nehmen; man wird von hier aus anders auf die Erzählstrategien in den
Romanen Grass´ und die von ihnen insinuierte kognitive Unsicherheit
sehen.77
Grass beschreibt sein Erinnern in einer Weise, die andere Motive für sein
Schweigen offen zu legen vermag:
Da mir, dem Kind einer Familie, die nach Kriegsende vertrieben wurde,
im Vergleich mit Schriftstellern meiner Generation, die sesshaft am
Bodensee, in Nürnberg oder im norddeutschen Flachland aufgewachsen,
also im Vollbesitz ihrer Schulzeugnisse und Frühprodukte sind, kein
Nachlaß aus Jugendjahren zur Hand ist, kann nur die fragwürdigste aller
Zeuginnen, die Dame Erinnerung, angerufen werden, eine launische, oft
unter Migräne leidende Erscheinung, der zudem der Ruf anhängt, je nach
Marktlage käuflich zu sein.78
Vor vierzig Jahren schrieb Grass in der Blechtrommel über die „fragwürdigen“
und „launischen“ Erinnerungen, „das Wissen und das Nichtwissen sind an
Zeiten und Grenzen gebunden.“79 Ein Besuch in Dachau, den der „Jungnazi“
Grass zur Umerziehung zu durchlaufen hatte, bestimmt diese Zeiten und
Grenzen für das Wissen und Nichtwissen:
`Habt ihr die Duschräume gesehen mit den Brausen, angeblich fürs Gas?
Waren frisch verputzt, haben die Amis bestimmt nachträglich gebaut….´
Es verging Zeit, bis ich in Schüben begriff und mir zögerlich eingestand,
dass ich unwissend oder, genauer, nicht wissen wollend Anteil an einem
Verbrechen hatte, das mit den Jahren nicht kleiner wurde, das nicht
verjähren will, an dem ich immer noch kranke.80
77
Ebd.
Grass, Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen, 2006, S. 64.
79
Grass, Die Blechtrommel, Gütersloh, 1979, S. 191.
80
Grass, Beim Häuten der Zwiebel, S. 221.
78
44
Thomas Kniesche bestätigt Grass, seiner historischen Verantwortung nachgekommen
zu sein:
Günter Grass gehört zu jenen, die den Weg von der Schuld zur Scham gegangen
sind (…) Von diesen Menschen schreibt Arendt: `Sie werden sich vermutlich
nicht sehr gut zu Funktionären der Rache eignen. Eines aber ist sicher: auf sie
und nur auf sie, die eine genuine Angst vor der notwendigen Verantwortung des
Menschengeschlechts haben, wird Verlass sein, wenn es darum geht, gegen das
ungeheure Übel, das Menschen anrichten können, furchtlos und kompromisslos
und überall zu kämpfen.´81
Der Blick auf Grass´ Werk seit dem Ende der 1950er Jahre legt den Gedanken
nahe, dass es gerade diese verdeckte Schicht des eigenen Beteiligtseins
gewesen ist, die den Motor für das künstlerische und essayistische Schreiben
kraftvoll in Gang gehalten hat. Das Wissen oder – vor dem Hintergrund des
siebzehn Jahre alten Verführten und älteren Verschweigenden – die Ahnung
über die eigene Unzulänglichkeit mag den Boden der Erkenntnis über die
Notwendigkeit für den „Zwang“ zum Sprechen erst bereitet haben. In den
frühen siebziger Jahren versucht Grass ein Arbeitsprofil des Schriftstellers in
seiner Generation, die diese These stützt:
Er versucht das, was unmittelbar verrinnt, in Vergessenheit gerät, mit
ästhetischen Mitteln neu zu benennen und dadurch gegen diese
verstreichende Zeit anzuschreiben. (…) Ein für meine Generation sehr
bezeichnendes Nachholbedürfnis, ein Sichklarwerdenwollen über das, was
unsere Kindheit ausgemacht hat und was dann weiterhin in der
Nachkriegszeit belastete, war wohl der Hauptantrieb für diese Form des
Schreibens. Ich habe das – für mich wenigstens – vorläufig
abgeschlossen.82
Das Belastende wird zum wichtigsten Antrieb. Zu dieser Belastung gehört
allem voran die eigene Verstrickung, das eigene Einlassen in die Abgründe und
Thomas Kniesche, `“Das wird nicht aufhören, gegenwärtig zu bleiben.“ Günter Grass und das Problem der
deutschen Schuld´, S. 169-190 in Hans Adler; Jost Herrmann, (Hg.), Ästhetik des Engagements, New York,
1996, S. 190.
82
Christof Schmid, `Wie ein Roman entsteht´, S. 63-72 in Gertrud Simmerding, (Hg.), Literarische Werkstatt,
München 1972, S. 68.
81
45
dessen Verschweigen - ohne die das Werk von Grass vielleicht nicht möglich
gewesen wäre.
Die Zeitgebundenheit von Wissen und Nichtwissen offenbart sich gleichfalls in
einer Beobachtung Kniesches. Anstatt „abgeschlossener
Vergangenheitsbewältigung“ glaubt er von den frühen 1980er Jahren an bei Grass
etwas anderes zu erkennen: „Was Grass hier also – zumindest für sich persönlich –
meint abgeschlossen zu haben, erweist sich wenig später als dauerhaftes
Trauma.“83 Obwohl Grass sich seit den 1980er Jahren zunehmend anderen Themen
gewidmet habe, wie etwa dem Bevölkerungswachstum oder dem Nord-SüdGefälle, „holt ihn der Komplex `Auschwitz´ doch immer wieder ein.“ Als Beleg
dafür verweist Kniesche auf den Butt, der von der Zwanghaftigkeit männlichen
Agierens hin auf ein Ende handele, was „auch Auschwitz mit zu verantworten“
habe.84
Gegen Ende der 1980er Jahre gelangt Grass schließlich selbst zu der Ansicht, dass
die Deutschen – explizit schließt er sich ein - ihre Vergangenheit nicht
abgeschlossen haben. Zwar habe es in den 1950er und 1960er Jahren den
gutgemeinten Begriff der „Bewältigung der Vergangenheit“ gegeben, aber „heute
zeigt sich, und das stelle ich auch bei mir fest, dass die Vergangenheit nicht zu
bewältigen ist. Das `Verbrechen Auschwitz´, (…) ist nicht zu bewältigen. Je größer
die zeitliche Distanz wird, umso unbegreiflicher, umso schrecklicher wird es.“85
Für Grass, resümiert Kniesche, werden die Schuld und die Scham im Verlauf der
verstreichenden Zeit immer größer.86
In seiner Gedenkrede zum 50. Jahrestag der Machtergreifung Hitlers formuliert
der Autor einen Gedanken, der „dann noch oft von ihm vorgebracht werden
wird“ und dessen alternierender Kern auf eine Traumatisierung durch die
Geschichte hindeutet: ihre Vergangenheit werde für die Deutschen etwas, das
83
Kniesche, S. 182.
Ebd.
85
Francoise Giroud, Günter Grass, Wenn wir von Europa sprechen. Ein Dialog, Frankfurt 1989, S. 26.
86
Kniesche, S. 194.
84
46
sich jeder Art von Bewältigung immer mehr entziehe und gleichzeitig etwas,
das zum Sprechen gelangen wolle, das eine Einsicht ermöglichen könne, eine
Selbsterkenntnis, „ohne die dieses Volk nicht fortbestehen“ könne.87 Erstmals
formuliert Grass damit das konstruktive Element in der Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit.
Die Einsicht über den Prozessverlauf von den Anfängen der Geschichte von
Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust bis zu deren Ende setzt eine Form
der Konfrontation voraus, die Grass mit dem Zeitbegriff der „Vergegenkunft“
(Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus) umrahmt. Eine Vergangenheit,
die „ihren Schlagschatten auf gegenwärtiges und zukünftiges Gelände“88 wirft,
die „nicht aufhören (wird), gegenwärtig zu bleiben“89 entspricht einem
Erkenntnisprozess aus der Vergangenheit, der in Gegenwart und Zukunft
niemals abgeschlossen sein wird – einer historischen Verantwortung als stetiger
Aufgabe. Setzt man das unaufhörliche Durcharbeiten mit dem andauernden
Schreiben des Autors gleich, so meint Grass, dass „dem Schreiben nach
Auschwitz (…) kein Ende versprochen werden (kann), es sei denn, das
Menschengeschlecht gäbe sich auf.“90
Die Überforderung, die diese Konfrontation insbesondere für die nachfolgenden
Generationen mit sich bringt, wenn das unverständlichste aller Ereignisse zwischen
1933 und 1945 – der Holocaust – als Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit
der Geschichte herangezogen wird, diagnostiziert Grass auch für seine
Schriftstellergeneration rückwirkend in der „missverstandenen Verbotstafel“91. In
seiner Frankfurter Poetikvorlesung spricht er von der Wirkung, die Adornos
Diktum - „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“92 - auf die
junge Schriftstellergeneration hatte: „Bevor man sich Zeit nahm, Adornos
87
Grass, `Vom Recht auf Widerstand´, S. 836-843 in Volker Neuhaus, (Hg.), Günter Grass. Werkausgabe,
Darmstadt, 1987, Bd. 9, S. 837.
88
Grass, Schreiben nach Auschwitz, Frankfurt, 1990, S. 33.
89
Ebd., S. 9.
90
Ebd., S. 43.
91
Ebd., S. 14.
92
Theodor W. Adorno zitiert in: Grass, ebd., S. 14.
47
herausgepflückte Zuspitzung im Umfeld ihrer vor- und nachgestellten Reflexionen
zu entdecken, sie also nicht als Verbot, sondern als Maßstab zu begreifen, stand
ausgesprochen wie unausgesprochen die Abwehr fest gefügt.“93 Doch woher kam
diese Abwehr, wenn doch diese Generation keine unmittelbare Schuld trug, sogar
vom ehemaligen Reichsjugendführer von Schirach von aller Verantwortung
freigesprochen worden war?94
Diese Abwehr entsprang dem Bewusstsein, zwar nicht „als Täter, doch dem Lager
der Täter zur Auschwitz-Generation“95 anzugehören. So reflektiert Grass mit Blick
auf den Kreis junger Autoren:
Sobald ich mich als lyrisches Jungtalent neben den Jungtalenten
Enzensberger und Rühmkorf sehe, fällt mir auf, dass unsere Vorgaben – und
Talent ist nichts als Vorgabe – spielerisch, artistisch, kunstverliebt bis ins
Künstliche waren und sich wahrscheinlich kaum der Rede wert ausgelebt
hätten, wären ihnen nicht rechtzeitig Bleigewichte verordnet worden.96
Diese Gewichte, eines davon Adornos Diktum, verordneten „dem ideologischen
Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben Platzverweis zu erteilen und nur
noch auf Zweifel zu setzen, der alles und selbst den Regenbogen graustichig
werden ließ.“97 Grass selbst findet erst aus der „Distanz zu Deutschland – Sprache
und Atem, um auf tausendfünfhundert Seiten in Prosa das zu schreiben, was mir
trotz und nach Auschwitz notwendig war.“98
Unermüdlich hat Grass als Autor auf die Unvergänglichkeit der Vergangenheit von
Auschwitz und des Nationalsozialismus in Deutschland bestanden.99 Die
Erzählstruktur seiner Danziger Trilogie war geprägt vom Schuldmotiv als
„Schuldmotor() in der Erzählposition“.100 In der Blechtrommel wollen die
Besucher des Irrenhausinsassen Oskar ihre während der Nazizeit verlorene
93
Grass, ebd., S. 14.
Grass, Beim Häuten der Zwiebel, S. 221.
95
Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 18.
96
Ebd.
97
Ebd., S. 18-9.
98
Ebd., S. 29.
99
Kniesche, S. 174.
100
Heinz-Ludwig Arnold, `Gespräche mit Günter Grass´, in „Text und Kritik“, Heft 1/1a, München, 1978, S. 7.
94
48
Menschlichkeit wiederentdecken, „indem sie das vermeintliche Unschuldslamm
Oskar vor ungerechter Verfolgung retten wollen“101. In Katz und Maus avanciert
der Schuldbegriff zu einem „personalisierten Schuldbegriff“. Der Erzähler Pilenz
wird indirekt schuldig am Tod von Joachim Mahlke und kommt „von Katz und
Maus und mea culpa“102 nur los, indem er schreibt, „denn das muß weg.“103
Kniesche verbindet dieses Schreiben mit einer isolierten Trauer: „Schreiben wird
zur Trauer, die unabschließbar zu werden droht, weil, von den isolierten IchErzählern der Grass´schen Texte abgesehen, niemand bereit ist zu trauern.“104
Die Unmöglichkeit der Trauer entspringt der Schuld und der Scham, die
erdrückend sind. Schließlich greift Grass in Hundejahre das Vergessen der Trauer
und die Schuld, die man nicht loswerden kann,105 als zentrale Symbolik des Textes
auf. Mit der Vogelscheuchenproduktion unter Tage in einem stillgelegten
Bergwerk wird die Erinnerung an die Vergangenheit, die Schuld und die Trauer in
die Unterwelt verbannt, und „als Mahnmal im Geiste des Wirtschaftswunders - und
zugleich dieses parodierend – industriell verarbeitet.“106 Der Hund, der Matern
nach dem Krieg hinterherläuft, symbolisiert die Schuld, die niemals zurückbleibt:
„Hundejahre sind Jahre der versäumten Trauer, der Verdrängung und des
Schweigens.“107
Grass macht das zentrale Schuldmotiv dafür verantwortlich, dass andere Themen
in diesen Texten vielleicht zu kurz gekommen waren. Als Beispiel nennt er die
„Identitätsprobleme“, die etwa bei Max Frisch eine wichtige Rolle spielen.108
Diese Selbstbezichtigung Grass´ lässt eine Ahnung für die Bedeutung der
Zeitgebundenheit von Wissen und Nichtwissen aus einer traumatischen Geschichte
erwachsen: „Locke had defined personal identity as one of consciousness through
101
Kniesche, S. 175.
Grass, Katz und Maus, Neuhaus, Bd. 3, S. 81.
103
Ebd., S. 84.
104
Kniesche, S. 176f.
105
Ebd., S. 177.
106
Ebd.
107
Ebd.
108
Arnold, S. 11.
102
49
duration of time.“109 Stets wechselt der Erzähler in der Novelle Im Krebsgang
zwischen der Suche in der Vergangenheit und dem Resultat daraus in der
Gegenwart und - symbolisiert durch den Enkel Konny - der Zukunft. Dieser
fortwährende Bruch zwischen den erzählten Zeiten und der Erzählzeit wird zum
Abbild einer Suche nach Identität. Die Gebrochenheit der Identität offenbart sich
schließlich im Scheitern des Erzählers, dem die Empathielosigkeit versagt, das
Trauma als solches zu erkennen und zu übermitteln.
Das Traumatische erschließt sich dem Autor aus eigenem Erleben:
Später habe ich mir einige Situationen, denen nur mit Hilfe glückhafter
Zufälle zu entkommen war, so lange in Erinnerung gerufen, bis sie sich zu
Geschichten rundeten, die im Verlauf der Jahre immer griffiger wurden,
indem sie darauf bestanden, bis ins Einzelne glaubhaft zu sein. Doch alles,
was sich als im Krieg überlebte Gefahr konserviert hat, ist zu bezweifeln,
selbst wenn es mit handfesten Einzelheiten in Geschichten prahlt, die als
wahre Geschichten gelten wollen und so tun, als seien sie nachweislich die
Mücke im Bernstein.110
Die Frage der Identität ist unabdingbar mit Schuld und Scham verbunden. Zu den
wesentlichen Bestandteilen dieser Identität gehört das selbst Erlebte. Traumatische
Erfahrungen während des Krieges, etwa Städtebombardements sowie Flucht und
Vertreibung sind eine Zäsur im Leben jedes Menschen. Über ein halbes
Jahrhundert, den Großteil der Lebenszeit vieler Zeitzeugen, sind diese Ereignisse
aus dem öffentlichen Raum verdrängt worden. Was nicht nach außen reflektiert
werden darf, kann keine Formen – Identitäten – gewinnen, auf denen die
Verantwortung aus der Geschichte übernommen werden kann.
Im Krebsgang hat Grass dieses unbestimmte Gespür um die Abwesenheit eines
entscheidenden Elements der Geschichte aufgegriffen. Auch er, der „sah, wie die
mit Flüchtlingen überfüllte Gustloff aus dem Danziger Hafen auslief. Er spürte,
wie sie im Eiswasser versenkt wurde. Er musste ein ganzes Leben leben, um
Christine Brooke-Rose, Rezension zu Ian Watts, `The Rise of the Novel´, “Times Literary Supplement”,
15.02.1957 nachgedruckt in “Times Literary Supplement” 24./31.08.2007, S. 20.
110
Grass, Beim Häuten der Zwiebel, S. 145.
109
50
darüber schreiben zu können.“111 Sein Erzähler Paul will nicht Schuld offen legen
wie Oskar Matzerath oder abtragen wie Pilenz, sondern ein individuell erfahrenes
Trauma an die Oberfläche bringen. Dabei arbeitet er sich Schicht für Schicht
zugleich nach vorne und zurück, um Wirkung und Ursache des Traumas zu
veranschaulichen. Dieses Schichtenabtragen ähnelt nicht dem Häuten einer
Zwiebel, „deren Geruch den omnipräsenten `Leichengeruch´ verdrängen soll“112,
sondern dem Lauf eines Krebses, der nur scheinbar zurück geht und dabei doch
voran kommt.
Mit der Veröffentlichung seiner Novelle Im Krebsgang im Jahr 2002 reagiert
Günter Grass als erster Autor aus seiner Generation auf jene Debatte, die mit
den Thesen W.G. Sebalds Ende 1997 zum Thema Luftkrieg und Literatur
einsetzte. Darin hatte der Autor behauptet, die Luftangriffe und deren Folgen
kämen im deutschen Bewusstsein und vor allem in der deutschen Literatur seit
1945 nicht vor. Die Städtebombardements durch Alliierte Streitkräfte, eine „in
der Geschichte bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion“113 scheine bei den
Deutschen „kaum eine Schmerzensspur“114 hinterlassen zu haben.
Das Erscheinungsjahr der Novelle Im Krebsgang fällt an den Beginn eines neuen
Jahrhunderts, an dessen Ende es keine Zeitzeugen für die zwölf Jahre währende
NS-Zeit mehr geben wird. Insgesamt besteht in diesem Jahrhundert die Frage nach
den Formen der Erinnerung und des Gedenkens, die die historische Verantwortung
zu tragen vermögen.
Der Krebsgang setzt die Themen aus dem dritten Teil der Danziger Trilogie
Hundejahre fort115, wodurch die Novelle zu deren Fortsetzung insgesamt wird.
Indirekt ist im Krebsgang darauf verwiesen: „Gleich nach dem Erscheinen des
111
Rüdiger Görner, `Des Widerspenstigen Gegenrede. Aufzeichnungen zu Günter Grass´, S. 481-492 in Norbert
Honsza; Irena Swiatlowska, (Hg.), Günter Grass. Bürger und Schriftsteller, Dresden, 2008, S. 482.
112
Grass, Katz und Maus, Neuhaus, S. 95.
113
W.G. Sebald zitiert in: Volker Hage im Gespräch mit W.G. Sebald, `Feuer vom Himmel´, „Der Spiegel“,
3/1998, 12.01.1998, S. 169.
114
Ebd.
115
Rüdiger Bernhardt, Günter Grass. Hundejahre, Hollfeld, 2006, S. 24.
51
Wälzers `Hundejahre´ sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden“. (77)116 Die
Novelle umspannt den Zeitrahmen von 1936 bis 1999. Handlungsorte sind das
nationalsozialistische Deutschland, die russische Besatzungszone nach 1945 und
die beiden 1949 gegründeten deutschen Staaten sowie das wiedervereinigte
Deutschland nach 1990. In den gegenüber der Trilogie erweiterten Zeitrahmen und
Handlungsorten kündigt sich eine Auseinandersetzung an, die über die Fragen der
Schuld des Einzelnen, dem Kern der Danziger Trilogie, hinausgeht.
Die Umgrenzung als Autor der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ lässt sich
durch essayistische Subjektivität nur schwer überwinden, wenn es gilt, erweiterte
Perspektiven zu besetzten. Im erhellenden Licht der Novelle, in der die unerhörte
(tatsächliche) Einzelbegebenheit an die Oberfläche rückt, hat sich Grass, der sich als
Autor der Abstraktion verweigert, eines unbewussten und sinnlichen Instrumentariums
bei der Darstellung bedient: dem Trauma. Der Untergang des KdF-Dampfers Wilhelm
Gustloff wird zur narrativen Plattform für die Leiden der deutschen Bevölkerung
während des II. Weltkriegs durch Städtebombardements, Flucht und Vertreibung.
Indem die traumatisierenden Auswirkungen dieser Ereignisse in den Blickpunkt
rücken, werden die Figuren im Krebsgang zu „Opfern“. Parallel veranschaulichen sich
in der kontextualisierten historischen Darstellung vor dem Untergang, Motive dafür,
wie die Zeitzeugen zwischen 1933-45 zu Mitwissern, Mitläufern und Mittätern
geworden sind. Gegenüber den Protagonisten der Novelle Im Krebsgang ergibt sich
daraus die, vor dem bisherigen Werk Grass´ gesehen, erweiterte Perspektive der
(traumatisierten) „Opfertäter“.
Die Aufteilung der „Blöcke“ Schuld durch Nationalsozialismus und Holocaust
einerseits und Leid durch Krieg andererseits deutet sich bereits in dem 1999
erschienenen Werk Mein Jahrhundert an. Im Jahr 1964 findet die Hochzeit eines
jungen (Güter-)Bahnarbeiters und seiner schwangeren Freundin in Frankfurt statt. Die
räumliche Zusammenkunft der standesamtlichen Trauung im Frankfurter Römer und
116
Die Zahlenangaben in Klammern entsprechen jeweils den Seitenangabe in der Novelle Im Krebsgang, 3.
Auflage, Göttingen, Februar 2002.
52
des dort zur gleichen Zeit stattfindenden Auschwitz-Prozesses wirft Fragen auf, deren
Antworten weiterhin verdrängt bleiben:
`Davon haben wir nichts mitgekriegt. Wann soll das gewesen sein?
Dreiundvierzig? Da gab´s bei uns nur noch Rückzug….´ Und Onkel Kurt sagte:
`Als wir die Krim räumen mussten und ich endlich auf Urlaub kam, da waren wir
ausgebombt hier. Aber über all den Terror, den die Amis und der Engländer mit
uns angestellt haben, redet niemand. Klar, weil die gesiegt haben und schuldig
nur immer die anderen sind. Hör endlich auf damit, Heidi!117
Der fragmentarische Streifzug durch das 20. Jahrhundert endet mit den traumatischen
Erinnerungen einer Mutter, die starke Züge von Grass´ kaschubischer Mutter Helene
Grass aufweist.
Indem das Traumatische des 20. Jahrhunderts und seine Auswirkungen auf Individuen
und Kollektive in den Blickpunkt rücken, verändern sich die Konstellationen
gegenüber den Fragen nach Verdrängung und Schuld bzw. Schuldannahme durch die
Zeitzeugen. Im Rahmen dieser Arbeit sollen diese veränderten Konstellationen und die
Erweiterung, die sich daraus ergeben können, herausgearbeitet werden. Durch die
Einführung neuer Generationen im Figurenensemble Grass´ - Paul als Sohn und
Konny als Enkel Tullas - offenbart sich zugleich, wie die Vergangenheit ihre – durch
das Trauma verzerrte - Schatten auf Gegenwart und Zukunft wirft. Diese narrative
Ebene der Novelle rückt die Fragen nach der Übernahme der historischen
Verantwortung in Gegenwart und Zukunft in den Mittelpunkt. Besehen im Lichte des
transgenerationell übertragenen Traumas118 stellen sich auch für die Gegenwart und
die Zukunft aus einer als traumatisch wahrgenommenen Vergangenheit neue
Parameter, die es in dieser Studie herauszuarbeiten gilt. Die Zielsetzung am Ende
dieser Arbeit ist die Darstellung der „Erweiterung“, i.S.v. Erkenntnis, die sich aus der
erweiterten Wahrnehmung der Figuren Im Krebsgang als Opfertäter für die Zeitzeugen
und die nächsten Generationen ergibt.
117
118
Grass, Mein Jahrhundert, Göttingen, 1999, 3. Auflage, S. 231.
Vgl. Kapitel „Wiederholen“
53
Zu jenen wenigen Rezensenten, die sich der Novelle aus traumatologischem
Blickwinkel genähert haben, gehört Hannes Fricke. In einem Essay verweist er vor
allem auf die durch die Erlebnisse von Flucht und Vertreibung veränderten Identitäten
der Protagonisten und die Weitergabe der sich daraus ergebenden Zwänge an die
nachfolgenden Generationen. Fricke betont, dass es in der Novelle gelungen ist, „die
Unmöglichkeit aufzuzeigen, das Geschehen um die `Gustloff´zu schildern – sowohl
für direkt Beteiligte als auch für selbst Unbeteiligte.“119 Auch öffne die Novelle die
Perspektive dafür, dass eine Differenzierung im Umgang mit der eigenen
Vergangenheit erforderlich ist, um einer Weitergabe des „Ungeheuerliche(n)“120 und
des Unbewältigten über die Generationen entgegenzuarbeiten.
119
Hannes Fricke, `Günter Grass´ Im Krebsgang als verspätetes Dokument´, S. 161-168 in: Das hört nicht auf.
Trauma, Literatur und Empathie, Göttingen, 2004, S. 164
120
Ebd., S 168
54
Die Erinnerung des Traumas
Seit den 1970er Jahren stellt die Neurowissenschaft unsere Vorstellung vom
Gedächtnis als einem schützenden Behälter für Erinnerungen radikal in Frage. Es gilt
nun die Konzeption eines schöpferisch wandelbaren und damit aber auch grundsätzlich
unzuverlässigen Netzwerkes.121 Nur ein kleiner Anteil unserer Erinnerungen ist
sprachlich aufbereitet und bildet das Gerüst einer implizierten Lebensgeschichte: „Der
Großteil unserer Erinnerungen schlummert in uns und wartet darauf, durch einen
äußeren Anlass geweckt zu werden. Dann werden diese Erinnerungen plötzlich
bewusst, gewinnen eine sinnliche Präsenz und können in Worte gefasst und zum
Bestand eines verfügbaren Repertoires geschlagen werden.“122 Doch lassen sich nicht
alle Erinnerungen, die in uns „schlummern“ erwecken. Wie in der Einführung
dargestellt, bleiben die unzugängliche Erinnerungen, „deren Torwächter Verdrängung
oder Trauma heißen“ 123 unter Verschluß. Diese Erinnerungen sind zu schmerzhaft
oder zu beschämend und bedürfen äußerer Hilfe, um an die Oberfläche des
Bewusstseins zurückgeholt werden zu könnnen.124
Zwar lässt der „Torwächter“ Trauma bestimmte Erinnerungen an die Oberfläche, die
jedoch insofern unzuverlässig sind, als sie die Realität der Vergangenheit in einer
verzerrten Weise wiedergeben. Dieses Phänomen ergibt sich aus der Entstehung des
Traumas: „Ein psychisches Trauma ist ein Ereignis, das die Fähigkeit des Ichs, für ein
minimales Gefühl der Sicherheit und integrativen Vollständigkeit zu sorgen, abrupt
überwältigt und zu einer überwältigenden Angst oder Hilflosigkeit oder dazu führt,
dass dieses droht, und es bewirkt eine dauerhafte Veränderung der psychischen
Organisation.“125 Die Folge dieser Überwältigung des Ichs ist die NichtRepräsentierbarkeit des Erlebten: „Indem das Trauma den Schutzmantel durchschlägt,
den die seelische Bedeutungsstruktur des Menschen bildet, resultiert der traumatische
121
A. Assmann, `Wie wahr sind Erinnerungen?´, in Welzer Das Soziale Gedächtnis. S. 109.
Ebd. S. 104.
123
Ebd.
124
Vgl. ebd.
125
Werner Bohleber, `Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse´, S. 797-839 in „Psyche.
Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen“, 9/19, 54. Jahrgang Sep./Okt. 2000, Thema: Trauma,
Gewalt und kollektives Gedächtnis, (nachfolgend „Trauma“), S. 830.
122
55
Zustand in einer Abwesenheit von Struktur und repräsentierbarer Erfahrung. Die
Ereignisse werden registriert, aber nicht repräsentiert.“126
In der Novelle Im Krebsgang deutet eine Reihe narrativer Kernelemente auf das
Trauma: Der Schiffskörper der Gustloff wird von feindlichen Torpedos angegriffen,
die in das Innere des Schiffes eindringen. Paul, der den Untergang der Gustloff
schildert, ist als Erzähler stets anwesend, sein Profil – seine Struktur - als Figur (78)
jedoch abwesend. Seine Anlage im Text entspricht somit diesem zentralen
Wesensmerkmal des Traumas, was ihn als eine Figur ausweist, die durch das Trauma
geprägt ist. Die Abwesenheit der Struktur als zentraler Ausgangspunkt des
Protagonisten Paul offenbart sich in der fragmentarischen und ungesicherten
Schilderung seiner Geburt: „Doch das stimmt alles nicht. Mutter lügt. Bin sicher, dass
ich nicht auf der Löwe….Die Uhrzeit war nämlich….Weil schon, als der zweite
Torpedo…. (…) Nur schade, dass Doktor Richter nicht Zeit fand, auch noch die
Urkunde: geboren am, an Bord von, mit genauer Zeitangabe handschriftlich.“ (146) Im
nachfolgenden Abschnitt („Die Sprachlosigkeit des Traumas als Leitmotiv der Novelle
Im Krebsgang“) soll die Dimension der traumatischen Prägung Pauls offengelegt
werden.
Tullas Wiedergabe ihrer Erlebnisse zeugt von der Nicht-Repräsentierbarkeit des
Traumas. Unfähig ihre Geschichte in einer für den Rezipienten klaren Struktur mit
einem Beginn und einem Ende zu erzählen, verliert sich ihre Schilderung in
Fragmenten: „Kam alles ins Rutschen. Kann man nich vergässen, so was. Das heert
nie auf. Da träum ech nich nur von, wie, als Schluß war, ain ainziger Schrei ieberm
Wasser losjing. On all die Kinderchen zwischen die Eisschollen.“ (57)
Ein Trauma, das nicht erinnert bzw. erzählt werden kann, kann auch nicht vergessen
werden und gelangt somit in Bruchstücken stets zurück an die Oberfläche des
Bewusstseins.127 Die Kulturwissenschaftlerin Gertrud Koch umreißt die Perpetuierung,
126
Ebd. S. 798.
Koch, `Affekt oder Effekt. Was haben Bilder, was Wort nicht haben?´ in Welzer, Das Soziale Gedächtnis, S.
128.
127
56
die diese Form der fragmentarischen und zwanghaften Erinnerung für den
Traumatisierten in der Gegenwart hat:
Wenn keine Möglichkeit besteht, ein Trauma durchzuarbeiten, kann die
traumatische Situation nur in Begriffen des Tragischen beschrieben werden. Das
Trauma verschließt die Vergangenheit in der Zukunft als etwas, das wieder und
wieder zurückkehren wird, als unfreiwillige Erinnerung – unfähig, vergessen zu
werden und unfähig, bewusst erinnert zu werden und in einen Prozess des
Durcharbeitens überführt zu werden.128
Die Wirkung dieser unfreiwilligen Erinnerungen auf traumatisierte Menschen ist,
als ob diese (…) unfähig geworden sind, eine persönliche Wahrnehmung ihrer
Erinnerung zu haben oder der Bilder ihrer gegenwärtigen Persönlichkeit zu
assimilieren. Sie bleiben in ihrem Bewusstsein aufgehoben und werden
automatisch reproduziert, als ob ihre Persönlichkeit an einem bestimmten Punkt
blockiert wäre und nicht mehr durch die Hinzufügung, die Assimilierung neuer
Elemente wachsen kann.129
Dieser traumabedingte Stillstand reflektiert sich etwa in dem Haar der
siebzehnjährigen Tulla, das im Moment des Traumas „weiß“ wird. (55) Bis zur
Gerichtsverhandlung ihres Enkels, zu der die inzwischen Siebzigjährige mit einer
„weißlodernden Frisur“ (179) erscheint, ändert sich diese Farbe nicht. Das
Traumatische wird betont, indem der Erzähler erklärt, dass Tullas Haar nicht das
„silbrig weiß“ des Alterungsprozesses im Augenblick des Untergangs angenommen
hat, sondern einfach „nur weiß“ (55) und somit „leer“ von Farbe sei.
Als Paul beginnt, die traumatische Geschichte Tullas aufzuschreiben, ist der Enkel
Konny (Pauls Sohn) bereits fünfzehn Jahre alt. (68) Die Novelle beginnt mit dem Satz:
„Warum erst jetzt?“ (7) und deutet so auf die Verzögerung infolge einer Zeit des
Schweigens. Dieses bereits in Freuds Traumakonzept als „Nachträglichkeit“ bekanntes
Phänomen findet sich in der modernen Traumatheorie wieder. Zwischen dem
traumatischen Ereignis und dem Ausbruch der Symptomatik liegt oft eine Latzenzzeit
128
129
Ebd.
Ebd. S. 130.
57
von vielen Jahren.130 Bohleber erläutert diese Latenzzeit am Beispiel von
Kriegsversehrten:
Die Patienten (…) sind durch Kriegseinwirkung schwer traumatisiert: Verlust des
Augenlichts, des Beines oder des Arms. Bei allen diesen Patienten erfolgt der
Ausbruch einer angstneurotischen Symptomatik ca. 15-20 Jahre später. Eine
genaue Untersuchung machte deutlich, dass diese lange symptomfreie
Zwischenphase in Wirklichkeit eine `stumme Krankheitsphase´ war, bei der eine
rigide Abwehrkonstellation an der Oberfläche eine Pseudo- oder Supernormalität
zum Vorschein brachte. Der traumatische Verlust eines Körperteils wird durch
eine Spaltung im Ich gleichzeitig anerkannt und verleugnet. Er ist ohne
Bedeutung.131
Auf der symbolischen Ebene wiegt der Verlust von Tullas Haar – „wie sie ihr weißes
Haar kurzgeschnitten, auf Streichholzlänge getragen hat.“ (55) - weit schwerer als der
Verlust eines Körperteils. Der Symbolforscher Manfred Lurker beschreibt Haar als
eine Metapher für die Lebenskraft: Krieger und Priester (Anm. d. Autorin: im antiken
Griechenland) ließen sich die Haare nicht schneiden, um im Besitz ihrer körperlichen
oder geistigen Kräfte zu bleiben.“132 Tullas Kräfte scheinen nach der Katastrophe des
Untergangs nicht wieder zurückgekommen zu sein: Mit ihrer Streichholzfrisur „läuft
sie noch heute als alte Frau rum.“ (55)
Vor dem traumatischen Erlebnis ist „ihr Haar von Natur aus annähernd blond,
bisschen rötlich bis auf die Schultern gefallen.“ (55) Der Verlust ihrer lichtfarbenen
Haare überspielt sie bis zum Prozess Konnys (179). Das in seiner Farbe an Tullas
frühere Haare erinnernde rötlich-blonde Fuchsfell, das sie sich wie einen
Schutzumhang um die Schultern legt (179), lässt sich als eine Metapher für die
„Pseudo- oder Supernormalität“ in der Zeit der „stummen Krankheitsphase“ werten.
Im Alter von sechzehn Jahren bekommt sie das „farbige Fuchsfell“ (179) von einem
Obergefreiten geschenkt, einem der „denkbaren Erzeuger“ (177) Pauls.
Das unbearbeitete Trauma überträgt sich, wie im Kapitel „Wiederholen“ ausführlich
darzustellen sein wird, von Tulla auf Konny. Durch Konnys Mord an Wolfgang
Mathias Hirsch, Psychoanalytische Traumatologie – Das Trauma in der Familie, Stuttgart, 2004, S. 20-21.
Bohleber, „Trauma“, S. 818.
132
Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart, 1991, S. 272.
130
131
58
Stremplin wird die „stumme Krankheitsphase“ zur äußeren Katastrophe: „Erst nach
einer geringfügig späteren traumatischen Belastung, die vom `Erlebnisthema´ her in
einem inneren Zusammenhang mit der ersten traumatischen Situation steht, bricht
diese Abwehrorganisation (Anm. d. Autorin: der Pseudo- oder Supernormalität)
zusammen und es kommt zu einer massiven traumatischen Reaktion.“133 Entsprechend
liegt Tulla der Fuchs am Ende „wie eine Schlinge um den Hals“ (179).
Der zentrale Gegenstand der Novelle - der Untergang des KdF-Schiffes Wilhelm
Gustloff - kehrt in der Unendlichkeit des unbearbeiteten Traumas wieder. Durch die
unfreiwillige Erinnerung des Traumas spiegelt sich die „Widerstrebigkeit von
Unendlichkeit und Einheit“, die Weinberg für die Erinnerung selbst bestimmt.134 Das
Trauma präsentiert sich in Form stets wiederkehrender „Flashbacks“ - „Son Jeschrai
kriegste nich mehr raus aussem Jehör….“ (146) - oder in Erinnerungslöchern völliger
Dunkelheit stehenden memoria - Tullas „Binnichzuhauseblick“ (57) (vgl. nachfolgend
„Post-traumatische Belastungsstörungen als pathologische Folgen des Traumas“).
Gleich der Erinnerung ist das Trauma damit etwas Umfassendes, das nur in
„Bruchstücken“ (Gadamer) wiedergegeben werden kann. Die Trauerarbeit bedingt die
Arbeit an der Erinnerung. Worte und Bilder für das Unbeschreibliche zu finden, wird
zur Voraussetzung für die Trauer. Indem das Trauma nicht repräsentiert werden kann,
entsteht eine Blockade für den Trauerprozess: „Was aber im Schiffsinneren geschah,
ist mit Worten nicht zu fassen. Mutters für alles Unbeschreibliche stehender Satz: `Da
hab ech kaine Töne fier…´sagt, was ich undeutlich meine.“ (136). Damit steht das
Trauma der Trauer als scheinbar unüberwindbarer „Torwächter“ (Assmann) im Weg.
133
134
Bohleber, „Trauma“, S. 818.
Weinberg in Oesterle, S. 64.
59
Die Sprachlosigkeit des Traumas als Leitmotiv der Novelle Im Krebsgang
Eine Figur, die im Hintergrund der Novelle stets zu Beginn eines Kapitels als die
treibende Kraft für den Erzähler Paul erscheint, ist der „Auftraggeber“. Mit seiner
Frage nach der Verzögerung der Erzählung um die Gustloff beginnt die Novelle:
„`Warum erst jetzt?´“ (7). Er bezichtigt sich selbst eines Versäumnisses und des
Versagens (77), nicht von der Begebenheit um die Gustloff erzählt zu haben. Hierin
deutet sich auch für den „Auftraggeber“ eine „stumme Krankheitsphase“ an. Er hat
sich „leergeschrieben“ (30) und bedarf eines Mediums als Erzähler des traumatischen
Erlebnisses Tullas, den er wie eine „Fundsache“ (78) aufgespürt hat. In dem Begriff
der „Fundsache“ assoziiert sich die Verdrängung des Traumas, die in den
nachfolgenden Abschnitten behandelt wird. Im Konzept des Mediums deutet sich die
Sprachlosigkeit des Traumas an.
Paul ist eine „Person von eher dürftigem Profil“ (78). Wäre er „normal in Flensburg an
Land gekommen und erst dort von Mutter entbunden, wäre ich kein exemplarischer
Fall und gäbe heute nicht Anlaß fürs Wörterklauben.“ (41f) Die Negation des
Normalen deutet auf eine „unnormale“, besondere Funktion des Protagonisten Paul.
Erste Anhaltspunkte gibt Freuds These des Geburtstraumas, wonach der Säugling den
uterinen Wasserraum und die Versorgung durch die Mutter verlassen muss und dazu
gezwungen wird, von nun an selbst zu atmen. Diese Erfahrung trägt der Säugling in
sich, wenn er in einer späteren Phase erleben muss, dass das nahrungsspendende
Objekt, die Mutterbrust, verschwinden kann.135
Erst der „Enkel“ bekommt, in Erinnerung an den ertrunkenen Konrad, den Namen von
Tullas Lieblingsbruder in der verlorenen Heimat. Der „Sohn“ Paul hingegen hält keine
Verbindung zu diesen Wurzeln. Ihm fällt der Name des Kapitäns des Rettungsschiffes
(147) zu. Paul ist „geboren, während das Schiff sank“ (78), also im auslösenden
Moment des Traumas: „Glaich nachem letzten bums jingen bai mir die Wehen los…“
(138) Das Trauma wird somit zur Essenz der Figur Paul. Die Funktion die sich daraus
für ihn ergibt, ist die einer Personifizierung des Traumas.
135
Andreas Jacke, Marilyn Monroe und die Psychoanalyse, Gießen, 2005, S. 41.
60
Im Verlauf der Novelle ergeben sich weitere Hinweise auf die Funktion Pauls als
personifiziertes Trauma (nachfolgend als „das Trauma Paul“ bezeichnet).
Insbesondere das Verhältnis zu seiner Mutter und die Umstände seiner Geburt geben
Aufschlüsse. Sein „erster Schrei“ mischt sich „mit dem für Mutter nicht enden
wollenden Schrei“ (151). Unter einem Tuch liegen „drei erfrorene Säuglinge“, zu
denen später weitere hinzukommen (151), wodurch auf die Unmöglichkeit von Pauls
wirklicher Geburt gedeutet wird. Auch gibt es „kein einziges Foto“ (126) von Paul als
Säugling, was dessen symbolischen Charakter in der Novelle weiter untermauert. Tulla
nennt er nicht „besitzergreifend `meine´, sondern immer nur `Mutter´“ (11). Das
Aussparen des besitzanzeigenden Fürwortes verweist auf die merkwürdige Distanz,
die ein Mutter-Sohn-Verhältnis negiert.
Paul scheint „prädestiniert“ (78) als authentischer Erzähler: „Mein Bericht habe das
Zeug zur Novelle“ (123). Allerdings versagt er bei dem Versuch, klare narrative
Ausgangspunkte zu finden:
Aber noch weiß ich nicht, ob, wie gelernt, erst das eine, dann das andere und
danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll oder ob ich der Zeit
eher schrägläufig in die Quere kommen muß, etwa nach Art der Krebse, die den
Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell
vorankommen. (8-9)
Am Ende stellt Paul fest: „Nie hört das auf.“ (216) In der Figur des Erzählers wird das
Trauma somit zur Perspektive gegenüber dem zentralen Ereignis der Novelle, dem
Untergang der Wilhelm Gustloff. Narrativ offenbart sich diese Perspektive in den
beiden vorstehend beschriebenen Traumasymptomen: der Sprachlosigkeit und der
Verdrängung.
Die Bedeutung der Sprache im Krebsgang geht über deren übliche Stellung in
literarischen Werken hinaus, indem ihre Abwesenheit – die Sprachlosigkeit - in den
Blickpunkt rückt. Jemand, „der nicht ich bin“ (7) zwingt den Erzähler zu berichten
(29/62). Impliziert wird, dass der Erzähler aus sich selbst heraus nicht berichten kann.
Indem Paul das Trauma personifiziert, wird es für ihn als Erzähler unmöglich, eine
61
Sprache zu finden, die dieses Trauma narrativ strukturiert. Er findet weder einen
Anfang – die Sätze des ersten Abschnitts sind zerstückelt (7) - noch ein Ende „Nie hört
das auf.“ (216) Es geht um seine Existenz als das Trauma selbst: würde er die
Geschichte Tullas durch die Repräsentation narrativ integrieren, würde er sich „selbst
abwickeln“.(7)
Wie bereits bemerkt, beschränkt sich die Sprachlosigkeit nicht ausschließlich auf das
Trauma Paul. Der „Auftraggeber“ bezichtigt sich des Versäumnisses (77) und bedient
sich des Mediums Pauls, um die Begebenheiten um den Untergang der Gustloff zu
schildern (30). Wiederholt wehrt sich die fiktionale Figur gegen den Auftrag des
„Alten“ (29/163). Obwohl Paul als Journalist ein professioneller Spracharbeiter ist, der
sein Umfeld von rechts nach links, von „Springer“ (20) zur „taz“ (31) und schließlich
zur „freiberuflich“ (32) bedingten Unabhängigkeit wechselt und damit auch seine
Standpunkte, Perspektiven und seine Sprache ändert „haben die Wörter
Schwierigkeiten mit mir“ (7). Die Sprachlosigkeit wird so zum zentralen Motiv für die
Entstehung der Novelle.
Über diese Sprachlosigkeit wird eine Spannung erzeugt: die Frage danach, ob die
Suche nach Worten, um etwas zu beschreiben, das nicht fassbar ist, am Ende
erfolgreich sein wird. Hierin offenbart sich das Trauma und dessen Bearbeitung als
Leitmotiv der Novelle.
Das der Sprachlosigkeit zugrunde liegende Trauma offenbart sich bereits in der
Antwort des Erzählers auf den ersten Satz - „Warum erst jetzt?“ (7) -, indem er sich in
abgeschnittenen Halbsätzen verliert, die einer klaren Aussage entbehren. Neben dem
Symptom der Sprachlosigkeit deutet sich auch das der Verdrängung an (vgl. Abschnitt
„Verdrängung“). Mit Hilfe einer Übersicht anderer Wesensmerkmale des Traumas, die
sich im Krebsgang wiederfinden, wird die These des Traumas und dessen Bearbeitung
als Leitmotiv der Novelle nachfolgend weiter fundiert.
62
Post-traumatische Belastungsstörungen als pathologische Folge des Traumas
Tullas Sohn Paul ist geboren „während das Schiff sank“ (78), das von Torpedos
getroffen worden ist. Der Aspekt der Unfreiwilligkeit rückt hierdurch in den
Blickpunkt: „Der Schrecken des Traumas ist seine Unfreiwilligkeit – es ist vom
Subjekt, vom Ich abgesperrt und trifft es wie eine Kraft von außen.“136 Indem sich
Paul gegen die stets wiederkehrenden Erinnerungen Tullas sträubt – „Aber ich wollte
nicht.“ (31) - offenbart sich deren Unfreiwilligkeit. Ein wesentlicher Faktor des
Unfreiwilligen ist das „Plötzliche, Disruptive und nicht zu Kontrollierende des
traumatischen Ereignisses und die Erfahrung eines hilflos machenden Zuviel.“137
Diese Plötzlichkeit offenbart sich in Tullas Schilderung der Geburt Pauls: „Das jing
wie nix. Ainfach rausjeflutscht biste.“ (145)
Traumatische Erlebnisse bringen Individuen an die Grenze ihrer Belastbarkeit, ihres
Handlungsvermögens und ihres Fassungsvermögens.138 In seiner Beschreibung des
Prozesses der Traumatisierung greift der amerikanische Psychoanalytiker L. Rangell
dessen pathologische Wirkung auf:
Ein traumatisches Ereignis geschieht durch das Eindringen von Reizen in den
psychischen Apparat, wodurch eine Reihe von intrapsychischen Vorgängen
ausgelöst wird (traumatischer Prozess), und zwar dadurch, dass die Kapazität des
Ich überfordert ist. Dieser intrapsychische Prozess führt zu einer Schwächung der
Grenzen oder der Abwehrmöglichkeiten des Ich, sodass ein Zustand der
Sicherheit nicht wieder erreicht werden kann. Es entsteht ein Zustand
(traumatischer Zustand) des Gefühls der psychischen Hilflosigkeit, ein Gefühl
des Fehlens von Kontrolle und eine Verletzbarkeit für weitere Reize; wenn dieser
Zustand anhält, ist er in sich selbst ein pathologischer Zustand. Der traumatische
Zustand kann durch Restitution beendet werden oder zu einer Entstehung von
Symptomen führen.139
Damit gilt es zu unterscheiden zwischen dem Prozess der Traumatisierung, dem
traumatischen Zustand und den bleibenden pathologischen Veränderungen.
136
Koch, S. 128.
Bohleber, „Trauma“, S. 830.
138
Willi Butollo, Maria Hagl, Marion Krüsmann, Kreativität und Destruktivität posttraumatischer Bewältigung,
Stuttgart 1999, S. 110.
139
Rangell zitiert in: Hirsch, S. 20.
137
63
Als pathologische Veränderung von traumatisierenden Erfahrungen können sich so
genannte „Posttraumatische Belastungsstörungen“ einstellen. Ausgelöst durch
pathologisches Verhalten von Vietnam-Veteranen wurde die Bezeichnung
„Posttraumatische Belastungsstörung“ (nachfolgend „PTB“ genannt) offiziell als
Diagnose erst 1980140 anerkannt und dominiert seither das Verständnis
traumabedingter Störungen.141
Die Bedingungen, unter denen sich eine PTB infolge einer traumatischen Situation
einstellen kann, sind klar umrissen: „(1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit
einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod
oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der
eigenen Person oder anderer Personen beinhalten. (2) Die Reaktion der Person
umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.“142
Der amerikanische Psychoanalytiker John H. Krystal glaubt, dass es nicht die
traumatische Situation an sich ist, die das Gefühl der Hilflosigkeit auslöst, sondern erst
deren subjektive Bewertung.143 Diese subjektive Bewertung wiederum ist abhängig
von der individuellen Situation des Betroffenen. Ob diese individuelle Bewertung
objektiv zutreffend ist, hat für die seelische Reaktion zunächst keine Relevanz: „Wird
die Gefahr als unvermeidbar angesehen, geht die Hilflosigkeit in ein inneres
Sichaufgeben über. Für Krystal ist diese Überwältigung der Abwehrfunktion und der
Ausdrucksfunktion der Angst sowie deren Hemmung das eigentliche traumatische
Ereignis.“144
Die Hilflosigkeit im Moment des in der Ostsee unentrinnbaren Bombardements der
Gustloff zeigt sich im Bild der gebärenden Tulla:
Doch soll ich, nach Mutters Erinnerung, mit meinem ersten Schrei jenen weithin
tragenden und aus tausend Stimmen gemischten Schrei übertönt haben, diesen
Vgl. Diagnosemanual „International Classification of Deseases“ (DSM), WHO, 1992.
Butollo u.a., S. 14.
142
Butollo u.a., S. 26.
143
Krystal zitiert in: Bohleber, „Trauma“, S. 830.
144
Bohleber, „Trauma“, S. 830.
140
141
64
finalen Schrei, der von überall herkam: aus dem Inneren des absackenden
Schiffsleibes, aus dem berstenden Promenadendeck, vom überspülten
Sonnendeck, dem rasch schwindenden Heck und von der bewegten Wasserfläche
aufsteigend, in der Tausende lebend oder tot in ihren Schwimmwesten hingen.
(145-6)
Vor allem in den Begriffen „absackenden Schiffsleib“, „berstenden“, „überspülten“
und „Wasserfläche“ assoziiert sich das „hilflose“ Ausgeliefertsein im Geburtsakt.
Entsprechend Krystals Theorie der subjektiven Bewertung tritt nicht bei jedem
Menschen infolge einer traumatischen Erfahrung eine PTB ein. Zu der Häufigkeit und
den Bedingungen des Auftretens von PTB gibt es keine gesicherten Kennziffern.
Lediglich ist bekannt, dass PTB keine seltene Störung ist.145 Deren Auftreten hängt
u.a. von Alter und psychischer Stabilität des Opfers zum Zeitpunkt der
Traumatisierung und der Intensität des Stressors ab.146 Fest steht, „dass ein Trauma,
was seine Wirkung betrifft, in der Regel nur retrospektiv von seinen seelischen Folgen
her definiert werden kann.“147
Auf der Textebene Paul als Trauma findet sich im Krebsgang ein Hinweis auf die
Häufigkeit von PTB:
Diese Einschränkung muss stehen bleiben: Meine Geburt war nicht einzigartig.
Die Arie `Stirb und Werde´ hatte mehrere Strophen. Denn zuvor und danach
kamen Kinder ans Licht. Etwa auf dem Torpedoboot T 36 sowie auf dem später
eingetroffenen Dampfer Göttingen, (…), das im ostpreußischen Hafen Pillau
zweieinhalbtausend Verwundete und mehr als tausend Flüchtlinge, unter ihnen an
die hundert Säuglinge, an Bord genommen hatte. Während der Fahrt wurden fünf
weitere Kinder geboren, ein letztes kurz bevor das im Geleit fahrende Schiff ein
kaum noch von Hilferufen belebtes Leichenfeld erreichte. (144-5)
Zu den möglichen Auslösern (Stressoren) einer PTB zählen „Naturkatastrophen,
Krieg, gewalttätige Angriffe auf die eigene Person, (…), Folterung,
Kriegsgefangenschaft, Gefangenschaft in einem Konzentrationslager, Unfälle.“148
145
Butollo u.a., S. 16.
Ebd.
147
Bohleber, „Trauma“, S. 829.
148
Butollo u.a., S. 111.
146
65
Zeuge eines solchen Ereignisses zu werden „gilt ebenso als traumatische Erfahrung,
wie von einem solchen Geschehnis zu erfahren, ohne unmittelbar Zeuge gewesen zu
sein, wenn es sich um nahe stehende Personen handelt.“149 Hierin findet sich ein erster
Hinweis auf Konnys transgenerationelle Traumatisierung infolge der Übertragung des
Traumas seiner Großmutter. (vgl. Kapitel „Wiederholen“)
Die Intensität des jeweiligen Stressors bestimmt die pathologische Auswirkung des
Traumas. Für den Prozess der Traumatisierung ist zu unterscheiden zwischen einem
relativ kurzfristigen, unerwarteten Ereignis wie ein Unfall oder ein Erdbeben
(Traumata Typ I) und traumatischen Erlebnissen, die über einen längeren Zeitraum
andauern oder sich wiederholen und somit zur erwartbaren Belastung werden, wie
etwa Krieg oder Gefangenschaft (Traumata Typ II).150 Der amerikanische
Traumatologe B. L. Green hat acht Dimensionen von Stressoren empirisch
festgelegt:151
1) Bedrohung des eigenen Lebens oder der körperlichen Integrität;
2) Schwerwiegende körperliche Verletzung;
3) Absichtlichkeit der zugefügten Schädigung;
4) Konfrontation mit dem Grotesken (Grausamkeiten, Verstümmelungen);
5) Gewaltsamer/plötzlicher Verlust einer geliebten Person;
6) Zeuge zu werden von Gewalt gegen eine geliebte Person oder davon zu hören;
7) Zu erfahren, dass die eigene Gesundheit massiv bedroht ist;
8) Anderen Menschen schweren Schaden zuzufügen oder sie zu töten.
Die letzt genannte Dimension ist im Rahmen der Untersuchung der Novelle Im
Krebsgang von besonderer Bedeutung: die Traumatisierung der Täter. Dieser Aspekt
spielt für die Ambivalenz der „Opfertäter“ eine zentrale Rolle: „Green (1993) bezieht
sich (…) weniger auf die Reaktionen von Tätern im herkömmlichen Sinne, sondern
auf die Stressreaktionen von Opfern, die zugleich Täter sind, wie z.B. im Krieg. Für
149
Ebd., S. 28.
Ebd.
151
Green zitiert in: Butollo u.a., S. 114.
150
66
Vietnam-Veteranen konnte sie bestätigen, dass die Teilnahme an Grausamkeiten im
Rahmen des Kampfeinsatzes die Wahrscheinlichkeit einer PTB erhöhte.“152
In den Protagonisten Tulla, Marinesko, Frankfurter und Konny sind sowohl Täter- als
auch Opferanteile enthalten. Diese jeweiligen Bestandteile sind nicht eindeutig
umrissen, sondern spiegeln sich vielmehr in der diffusen Ambivalenz ihrer Charaktere.
Diese Ambivalenz wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit wiederholt aufgegriffen, da
sie als ein zentraler zeithistorischer Aspekt für die Authentizität der Figuren von
Bedeutung ist. An dieser Stelle bleibt wichtig festzuhalten, dass die Mischform aus
Täter- und Opferanteilen in der Psychoanalyse als ein Auslöser betrachtet wird, der
das Auftreten einer PTB begünstigt.
Als charakteristische Symptome einer PTB sind ausgewiesen:153
1) Formen des Wiedererlebens des traumatischen Ereignisses in Alpträumen,
oder in ungebetenen eindringlichen Erinnerungen („Flashbacks“ oder
„Wiederholungszwang“)154;
2) Versuche, die Erinnerung an das Ereignis und die Beschäftigung damit zu
vermeiden, indem z.B. bestimmte Personen oder Situationen umgangen werden
(Verdrängung); außerdem auch eine insgesamt verminderte emotionale
Ansprechbarkeit, ein emotionales Abstumpfen (Anm. d. Autorin:
Empathielosigkeit);
3) eine permanente Übererregung, die sich z.B. im
Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhter Reizbarkeit oder übertriebener
Wachsamkeit zeigt.
In der Figur Tulla finden sich Hinweise auf das Symptom der Verdrängung und das
des Wiederholungszwangs. Letzterer äußert sich in ihren wiederholten
152
Butollo u.a., S. 114.
Ebd., S. 13-14.
154
Anmerkung: Die intrusiven Phänomene des Wiedererlebens – Flashbacks - sind als „Wiederholungszwang“
in die Terminologie der Traumatologie eingegangen. (vgl. Werner Bohleber, `Einführung in das Thema der
PSYCHE-Tagung 2004´, „Psyche“, Beiheft zur Tagung: Vergangenes im Hier und Jetzt, 59. Jahrgang, S. 9 –
nachfolgend „Vergangenes“).
153
67
fragmentarischen Erinnerungen: Paul „(k)onnte das nicht mehr mit anhören, wenn sie
mir, meistens sonntags, ihre Gustloff-Geschichten zu Klopsen und Stampfkartoffeln
auftischte (…).“ (57) Deutlich wird die Verdrängung des Traumas in der
Verweigerung Tullas, jemals wieder ein Schiff zu betreten (155). Auch erinnert sie
sich nur über Umwege an das eigene Trauma: „Wie aisig die See jewesen is und wie
die Kinderchen alle koppunter.“ (31). Ihre einzige persönliche Erinnerung an das
traumatische Ereignis ist der Fall aus dem Bett im Moment des zweiten
Torpedoeinschlags. (132)
Diese beiden Symptome entsprechen dem kognitiv-psychodynamischen Ansatz des
amerikanischen Psychiaters M. J. Horowitz (1973, 1993) - als Erklärungs- und
Beschreibungsmodell zur PTB.155 Danach stehen sich zwei komplementäre
Verarbeitungsweisen des Traumas gegenüber: zum einen die zwanghafte
Wiederholung des Traumas, d.h. intrusive Phänomene des Wiedererlebens und zum
anderen die gedankliche Verleugnung und emotionale Erstarrung, die sich im
Verarbeitungsprozess des Traumas abwechseln.156
Im Krebsgang findet sich diese komplementäre Verarbeitungsweise aus Flashbacks
und Verdrängung auch in der Figur Paul (als Trauma). Seine Geburt ist mit der
Schilderung des Untergangs der Gustloff verbunden. (132-139) Seiner drastischen
Beschreibung, wie Menschen im eisigen Wasser erfrieren oder von anderen Schiffen
zermalmt wurden, steht die Aussage gegenüber, keine Worte für die ebenfalls
schrecklichen Vorkommnisse auf den Flüchtlingstrecks zu haben: „Ich kann das nicht
beschreiben.“ (102)
Auslöser des Wiederholungszwangs ist die Ausschaltung des verarbeitenden Ichs im
Moment der traumatischen Erfahrung, die das Subjekt mit absoluter Hilflosigkeit
überwältigt157: „Die anstürmenden Quantitäten von Erregung sind zu groß, um
gemeistert und psychisch gebunden zu werden. Die Hoffnung, mit der Aktualisierung
155
Butollo u.a., S. 92ff.
Ebd.
157
Bohleber, „Vergangenes“, S. 9.
156
68
des traumatischen Erlebnisses die Erregung (…) abzureagieren oder psychisch zu
binden“158, löst den Wiederholungszwang aus. Das Trauma Paul beschreibt seinen
eigenen Wiederholungszwang: „Mir aber, dem Überlebenden der Gustloff, schiebt sich
bei jedem Stapellauf, bei dem ich als Journalist zur Stelle sein muß oder den ich im
Fernsehen erlebe, der Untergang des bei schönstem Maiwetter getauften und vom
Stapel gelaufenen Schiffes ins Bild.“ (52)
Solange das Trauma fremd und unbegriffen bleibt, wird es wiederbelebt, es bricht in
Wiederholungen ein und verstärkt das Gefühl der Hilflosigkeit: „Das häufige
Wiederkehren traumatischer Erinnerungen in das Bewusstsein der Opfer und
Überlebenden macht diese ohnmächtig und hilflos. Sie können nicht auf innere
Mechanismen zurückgreifen, um die wieder aufsteigenden traumatischen Erlebnisse
zu kontrollieren.“159 Dabei unterscheiden sich traumatische Erinnerungen von
normalen, nicht-traumatischen Erinnerungen, indem erstere „Erinnerungen, Alpträume
und Flashbacks“ von derart „unmittelbarer Qualität (sind), als wäre das Ereignis eben
passiert. Sie demonstrieren dem Betroffenen, dass die Zeit nicht vergeht.“160 Das
Gefühl unmittelbarer Gegenwärtigkeit stellt sich bei Tullas Aussage ein: „Son Jeschrei
krieste nich mehr raus aussem Jehör…“ (146)
Bohleber beschreibt, dass die immer wiederkehrende Überwältigung der Seele durch
gleichbleibende traumatische Erinnerungssequenzen das Empfinden einer
eingefrorenen oder zerstörten Zeit erzeugt und die Hoffnung auf Veränderung durch
den Zeitablauf immer wieder zerschellen lasse:161 „Traumatisierte Patienten berichten
oft, (…) ihre innere Uhr sei mit dem Datum der Traumatisierung stehen geblieben. Sie
haben zwar ein Gefühl für die objektive Zeit, aber nicht für ihre eigenen Entwicklung
und Lebenszeit, insbesondere nicht für ihre Zukunft.“162 Die erfrorenen Säuglinge, an
die Tulla sich stets erinnert, können als Metapher für diese zerstörte Zukunft
verstanden werden. Auch bei der Konfrontation mit ihrem Trauma während des
Bohleber, „Trauma“, S. 801.
André Karger, „Das kulturelle Trauma“, Vortrag Volkshochschule Düsseldorf, Feb. 2005.
160
Bohleber, „Trauma“, S. 827.
161
Ebd., S. 801.
162
Ebd., S. 827.
158
159
69
Treffens der Überlebenden in Damp, gebärdet die inzwischen gealtetere Tulla „sich
andeutungsweise mädchenhaft“. (95) Eine Verdrängung bzw. Abspaltung der
Erinnerung an das Trauma entsteht nach Horowitz dadurch, dass bisherige
Rollenvorstellungen und Erfahrungsschemata nicht mit der traumatischen Erfahrung
übereinstimmen:
Solche durch die traumatische Information bedrohten Schemata sind z.B. die
Vorstellungen der Unverletzbarkeit (…). Diese Dissonanz löst entsprechend
unangenehme Emotionen aus und damit Versuche, diese zu bearbeiten. Dabei
kommt es durch die überwältigende und existentielle Natur traumatischer
Erfahrungen zu einer Art Informationsüberlastung: Die neue bedrohliche
Information ist zunächst inkompatibel. Innerliche Konflikte und daraufhin
Vermeidungsreaktionen sind die Folge. Die Erinnerung an die traumatische
Erfahrung wird vermieden, das Trauma quasi nicht zu Ende gedacht. Dadurch
wird eine vollständige Verarbeitung unmöglich, die Dissonanz bleibt bestehen
und die Erinnerung an das Trauma bleibt weiterhin aktiviert.163
Die Vermeidungsaktionen gegenüber der Bearbeitung des Traumas in der Zeit nach
dem traumatischen Erlebnis finden sich im Krebsgang in der Metapher der
ertrunkenen Kinder als Symbol für die Zukunft wieder. Von den „über viertausend
Säuglingen, Kindern, Jugendlichen an Bord des Unglücksschiffes (sind) keine hundert
gerettet“ (126) worden. Die Erinnerung wird nicht bearbeitet, sondern verdrängt „getötet“.
Für Hopper (1991) wird das Trauma zur inneren Katastrophe, zum „schwarzen Loch“,
in dem Vernichtungsangst, Leere, Hilflosigkeit und Schmerz herrschen, die alles zu
verschlingen drohen. Die Reihe von schützenden primitiven
Vermeidungsmechanismen, wie Abspaltung, Projektion und Verleugnung, schaffen
eine Art von Kokon oder Deckel, die das Loch zudecken.164 Im Krebsgang reflektiert
sich dieses „schwarze Loch“ in dem hermetischen Innenleben der traumatisierten
Tulla. Lediglich bei den historischen Protagonisten Marinesko, Frankfurter und
Gustloff sind die Motive für ihr jeweiliges Handeln offen gelegt: Frankfurter will sein
163
164
Botullo u.a., S. 93.
Hopper zitiert in: Bohleber, „Trauma“, S. 831.
70
Volk erretten (30), Marinesko will durch kämpferische Erfolge das Kriegsgericht von
sich abwenden (128f) und Gustloff ist überzeugter Nationalsozialist. (10)
Hopper beschreibt, wie der Traumatisierte im Falle eines „schwarzen Lochs“ versucht,
ein „Containment“ zu schaffen und das traumatische Erleben in sich einzukapseln, es
abzuspalten und aus dem Bewusstsein auszuschließen. Diese Einkapselung diene der
Abwehr der Vernichtungsangst. Den Inhalt der Einkapselung bilden Selbst, Objekt und
die verschiedenen Aspekte der traumatischen Situation. Hopper unterstreicht den
realistischen, fixierten Charakter dieser Konfiguration: „Sie bildet einen inneren
Fremdkörper in der Psyche und werden nicht in den allgemeinen Fluss unbewusster
Phantasien mit integriert.“165
In der Geburt Pauls reflektiert sich der Prozess der Abkapselung. Den Moment des
Traumas verbindet er mit sämtlichen diesem vorgelagerten bzw. (historisch kausalen)
Attributen:
Jadoch, nicht auf einem Torpedoboot, sondern auf dem verfluchten, auf den
Blutzeugen getauften, vom Stapel gelassenen, einst weißglänzenden, beliebten,
kraftdurchfreudefördernden, klassenlosen, dreimal vermaledeiten, überladenen,
kriegsgrauen, getroffenen, immerfort sinkenden Schiff wurde ich aus Kopf- und
in die Schräglage geboren. Und mit dem abgenabelten Säugling, der gewickelt
und in schiffseigener Wolldecke verpackt wurde, ist Mutter dann, (…) ins
rettende Boot. (146-7)
Das Trauma setzt im Moment des Untergangs ein. Durch die Wolldecke, in die der
Säugling „verpackt“ wird, entsteht ein isolierter Fremdkörper innerhalb des
Bewusstseins – das Trauma Paul. Zugleich ist der fremde Körper mit der Psyche
seines Trägers verbunden – mental unzertrennbar wie ein Säugling mit der Mutter. Die
Verbindung zu dem untergehenden Schiff als Geburtsort des Traumas wird in der
Geste der Abnabelung des Säuglings gekappt. Sämtliche der Geburt vorgelagerten
(historisch kausalen) Attribute – ausgedrückt in der Abfolge der Adjektive - werden
somit gleichfalls abgekapselt.
165
Ebd.
71
Durch die Abkapselung bleibt keine Erinnerung zurück und es entsteht der Wunsch,
die Kausalkette der Ereignisse, die zum Trauma führen, zurückzuverfolgen. Das ist
Pauls eigentliche Aufgabe, was sich in einer Aussage des „Opfers“ Jenny offenbart:
„`Meine liebe Freundin Tulla setzt immer noch große Erwartungen in dich. Sie läßt dir
sagen, dass es deine Sohnespflicht bleibt, endlich aller Welt zu berichten….´.“ (32)
Dieser Aufforderung folgt die unmittelbare Verweigerung aus der Verdrängung
heraus: „Doch ich hielt weiterhin unter Verschluß. Ließ mich nicht nötigen.“ (32)
Wie Kapitel „Durcharbeiten“ darzulegen sein wird, verschmelzen nach Gadamer der
„Vergangenheitshorizont“ aus der „Überlieferung“ mit dem „Gegenwartshorizont“ zu
einer „Horizonterweiterung“, d.h. einer Erkenntnis166. Ist dieser
Vergangenheitshorizont jedoch durch „Leere“ geprägt, die das „schwarze Loch“ in
Folge eines Traumas hinterlässt, kann sich nach dieser Lesart keine
Horizonterweiterung einstellen: Vergangenheit und Gegenwart können nicht
miteinander zu einer „Horizonterweiterung“ verschmelzen.
Konkret zeigt sich das „Containment“ für die Erinnerung an das Trauma in der Figur
Tulla. Tulla erinnert sich nicht an „ihr“ Kind Paul, sondern spricht immer wieder von
den anderen Kindern, die „mitte Beinchen nach oben raus“ im Wasser lagen. (z.B.
140) Die Kinder, die tot im Wasser liegen, dienen als Containment, in dem das eigene
traumatische Erlebnis eingeschlossen wird. Das Wesen des „nicht-integrierten“
Fremdkörpers dieser Erinnerung wird dadurch sichtbar, dass diese Erinnerungen
immer wieder in gleichen Worten, und ohne in einen Kontext eingebunden zu sein, in
ihr Bewusstsein gelangen. Mit Hilfe dieser Erinnerungen umgeht sie die Konfrontation
mit ihrem eigenen Schicksal. Sie selbst scheint nur Zeugin des traumatischen
Ereignisses zu sein, denn die Erinnerungen an ihr eigenes Erlebnis offenbaren kaum
katastrophale Momente. Vielmehr erzählt sie von ihrem Glück und ihrer Rettung.
(138) Explizit finden sich Hinweise auf eine Abkapselung bei Tulla in der Schilderung
des Untergangs: „Sie hat von alldem, was draußen außerhalb der Koje geschah, nichts
mitbekommen. Weder die Festbeleuchtung des kenternd sinkenden Schiffes noch den
Absturz in sich verknäulter Menschentrauben vom zuletzt aufragenden Heck.“ (145)
166
Vgl. Gadamer Wahrheit und Methode.
72
In der aktivierten Form der Speicherung wiederum tendiert die Erinnerung dazu,
erneut repräsentiert, d.h. bewusst zu werden, es kommt zu den bereits erläuterten
Intrusionsphänomenen167 - Tullas Flashbacks. Intrusion und Vermeidung stellen damit
mentale Zustände dar, die einerseits aus dem Versuch resultieren, das traumatische
Ereignis kognitiv zu verarbeiten, und andererseits aus dem Bedürfnis, überwältigende
Gefühle zu vermeiden.168 Eine Vermeidung der Erinnerung ist dort funktional, „wo
dieser Verarbeitungsprozess zu bedrohlich wird, sie ermöglicht eine quasi portionierte
Beschäftigung in erträglichen Teilschritten.“169
Pathologisch wird die Vermeidung dann, wenn sie ein Durcharbeiten dauerhaft
verhindert: „Intrusionen, die von Horowitz ebenfalls als natürliche Phase des
Anpassungsprozesses begriffen werden, ermöglichen das Durcharbeiten, indem die
traumatischen Erinnerungen aktiviert werden. Sie sind dort dysfunktional, wo sie das
Individuum überschwemmen und pathologische Abwehrmechanismen auslösen.“170
Tullas „Binnichzuhauseblick“ (z.B. 50) deutet auf einen pathologischen
Abwehrmechanismus insoweit als dieser sich einstellt, wenn sie mit dem Trauma in
Berührung kommt.
Der zirkuläre Verarbeitungsprozess zwischen Abwehr und Wiederholungszwang ist
nach Horowitz in einem phasischen Verlauf eingebettet, „in dem nacheinander
unterschiedliche mentale Zustände durchlaufen werden.“171 Die Phasen können sich
abwechseln und wiederholen und sind in Ablauf und Ausprägung individuell
verschieden.172 Nach Horowitz ist der Unterschied zwischen normaler Trauerreaktion
und eher pathologischer Reaktion graduell: „Die einzelnen Phasen des Prozesses
können bei dysfunktionaler Anpassung intensiviert und verlängert sein, bei der
pathologischen Anpassung können irrationale Ausgestaltung und dysfunktionale
Bohleber, „Trauma“, S. 831.
Ebd.
169
Ebd.
170
Ebd.
171
Butollo u.a., S. 94.
172
Ebd.
167
168
73
Mechanismen überwiegen.“173 Im Krebsgang kann das Trauma Paul als Erzähler und
als Sohn Tullas zugleich als narrativer Ausdruck dieser „irrationalen Ausgestaltung“
gewertet werden.
Nach einer Phase des Aufschreis, in der der Betroffene das Ausmaß der Katastrophe
realisiert und seiner Angst und Verzweifelung Ausdruck gibt, folgt eine Phase der
Verleugnung und Intrusion.174 Paul schildert, wie während des Untergangs und im
Moment seiner Geburt ein „finaler Schrei“ (145) ertönt – „Son Jeschrai kriegste nich
mehr raus aussem Jehör…“ (146), dem die Stille folgt. In dieser zweiten Phase
schwankt der Betroffene zwischen Nicht-wahr-haben-Wollen (Abspaltung) und
intrusiven Erinnerungen (z.B. Flashbacks oder Alpträumen als zwanghafte
Wiederholungen): „Kaum abgenabelt, lag auch ich still“ (ebd.) Bei Tulla resultiert das
traumatische Erlebnis zunächst in Abspaltung.
Die Abspaltung vom normalen Erleben bedeutet,
dass dieser Bereich keiner äußeren Realitätskontrolle mehr unterliegt und in ihm
eine Regression zur infantilen Omnipotenz und zu einem archaischen Über-ich
stattfindet. Deshalb werden Ohnmacht und Wut, die in der traumatischen
Situation mit einem Erleben absoluter Hilflosigkeit verbunden waren, gegen sich
selbst gewendet als dem einzigen Ausweg, der dem Traumatisierten bleibe.175
Dieser Selbsthass zeigt sich in (dem Trauma) Paul: „Dafür, Mutter, und weil Du mich
geboren hast, als das Schiff sank, hasse ich Dich. Auch dass ich überlebte, ist mir in
Schüben hassenswert geblieben.“ (70) Eine Phantasie der eigenen Schuld entsteht, die
allmächtige Züge annehmen kann, aber dem ganzen unbegreiflichen Geschehen einen
Sinn gibt. Auch verschafft das Schuldgefühl ein Empfinden von Aktivität und
Selbstverantwortlichkeit. Indem man sich die Verursachung selbst zuschreibt, wird
illusionär impliziert, dass man es auch wieder gutmachen kann.176 Hieraus ergeben
sich erste Hinweise auf die Aufgaben, die sich traumatisieren Opfern stellen und die
im Kapitel „Durcharbeiten“ eingehend beschrieben werden sollen.
173
Ebd.
Ebd.
175
Bohleber, „Trauma“, S. 832.
176
Bohleber, ebd., S. 832.
174
74
Das Durcharbeiten beginnt, wenn Vermeidung und Intrusion überwunden bzw.
kontrolliert werden können. In dieser dritten Phase werden bisherige Schemata und
Rollenvorstellungen überdacht und mit den neuen Lebenserfahrungen in Einklang
gebracht. „In diesem Überdenken der bisherigen Lebensgrundsätze kann sich ein
Wachstumsprozess entwickeln, in dem die Erfahrung des Traumas ihren Platz findet,
es kann aber auch zu einer pathologischen Fixierung auf das Trauma kommen, die eine
dysfunktionale Veränderung der Persönlichkeit bewirkt.“177 Bestimmt wird die
kognitive Verarbeitung des Traumas durch die prätraumatische Persönlichkeit. Neben
dem bereits erwähnten Alter und der Persönlichkeit kann z.B. auch eine verzerrte
Realitätswahrnehmung vor der Traumatisierung den Verarbeitungsprozess
erschweren.178 Dieser Aspekt wird implizit aufgenommen innerhalb der Fragestellung
gegenüber den Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt.
Reinfantilisierung, Abkapselung/Verdrängung und Flashbacks/Wiederholungszwang
sind pathologische Reaktionen auf die seelische Überflutung infolge eines oder
mehrerer traumatischer Ereignisse. Damit ist der Prozess der Traumatisierung in ihren
Grundzügen beschrieben. Außer bei den Protagonisten der Novelle können diese
pathologischen Symptome des Traumas auch in der Form der Novelle selbst
identifiziert werden, wodurch die Bedeutung des Trauma als zentraler Aspekt der
Novelle Im Krebsgang unterstrichen wird.
177
178
Butollo, S. 94.
Ebd.
75
Das Trauma in der Novellenform
Der Auftrag gebende „Alte“ reflektiert explizit die Sprachlosigkeit des Traumas,
indem er feststellt, dass „es ohnehin nicht gelinge, das tausendmalige Sterben im
Schiffsbauch und in der eisigen See in Worte zu fassen, ein deutsches Requiem oder
einen maritimen Totentanz aufzuführen (…).“ (139) Dennoch fordert er den Erzähler
auf, er „solle“ sich „bescheiden, zur Sache kommen. Er meint, zu (seiner) Geburt.“
(139) Der Erzähler Paul steht als Trauma jedoch wie ein „unüberwindbarer
Torwächter“ (Assmann) vor dem Eingang in die zerstörte Seelen- und Gefühlswelt der
Protagonisten. Als Erzähler, dessen Geschichte das „Zeug zur Novelle“ (123) hat,
muss er in den Kern seiner Figuren vordringen können (vgl. nachfolgend). Doch
versagt er bei dieser Aufgabe, da ihm die Worte fehlen. Neben der Sprachlosigkeit
selbst offenbart sich hierin auch der Ursprung der Sprachlosigkeit: das Trauma um die
Gustloff als die „unerhörte Begebenheit“ (Goethe) oder als der Kern der Novelle.
Als die Novelle Katz und Maus erschien, debattierten Rezensenten um den
Gattungsbegriff. Wolfgang Pasche wertete den Versuch Grass´ als „eine Möglichkeit
unter anderen, in dieser Zeit noch Novellen zu schreiben“ und bezieht sich damit auf
die Auseinandersetzung mit der durch NS-Propaganda schwer beschädigten deutschen
Sprache in den 1950er Jahren.179 Dem Autor sei es demnach nicht um eine
Rekonstruktion des traditionellen Genres gegangen, sondern es sei seine „Art, den
Problemen des Erzählens zu begegnen, die Grass in den fünfziger Jahren vorfindet.“180
Dem Autor der Novelle Katz und Maus unterstellt Pasche als Absicht: „Er versteht
einen spielerischen Umgang mit dem fest gefügten Erzählmodell als Möglichkeit, die
festgefahrenen Spuren zu verlassen.“181
Dem Problem des Erzählens mit einer beeinträchtigten Sprache begegnet Grass auch
mit seiner Novelle Im Krebsgang vierzig Jahre später. Erneut verlässt der Autor eine
„festgefahrene Spur“. Dieses Mal ist es die der Verdrängung des Untergangs der
Gustloff im öffentlichen Gedächtnis und der daraus entstandenen Sprachlosigkeit, auf
179
Wolfgang Pasche, Lektürehilfe Katz und Maus. Günter Grass, Stuttgart, 2001, S. 80.
Ebd.
181
Ebd.
180
76
die der Anfangssatz hinweist: „Warum erst jetzt!“ (7). Tatsächlich reflektieren
Verdrängung und Sprachlosigkeit um die Gustloff die Unerhörtheit, auf die es Goethe
beim novellelistischen Erzählen ankam: was nicht gesagt ist, kann nicht gehört
werden. Indem die Erzählung den Untergang der Gustloff in den Mittelpunkt der
Narration als das „Unerhörte“ stellt, bricht sie zugleich die Sprachlosigkeit auf. Die
dadurch entstehende Öffnung ermöglicht einen Prozess des Durcharbeitens.
Deutlich sichtbar wird die Novellenform im Krebsgang allerdings erst am Ende. „Die
zentrale Begebenheit ist auf eine Pointe ausgerichtet, die eine so seltsame und nicht
vorhersagbare Wendung erfährt, dass sie tatsächlich „unerhört“ genannt werden
kann.“182 Das Ende der Novelle, Konnys Mord an Wolfgang, entspricht dieser
Forderung: sie sind nicht als Feinde ausgewiesen, sondern: „Man hätte sie für Freunde
halten können.“ (49) Darüber hinaus werden vor allem die Brüche mit der
Novellenform sichtbar..
Die klassische Novellenform besitzt eine streng komponierte Architektur, die Klarheit
und Selbstkontrolle vom Erzähler verlangt. „Sie ist straff geformt, ohne epische
Exkurse, das Geschehen spielt in der realen oder in der fiktiv wirklichen Welt, führt
geradlinig auf den Schluß hin.“183 Die Novelle ist somit eine Antipode zum Trauma,
da es bei ihr gilt, Überflüssiges abzuwerfen, jede Art von Übermaß zu bekämpfen: an
Wörtern und Bildern. Diese Anforderung steht im Gegensatz zur Struktur des Traumas
und wird für den Erzähler des Untergangs der Gustloff nahezu unerfüllbar: „Jetzt wird
mir geraten, mich kurz zu fassen, nein, mein Arbeitgeber besteht darauf.“ (139) Das
Trauma als ein nicht zu fassendes Übermaß kann nicht in eine solche Struktur
integriert werden. Der Traumatisierte fragmentarisiert und zerstückelt die Erzählung in
Episoden und verliert sich in immerwährenden Wiederholungen. Eine geradlinige
Narration ist ihm unmöglich.
Der Wiederholungszwang des Traumas offenbart sich im Aufbau der Narration. „Er
sagt, mein Bericht habe das Zeug zur Novelle. Eine literarische Einschätzung, die
182
183
Ebd., S. 82.
Ebd., S. 81.
77
mich nicht kümmern kann. Ich berichte nur.“ (123) Das Trauma Paul bricht die
Anforderung an den Erzähler einer Novelle, indem er nicht geradlinig auf einer
Zeitebene gegen das Ende hin schreitet. Vielmehr unterbricht er seine Schilderungen
der Handlung in der Gegenwart ständig durch narrative Einschübe über Handlungen in
der Vergangenheit.
Paul ist bemüht, Tullas Leben zu beschreiben, das seines Sohnes Konrad und sein
eigenes. Er bedient sich dabei des sachlichen Tons eines Berichts. Dreh- und
Angelpunkt aller drei Existenzen ist das Trauma um die Gustloff. Trauma und
Sachlichkeit stehen im Widerspruch zueinander: Kennzeichen des Traumas ist ein
Zuviel an Emotionen. Obwohl er die äußeren Begebenheiten von Tullas Leben kennt,
gelangt Paul niemals zum Inneren, zum Kern seines Erzählsubjekts. Der nötige
Schlüssel hierfür – die Empathie – steht ihm als berichtendem Erzähler nicht zur
Verfügung (vgl. oben: Empathielosigkeit als charakteristisches Symptom einer PTB).
Seine Empathielosigkeit verdammt ihn dazu, im Äußeren stecken zu bleiben. Die
Novellenform hingegen bedingt, dass der Erzähler tiefe Einblick ins Thema und die
Fähigkeit hat, diese Einblicke in Worte zu fassen. Es bedeutet, sich ständig die Frage
zu stellen: `Worum geht es mir?´ und nach einer möglichst transparenten und
vollkommenen Ausdrucksform zu suchen.184 Das Trauma Paul steht dem Dilemma
gegenüber, dass er ein Geschehen schildern soll, das er nicht mit eigenem Bewusstsein
erlebt hat (vgl. Ausführung zu „Abkapselung“ oben).
Darüber hinaus versucht Paul den Anschein von Objektivität zu erwecken, indem er
als Journalist professionell die Geschichte um die Gustloff aus verschiedenen Quellen
recherchiert (Internet, Bücher, Zeitungsartikel, Tulla, Jenny, Heinz Schön etc.).
Tatsächlich sind seine Eindrücke jedoch gesammelte subjektive Perspektiven von den
am Trauma beteiligten Zeitzeugen: „Ich kann nur berichten, was von Überlebenden an
anderer Stelle als Aussage zitiert worden ist.“ (137) Durch die subjektiv-episodenhafte
Erzählweise, die „vollkommen untypisch für die Gattung `Novelle´ ist“185 ergibt sich
ein weiterer Formbruch.
184
185
Vgl. Hugo Aust, Novelle, Stuttgart, 1999, S. 2ff.
Pasche, S. 80.
78
Die innerliche Distanz des berichtenden Erzählers Paul wirkt dennoch nicht echt. Sein
sachlicher Ton scheint allein dem Zweck zu dienen, Emotionen zu verhüllen und zu
verdrängen. Tatsächlich gelingt ihm die Verhüllung nicht ganz. Zuweilen brechen
Emotionen gewaltig an die Oberfläche: „Dafür, Mutter, und weil Du mich geboren
hast, als das Schiff sank, hasse ich Dich. Auch dass ich überlebte, ist mir in Schüben
hassenswert geblieben“. (70) Im Ergebnis wird die Widersprüchlichkeit zwischen
emotionaler Taubheit und sachlicher Sprache zur Negation der eigenen Existenz Pauls.
Dies spiegelt sich in Freuds Todestrieb als dem Wunsch nach Wiedererlangung des
amorphen Urzustands, denn gegenüber seiner Mutter wünscht Paul, dass: „(sie) der
Sog des über den Bug sinkenden Schiffes samt (seiner) Ungeburt in die Tiefe gerissen
hätte…“ (70).
Das Trauma Paul ist der Trauer nicht fähig. Vielmehr offenbart er melancholische
Züge: „Die Disposition zur Melancholie können in der Art des Geburts-Geschehens
und in der Art der Symbiose Mutter Kind angelegt werden: sie tragen sehr den
Charakter der Ambivalenz.“186 Die Ambivalenz des Protagonisten Paul ergibt sich aus
der äußerlichen Sachlichkeit und den im Inneren schwelenden Emotionen. Die
Negation der eigenen Existenz durch das Trauma Paul steht zugleich für den Reflex
der Verdrängung.
Die öffentliche Verdrängung der Ereignisse um die Gustloff in den vergangenen
Jahrzehnten erschwert eine Wahrnehmung der gesamten Historie. Durch die
Forderung nach Konzentration auf die „unerhörte Begebenheit“ in der Novellenform
erscheint das Kernereignis jedoch in grellem Licht. Es steht dem Vergessen der
Katastrophe Gustloff in der Realität somit konträr entgegen. Zugleich wird aus einer
Täterfigur (Tulla in Katz und Maus und Hundejahre) nun eine ambivalente
„Opfertäterin“ (vgl. nachfolgend „Tullas Ambivalenz“). Dies deutet auf die
Wahrnehmung der ambivalenten Struktur der Protagonisten als eine Vorbedingung zur
Erfassung der Geschichte.
186
Lurker, `Trauer´, S. 766.
79
Diese Ambivalenz wird noch einmal durch die von Grass häufig angewandte Technik
unterstrichen, „auf traditionelle literarische Formen zurückzugreifen und sie
gleichzeitig zu sprengen.“187 Grass sprengt im Krebsgang die Novellenform, indem er
die Widersprüche zwischen dem Inhalt der Narration (überbordende Emotion) und den
Formalismen der Gattung (gradlinige Konzentration) offenbart. Diese
Widersprüchlichkeit bedingt, dass die Geschichte niemals zum Ende gelangt: „Nie
hört das auf.“ (216)
Um die Widersprüchlichkeit aufzulösen, bedarf es der Offenlegung der Ambivalenzen
der „Opfertäter“. Erforderlich für diese Offenlegung erscheint – vor dem Hintergrund
des Traumas – ein psychologischer Kontext und – vor dem Hintergrund der
Zeitepoche – ein historischer Kontext. Dahinter steht die Frage nach den inneren
Strukturen, die bestimmte Handlungen auslösen (psychologischer Kontext) und den
äußeren Umständen, die diese Strukturen begünstigt haben (historischer Kontext).
Vor dieser Form der Annäherung wird Pauls Empathielosigkeit, die das Erkennen des
psychologischen Kontexts verhindert, durch den Versuch gebrochen, Tullas
Geschichte in einen historischen Kontext zu setzen. Der Erzähler schildert Details aus
dem Leben Marineskos, Gustloffs und Frankfurters. Zunächst scheinen diese nicht
gradlinig mit Tullas Trauma verbunden zu sein. Aus dem Verstoß gegen das Gebot der
Kürze bei einer novellistischen Erzählung lässt sich die Aufforderung entnehmen, die
Geschichte im historischen Kontext zu betrachten.
Der historische Kontext alleine – ohne den psychologischen Kontext - scheint die
Geschichte um den Krebsgang jedoch in eine Schieflage zu bringen. Diese Schieflage
zeigt sich in dem scheinbaren Rechtsextremismus Konnys (vgl. Kapitel
„Wiederholung“) als eine Wiederholung nationalsozialistischer Strukturen. Erst durch
die zusätzliche Einbettung der Figuren in einen psychologischen Kontext werden
deren Ambivalenzen deutlich. Erst die Wahrnehmung bestimmter psychologischer
Prozesse beleuchtet die Bedeutung des Begriffs „Opfertäter“ für die Protagonisten und
vermittelt ein authentisches Bild für den „Vergangenheitshorizont“ (Gadamer).
187
Pasche, S. 81.
80
Im nachfolgenden Teilkapitel „Kollektive Erinnerungen“ wird der Versuch
unternommen, den historischen Kontext, in dem sich die Protagonistin Tulla befunden
hat, wiederzugeben. Diese Wiedergabe erfolgt zugunsten einer besseren Klarheit
gemäß Gadamers Umschreibung für die Erinnerung „bruchstückhaft“, d.h. in
Abschnitten, in denen die jeweiligen Themen im Einzelnen beleuchtet werden. Zuvor
jedoch gilt es, zwei weitere Aspekte zu vertiefen, die bereits aufgegriffen worden sind:
die Ambivalenz der „Opfertäter“ und das Trauma des Täters.
81
Tullas Ambivalenz als Opfertäterin
Als Überlebende des Untergangs der Gustloff ist Tulla traumatisiert. Dennoch ist sie
nicht nur Opfer, sondern sie trägt Schuld. In Hundejahre stirbt Studienrat Brunies im
Konzentrationslager Stutthof (211) infolge Tullas Denunziation. Sie ist somit
einerseits das traumatisierte Opfer, andererseits die schuldbeladene Mitläuferin bzw.
Mittäterin.
Diese Ambivalenz aus der Vergangenheit rückt vor bis in die Gegenwart. Indem sie
dem früheren deutschen Ostgebiet entstammt, repräsentiert sie einen Teil der
deutschen Kultur, der nach 1945 nicht mehr existierte. Tullas Flucht aus ihrer Heimat
führt sie in das totalitäre Regime die DDR. Die Diskrepanz, die sich zwischen West
und Ost in den Dekaden nach Kriegsende entwickelt, zeigt sich in einem narrativen
Bild: bei dem Treffen der Überlebenden des Gustloff Untergangs fuhr sie „in ihrem
sandfarbenen Trabant vor: in Damp, zwischen Mercedes- und Opelkarossen, eine
Sehenswürdigkeit.“ (92) Die Einbettung dieser bildlichen Diskrepanz – als
Sehenswürdigkeit - in das Treffen der Überlebenden stellt eine Verbindung her
zwischen dem Fall der Mauer und dem Trauma von 1945 und rückt so die
Nachhaltigkeit der Ambivalenz Tullas als Täter und Opfer bis in die Gegenwart in den
Blickpunkt.
Aus der Beschreibung des „Alten“ wird deutlich, dass Tulla ihre Ambivalenz als
Opfertäter nicht aufzulösen vermochte, um aus ihrem Vergangenheitshorizont eine
Erweiterung, d.h. Erkenntnisse zu gewinnen. Der „Auftraggeber“ wünscht sich
eine Tulla von gleichbleibend diffuser Leuchtkraft und ist nun enttäuscht.
Niemals, höre ich, hätte er gedacht, dass sich die überlebende Tulla Pokriefke in
solch banale Richtung, etwa zur Parteifunktionärin und stramm das Soll
erfüllenden Aktivistin entwickeln würde. (…) Schließlich, sagt er, sei es die
halbwüchsige Tulla gewesen, die in Kriegszeiten und also inmitten willentlich
Blinder abseits der Flakbatterie Kaiserhafen eine weißlich gehäufte Masse als
menschliches Gebein erkannt (…) (99-100).
Im „Knochenberg“ als einem Symbol für Auschwitz spiegelt sich Tullas Mitschuld an
dem Tod Brunies.
82
Die Schwierigkeit, die sich bei der Auflösung der Ambivalenz als Opfertäter stellt,
ergibt sich aus einem Verweis durch das Trauma Paul bereits zu Beginn der Novelle:
„Wenn ich jetzt beginnen muss, mich selber abzuwickeln, wird alles, was mir
schiefgegangen ist, dem Untergang eines Schiffes eingeschrieben sein (…).“ (7) Die
Gefahr der Schuldabwehr, also dem was „schiefgegangen“ ist (als Täter), wird mit
Hilfe des Traumas, dem alles „eingeschrieben“ wird (als Opfer), in den Blickpunkt
gerückt.
Narrativ ist die Ambivalenz aus Schuld und Leid Tullas durch die Abwesenheit
bestimmter Traumasymptome bei der Protagonistin untermauert. Ein häufiges
Symptom bei traumatisierten Opfern ist das Gefühl von Schuld und Scham:
„Traumatische Erlebnisse, besonders wenn sie uneingestanden bleiben, schwächen die
Opfer dauerhaft und verstärken Gefühle von Scham und Erniedrigung als Auswirkung
des Traumas und seiner Verinnerlichung.“188 Äußerlich ist Tulla vielmehr als robust
gezeichnet: „Die Schwachen, Kranken und alle mit Erfrierungen an den Füßen wurden
von Sanitätskraftwagen abgeholt. Typisch Mutter, dass sie sich zu den Gehfähigen
zählte.“ (153)
Indem sich Tulla gegenüber Brunies Tochter gebärdet, als hätte sie ihr einen „üblen
Streich gespielt“ (207) wird gleichfalls die Abwesenheit von Gefühlen der Schuld in
der Figur Tulla offenbart. Der Abwesenheit des Schuldgefühls als Mittäterin steht die
Abwesenheit des Schuldgefühls als Opfer gegenüber. Menschen, die in
lebensgefährliche Situationen geraten und durch andere gerettet werden, wie Tulla, die
durch die Besatzung des Torpedobootes Löwe (146-7) gerettet worden ist, müssen
erfahren, dass die „Tatsache ihres Überlebens nicht als der eigenen Verdienst, (…)
sondern als Zufall und ohnmächtige Abhängigkeit von der Hilfe anderer (empfunden
wird).“189 Wiederholt verweist das Trauma Paul, das während der Rettung geboren
wird, auf seine – und damit implizit auf Tullas - zufällige Existenz. (7 oder 151) Diese
188
Karger, Vortrag Volkshochschule Düsseldorf, Feb. 2005.
Bernhard Giesen, `Das Tätertrauma der Deutschen´, S. 11-53 in Bernhard Giesen; Christoph Schneider, (Hg.),
Tätertrauma, Konstanz, 2004, S. 21.
189
83
Willkür ist die Ursache für Schuldgefühle, denn sie wirft die Frage auf, „(w)arum ich
und nicht die anderen?“.190 Aus der Konstellation der ambivalenten Opfertäter stellt
sich für den Prozess des Durcharbeitens eine Reihe von Aufgaben, die im
entsprechenden Teil dieser Arbeit aufgegriffen und ausführlich dargestellt werden
sollen. Nachfolgend soll die Erörterung des Tätertraumas die Dimension der
Ambivalenz als Opfertäter weiter erhellen.
190
Ebd.
84
Das Tätertrauma des Bootsmanns Kourotschkin
Das Konzept des Traumas bezieht sich vorwiegend auf die Opfer. Wie oben
ausgeführt, kann eine Gewalttat gegenüber anderen Personen eine Posttraumatische
Belastungsstörung beim Täter auslösen. Für das Erfassen des zeithistorischen
Rahmens der Novelle Krebsgang erscheint ein Blick auf die Variante des
„Tätertraumas“ daher als aufschlussreich.
Der Begriff des Tätertraumas ist - insbesondere im Hinblick auf Nationalsozialismus
und Holocaust - umstritten. Der Soziologe Bernhard Giesen bemerkt dazu: „Wir sind
gewohnt, die Figur des Täters im Rahmen eines moralischen oder juristischen
Diskurses über Schuld und Verantwortung individueller Personen zu behandeln.“191
Entsprechend gering ist die Variante des Traumas bei Tätern bisher in klinischen
Studien untersucht worden.192 Bei der Beschreibung von Tätertraumata stehen
ausschließlich pathologische Symptome und deren Folgen für die Nachkommen der
Täter im Blickpunkt (s. Kapitel „Wiederholung“).
Für den ehemaligen Bootsmann der S13 war der Untergang der Gustloff der eines
namenlosen Schiffes, das, so glaubte er, „vollbeladen mit Nazis gewesen“ (97) war,
die sein Heimatland verwüstet hatten. Tatsächlich war es der wirkliche Kommandant
des U-Bootes S13 selbst, Alexander Marinesko, der sagte: „I was sure, that it was
packed with men who had trampled on Mother Russia and were now fleeing for their
lives.“193 Hier offenbart sich ein zentrales Merkmal des Täters im Moment vor der Tat:
„Das Opfer hat weder Namen noch Gesicht, seine Identität als Person wird geleugnet,
es ist ein Fall einer bestimmten Kategorie, die Entscheidung über sein Leben oder
seinen Tod wird wie bei Vieh von anderen getroffen.“194
Indem sich der Täter zum Herrn über Leben und Tod des Opfers macht, nimmt er eine
absolute Subjektivität für sich ein. Aus der Perspektive der modernen
Subjektphilosophie in der Tradition Hegels leitet Giesen ab, dass „unsere Subjektivität
191
Giesen, S. 12.
Ebd.
193
Marinesko zitiert in: Niall Ferguson, The War of the World. History´s Age of Hatred, London, 2006, S. 579.
194
Giesen, S. 15.
192
85
nur insoweit (existiert), wie sie von einer Gemeinschaft anderer Subjekte anerkannt
wird.“195 Der Bootsmann Kourotschkin ist geprägt von der Erfahrung der Verwüstung
seines Landes durch deutsche Soldaten. Im Sinne Hegels Subjektphilosophie konnte
sich der Bootsmann sicher sein, das Richtige zu tun, als er „auf Befehl seines
Kommandanten die drei Torpedos auf den Weg gebracht hatte.“ (97)
Erst durch Heinz Schön erfährt Kourotschkin, dass nach der Torpedierung über
„viertausend Kinder ertrunken, erfroren sind oder mit dem Schiff in die Tiefe gerissen
wurden.“ (ebd.) Die Folge der zerstörten Subjektivität Kourotschkins offenbart sich in
dessen Reaktion: „Von diesen Kindern soll der Bootsmann noch lange und in
Wiederholungen geträumt haben.“ (ebd.) Der Begriff „Wiederholungen“ und der
indirekte Hinweis auf Alpträume deutet eine Traumatisierung an: es ist die
Traumatisierung eines Täters, dessen bisherige Subjektivität zerstört ist. „Diese selbst
gesetzte absolute Subjektivität wird (…) zu einem Tätertrauma, wenn sie mit der
Realität konfrontiert wird, wenn etwa, wie im deutschen Fall, der Krieg verloren wird
und sich die Allmachtsphantasie der `Volksgemeinschaft´ als Trug erweist.“196 Doch
verändert sich nicht nur innerlich die Haltung gegenüber der Tat: „Eine alte
Rechtsordnung gilt wieder (…), die Tat wird ihr unterstellt, das Allmachtserlebnis
(Anm. d. Autorin: des Täters) wird als Verbrechen entlarvt. Die Täter sind von nun an
Mörder.“197 Als Mörder eines Menschen wird der Täter nicht nur gesellschaftlich zum
Außenseiter, sondern auch mit seiner eigenen Schlechtigkeit und Sterblichkeit
konfrontiert. Im Kapitel „Durcharbeiten“ werden die Prozesse dargestellt, die sich
daraus für die Bearbeitung des Traumas ergeben.
195
Ebd., S. 17.
Ebd., S. 22.
197
Ebd.
196
86
Abschnitt: „Verdrängung“
87
Statt dessen erwachte mit erstaunlicher Geschwindigkeit (…) das
gesellschaftliche Leben. Die Fähigkeit der Menschen, zu vergessen,
was sie nicht wissen wollen, hinwegzusehen über das, was vor ihren
Augen liegt, wurde selten auf eine bessere Probe gestellt als damals
in Deutschland.
W.G. Sebald „Luftkrieg und Literatur“ über die Mitte der 1940er Jahre.
88
Das untergegangene Schiff als Metapher für eine verdrängte Geschichte
Das Konzept der Verdrängung in der Traumatologie findet sich in seinen Grundzügen
in Freuds Vorstellung der „Abreaktion“:
Freud bemerkte bereits, dass der Traumatisierte zu einer adäquaten Reaktion
unfähig ist, dass er dem traumatischen Ereignis ohnmächtig gegenübersteht.
`Abreagieren´ und `erledigen´ ersetzen wir heute durch `verarbeiten´ und
`integrieren´ (…). Das überwältigende traumatische Ereignis ist nicht
bewusstseinsfähig – nicht symbolisch repräsentiert - es ist verdrängt. Freud hatte
noch nicht weitere Formen der abwehrenden Bewältigung wie Verleugnung,
Introjektion, Projektion, Verwerfung (Ausschließung, Exklusion), die alle auf
Spaltung beruhen oder zu ihr führen, zur Verfügung.198
Losgelöst von den Theorien der Traumatologie wird Verdrängung somit im Grunde zu
einer abwehrenden Reaktion infolge einer Überforderung bei der Einordnung von
Erlebnissen. Für die Zeit nach 1945 diagnostiziert Aleida Assmann eine Verdrängung
der historischen Ereignisse in Deutschland, die sie auf eine emotionale
„Anästhetisierung“ oder Empathielosigkeit zurückführt:
Ihr moralischer Sinn und ihr persönliches Gewissen waren durch Übernahme
einer rückhaltlos (kollektiv-) egoistischen Ideologie und Verinnerlichung einer
funktionalistischen Bürokratie anästhesiert worden. Sie verdrängten ihre Schuld
und Verantwortung, indem sie sie externalisierten, d.h. von sich abspalteten und
auf eine kleine Gruppe von Verbrechern auslagerten. Mit dieser Lüge, an die sie
selber felsenfest glaubten, schränkten sie ihren Wahrnehmungshorizont ein. Was
Gegenstand der Kritik, der Empörung, des Abscheus, ja des Traumas hätte sein
müssen, wie die schrittweise Demütigung und Entwertung, Ausgrenzung und
Vertreibung, Deportation und Ermordung jüdischer Mitbürger, wurde aus der
Wahrnehmung ausgegrenzt und aus dem Bewusstsein verbannt.199
Als ein Ergebnis dieser Verdrängung identifiziert Assmann indirekt die Diskrepanz in
der Erinnerungskultur zwischen öffentlicher Kommemoration und privater
Verdrängung in der Bundesrepublik: „Was damals nicht wahrgenommen wurde, weil
man es nicht wahrhaben wollte, konnte später nicht zu einem Gegenstand der
Erinnerung werden.“200 Sie bezeichnet diese Lücken als „blinde Flecken“, an die man
sich nicht erinnern könne: „…um mich an etwas erinnern zu können, brauche ich eine
198
Hirsch, S. 10.
S. Assmann, in Mauser, Pfeifer, Erinnern, S. 83.
200
Ebd.
199
89
Gedächtnisspur. Um eine Gedächtnisspur zu haben, muss zuvor etwas wahrgenommen
und gespeichert worden sein, was dann später als Erinnerung wieder abgerufen werden
kann.“201
Das zentrale Bild der Novelle Krebsgang - der Untergang eines Schiffes – kann als
eine Metapher für die Verdrängung infolge einer traumabedingten Abspaltung gelesen
werden: das Schiff als „innerer Fremdkörper“ (vgl. Abschnitt „Trauma“) im amorphen
Umfeld des Meeresgrunds. Nach seiner Zerstörung verschwindet das Schiff von der
Oberfläche. Lediglich aus der Sicht des oberflächlichen Betrachters ist das Schiff
jedoch verschwunden. Wegen seiner dichten Masse bedarf es einer langen Zeit bis es
zur Unkenntlichkeit verrottet ist. Das untergegangene Schiff symbolisiert die
Unmöglichkeit ein Trauma nachhaltig zu verdrängen. Wie Wrackteile geraten
Erinnerungsfragmente immer wieder an die Oberfläche des Bewusstseins. Da der
Körper, zu dem diese Teile gehören, in der Tiefe verborgen liegt, können sie nirgends
zugeordnet werden und verunreinigen als (scheinbar) sinnlose Einzelteile ihre
Umgebung.
Verdrängung und Verleugnung sind allerdings keine absoluten Zustände. Vielmehr
sind sie „Umleitungen“202 auf dem Weg der Trauerarbeit. Wie häufig diese Seitenwege
beschritten werden, bzw. wie weit sie verlaufen, hängt von der Schwere des erlittenen
Verlustes bzw. dem Trauma ab. Wie bereits erläutert, vollzieht sich nach Horowitz der
Versuch, das Trauma zu meistern, in Phasen (vgl. Abschnitt „Trauma“): „Intrusion
und Wiederkehr traumatischer Erinnerungen wechseln sich mit Phasen der
Verleugnung und emotionalen Betäubung ab. Durch diesen phasisch sich
wiederholenden Verlauf kann die intrusive Gewalt und die Verleugnung allmählich
reduziert und die traumatische Situation langfristig integriert werden.“203
Der Wechsel zwischen Erinnerung und Verleugnung wird im Krebsgang in einer
Reflexion über die Erinnerungskultur thematisiert: „Eine Lücke fällt auf. Nach dem
201
Ebd.
Bohleber, „Trauma“, S. 826.
203
Ebd.
202
90
Medizinstudenten David Frankfurter ist nichts benannt worden. Keine Straße, keine
Schule heißt nach ihm. Nirgendwo wurde dem Mörder Wilhelm Gustloffs ein
Denkmal erreichtet. Keine Website warb für die Aufstellung einer David- und GoliathSkulptur, womöglich am Tatort Davos.“ (166) Obwohl der Holocaust stets präsent
war, denn immer wurde nur von „andre schlimme Sachen, von Auschwitz und so was“
(50) geredet und Gabi ihrem Sohn mit ihrem ewigen „Auschwitzgerede“ (195) auf die
Nerven geht, besteht diese Lücke. Im Krebsgang ist es das nach außen gewandte
„Gerede“, das Auschwitz in einen offiziellen Raum setzt. Hingegen klafft im Alltag,
namentlich in den „Straßen“, die überquert und den „Schulen“, die besucht werden,
die Lücke der verdrängten Erinnerung.
Das Verdrängen, das sich im Schweigen äußert, ist allerdings keine „semantische
Leere“204. Vielmehr kann das Schweigen „von Erzählstrategien erfüllt (sein), die
Ideologien transportieren und unausgesprochene Voraussetzungen erfüllen. Was
Schweigen konstituiert, ist die Abwesenheit von Wörtern, doch gleichzeitig und
deswegen ist es die Anwesenheit ihrer Abwesenheit.“205 Der Literaturwissenschaftler
Hamidas Bosmajina identifiziert zwei Arten des Schweigens: „Das eine kommt von
einem Zuviel an Wissen, während das andere ein Nicht-Wahrhaben-Wollen ist. Zu
diesem zweiten, verdrängenden Schweigen nehmen Erinnerung und Schuld ihre
Zuflucht.“206 Das „Nicht-Wahrhaben-Wollen“ umreist die Psychoanalytikerin Getrude
Hardtmann damit, dass der Durchschnittsbürger, „ohne dessen stillschweigende,
duldende oder unterstützende Tätigkeit der Holocaust nicht durchführbar gewesen
wäre“ nach 1945 nicht zu einer Übernahme von Schuld bereit gewesen sei, weil es an
der Voraussetzung dazu gefehlt habe, nämlich der Bereitschaft zur „Einfühlung“ in die
Opfer. Hardtmann vermutet, dass „ein nicht geringer Teil der Deutschen nach 1945
unter der Last der Schuldgefühle“ zusammen gebrochen wäre.207
204
Ernestine Schlant, Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München, 2001,
S. 19.
205
Ebd.
206
Hamidas Bosmajina, Metaphors of Evil: Contemporary German Literature and the Shadow of Nazism, Iowa
(USA), 1979, S. 17.
207
Gertrud Hardtmann, `Begegnung mit dem Tod. Die Kinder der Täter´, S. 250-253 in „Psychosozial“,
(III/1992), S. 251.
91
Bohleber vermutet, dass die seelischen Nachwirkungen des Krieges bei jedem
Einzelnen unterschiedlich gewesen seien (vgl. „Einführung“). Sie hingen ab von der
Verstrickung in den Nationalsozialismus, von den Erlebnissen der Zivilbevölkerung
auf der Flucht, bei Städtebombardements oder der Soldaten im Kriegsgeschehen und
von der persönlichen Konstitution. Obwohl Millionen von Menschen von den Folgen
des Krieges seelisch betroffen gewesen seien, bemängelt Bohleber, habe dieser
„Tatbestand (…) zu keiner größeren wissenschaftlichen Reflexion traumatischer
Erfahrungen und ihrer Effekte geführt. Auch wenn entsprechende Symptome und
Folgen in den vereinzelt publizierten Fallberichten beschrieben wurden, so wurden sie
weder als traumatische anerkannt noch als solche behandelt.“208
In seinem Essay Luftkrieg und Literatur verweist W.G. Sebald auf eine andere, eine
Art moralisch motivierte Ursache für die Verdrängung:
Zudem ist nicht auszuschließen, dass nicht wenige der von den Luftangriffen in
Mitleidenschaft gezogenen, wie beispielsweise in Hans Erich Nossacks Bericht
über den Untergang Hamburgs angedeutet wird, die riesigen Feuerbrände, trotz
allen ohnmächtig verbissenen Zorns über den offenbaren Wahnsinn, als eine
gerechte Strafe, wo nicht gar als Vergeltungsakt einer höheren Instanz
empfanden, mit der nicht zu rechten war. Abgesehen von den Verlautbarungen
der NS-Presse und des Reichssenders, in denen stets im selben Tenor von
sadistischen Terrorangriffen und barbarischen Luftgangstern die Rede war, soll
es sehr selten nur vorgekommen sein, dass jemand Klage führte über die
jahrelange Destruktionskampagne der Alliierten.209
Bohlebers Analyse spiegelt sich in dem zum Standardwerk der zweiten
Nachkriegsepoche avancierenden Buch Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und
Margarete Mitscherlich. In ihrer Studie (1967) haben die Autoren die kollektiven
Verdrängungs- und Verleugnungsmechanismen in Deutschland zu analysieren
versucht. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Abwehr und Verdrängung in
Derealisierung und emotionaler Erstarrung resultierten. Dass die Unfähigkeit zu
trauern, die von den Autoren diagnostizierte affektive Erstarrung und geistige
208
209
Bohleber, „Trauma“, S. 818.
W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, München, 1999, S. 22-3.
92
Immobilität auch Folgen von Traumatisierungen sein können, ist nicht thematisiert
worden.
Die Ursachen für die Verdrängung der historischen Ereignisse in der ersten Phase der
deutschen Erinnerungskultur lagen nicht ausschließlich im Inneren. Die Motivsuche
führt auch zu der global-strategischen Situation der Nachkriegsjahre. Im Krebsgang
arbeitet Wolfgangs (alias David) Vater Stremplin als Wissenschaftler in einem
nuklearen Forschungszentrum. Die Geburt Stremplins (186) fällt in den Beginn des
„Kalten Krieges“, in dem sich die ehemaligen Alliierten USA und Russland bald im
Nuklearzeitalter nach Hiroshima und Nagasaki als Todfeinde gegenüberstanden.
Das weltpolitische Szenario in den späten vierziger und in den fünfziger Jahren
begünstigte die Verdrängung anstatt eine Aufarbeitung von NS-Regime und
Holocaust. Seit 1949 verfügte auch die Sowjetunion unter der Führung Josef Stalins
über die Nuklearwaffe. Die Vereinigten Staaten rechneten für 1951 mit einem
russischen Atomangriff.210 Mit dem kommunistischen Umsturz in Prag im Februar und
der russischen Blockade West-Berlins ab Juni 1948 gewann Deutschland eine
wesentliche strategische Bedeutung für die Alliierten. Es galt, die Bevölkerung für den
Westen zu gewinnen. Dem zuträglich sollte etwa die Beendung der Nürnberger
Prozesse sein, wodurch die Verfolgung weiterer NS-Straftäter eingestellt wurde. Auch
die elf Monate währende Berliner Luftbrücke war Teil dieser realpolitischen
Strategie.211
Das nüchterne Agieren der westlichen Alliierten spiegelt sich in der „kühlen
Betrachtungsweise“ Stremplins gegenüber „der nationalsozialistischen
Herrschaftsperiode“ (185). Im Krebsgang rächt sich die „distanzierte Beurteilung
geschichtlicher Vorgänge…“ (ebd.) für den Nuklearforscher in der „wachsende(n)
Distanz“ zu seinem Sohn, der am Ende das Opfer einer Mordtat wird.
210
211
`Am Abgrund´, „Spiegel“, Nr. 25/16.06.2008, S. 53.
Ebd.
93
Wie bereits aus Bohlebers und Sebalds Einschätzungen ersichtlich, beschränkte sich
die Verdrängung der historischen Vorkommnisse zwischen 1933-45 nicht auf die
Verbrechen der Täter bzw. die Untaten der Mitläufer und Mitwisser. Auch die
Erlebnisse der Opfer von Krieg, Städtebombardements, Flucht und Vertreibung in
Deutschland wurden im öffentlichen und häufig auch im privaten Raum beschwiegen.
94
Verdrängte Flucht und Vertreibung
Der Verdrängung von historischen Ereignissen liegen Abwehrprozesse zugrunde, die
die Psychoanalytikerin Anna Buchheim als „unbewusste Inkohärenzen, Idealisierung,
Entwertung, Ärger (und) Verleugnung“212 identifiziert. Die Liste dieser Prozesse
spiegelt sich in Tullas stets wiederkehrender Idealisierung des KdF-Dampfers - „Is ja
äijenlich ain scheenes Schiff jewesen…“ (206) -, ihrem entwertenden Kommentaren
über Wolfgangs alias David – „jemeiner Liegner“ und „falscher Fuffzjer“ (182) -,
ihrem Ärger über die Richter, die Konny verurteilen – „Schwainerei is das! Jibt kaine
Jerechtichkait mehr.“ (198) - und dem späten Eingeständnis (vorangegangene
Verleugnung), dass sie Konny die Mordwaffe besorgt habe. (198) Im
vorangegangenen Abschnitt „Trauma“ sind die Symptome dargelegt worden, die auf
eine Traumatisierung bei Tulla deuten. In diesem Teil soll das Verdrängte aus diesem
Trauma beleuchtet werden.
Das „weiße“, kurzgeschnittene Haar Tullas als Symbol für verlorenes Leben (vgl.
Abschnitt „Trauma“) assoziiert den „weißen Tod“ als ein Symbol für das Trauma der
Flüchtenden:
…den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem
Verrecken am Straßenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorene frische Haff
nach Bombenabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann,
und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr Menschen aus Furcht vor
russischer Rache über endlose Schneeflächen ….Flucht…. Der weiße Tod…..
(99)
Die Brutalität Marineskos, der zu Tullas unmittelbarem Täter wird, repräsentiert das
Bild der in Richtung Westen marschierenden Soldaten der Roten Armee: „Als er schon
Maat auf einem Handelsschiff war, lachte man über sein Kauderwelsch; doch im
Verlauf der Jahre wird vielen das Lachen vergangen sein, so komisch in späterer Zeit
die Befehle des U-Bootkommandanten geklungen haben mögen.“ (13f) Deren
Gewalttätigkeit bei Plünderungen, Übergriffen und vor allem Vergewaltigungen
entsprach in der Realität dem Bild, das die NS-Propaganda von dem „Roten Teufel“
212
Anna Buchheim, `Bindungsnarrative und psychoanalytische Interpretation eines Erstinterviews´, S. 35-50 in
Bohleber „Vergangenes“, S. 40.
95
gezeichnet hatte: „…with Goebbel´s blood-curdling propaganda prophecies being
fulfilled almost to the letter…“213
Schätzungen zufolge sind rund zwei Millionen deutsche Frauen von russischen
Soldaten vergewaltigt worden.214 Im Krebsgang sind diese Vorkommnisse in
drastischen Bildern reflektiert:
So wird, so kann es gewesen sein. So ungefähr ist es gewesen. Als wenige Tage
nach dem Vorstoß der sowjetischen II. Gardearmee die Ortschaft Nemmersdorf
von Einheiten der deutschen 4. Armee zurückerobert wurde, war zu riechen, zu
sehen, zu zählen, zu fotografieren und für alle Kinos im Reich als Wochenschau
zu filmen, wie viele Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt, danach
totgeschlagen, an Scheuentore genagelt worden waren. T-34-Panzer hatten
Flüchtende eingeholt und zermalmt. Erschossene Kinder lagen in Vorgärten und
Straßengräben……Zudem stand in Übersetzung ein angeblich von dem
russischen Schriftsteller Ilja Ehrenburg verfasster Appell zu lesen, nach dessen
Wortlaut alle russischen Soldaten aufgerufen wurden, zu morden, zu
vergewaltigen, Rache zu nehmen für das von den faschistischen Bestien
verwüstete Vaterland, für `Mütterchen Rußland´. (101)
Der Erzähler der Novelle scheitert bei seiner Darstellung der Ereignisse von Flucht
und Vertreibung schließlich an seiner Sprachlosigkeit:
Die über die zurückeroberte Ortschaft verbreiteten Zeitungsberichte,
Radiokommentare, Wochenschaubilder lösten in Ostpreußen eine Massenflucht
aus, die sich ab Mitte Januar, vom Beginn der sowjetischen Großoffensive an, zur
Panik steigerte. Mit der Flucht auf dem Landweg begann das Sterben am
Straßenrand. Ich kann es nicht beschreiben. Niemand kann das beschreiben. (102)
Darin deutet sich an, dass selbst diese drastischen Schilderungen über
Massenvergewaltigungen nur einen Ausschnitt des Gesamtbildes der Flucht und
Vertreibung wiedergeben können: „They raped even the women who were in labour or
who had just given birth. (…) `That´s what the Germans did in Russia´, Ilse Antz was
213
Ferguson, S. 581.
Vgl. etwa Ferguson, S. 581 und Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen
nach 1945, München, 2008, S. 40.
214
96
told after a Russian had raped her. As at Nanking, sexual desire was mingled with
bloodlust.“215
Ob die schwangere Tulla das Schicksal einer Vergewaltigung erlitten hat, ist zunächst
nicht offensichtlich. Aus der Art der Schilderungen Pauls lassen sich allerdings
Hinweise auf eine Massenvergewaltigung finden: „Jedenfalls hat Mutter selbst nicht
gewusst, wer sie geschwängert hat.“ (22) Paul, der „vaterlos geboren“ (151) ist,
erzählt: „Weiß der Teufel, wer Mutter dickgemacht hat. Mal soll es in der Langfuhrer
Elsenstraße ihr Cousin im dunklen Holzschuppen gewesen sein, mal ein
Luftwaffenhelfer der Flakbatterie nahe dem Kaiserhafen (…) dann wieder ein
Feldwebel (…). Einerlei, wer sie gestoßen hat.“ (151) Neben der Auflistung
militärischer Ränge, die aufgrund des östlichen Handlungsortes an dieser Stelle das
Bild russischer Soldaten assoziieren, spricht auch die verächtliche Sprache für den
Sexualakt für eine Vergewaltigung. Erst auf dem Schiff scheint Tulla in Sicherheit:
„Ganz sicher bin ich, dass Mutter keinen Geliebten an Bord gehabt hat und auch
keinen meiner möglichen Väter.“ (114)
Die traumatische Wirkung dieser Erfahrung ist an Tulla als erfolgreicher Leiterin der
Tischlereibrigade erkennbar, die „tonnenweise Schlafzimmermöbel für die Russen
produziert hat“. (67) Die „Schlafzimmermöbel“ symbolisieren dabei
Deckerinnerungen für das eigentliche Geschehen. Unter diesem Begriff bezeichnet
man in der Traumatologie eine Erinnerung, die ein anderes, wichtigeres oder
gefährlicheres Ereignis, das nicht erinnert wird, überdeckt.216 Der dem Trauma eigene
Wiederholungszwang wird in dem Massenproduktionsprozess („tonnenweise“)
impliziert. Im Kapitel „Durcharbeiten“ wird das Verhältnis zwischen Täter und Opfer
ausführlich dargestellt. An dieser Stelle soll dem mit einer typischen Symptomatik
dieses Verhältnisses vorausgegriffen werden: Der der Tat nachfolgende Wunsch von
dem oder den Tätern „geliebt“ zu werden (vgl. „Durcharbeiten“), lässt sich in Tullas
„Männertick“ erkennen: „Was der Alte sich denkt. Glaubt womöglich, Mutter habe,
215
216
Ferguson, S. 580.
Hirsch, S. 21.
97
nur weil der Schock ihr Haar gebleicht hatte, wie eine Nonne gelebt. Männer gab´s
mehr als genug.“ (56)
Entsprechend der zeitgenössischen Moralvorstellungen empfinden Tullas Eltern den
Zustand ihrer Tochter als „Schande“ (106). Zu dem Schockerlebnis gesellte sich so das
Gefühl der Schande über die erlittene Schmach. „In her diary, Ruth-Andrea Friedrich,
a Berlin schoolgirl, recorded how her teacher had told the class: `If a Russian soldier
violates you, there remains nothing but death.´ In the days that followed, her
classmates `kill(ed) themselves by the hundreds.”217 Die Zahl der Frauen, die infolge
von Vergewaltigung Selbstmord begingen, ist nicht zu ermitteln. Aufschluss darüber
gibt lediglich, dass es im April 1945 allein in Berlin nahezu 3.900 registrierte
Selbstmorde gab, fast zwanzig Mal mehr als im vorangegangenen Monat März.218 Da
die meisten Männer an der Front waren, dürfte es sich bei dieser Zahl überwiegend um
Frauen handeln, die den Freitod gewählt hatten. Nachdem eine Gruppe sowjetischer
Soldaten in der oben geschilderten Weise in ein Entbindungsheim eingedrungen
waren, reagierten die dort arbeitenden Nonnen sühnevoll: „Our people have sinned
greatly. The time for atonement is upon us.“219 Sebalds Vermutung findet sich hierin
bestätigt.
Der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzende größte „Exodus der neueren
(Anm. d. Autorin: europäischen) Geschichte zur Vertreibung und Flucht“220 aus den
deutschen Ostgebieten betraf ca. 14 Millionen vertriebene Deutsche, „die nach dem
Krieg ihre Heimat verloren.“221 Zwei Millionen Menschen kamen während Flucht und
Vertreibung um, Deutschland verlor mit einem Viertel seines Territoriums
unwiderruflich den östlichen Teil seiner Kultur. Kossert bewertet diesen Vorgang als
einen elementaren Aspekt der NS-Zeit: „Abgesehen von der Vertreibung und
Ermordung der europäischen Juden hat nichts, was auf die NS-Wahnherrschaft
217
Ferguson, S. 582.
Ebd., S. 581.
219
Ebd., S. 580.
220
Hans-Ulrich Wehler, `Einleitung´, S. 9-14 in Stefan Aust; Stephan Burgdorff, (Hg.), Die Flucht. Die
Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, München 2005, S. 10.
221
Kossert, S. 9.
218
98
zurückzuführen ist, der deutschen Gesellschaft so schwere Wunden geschlagen und
das Land so versehrt.“222
Aus dem öffentlichen Gedächtnis sind diese Wunden verdrängt worden, was sich in
Tullas Erfahrungen im Krebsgang widerspiegelt: „Bai ons im Osten sowieso nich. Ond
bai dir im Westen ham se, wenn ieberhaupt von frieher, den imerzu nur von andre
schlimme Sachen, von Auschwitz und sowas jeredet.“ (50) Dies reflektiert weitgehend
die tatsächliche Situation der Vertriebenen. Zu Beginn der zweiten Phase der
westdeutschen Erinnerungskultur (vgl. Assmann in „Einführung“), seit den 1960er
Jahren spielte „das Schicksal der Vertriebenen (…) kaum noch eine Rolle und auch die
Erinnerung an das historische Ostdeutschland schwand zusehends, bewahrt nur noch
in den landsmannschaftlichen Biotopen.“223 Für viele Vertriebene, die mit der
Solidarität ihrer Landsleute gerechnet hatten, war die Ankunft im Westen zwischen
Mitte und Ende der 1940er Jahre ein Schock:
Die erlittenen Traumata während der Vertreibung, soziale Isolation und
Deklassierung sowie das Ringen um eine Identität zwischen Hier und Dort
machte das Heimischwerden in der fremden Umgebung oft geradezu unmöglich.
Die Betroffenen schwiegen oder öffneten sich allenfalls spät und nur zögernd
ihren nächsten Angehörigen.224
Erst allmählich gelang es den Vertriebenen, Gehör für ihre aus der Öffentlichkeit
weitgehend verdrängte Geschichte zu finden. Allerdings fehlte dabei oftmals eine
differenzierte Wahrnehmung: „Man betrachtete das Geschehen vorzugsweise aus dem
Blickwinkel der Westdeutschen, während die Perspektiven der Vertriebenen, (…)
kaum zur Geltung kam.“225
Eine Aussage Tullas verdeutlicht, was sich aus der Mischung von erlittenem Trauma
und öffentlich Verdrängtem ergibt. Bezogen auf den Verleger Springer sagt Tulla:
„Der ist ein Revanchist. Der setzt sich für uns Vertriebene ein.“ (31) Der Vertriebenen
Tulla geht es nicht um Revanchismus. Vielmehr fühlt sie sich „überall von
222
Ebd.
Ebd., S. 13.
224
Ebd.
225
Ebd.
223
99
Revisionisten und ähnlichen Klassenfeinden umstellt.“ (67) Bei der Suche nach einer
öffentlichen Reflektion für ihr Trauma versucht Tulla lediglich, sich diese
populistische Strömung zunutze zu machen, da es keine andere öffentliche Plattform
für sie zu geben scheint.
Kossert führt an, dass Vertriebene „pauschal als Revanchisten (galten), weshalb es
unter Intellektuellen verpönt war, sich mit Flucht und Vertreibung der Deutschen zu
beschäftigen.“226 Tullas Motiv für ihre Anlehnung an den Revisionisten Springer in
Abwesenheit einer alternativen öffentlichen Plattform wird vor einer Bewertung
Kosserts deutlich:
Es steht nicht die kollektive Verantwortungsgemeinschaft (Anm. d. Autorin:
gegenüber den NS-Verbrechen) zur Disposition, sondern es geht um die
Aufnahme der deutschen Opfer von Krieg und Nachkrieg in die allgemeine
Erinnerung. Der Kampf um Anerkennung der Vertriebenen als Opfer richtet sich
weniger gegen die ostmitteleuropäischen Nachbarvölker als vielmehr auf die
deutsche Mehrheitsgesellschaft.227
Kossert bemerkt, dass es zwar dem in den 1950er Jahren gegründeten Bund der
Vertriebenen nicht gelang, als Streiter für die Menschenrechte aufzutreten und seine
heimatpolitischen Forderungen vom Verdacht der Revisionspolitik zu befreien, „(i)m
Innern fand sich die Mehrheit der Deutschen – auch die Mehrheit der Vertriebenen
selbst beziehungsweise deren Nachkommen – mit dem Verlust der Ostgebiete ab.“228
In der DDR blieb das Thema der Vertreibung insgesamt tabuisiert. Die Vertriebenen
im Osten Deutschlands kannten keine Verbände und fanden keine öffentliche
Unterstützung. Sie waren konfrontiert mit dem Neubeginn in einem zerstörten Land,
der schwierigen Anpassung an eine neue Umgebung und dem Verlust der Heimat. Die
DDR musste 4,5 Millionen Vertriebene aufnehmen, denen verboten wurde über ihre
Flucht und Vertreibung zu sprechen.229 Sie wurden „Umsiedler“ genannt.230
226
Ebd.
Ebd., S. 15.
228
Ebd., S. 154-5.
229
Vgl. ebd., S. 193-228.
230
Ebd., S. 215.
227
100
Entsprechend finden die Bücher des Gustloff Überlebenden Heinz Schön in
Ostdeutschland keinen Anklang: „Doch in der DDR waren seine Bücher, die im
Westen einen Verleger fanden, unerwünscht. Wer seine Berichte gelesen hatte, blieb
stumm. Ob hier oder drüben, Schöns Auskünfte waren nicht gefragt.“ (62)
Die Tabuisierung des Themas der Vertreibung in der DDR lässt sich auf zwei Gründe
zurückführen. Zum einen strebte die Politik gegenüber der Sowjetunion am Anfang
der Besatzungszeit eine Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn an. Der Kalte Krieg
hat diese Tabuisierung mit der Bildung der Blöcke weiter gefördert: „Da sie ihr
Schicksal dem `großen Bruder´ verdankten, galten sie offiziell als freiwillige
Umsiedler und mussten bis zum Untergang des Sowjetimperiums öffentlich über ihr
Schicksal schweigen: Sie waren nicht nur ihrer Heimat, sondern auch ihrer Geschichte
beraubt worden.“231 Ein weiterer Grund für die Tabuisierung lag in der
„Instrumentalisierung der Vertriebenen in Westdeutschland.“232 Die dort ansässigen
rund acht Millionen Vertriebenen spielten in der Bundesrepublik als, aus heutiger
Sicht, rechtslastige Wählergruppe eine sehr viel größere Rolle als in der DDR. Für die
DDR gab es daraus Ansätze zur Gegenpropaganda, die dazu führte, dass die
Vertriebenen mundtot gemacht wurden. Unter allen Umständen sollte verhindert
werden, dass die Vertriebenen als Interessensgruppe zu einer politischen Macht
avancierten.233
Nach der Wende haben sich die meisten Vertriebenen aus der DDR relativ schnell in
zahlreichen Verbänden organisiert, um die Zeit der Tabuisierung aufzuarbeiten. Im
Krebsgang reflektiert sich dieses in dem Treffen der Überlebenden in Damp: „Diesmal
jedoch kamen auch diejenigen, für die der Untergang des Schiffes etwas war, das über
die Zeit hinweg von Staats wegen beschwiegen werden musste. (…) Unter den
Überlebenden sollte es keinen trennenden Unterschied zwischen Ossis und Wessis
geben.“ (92)
231
Rainer Traub, `Der Raub der Geschichte´, S. 133-142 in Aust; Burgdorff (Hg.), Die Flucht, S. 139.
Johannes Eglau, „Vertrieben - Das Schweigen der DDR“, Dokumentarfilm, MDR/2006.
233
Ebd.
232
101
Kossert ist der Ansicht, dass es bei derartigen Treffen nicht um revanchistische
Ansprüche ging. Den Verlust der Heimat habe man akzeptiert, aber „das erlittene
Schicksal, das Leid, das bleibt bei diesen Menschen sehr stark im Vordergrund“.234
Auch in Damp wird eine „polnisch-deutsche Annäherung“ (96) versucht. Wie stark die
traumatischen Erlebnisse bei diesem Treffen wirken, zeigt sich in den Ressentiments
gegenüber dem „Russenfreund“ Heinz Schön, der einen „Vortrag zum Thema `Die
Versenkung der Gustloff am 30. Januar 1945 aus der Sicht der Russen´ hielt (…). Man
schnitt ihn nach dem Vortrag. (…) Für sie hatte der Krieg nie aufgehört. Für sie war
der Russe der Iwan, die drei Torpedos Mordwaffen.“ (96-7)
Die Spannung zwischen dem erzwungenem Schweigen einerseits und dem
zwanghaften Erzähltrieb des Traumas andererseits drückt sich in der Novelle durch
eine sprachliche Distanzierung aus, indem sich die Mundart sprechende Tulla hinter
der hochdeutschen Sprache „versteckt“: „Denn sobald sie danach befragt wurde, kam
etwas zur Sprache, das im Arbeiter-und-Bauern-Staat kein zugelassenes Thema war:
die Gustloff und ihr Untergang. Aber manchmal und eher beiläufig vorsichtig hat sie
auch von dem sowjetischen U-Boot und den drei Torpedos erzählt, wobei Mutter jedes
Mal gestelztes Hochdeutsch bemühte, sobald sie den Kommandanten von S 13 und
seine Männer `die uns Werktätigen freundschaftlich verbundenen Helden von der
Sowjetmarine´ nannte.“ (140)
Die fehlende Reflexion über ihr Trauma im öffentlichen und privaten Raum führt
Tulla in eine Orientierungslosigkeit hinein, die in der Realität der Nachkriegszeit ein
häufiges Merkmal bei Flüchtlingen im Exil war.
234
Kossert, S. 215.
102
Leben im Exil – Tullas Orientierungslosigkeit
Als Tulla beim Betreten der Gustloff von ihren Eltern getrennt wird, hat ihre Mutter
Erna ein Fotoalbum der Familie im Flüchtlingsgepäck:
Tulla Pokriefke sollte das Fotoalbum und ihre Eltern nie wiedersehen. Das
schreibe ich in dieser Reihenfolge auf, weil mir sicher zu sein scheint, dass der
Verlust des Fotoalbums für Mutter besonders schmerzhaft gewesen ist, denn mit
ihm sind alle Aufnahmen, geknipst mit der familiären Kodak-Box,
verlorengegangen, auf denen sie mit ihrem Bruder Konrad, dem
Lockenköpfchen, auf dem Zoppoter Seesteg, mit ihrer Schulfreundin Jenny und
deren Adoptivvater, dem Studienrat Brunies, vorm Gutenbergdenkmal im
Jäschkentaler Wald sowie mehrmals mit Harras, dem rassenreinen Schäferhund
und berühmten Zuchtrüden, zu sehen gewesen war. (109f.)
Der Verlust von Eltern und Fotoalbum symbolisieren die Trennung von den eigenen
Wurzeln – den „Eltern“ - und der eigenen Identität – ‚aufbewahrt’ im „Fotoalbum“.
Der norwegische Psychoanalytiker Sverre Varvin beschreibt die Bedeutung dieser
Trennung für die Betroffenen:
Bruch und Verlust charakterisieren das Leben vieler Flüchtlinge im Exil - der
Bruch in der Bindung zur Familie und zur Kultur des Herkunftslandes, der
gewaltsame Tod von Freunden und Verwandten, der Bruch mit der
kulturgebundenen Identität und, im Fall des Traumas, der Verlust des früheren
gesunden Selbst und oft auch der Verlust von Vertrauen und Hoffnung
einschließlich des Verlusts der Hoffnung auf die Zukunft.235
Aus diesen Brüchen ergibt sich eine Orientierungslosigkeit, die die Soziologin
Elisabeth Pfeil in einer Studie von 1949 als eine der nachhaltigen Folgen von
Vertreibung identifiziert hat: alles was im Leben Halt gäbe, gehe bei der Flucht
verloren.236 Infolge der radikalen Veränderungen stellten sich
Wahrnehmungsprobleme ein, Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung böten keine
verlässliche Orientierung mehr: „Die selbstverständliche Einordnung in die
mitmenschliche Welt fehle. Damit sei auch die soziale Einbettung weggefallen, und es
zeige sich, welcher Stützen der Mensch damit beraubt sei. Ohne die hegende Umwelt
235
Sverre Varvin, `Die gegenwärtige Vergangenheit. Extreme Traumatisierung und Psychotherapie´, S. 895-930
in Bohleber, „Trauma“, S. 895.
236
Elisabeth Pfeil, Der Flüchtling. Gestalt einer Zeitenwende, Hamburg, 1948, S. 62.
103
der Heimatgemeinschaft sei der Mensch auf sich verwiesen: Alle Einschätzungen,
sowohl die Selbstachtung wie die Beurteilung anderer und die Bewertung der Lagen
des täglichen Lebens sollen aus ihm selber kommen.“ Daraus erwachse häufig
„Entwurzelung und Lebensunsicherheit.“237
Im Krebsgang reflektiert sich diese Diagnosen der Brüche und der daraus erwachsenen
Orientierungslosigkeit: „Nach dem Krieg erfuhr ich (Paul), dass die Polen meinen
womöglichen Großvater und dessen Frau, wie alle zurückgebliebenen Deutschen, nach
Kriegsende ausgewiesen hatten. Es hieß, beide seien im Westen, wahrscheinlich in
Lüneburg, bald und kurz nacheinander gestorben, er wahrscheinlich aus Kummer um
seine verlorene Tischlerei (…).“ (108) Tullas Orientierungslosigkeit offenbart sich an
ihrem neuen Standort: „Unfaßbar blieb, für wen, gegen wen sie war (…) Zum Beispiel
soll sie sich in ihrem Betriebskollektiv vor den versammelten Genossen `Stalins letzte
Getreue´ genannt und mit nächstem Satz die klassenlose KdF-Gesellschaft zum
Vorbild für jeden wahren Kommunisten hochgelobt haben.“ (40) Nicht zwingend führt
der Verlust der Heimat zum Befund einer Traumatisierung für die Betroffenen. Im
Krebsgang jedoch finden sich auf der symbolischen Ebene Hinweise auf die
traumatische Wirkung des Heimatverlustes: der Vaterlosigkeit des Traumas Paul.
Wie bereits erwähnt, ist infolge der Vereinnahmung der ostdeutschen Gebiete durch
die Sowjets dieser Teil der deutschen Kultur abgeschnitten worden. Vor diesem
Hintergrund gewinnt Pauls Vaterlosigkeit eine weitere Dimension: sie symbolisiert
den Verlust des Vaterlandes, das es nicht mehr gibt. Hervorgehoben wird der Verlust
durch die gelegentliche Suche nach Ersatzvätern (z.B. Harry Liebenau – 20).
Allerdings füllen diese Ersatzväter lediglich Funktionen aus, ohne die Position des
Vaters wirklich ersetzen zu können. Im übertragenen Sinn bleibt die neue Heimat des
Traumas Paul (und somit Tullas) stets „nur“ Ersatzheimat. Die Folgen davon
offenbaren sich erst in der Gegenüberstellung: „Und weil Gabi dort ihre Kindheit
verbracht hat, fühlte sie sich bald wie zu Hause. Ich aber versackte mehr und mehr.“
(43)
237
Ebd.
104
Während der Verlust von Heimat, Wurzeln und Identität nicht zwangsläufig in
Traumatisierungen mündet und sogar bei einer gelungenen Integration in der neuen
Umgebung seelisches Wachstum und damit ein konstruktives Element in sich bergen
kann, ist die traumatische Wirkung und in deren Folge die Verdrängung bei einer
anderen Erscheinungsform des Krieges nahezu unumgänglich.
105
Städtebombardements
Die alliierten Städtebombardements sind nur wenige Male im Krebsgang erwähnt,
etwa in einer Phantasie Pauls: „Mit meinen sonst kinderlosen Adoptiveltern wäre ich
(…) vorerst in die britische Besatzungszone, in die zerbombte Stadt Hamburg
gezogen. Doch ein Jahr später hätten wir in Ficks Heimatstadt Rostock, die (…)
gleichfalls zerbombt war, dennoch Wohnung gefunden.“ (143) Die beiden
Städtenamen Hamburg und Rostock geben die Dimension der Städtebombardements
ab 1943 durch vorwiegend britische und amerikanische Alliierte wieder: Neben
Großstädten wie Berlin, Hamburg, Dresden oder Frankfurt wurden zahlreiche, aus
kriegsstrategischer Sicht unbedeutende Provinzstädte wie „Hamm, Bielefeld, Kassel“
(124) bombardiert.
W.G. Sebald bewertete diesen Bombenkrieg, dem „an die 600 000 Zivilpersonen in
Deutschland“ zum Opfer fielen238 als einen „Krieg in purer, unverhohlener Form“239,
als eine „in der Geschichte bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion“240. Dieter Forte
schildert seine Eindrücke der Bombardements als Zeitzeuge:
Allein aus den Fakten wird man niemals herauskristallisieren, wie die Todesangst
die Menschen in den Luftschutzbunkern durcheinadergeschüttelt hat, wie sie sich
in irrealen Ausbrüchen in den Sekunden vor ihrem vermeintlichen Tod an
irgendeinen Gegenstand klammerten, wie sie in den Sekunden nach dem
Verrauschen der Bombenwelle in einem erstickenden Atem verharrten, denn die
nächste Bombenwelle donnerte schon wieder heran, der Boden bebte, das Licht
erlosch, Staubwolken zogen durch den Keller, es krachte splitternd und dröhnend,
ob da noch Menschen in der Nähe waren, war absolut ungewiss.241
Die Verdrängung der traumatischen Wirkung dieser Bombardements offenbart sich in
Alexander Kluges Bericht über die Zerstörung Halberstadts. Dieser beginnt mit der
Schilderung, wie sich die Mitarbeiterin eines Kinos nach dem Einschlag einer Bombe
mit einer Schaufel daran machte, die Trümmer für die Nachmittagsvorstellung zu
beseitigen: „Die im Keller liegenden Körperteile, die durch das Löschwasser gekocht
238
Sebald, S. 11.
Ebd. S. 28.
240
Sebald zitiert in: „Spiegel“, 12.01.1998, Nr. 3, `Feuer vom Himmel´, Volker Hage, S. 141.
241
Dieter Forte, `Luftkrieg im Literaturseminar. Besprechung des Essays Luftkrieg und Literatur von W.G.
Sebald´, in ders. Schweigen oder Sprechen, Frankfurt, 2002, S. 33-4.
239
106
sind, legt sie in einen Waschkessel, um Ordnung zu schaffen.“242 In einem anderen
Bericht zeugt Hans Erich Nossacks Schilderung, wie einige Tage nach einem
Bombenangriff in Hamburg eine Frau mitten in der Trümmerwüste Fenster geputzt
habe und Kinder, die einen Vorgarten säuberten und harkten243 von dem
gespenstischen Bemühen um Normalität.
Im Krebsgang finden sich in der Beschreibung des Untergangs der Gustloff
eindringliche Bilder, die assoziativ auf die Städtebombardierungen deuten und an die
Schilderungen Sebalds in seinen 1999 veröffentlichten Vorlesungen Luftkrieg und
Literatur erinnern. Das Bild vom „(…) tausendmalige(n) Sterben im Schiffsbauch und
in der eisigen See“ (139) scheint Sebalds Beschreibung zu reflektieren, lediglich das
Element Feuer ist durch Wasser ersetzt: „Hinter einstürzenden Fassaden schossen
haushoch die Flammen hervor, rollten gleich einer Flutwelle mit der Geschwindigkeit
von über 150 Stundenkilometern durch die Straßen, kreiselten als Feuerwalzen in
seltsamen Rhythmen über die offenen Plätze.“244 Als besonders übereinstimmend
erscheint die narrative Wiedergabe in der Novelle und Sebalds Ausführungen in dem
Bild des Menschenknäuels: „Da der Suchscheinwerfer (…) streifte, erlebten
diejenigen, die sich in das Boot gerettet hatten, wie einzelne und zu Knäueln gefügte
Menschen über Bord gingen.“ (Krebsgang: 139); Bei Sebald heißt es: „(…) anderwärts
klumpenweise Fleisch und Knochen oder ganze Körperberge gesotten von dem
siedenden Wasser, das aus geborstenen Heizkesseln geschossen war.“245 Stärker noch
wird die Emotionalität des Rezipienten von den Bildern der Kinder strapaziert, die
gleichfalls Ähnlichkeiten bei Sebald und Grass aufweisen: „Aber schlimmer noch,
sagte Mutter, sei es den Kindern ergangen: `Die sind alle falsch runterjekommen vom
Schiff, mittem Kopp zuerst. Nu hingen se in die dicken Schwimmwülste mitte
Beinchen nach oben raus…“ (Krebsgang: 140); Sebald schreibt: „Zum Schluß ein
gebratener, zur Mumie geschrumpfter Kinderleichnam, den das halbirre Weib mit sich
242
Sebald, S. 51.
Nossack zitiert in: Sebald, S. 52.
244
Sebald, S. 36.
245
Ebd., S. 38.
243
107
geschleppt hat als Überbleibsel einer vor wenigen Tagen noch intakten
Vergangenheit.“246
In ihrer maßlosen Grausigkeit und in der assoziativen Vorstellung von verwertetem
Fett finden sich Sebalds Beschreibungen der Leichen nach einem Bombenangriff
(„Überall lagen grauenvoll entstellte Leiber. (…) Gekrümmt lagen sie in den Lachen
ihres eigenen, teilweise schon erkalteten Fetts.“247) im Krebsgang wieder: „Später
sprachen sie (…) von Mädchen, die durch die Splitter des zerborstenen Glasmosaiks
an der Stirnwand des Bades und von den Kacheln des Schwimmbeckens in Stücke
gerissen wurden. Auf dem schnell steigenden Wasser habe man Leichen und
Leichenteile, belegte Brote und sonstige Reste vom Abendessen, auch leere
Schwimmwesten treiben sehen.“ (Krebsgang: 132)
Auch die Schilderungen der ausweglosen Fluchtversuche scheinen identisch, wobei
erneut das Element Feuer mit Wasser vertauscht worden ist: „(…) waren die meisten
(…) zu leicht bekleidet, um bei achtzehn Grad minus Luft- und entsprechender
Wassertemparatur (…) den Kälteschock zu überleben. Dennoch sprangen sie.“
(Krebsgang: 135); „In den Kanälen brannte das Wasser. (…) Niemand weiß wirklich,
wie viele ums Leben gekommen sind in dieser Nacht oder wie viele wahnsinnig
wurden, ehe der Tod sie ereilte.“248 Durch die drastischen Bilder des Untergangs, die
assoziativ nahe an den Beschreibungen der Städtebombardements von Sebald liegen,
wird im Krebsgang der Aspekt des Traumatischen bei Erlebnissen der
Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs evoziert.
246
Ebd., S. 39.
Ebd., S. 37.
248
Ebd.
247
108
Die Verbotstafel des „Alten“
Zu einem besseren Verständnis des nachfolgenden Abschnitts sei an dieser Stelle noch
einmal die Ursache traumatisch bedingter Verdrängung vergegenwärtigt: „Schwere
Traumatisierung verhindert, dass diese Erfahrung in die psychische Struktur
organisiert wird.“ Die Folge davon ist der Zustand einer „Abwesenheit von Struktur
und repräsentierbarer Erfahrung (…).“249 In einer Antwort Fortes auf Sebalds
Ausführungen Luftkrieg und Literatur findet sich diese Diagnose bestätigt:
Er übersieht auch meine Generation, die Generation der Kinder in den
Großstädten, die sich erinnern können, wenn sie es können, wenn sie die Sprache
dafür finden – und darauf muss man ein Leben lang warten. Es geht nur in einer
Art Ohnmacht, in einer Art Absinken, das tief hinabführt in lang Vergessenes,
das erst über die Sprache in die Erinnerung findet. Ein quälender Vorgang, man
muss mit Zusammenbrüchen rechnen – ich weiß, wovon ich rede. (…) Es gibt ein
Grauen jenseits der Sprache, ein unaussprechliches Entsetzen, es gibt Augen,
Münder und Schreie, das ist nicht mehr zu artikulieren. Das wird untergehen mit
denen, die es erlebt haben.250
Bis zum Erscheinen von Grass´ Im Krebsgang war der Untergang der Gustloff als die
größte Schiffskatastrophe in der Geschichte der Seefahrt weitgehend vergessen. Diese
Stellung besetzte vorwiegend die Titanic (1912): „(…) doch ist es immer noch so, als
könne nichts die Titanic übertreffen, als hätte es das Schiff Wilhelm Gustloff nie
gegeben.“ (62) Die Opferzahlen der Gustloff lagen mit nicht mehr präzise zu
belegenden Zahlen zwischen 5000 und 9000 - darunter mehrere tausend Kinder - weit
über denen anderer Schiffskatastrophen. Ein Grund für das kollektive Vergessen sehen
Marinehistoriker in der Gustloff als kriegsbedingten Verlust eines Aggressors.251
Diesem Argument steht jedoch der hohe Passagieranteil an Zivilisten von ca. 80-90
Prozent gegenüber.
Im Krebsgang erscheint ein anderer möglicher Grund für die Verdrängung: „(…) als
fände sich kein Platz für ein weiteres Unglück, als dürfte nur jener und nicht dieser
249
Dori Laub, `Eors oder Thanatos? Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas´, S. 860-894 in Bohleber,
„Trauma“, S. 862.
250
Forte, S. 33.
251
Irwin J. Kappes, `Wilhelm Gustloff - The Greatest Marine Disaster in History and why you probably never
heard of it.´ Military History Online. http://www.militaryhistoryonline.com/wwii/articles/wilhelmgustloff.aspx.
109
Toten gedacht werden.“ (ebd.) Auf einer assoziativen bzw. symbolischen Ebene
avanciert die Gustloff im Krebsgang zur Plattform für die Katastrophen in der Zeit
zwischen 1933 – 1945. Neben dem Untergang selbst, lesbar als eine Metapher für den
Untergang der „Volksgemeinschaft“ (vgl. nachfolgenden Abschnitt
„Nationalsozialismus“) und den Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und
Bombardement werden die Bilder des Holocaust assoziativ eingeflochten. (vgl.
„Durcharbeiten“)
Wie ausgeführt kann der Prozess des Durcharbeitens unterbrochen bzw. nicht
aufgenommen - verdrängt - werden, wenn die Erinnerung durch Abwehr und
Verleugnung blockiert wird. In diesem Fall ist der erlittene Verlust für das Subjekt zu
groß, um bearbeitet, bzw. betrauert zu werden. Tatsächlich gibt es „kein(en) Platz“
mehr für ein „weiteres Unglück“. (62) Im Kontext der Narration sind „jene Toten“ die
Opfer der Titanic. Das Begriffspaar „Unglück“ und „Titanic“ impliziert eine von
Menschen verursachte Katastrophe. Assoziativ rücken („… als fände sich kein
Platz…“, „….als dürfe nur….“) die Opfer des Holocaust in den Blickpunkt, deren
nicht fassbares Trauma die öffentliche Erinnerungskultur ausfüllt.
Verdrängung und Verleugnung haben, wie oben erläutert, häufig eine Schutzfunktion
und bilden eine Art Ablage für schwierige Projekte, die wegen unzureichender
psychischer Ressourcen – wenn überhaupt - erst zu einem späteren Zeitpunkt
bearbeitet werden können. In einer Narration kann das Verdrängte mitunter dennoch
geortet werden. Lacan hat eine Art Sensor für diese „blinden Flecken“ entwickelt, die
sich aus dem Mischverhältnis von Verdrängung und Trauma ergeben:
Die Verdrängung kommt letztlich dem Tatbestand gleich, dass der Raum dessen,
was gesagt werden kann, was im Universum des Subjekts Bedeutung hat, immer
durch traumatische blinde Flecken gekrümmt ist, d.h. organisiert ist rund um das,
was ungesagt bleiben muss, wenn dieses Universum seine Konsistenz beibehalten
soll.252
252
Christoph Braun, Die Stellung des Subjekts. Lacans Psychoanalyse, Berlin, 2007, S. 273.
110
Die Erzählung des Subjekts umkreist also etwas Unaussprechliches. Diese
„Krümmung“ der Narration erweise sich als Widerstand bei Annäherung des Redens
des Subjekts an den pathogenen Kern. Wohlgemerkt ist sie von innen, aus der
bewussten Ich-Perspektive des Analysanten, nicht zu sehen, ihm scheint der Horizont
dessen, was er sagen kann oder könnte, unendlich zu sein, die strukturale
Notwendigkeit des Verlaufs bleibt unsichtbar.253
Im Krebsgang offenbart sich diese „Krümmung“ in der weitgehenden
Emotionslosigkeit, mit der Paul, der Natur des Berichts folgend, das traumatische
Schicksal Tullas erzählt. Wie im Abschnitt „Trauma“ angedeutet, wirkt die über die
Sachlichkeit implizierte innerliche Differenz Pauls nicht authentisch. Vielmehr
erscheint sie wie eine Umleitung, bzw. eine „Krümmung“, die den schmerzhaften
Kern des Traumas umfährt. Bereits zu Beginn der Novelle entsteht ein Bild über die
Folge einer direkten Konfrontation mit dem Trauma: sich als traumatisierte Person
„selber abzuwickeln“ (7), d.h. das „Universum“ der eigenen „Konsistenz“ aufzulösen.
Aus der Ich-Erzählung ergibt sich, dass die „epische Allwissenheit“ zugunsten einer
bestimmten Perspektive aufgegeben ist.254 Im Krebsgang finden sich drei IchInstanzen: der Erzähler Paul als reflektierendes, erinnerndes Ich im Zeitrahmen des
erzählten Geschehens, (z.B. 187: Pokriefkes und Stremplins sitzen bei Capuccino und
Gebäck zusammen und versuchen, die Motive des Mords Konnys an Wolfgang zu
erfassen); der Erzähler Paul als erlebendes Ich im Zeitrahmen des erzählten
Geschehens (z.B. 18: Paul als Student) und der Erzähler Paul als erzählendes Ich, das
von einem späteren Zeitpunkt auf das erzählte Geschehen zurückschaut.
Der Erzähler ist jedoch nicht autonom. Er wird von einer übergeordneten Instanz
angetrieben. Der „Alte“ (99), in dem sich Züge des Autors Grass erkennen lassen (77)
(vgl. Abschnitt „Trauma“), tritt in der Er-Form auf. Sein Zeithorizont liegt hinter dem
des Erzählers: er kennt Tulla bis zu ungefähr ihrem zehnten Geburtstag (55). Wie das
Leben Tullas danach verlaufen ist, will er von Paul erfahren: „Er verlangt deutliche
253
254
Ebd.
Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern, 1976, S. 203.
111
Erinnerungen. Er will wissen, wie ich Mutter als Kind etwa ab meinem dritten
Lebensjahr gesehen, gerochen, betastet habe.“ (54) Da er in der Er-Form auftritt, hat er
einen weiteren Horizont als der Ich-Erzähler. Die durch Verdrängung des Untergangs der „Alte“ bezichtigt sich selbst eines bodenlosen Versäumnisses (99), dem „Schicksal
der Pokriefkes, Tulla voran (…)“ (77) und „dem Elend der ostpreußischen
Flüchtlinge“ (99) nicht Ausdruck gegeben zu haben - entstandene Lücken seines
Horizonts soll Paul auffüllen (78), den er wie eine „Fundsache entdeckt“ (78) hat.
Aus dieser erweiterten Instanz scheint sich ein stereoskopischer Blickwinkel zu
ergeben, der - bildlich gesprochen - Lacans Krümmung von seinen beiden
Anfangspunkten her gesehen aufzuheben vermag: neben dem Ich-Erzähler Paul als
Medium innerer, d.h. erinnernder Reflektion, tritt der „Alte“ in der Er-Form als
Medium äußerer Wahrnehmung hinzu. Die Gegenüberstellung der äußeren und der
inneren Perspektive wäre eine Voraussetzung, um die äußeren Geschehnisse
(Untergang) und ihre inneren Wirkungen (Trauma) zu erfassen und darzustellen.
Über weite Strecken scheint die Erzählung an dem Wahrnehmungshorizont Pauls
orientiert zu sein, an dessen Erleben, Denken und Erinnern. Tatsächlich wird dieser
jedoch geleitet durch den „Alten“. Der Binnenerzähler Paul agiert als Medium
lediglich als „Hilfsmittel“ bei der Narration: „Doch nun glaubt der alte Mann, der sich
müdegeschrieben hat, in mir jemanden gefunden zu haben, der an seiner Stelle`stellvertretend´, sagt er – gefordert sei, über den Einfall der sowjetischen Armeen ins
Reich, (…) und die Folgen zu berichten.“ (99)
Indem der Erzähler Paul nicht zu den inneren Wirkungen des Traumas vorzudringen
vermag, kann er das Verdrängte (des Traumas) nicht erfassen. Er ist begrenzt durch
die widersprüchlichen Anweisungen des „Auftraggebers“. Da Paul „keine weiteren
Stories“ (139) erzählen „darf“ und ihm geraten wird, sich „kurz zu fassen, nein mein
Arbeitgeber besteht darauf“ (ebd.), versucht er trotz Drängens des Auftraggebers,
nicht, „Einzelschicksale zu reihen, mit episch ausladender Gelassenheit und
angestrengtem Einfühlungsvermögen den großen Bogen zu schlagen und so, mit
Horrorwörtern, dem Ausmaß der Katastrophe gerecht zu werden.“ (136)
112
Auch bei dem zweiten tragischen Ereignis der Novelle, dem Mord an Wolfgang alias
David, bleibt der „Alte“ bei seinem Verbot. Er untersagt seinem Erzähler über die
Gedanken des Täters Konny zu „spekulieren“ (199). Diese Aufforderung ist jedoch
mehr als ein einmaliges Verbot, es ist: „Eine Verbotstafel, die von Beginn an stand.“
(199) Der „Alte“ appelliert an seinen Erzähler, nicht unter die Oberfläche zu gehen,
denn das darüber liegende sage zwar nicht alles, aber genug: „Wir sehen nur, was wir
sehen“ (199); „Keine Gedanken also, auch keine nachträglich ausgedachten. So,
sparsam mit Worten kommen wir schneller zum Schluß.“ (200) Tatsächlich gelangt
der Erzähler auf diesem Weg jedoch niemals zum Schluss, wovon der letzte Satz der
Novelle zeugt.
Aus der übergeordneten Instanz des „Arbeitgebers“ werden somit Grenzen gesetzt.
Der Raum für die Reflektion schwer fassbarer Emotionen liegt außerhalb dieser
Grenzen. Daraus ergibt sich, dass die Vielfalt der Instanzen den Text nicht zu einem
mehrstimmigen macht. Vielmehr bleiben alle Perspektiven „einem zentralen
Bewusstsein untergeordnet“ (ebd.) – dem des durch die „Verbotstafel“ begrenzenden
„Alten“.
Dieses zentrale Bewusstsein lässt sich als Metapher für eine öffentliche
Erinnerungskultur lesen. Die öffentliche Wahrnehmung kann naturgemäß die
zahllosen individuellen Wahrnehmungen Einzelner nicht erfassen. Gleichzeitig folgt
die öffentliche Wahrnehmung zur Orientierung bestimmten, im (demokratischen)
Konsens gewonnenen Maßstäben, etwa politischer oder moralischer Natur. Indem sich
die öffentliche Reflexion als Überbau in einer Erinnerungskultur aufbaut, bleibt der
öffentliche Raum für die individuelle Form der Wahrnehmungen abwesend. Der
Erzähler Paul gesteht ein, wohin ihn das Verbot des „Alten“ treibt: „Wie gut, dass er
nicht ahnt, welche Gedanken ganz gegen meinen Willen aus linken und rechten
Gehirnwindungen kriechen, entsetzlich Sinn machen, ängstlich gehütete Geheimnisse
preisgeben, mich bloßstellen, sodass ich erschrocken bin und schnell versuche, anderes
zu denken.“ (200) Als einen dieser erschreckenden Gedanken nennt er die Überlegung
113
zu einem Geschenk, das er seinem Sohn - dem Täter – beim ersten Gefängnisbesuch
machen will. (ebd.)
Die „Verbotstafel“ (199) des „Alten“ (99) verhindert Pauls Vordringen in das Innere
des Traumas: „Das Verbot zu sprechen wird von dem Verbot begleitet, sich bewusst
zu sein, zu wissen, zu erinnern und zu assimilieren.“255 Woher kommt dieses Diktum
in einer Narration über ein traumatisches Erlebnis? Ist es ein äußerlich auferlegtes
Verbot, getragen von der Angst einer unzureichenden Reflexion, oder ist es ein dem
Trauma immanent Unmögliches?
Das zentrale Problem, das sich bei Extremtraumatisierung jeder Art stellt, ist deren
Repräsentation (vgl. Forte oben). Für Außenstehende ist es nahezu, wenn nicht
vollkommen, unmöglich, sich das „Innere“ des Traumas vorzustellen.256 Nun ist der
Erzähler Paul auf der Ebene als personifiziertes Trauma jedoch kein
„Außenstehender“. Das Trauma ist seine Essenz (vgl. Abschnitt „Trauma“). Die
berichtende und somit unbeteiligte Erzählweise Pauls über das Schicksal Tullas gibt
einen Hinweis auf die eigentliche Ursache des „Verbots“: die Empathielosigkeit.
(D)as Scheitern der empathischen Verbindung zur Zeit des Traumas ist das
stärkste Merkmal schwerer Traumatisierung. Der Henker beachtet das Opfer
nicht, das um sein Leben fleht, und die empathische Bindung ist durchgeschnitten
und ausgelöscht. Die Folge dieser Auslöschung ist die Unfähigkeit, eine
empathische Beziehung zu sich selbst aufrechtzuerhalten.257
Bohleber erklärt den inneren Prozess der zerstörten Empathie gegenüber sich und
somit gegenüber anderen: „Im Trauma verstummt das innere gute Objekt als
empathischer Vermittler zwischen Selbst und Umwelt. (…) Hoppe (1962) hat diesen
Sachverhalt als eine Zerstörung des Urvertrauens gekennzeichnet (…). Der Verlust des
empathischen inneren Anderen zerstört die Fähigkeit, das Trauma zu erzählen.“258
255
Laub, S. 863.
vgl. M. Hirsch, `Transgenerationelle Weitergabe von Schuld und Schuldgefühl´, in Johannes Pfäfflin u.a.
(Hg.), Das Ende der Sprachlosigkeit, Gießen, 2000, S. 141.
257
Laub in Bohleber „Trauma“, S. 863.
258
Bohleber, „Trauma“, S. 821.
256
114
Paul leidet unter Sprachlosigkeit, weil er nicht in das Innere von Tullas Trauma
vorzudringen vermag. (136) „Ihrem“ Trauma ist die Fähigkeit genommen ihr Leid
nachzuempfinden. Der „Arbeitgeber“ könnte eine wichtige Funktion als der
„empathische Andere“ (Bohleber) besetzen, durch den die „Krümmung“ aufgehoben
wird: „Erst in Gegenwart eines empathischen Zuhörers können die Fragmente zu
einem Narrativ zusammenwachsen und die Geschichte bezeugt werden. Durch die
Erzählung wird Distanz geschaffen.“259 Doch verweigert sich der „Alte“ dieser
Funktion indem er die „Verbotstafel“ aufstellt. Diese Einordnung der „Verbotstafel“
des Alten soll als Fundament für den Prozess des Durcharbeitens im dritten Kapitel
dieser Studie nochmals aufgegriffen werden. Vor dem Hintergrund Lacans Theorie der
„Krümmung“ infolge von Trauma und Verdrängung soll nachfolgend die Darstellung
die Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland seit Kriegsende im Krebsgang
untersucht werden.
259
Ebd.
115
Pauls berufliche Entwicklung als Metapher für die drei Phasen der deutschen
Erinnerungskultur seit 1945
Pauls Wohnung in Berlin Kreuzberg liegt nahe dem „Eisernen Vorhang“ (43), hinter
dem seine Mutter Tulla lebt. Indem er in seinem Beruf als Journalist über
„gesellschaftlich Relevantes“ wie „Nachrüstung und Friedensbewegung“ (42) schreibt,
berührt er Schwerpunktthemen im Nachkriegsdeutschland, die „sogar in halbwegs
linken Kreisen Beachtung“ (43) finden. Später arbeitet er als „Agenturschreiberling“
und verfasst „nebenbei“ Reportagen, etwa über ökologische Themen. (43) Streng
genommen scheitert er jedoch mit dieser Tätigkeit, insofern er sich lediglich „über
Wasser“ halten kann. Trotz der steten Aufforderung Tullas (19) entzieht er sich als
Journalist lange den Vorkommnissen um ihre Flucht und Vertreibung. Auf die
Verdrängung weisend ist dabei die lange Zeit der Sprachlosigkeit Pauls („Warum erst
jetzt“ - 7) der „noch“ in der narrativen Gegenwart um Sprache ringt: „Noch haben die
Wörter Schwierigkeiten mit mir.“ (7) Das Wort „noch“ impliziert jedoch den
bevorstehenden Aufbruch dieser Sprachlosigkeit.
Wie einführend dargestellt, hat Aleida Assmann die Zeit zwischen Kriegsende und der
Gegenwart in drei Epochen unterteilt. Die wesentlichen Merkmale der jeweiligen
Epochen spiegeln sich in Pauls beruflicher Entwicklung wider. Als Journalist
reflektiert er die gesellschaftlichen Ereignisse und Entwicklungen. In dieser Rolle ist
er damit befasst – um Foucaults Bild aufzunehmen (vgl. „Einführung“) die
Geschichten aus jener Kultur zu (re-)präsentieren, aus der sie hervorgehen – damit
auch aus der Erinnerungskultur. Auf der Gegenwartsebene repräsentiert er als
Journalist, der erst für „Springer“, dann für „taz“ und schließlich als
„Agenturschreiberling“ (43) agiert, retrospektiv die Strömungen in der westdeutschen
Erinnerungskultur nach 1945. Historisch untermauert die politische Orientierung des
Springer Verlags die rechtskonservative Adenauer-Regierung der fünfziger und frühen
sechziger Jahre; die „taz“ symbolisiert die politisch links orientierte
Studentenbewegung der „1968er“ und das Heranwachsen der ersten
116
Nachkriegsgeneration260, und der Agenturjournalismus, dessen Merkmal die weltweite
Berichterstattung in Echtzeit ist, kann als eine Metapher für die universale Prägung der
Erinnerungskultur seit den 1980er Jahren bis in die Gegenwart gelesen werden.
Die erste Phase der deutschen Erinnerungskultur ist die der politischen Deklaration
und reicht nach Aleida Assmann etwa bis zum Ende der 1950er Jahre. Als Merkmal
dieses Abschnitts identifiziert die Kulturwissenschaftlerin das offizielle Gedächtnis
ohne biographische Erinnerung (Hermann Lübbe: „kollektives Beschweigen“).261
Historisch ist dieser Epoche die Vergangenheitspolitik der Adenauer Regierung (19491963) zuzuordnen. Der Historiker Christoph Cornelißen erinnert daran, dass infolge
der Nürnberger Prozesse gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ entgegen den Absichten
der Alliierten eine Trennlinie zwischen Hitler und seiner kriminellen Führung
einerseits und die in ihrer Gefolgschaft „missbrauchten Deutschen“ andererseits noch
stärker betont worden war, als im Vorfeld des Prozesses.262 Auch dass viele ehemalige
Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei und aus den NS-Funktionseliten ihre
Karrieren in der 1949 gegründeten Bundesrepublik fortsetzen konnten, behinderte die
Beschäftigung mit der Vergangenheit des „Dritten Reichs“ erheblich.263 Besonders
markant waren dabei Adenauers „Wiedereinstellung praktisch aller jener 1945 (Anm.
d. Autorin: durch die Alliierten) – wie es beschönigend hieß - `verdrängten Beamten´
und ehemaligen Berufssoldaten in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik.“264 Die
Vermengung zwischen der jungen Bundesrepublik und den Strukturen von vor 1945
ist in einem Bild der Novelle aufgegriffen: „Auch habe (…) der ehemalige NSPropagandaexperte während der siebziger Jahre eine geräuscharme
Spendenwaschanlage zugunsten der FDP betrieben, und zwar in Neuwied am Rhein.“
(15)
Jürgen Zinnacker, `Politische Geburtskohorten und Familiengenerationen in (West)Deutschland –
Geburtsjahrgänge 1890-1976´, Vortrag (inkl. Handout), Kulturwissenschaftliches Institut Essen, 6. Feb. 2005.
(nachfolgend „KWI-Tabelle“ genannt).
261
A. Assmann, in Erinnern, S. 88.
262
Christoph Cornelißen u.a., `Nationale Erinnerungskulturen seit 1945 im Vergleich´, S. 9-27 in ders., (Hg.),
Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt, 2003, S. 16.
263
Ebd.
264
Frei, 1945 und Wir, S. 31.
260
117
In den 1950er Jahren arbeitet Paul für die Springer Presse (7), die der
rechtskonservativen Strömung unter der Regierung Adenauer nahe stand. Das
vorherrschende Merkmal dieser Epoche war der Versuch eines Neuanfangs – einer
„Tabula rasa“ im Geist des Vergessens. Dieser Reflex der Verdrängung schloss das
Schicksal der Vertriebenen mit ein:
Während in der DDR das totalitäre Regime das Thema Flucht und Vertreibung
unterdrückte, wurde es in der alten Bundesrepublik beinahe von selbst gemieden.
Die Westdeutschen sahen sich in der unsicheren und chaotischen Lage der ersten
Nachkriegszeit überrollt vom Strom der vertriebenen Deutschen aus dem Osten,
denen es ganz ohne Zweifel noch elender ging als ihnen selbst.265
Die zweite Phase der deutschen Erinnerungskultur ist nach Assmann die der
familiären, juristischen und historischen Aufklärung. Die Zeit zwischen 1960 und
1980 ist geprägt durch unerbittliches Nachfragen sowohl innerhalb der Familien durch
die inzwischen herangewachsene erste Nachkriegsgeneration als auch in den
Gerichtshöfen und Archiven. Markantes Ereignis zu Beginn dieser Phase waren die
Frankfurter Auschwitz Prozesse zwischen Dezember 1963 und August 1965.
Mitscherlichs Unfähigkeit zu trauern gehörte zu den epochalen Publikationen dieser
Zeit. Der Impuls des Nachfragens läutete eine Wende in der deutschen
Erinnerungsgeschichte ein.266
Entsprechend zieht es Paul zu seinem zweiten Arbeitgeber, der „taz“ (7). Sie
repräsentiert die ab etwa Mitte der 1960er Jahre auflebende politische
Linksorientierung, als Folge des Auflehnens gegen den Konservatismus der Adenauer
Jahre. Die „taz“ als das Westberliner Sprachrohr der linken Bewegung, steht als ein
Symbol dieser Zeit, die ihren Höhepunkt in den Studentenunruhen im Jahr 1968 hat.267
Rückblickend aus der Erzähl-Gegenwart bewertet Paul implizit diese Phase der
Erinnerungskultur aus seiner Perspektive als Trauma, das es durchzuarbeiten gilt, als
kritisch: „Und später, als mir die `taz´ und sonstige linke Kopfstände auf den Nerv
265
Kossert S. 12.
Ebd.
267
Anmerkung: Die „taz“ erscheint erstmals 1978 als linksgerichtete Tageszeitung. Deren Gründungsredaktion
stammte aus dem Umfeld der „Linken“ bzw. der sog. „Spontis“, politische Aktivisten, die sich in der Nachfolge
der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) und der „68er Bewegung“ sahen. (Vgl.
http://www.taz.de/zeitung/ueberuns-verlag/geschichte/1977-1986).
266
118
gingen….“. (31) Eine andere retrospektive Bewertung aus dem Jahr 1999 durch den
damaligen Bundesinnenminister Otto Schily erhellt diese Sequenz:
Die politische Linke hat in der Vergangenheit, (…) zeitweise über die
Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den Vertriebenen
zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängstlichkeit
vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden, oder sei es in dem
Irrglauben, durch Verschweigen und Verdrängen eher den Weg zu einem
Ausgleich mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war
Ausdruck von Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit.268
Der Anfangspunkt der dritten Phase - der „Universalisierung und Globalisierung der
Erinnerung an den Holocaust“269 - gilt als schwer auszumachen. Im Kern stellt sich in
dieser Phase die international debattierte Frage, wie der Holocaust erinnert werden
kann und soll.270 Als ein möglicher Auslöser hierfür gilt die Ausstrahlung der
amerikanischen TV-Spielfilmserie „Holocaust“ im Jahr 1979 in den USA und
Europa.271 Zum ersten Mal sind breite Bevölkerungskreise mit der Unmenschlichkeit
der Shoa konfrontiert worden. Cornelißen bewertet den Übergang von der zweiten zur
dritten Phase als eine eher „schleichende Wende“. Hierbei hätten insbesondere die
Massenmedien für den öffentlichen Erinnerungsdiskurs und die stärkere staatliche
Inszenierung des Gedenkens eine Rolle gespielt.272
Endgültig sei der Holocaust „im Zuge der Einigung des Kontinents nach 1989“
hervorgetreten.273 Typisch für die neue universalistische Geschichtsrhetorik sei „die
Figur des Totum pro parte: Für die Ermordung der Juden steht `die Vergangenheit´.“274
Pauls Tätigkeit für Nachrichtenagenturen (43) kann als eine Metapher für die
Schnelllebigkeit der globalisierten Echtzeit-Berichterstattung verstanden werden. Im
weltweiten Nachrichtengeschäft ergibt sich daraus für die Agenturen die Tendenz des
„Mainstreaming“, indem das Augenmerk weniger auf detaillierte Auseinandersetzung
268
Kossert, S. 9.
A. Assmann in Erinnern, S. 88.
270
Ebd.
271
Cornelißen, S. 16.
272
Ebd.
273
Patrick Bahners, `Der Mythos von der Verdrängung´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, Nr. 22, 27.01. 2005,
S. 33.
274
Ebd.
269
119
und mehr auf einer möglichst schnellen Berichterstattung liegt. Vor dem Hintergrund
der „Verbotstafel des Alten“ (s.o.), einer Annäherung, die bestimmter Blickwinkel
entsagt, lässt sich darin die Fragestellung nach dem Aspekt des fundierten und
differenzierten Betrachtens erkennen.
Die journalistischen Berufssparten Pauls als Symbole für die Erinnerungskultur der
Bundesrepublik Deutschland gelesen, stellen seit 1945 keine Perspektive bereit –
weder „rechts“, noch „links“ oder „universal“ – in der die Aufarbeitung des Traumas
eine Sprache finden kann. Erst als „freier Journalist“ - beauftragt von dem „Alten“ und
gezwungen von „Tulla“ – gewinnt Paul den Raum, um seinen Bericht über Tullas
Erlebnisse abfassen zu können. Für die Zeit davor gelangt er zu einem vernichtenden
Urteil: „Wir haben ja Wörter für den Umgang mit der Vergangenheit dienstbar
gemacht: sie soll gesühnt, bewältigt werden, an ihr sich abzumühen heißt Trauerarbeit
leisten.“ (116) Das Wort „abmühen“ erhebt das Bild des niemals an sein Ziel
gelangenden Sisyphos. Entsprechend scheint das Ziel der Trauerarbeit mit bloßen
Wortdiensten unerreichbar. Das Dienstbarmachen der Wörter impliziert ein
Ausbleiben des Dienstes an den Taten (vgl. „Durcharbeiten“).
Ein Datum wird zum Motiv für die Verdrängung: „Da ist es wieder, das verdammte
Datum. Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes
Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch. Zum Beispiel dieser
vermaledeite Dreißigste.“ (116) Der Dreißigste hat eine dreimal „verfluchte“
Bedeutung: es ist der Tag der Machtergreifung am 30. Januar 1933, es ist der Tag des
Untergangs der Gustloff, der einer der Endpunkte des NS-Regimes markiert und: „am
30. Januar neunzig, als das verfluchte Datum außer Kurs zu sein schien, weil überall
nach der Melodie `Deutschland, einig Vaterland´ getanzt wurde und alle Ossis
verrückt nach der D-Mark waren“. (90f) Schließlich kehrt das Verdrängte im
Wiedervereinten auf fatale Weise zurück: „bis ich Ende Januar sechsundneunzig zuerst
die rechtsradikale Stromfront-Homepage angeklickt hatte, bald auf einige GustloffBezüglichkeiten stieß und dann auf der Website `www.blutzeuge.de´ mit der
Kameradschaft Schwerin vertraut wurde.“ (32) Die Zeit zwischen 1945 und 1990 war
ungenutzt geblieben für die Bearbeitung des Vergangenen, das gleich einem Trauma
120
wiederkehrt: „Da ist es wieder“ (116). Im Krebsgang bleibt die Krümmung des
Traumas und der Verdrängung in den Jahrzehnten nach Kriegsende unbegradigt.
121
Tulla als Kaschubin
In diesem Abschnitt wurden bislang jene historischen Vorkommnisse während des
Krieges und der Nachkriegszeit behandelt, die erst spät Eingang in die öffentliche
Erinnerungskultur der Gegenwart gefunden haben. Neben diesen im Krebsgang
offengelegten „blinden Flecken“ der Erinnerungskultur, findet sich in der Hauptfigur
Tulla ein Wesensmerkmal, das den Anschein eines unbewussten „blinden Flecks“
erweckt: Grass´ Hauptprotagonistin Tulla ist nicht deutscher, sondern kaschubischer
Herkunft.
Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Ernestine Schlant verweist darauf, dass
sich das Trauma („Träume und Alpträume eines Volkes“) in einer Ebene des
literarischen Werkes enthüllen kann, „die vielleicht dem Bewusstsein des Autors
entgangen sein mag.“275 Terry Eagleton spricht von „Subtexten“ oder „Zonen der
Blindheit“ in einem Werk:
Beim Lesen erstellen wir etwas, was man einen `Subtext´ für das Werk nennen
könnte – einen Text innerhalb des eigentlichen Textes, der an einigen
`symptomatischen´ Punkten der Ambiguität, des Ausweichens oder der allzu
großen Emphase sichtbar wird und den wir als Leser `schreiben´ könnten, auch
wenn der Roman selbst es nicht tut. Alle literarischen Werke enthalten einen oder
mehrere solcher Subtexte, und man kann sie in gewissem Sinne als das
`Unbewusste´ des Werkes selbst bezeichnen. Die Einsichten des Werkes sind,
wie bei jeder Form des Schreibens, tief mit seinen Blindheiten verbunden: was es
nicht sagt, und wie es nicht gesagt wird, kann so wichtig sein wie das, was
ausgesprochen wird; was an ihm fehlend, marginal oder ambivalent erscheint,
kann einen wichtigen Schlüssel zu seiner Bedeutung liefern.276
Tulla ist die Hauptfigur in einer Erzählung über das Schicksal der deutschen
Ostflüchtlinge seit 1945. Der „Alte“ bezichtigt sich selbst des Versäumnisses, „dem
Elend der ostpreußischen Flüchtlinge“ (99) nicht Ausdruck gegeben zu haben. Damit
steht Tulla repräsentativ für deutsche Ostflüchtlinge. Vor dem Hintergrund, dass eine
Nation eine Erinnerungsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Geschichtsbewusstsein
ist, aus der man nicht austreten kann277, hat die Kaschubin Tulla (12) als Folge daraus
275
Schlant, S. 14.
Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart, 1997, S. 169.
277
Dieter Langewiesche, `Die Nation schafft Freiheit´, Interview in „Spiegel Special. Geschichte“, 1/2007, S. 16.
276
122
eine lediglich eingeschränkte genealogische Verbindung zu Deutschland und der
deutschen Geschichte.
Diese Aufspaltung in Grass´ Figur Tulla äußert sich vor allem in der Sprache. Ihre
Sprache ist zwar die deutsche, allerdings mit einer starken Färbung und eigenen
Wörtern: „Sie sagt Bulwen zu Kartoffeln, Glumse zu Quark und Pomuchel, wenn sie
Dorsch in Mostrichsud kocht.“ (11-2) Die mundartlich gefärbten Zitate Tullas durch
die gesamte Novelle hindurch verdeutlichen immer wieder die Distanz zwischen der
kaschubischen Abstammung und der (symbolischen) Repräsentantin deutscher
Flüchtlinge. Lediglich wenn sie mit dem Trauma des Untergangs bzw. dessen Folgen
konfrontiert wird, spricht sie Hochdeutsch (z.B. Schilderung des Untergangs in DDR
S. 140, Konnys Gerichtsverhandlung S. 179).
Die Sprache bildete als rationales und emotionales Instrument der Verständigung die
entscheidende Basis für das Konzept des Nationalstaats: „Literatur und Sprache
wurden zum Leitmotiv einer Nation auf der Suche nach sich selbst. Denn die Sprache,
so hatte es (…) Johann Gottfried Herder gelehrt, war der tiefste Ausdruck nationaler
Wesensart, hier offenbarte sich jener `Nationalcharakter´, von dem um 1800 so oft die
Rede war.“278 Im Falle Deutschlands kommt der Sprache eine besondere historische
Bedeutung zu:
Da es einen deutschen Nationalstaat noch nicht gab, konnte der frühe deutsche
Nationalismus sich auch nicht an einer eigenen, subjektiv als vorbildhaft
empfundenen politischen Ordnung ausrichten. Er berief sich stattdessen auf
vermeintlich objektive Größen wie Volk, Sprache und Kultur, die dem
politischen Wollen gleichsam vorgelagert waren.279
Die Kaschuben sind keine Nation, sondern ein Volksstamm, der vorwiegend in Polen
angesiedelt ist. Tulla wächst jedoch in dem zu Danzig gehörenden Vorort Langfuhr
auf, der zwischen 1920-1939 weder zu Polen, noch zum Deutschen Reich, sondern als
Ute Planert, `Der Weltgeist zu Pferde. Der Erfolg des Eroberers Napoleon…´, in „Spiegel Special.
Geschichte“, 1/2007, S. 73.
279
Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, München, 2000, Bd. 2, S. 66.
278
123
„Freie Stadt Danzig“ einen Sonderstatus als unabhängiger Freistaat hatte.280 Bei dem
Überfall auf Polen nahmen die Kaschuben eine Sonderrolle ein:
Hitler´s call in his Reichstag speech of October 6 for a `new order of
ethnographic relationships´, ordinary Poles were to be expelled from Danzig,
West Prussia, Posen and eastern Upper Silesia, all of which Hitler now restored
to the Reich (…). (…) Exceptions were made for around 1.6 million Maurians,
Kashubes and so-called Wasserpolen of Silesia, all of whom were deemed
racially acceptable and allowed to remain.281
Als Volksstamm unterscheiden sich die Kaschuben von dem Konzept der Nation. Ein
Volksstamm ist nicht fähig, ein „über die eigene Gruppe hinausgehendes
Zusammengehörigkeitsbewusstein zu entwickeln und (…) Institutionen zu schaffen.
Die Nation ist ein Institutionenbauer.“282 Nationen definieren sich über Territorien, ein
Gebiet auf dem Nationalstaaten „immer wieder versagt (haben) eine friedliche Lösung
zu finden, wenn mehrere das gleiche Territorium beanspruchen“283 – wie vor allem die
beiden Weltkriege in 20. Jahrhundert gezeigt haben. Ein weiteres Merkmal von
Nationen ist, dass fast alle Nationalstaaten aus Kriegen hervorgegangen sind, wie etwa
Italien, Deutschland, Polen, Ungarn. Auch dass Nationen ihre eigenen Minderheiten
ausgrenzen, etwa Juden oder Kommunisten im Deutschland der dreißiger und
vierziger Jahre, gehört in der Vergangenheit häufig zum Wesenszug von Nationen.284
Langewiesche führt einen weiteren wesentlichen Aspekt aus:
Die Herrscher des 18. Jahrhunderts haben Kriege wie ein Duell geführt. Man
gewann oder verlor, musste möglicherweise Territorien abtreten, und damit war
die Sache geregelt. Der Nationalstaat hat jedoch oft Schwierigkeiten, Kriege zu
beenden. Er muss seine Bürger emotional erreichen, um sie zu mobilisieren. Im
Ersten Weltkrieg wurden alle Nationen derart aufgeputscht, weil die
Herrscherhäuser die riesigen Verluste rechtfertigen mussten. Da stilisiert man den
Krieg zum heiligen Kampf. Denn Frieden ohne Sieg zu schließen, ist besonders
schwer.285
280
Bernhardt, S. 16f.
Ferguson, S. 398.
282
Langewiesche, S. 14.
283
Ebd.
284
Ebd.
285
Langewiesche, S. 15.
281
124
Sämtliche dieser Attribute als Erklärungsansätze der Geschichte des frühen 20.
Jahrhunderts finden keine Anwendung auf die Figur Tulla. Indem Grass seine
Hauptprotagonisten Tulla einem Volksstamm entspringen lässt, entzieht er sie den
grundlegenden Merkmalen, die das Volk eines Nationalstaats – damit auch die
„Volksgemeinschaft“ im NS-Regime - ausmachen. Dennoch ist die Geschichte
Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Krebsgang als
Hinführung auf das Trauma eingewoben. Es scheint hierin ein Indiz erkennbar, der auf
einen unbewussten „blinden Fleck“ im Krebsgang deutet. Obwohl der Autor seine
Hauptprotagonistin hat schuldig werden lassen (vgl. „Tullas Ambivalenz“) scheint ihre
kaschubische Abstammung eine Art schützende Pufferzone zwischen Tulla und der
deutschen Geschichte zu legen.
Nicht zuletzt um die Dimension dieser „gepufferten“ nationalen Identität Tullas zu
beleuchten, soll im nachfolgenden Abschnitt die Bedeutung einer historischen
Kontextualisierung erörtert und die Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie sie sich im
Krebsgang überwiegend vor dem Trauma des Untergangs darstellt, aufgerollt werden.
125
DIE KOLLEKTIVEN
ERINNERUNGEN
126
Doch ich kann nicht sagen, dass ich die Deutschen verstehe. Und
was man nicht verstehen kann, bildet eine schmerzhafte Leere, ist
ein Stachel, ein dauernder Drang, der Erfüllung fordert.
Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten
Der menschliche Verstand vermag die Gesamtheit der Ursachen der
Erscheinungen nicht zu begreifen. Aber das Bedürfnis, nach diesen
Ursachen zu forschen, liegt in der Seele des Menschen.
Lew Tolstoj, Krieg und Frieden
127
Vorbemerkung
Ambivalente historische Identität als Vorbedingung für den Aufbruch des
Verdrängten
Verdrängte Geschichte kann problematische Folgen mit sich führen: „In einem Land
ohne Erinnerung ist alles möglich. (…) (Die Zukunft) in geschichtslosem Land (…)
gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.“286
Die Wichtigkeit des Aufbrechens von Verdrängtem als Voraussetzung der
Rekonstruktion der Vergangenheit eröffnet sich durch einen Gedanken Theodor W.
Adornos: „Mir selber will es eher scheinen, das Bewusste könne niemals so viel
Verhängnis mit sich führen wie das Unbewusste, das Halb- und Vorbewusste.“287
Im Krebsgang findet sich ein Bild für die fatale Wirkung des „Unbewussten, des Halbund Vorbewussten“. Vor den russischen Gegnern flüchtend, in einem Krieg, den das
NS-Regime begonnen hat, zerstört das Nicht-Vergegenwärtigte das Leben von Tullas
Eltern: „Aber Erna Pokriefke wollte `ums Verrecken´ auf die Gustloff, weil für sie so
viele heitere Erinnerungen an eine KdF-Reise in die norwegischen Fjorde mit dem
damals weiß schimmernden Motorschiff verbunden waren.“ (109) Die „heiteren
Erinnerungen“, das „weiß schimmernde Motorschiff“, die „norwegischen Fjorde“ sind
Bilder, die die Ideologie des Nationalsozialismus assoziieren: die „heiteren
Erinnerungen“ etwa die Idee der „Volksgemeinschaft“, das „weiß schimmernde
Schiff“ erscheint wie eine „mächtige, schützende Militärmacht“ und die
„norwegischen Fjorde“ assoziieren die „Arisierung“, wie an späterer Stelle ausgeführt
wird. Das Schicksal der Pokriefkes, denen das „Unbewusste“ der
nationalsozialistischen Ideologie zum tödlichen Verhängnis wird, erfordert im
Umkehrschluss den Aufbruch des Verdrängten, der Bewusstwerdung der
Abgründigkeit.
286
Michael Stürmer `Geschichte in geschichtslosem Land´, S. 36-38 in Rudolf Augstein (Hg.), Historikerstreit.
Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung,
München 1987, S. 36.
287
Theodor W. Adorno, `Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit´ (1960), in Aufarbeitung der
Vergangenheit. Originalaufnahmen aus den Jahren 1955 bis 1969. Gelesen von Theodor W. Adorno. (CD1),
München, 1999/2006; Produktion: Hessischer Rundfunk.
128
Adorno plädierte für eine bedingungslose Konfrontation der Deutschen mit ihrer
Vergangenheit als eine notwendige Voraussetzung, um die Strukturen dieser
Vergangenheit auszumerzen. Ohne jene sei weder ein Verständnis der sozioökonomischen Voraussetzungen des Faschismus, noch der psychosozialen Faktoren
des „Unbegreiflichen“ möglich. „Aufgearbeitet“ sei die Vergangenheit erst dann,
wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären.288
Die Beseitigung der Ursachen des Vergangenen bedingt die Vergegenwärtigung des
Vergangenen: „Es kommt wohl wesentlich darauf an, in welcher Weise das
Vergangene vergegenwärtigt wird; ob man beim bloßen Vorwurf stehen bleibt oder
dem Entsetzen standhält durch die Kraft, selbst das Unbegreifliche noch zu
begreifen.“289
Zur Rekonstruktion der Vergangenheit bedarf es Erinnerungen. Erinnerungen werden
von Individuen getragen, ihre Prägung erfolgt zum Teil jedoch jenseits individueller
Erfahrungshorizonte. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat auf die
soziale Bedingtheit der Erinnerung verwiesen, da der Einzelne in seiner Erinnerung
auf Anhaltspunkte Bezug nehmen muss, die außerhalb seiner selbst liegen und die von
der Gesellschaft festgelegt worden sind. Letztlich könne man ein individuelles und
soziales Gedächtnis nicht unterscheiden, denn erst über die Affekte – darunter auch
(den) der Trauer - wachse unseren Erinnerungen eine Relevanz in der gegebenen
kulturellen Welt zu.290 Somit ist der Einzelne in unterschiedliche Gedächtnishorizonte
eingebunden, die etwa von der Familie und der Gesellschaft konstituiert werden.
Individuelle Erinnerungen an die Vergangenheit bewegen sich demnach in einem
Spannungsfeld zwischen subjektiver Erfahrung, wissenschaftlich objektivierter
Geschichte und kultureller Kommemoration. Im Umkehrschluss repräsentiert jede
„Geschichtserzählung“ (Michel Foucault) auch die Kultur, aus der sie hervorgeht und
ist immer abhängig von den dominanten Vermittlungsformen.291
288
Adorno, `Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?´ in ders. Kulturkritik und Gesellschaft II,
Gesammelte Schriften, S. 555-572, Bd. 10, S. 572.
289
Adorno, CD1.
290
Vgl. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt, 1985, S. 35 und S. 71.
291
James E. Young, `Zwischen Geschichte und Erinnerung. Über die Wiedereinführung der Stimme der
Erinnerung in die historische Erzählung´, S. 41-62 in Welzer (Hg.), Das Soziale Gedächtnis, S. 59.
129
Wie kaum ein anderes Land hat sich Westdeutschland, seit 1989 das wiedervereinte
Deutschland, seiner Geschichte öffentlich gestellt. Das Holocaust-Mahnmal in
unmittelbarer Nähe zum Deutschen Bundestag ist nur eines der sichtbarsten Zeichen
dieser Auseinandersetzung. Trotz der Unermüdlichkeit der öffentlichen Konfrontation
diagnostiziert Aleida Assmann eine Diskrepanz zwischen den biographischen
Erinnerungen und dem gesellschaftlichen und politischen Erinnerungsrahmen, die für
eine „Reihe von Eruptionen und Skandalen verantwortlich zu machen ist.“292 Auch im
Krebsgang steht die individuelle (traumatische) Erinnerung Tullas dem kollektiven
Gedächtniskanon entgegen, wie im dritten Kapitel dieser Arbeit „Durcharbeiten“
ausführlich darzustellen sein wird.
In seiner Rede in Vilnius Ende 2000 greift Günter Grass diese Kluft zwischen privaten
und öffentlichen Erinnerungen auf:
Merkwürdig und beunruhigend mutet dabei an, wie spät und immer noch
zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während des Krieges den Deutschen
zugefügt wurden. Die Folgen des bedenkenlos begonnenen und verbrecherisch
geführten Krieges, nämlich die Zerstörung deutscher Städte, der Tod
Hunderttausender Zivilisten durch Flächenbombardements und die Vertreibung,
das Flüchtlingselend von zwölf Millionen Ostdeutschen, waren nur Thema im
Hintergrund.293
Auf einer psychologischen Ebene bestätigt sich diese Kluft in dem eingangs
dargestellten Paradox zwischen einer Wissensgesellschaft ohne Einfühlung in die
Geschichte (vgl. Dan Bar-On, „Einführung“). Mit Blick auf die jüngeren Generationen
stellt Roman Herzog die Frage nach der Vermittlungsform der Geschichte: „Es kommt
nicht nur darauf an, dass über die Verbrechen des so genannten Dritten Reiches
gesprochen wird, sondern vor allem auch darauf, ob so darüber gesprochen wird, dass
die jungen Menschen es verstehen und die richtigen Folgerungen daraus ziehen.“294
292
A. Assmann, in Erinnern, S. 84.
Grass, `Ich erinnere mich´, S. 27-34 in Martin Wälde; Günter Grass., Die Zukunft der Erinnerung, Göttingen,
2001, S. 32f.
294
Roman Herzog, Rede bei der Gedenkveranstaltung aus Anlaß des 60. Jahrestages der Synagogenzerstörung
am 9./10. November in Berlin. http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Reden-Roman-Herzog.
293
130
Diese Erkenntnis bedarf jedoch etwas Grundsätzlicherem als Fundament. Der
Politikwissenschaftler Peter Reichel verweist darauf:
Politische Systeme sind auf den Umgang mit Vergangenheit angewiesen. Er dient
der sozialen Binnenintegration, der kulturellen Identitätsbildung und der politisch
symbolischen Herrschaftslegitimierung. Jedes Gemeinwesen muss wissen und
sinnlich erfahrbar machen, worauf es gründet und wo es herkommt.295
Die Dimension einer Wissensgesellschaft ohne Einfühlung zeigt sich hierin: zwar weiß
dieses Gemeinwesen, worauf es gründet und woher es kommt, kann es aber nicht
sinnlich erfahrbar machen. Das Wissen ist von dem Nachempfinden abgeschnitten
und scheint dadurch über Zeit seine Bedeutung zu verlieren. Mit Blick auf die
nationale Geschichte beschreibt die Psychologin Ingrid Peisker die Trauerarbeit als
einen konstruktiven Prozess, der „integrative(n) Erinnerungsarbeit, die das kognitive
Erfassen der historischen Fakten mit deren emotionaler und moralischer Bedeutung
verbindet und eine emanzipatorische, identitätsstärkende Entwicklung einleitet.“296
Der Prozess des Erkenntnisgewinns aus der Geschichte zwischen 1933-45 als
Vorbedingung der historischen Verantwortung bedarf einer Öffnung gegenüber
menschlicher Ambivalenz. Erst das Zusammenspiel zwischen menschlicher
Ambivalenz und historischer Kontextualisierung scheint Geschichte „sinnlich
erfahrbar“ und „die emotionale und moralische Bedeutung historischer Fakten
kognitiv erfassbar“ zu machen. Die Akzeptanz der menschlichen Ambivalenz von
„Gut“ und „Böse“ erfordert die Akzeptanz der eigenen Ambivalenz - wodurch diese
Vorbedingung als eine besondere Herausforderung erscheint. Doch offenbart bereits
das Verständnis über die eigene Ambivalenz einen wesentlichen Baustein des
Nationalsozialismus für die sinnliche Erfahrbarkeit von Geschichte.
In ihrer traditionellen Ausprägung besetzt die eigene nationale Identität
naturgemäß die guten Attribute für sich und reserviert die schlechten für die
`Anderen´. Eine ambivalente historische Identität jedoch bezieht nicht nur die
295
Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische
Vergangenheit´, Frankfurt, 1999, S. 21.
296
Ingrid Peisker, Vergangenheit, die nicht vergeht. Eine psychoanalytische Zeitdiagnose zur
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Gießen, 2005, S. 13.
131
ausschließlich positiven Seiten ein, sondern nimmt auch die eigenen
Schattenseiten an. Durch dieses Aufbrechen der eigenen Identität hin zu den
dunklen Seiten wird es möglich, die `Anderen´ auf Augenhöhe zu sehen und
nicht als etwas Fremdes und damit Nachgeordnetes.297
Auf diese Weise bildet ein ambivalentes nationales Selbstbild zugleich auch einen
Gegenpol zu jener Selektion in „wir“ und „die Anderen“, die die „Wurzel der
nationalsozialistischen Barbarei“298 war.
Eine ambivalente historische Identität im diesem Sinne wird somit zur Vorbedingung
für die „sinnliche Erfahrbarkeit“ der Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland
und damit für eine Wissensgesellschaft mit Einfühlung. Um „das Unbewusste, das
Halb- und Vorbewusste“ (Adorno) in „das Bewusste“ zu wandeln, bedarf es der
prozesshaften historischen Darstellung, das Aufzeigen des „Vorher“, des „Während“
und des „Nachher“. Die Bedeutung dieser kontextualisierten Darstellung umreißt der
Historiker Michael Hoffmann: „Der Sinnentleerung durch Ritualisierung könnte
öffentliches Gedenken dann entgehen, wenn die Kontexte des Themas, die Vorderund Hintergründe und die Perspektiven für Gegenwart und Zukunft klar thematisiert
würden.“299
Im Krebsgang stellt der Erzähler Paul die Kernfrage, die am Beginn einer
kontextualisierten Darstellung vor einer ambivalenten historischen Identität steht: „Nur
spaßeshalber und um mich auszuprobieren, versuche ich jetzt, mir vorzustellen, wie
meine Wenigkeit als Journalist reagiert hätte (…). Verspätete Mutproben! Wie ich
mich kenne, wäre mir allenfalls eine verklausulierte Frage (…) über die Lippen
gekommen (…).“ (58) Diese Fragestellung, eingebettet in einem erzählten Bericht
über das Vorher und das Nachher der Gustloff Katastrophe spiegelt jenen Ansatz von
Ambivalenz und Kontextualisierung als Voraussetzung für sinnlich und kognitiv
erfahrbare Geschichte.
297
Vgl. Jörn Rüsen, unveröffentlichtes aber genehmigtes Interview, März 2006.
Herzog.
299
Michael Hoffmann, Ambivalenzen der Vergangenheitsdeutung. Deutsche Reden über Faschismus und
`Drittes Reich´ am Ende des 20. Jahrhunderts, Dissertation, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften,
Universität Gießen, 2003, S. 15.
298
132
Von der individuellen Erinnerung zur „sinnlich und kognitiv erfahrbaren“
Geschichte im Krebsgang
Lange zögert Paul in seiner Erzählung, bevor er zum Punkt seiner Existenz als Trauma
gelangt: „Aber nein. Ich darf nicht, darf noch nicht zum Knackpunkt meiner zufälligen
Existenz kommen, denn noch standen dem Schiff friedliche KdF-Reisen bevor.“ (70)
Die Erinnerung an Vergangenes formt die Identität eines Menschen, indem das
Subjekt das Ziel hat, sich in seiner Geschichte und in deren Beziehung zu seiner
Zukunft zu verwirklichen: „Das Subjekt komponiert ein Ich.“300 Im Sinne Halbwachs´
erweitert der Sozialpsychologe Harald Welzer diese Identitätsbildung um eine soziale
Komponente: „Die Wahrnehmung und Interpretation der eigenen Vergangenheit und
der Wir-Gruppe, zu der man gehört, ist der Ausgangspunkt für individuelle und
kollektive Identitätsentwürfe und dafür, für welche Handlungen man sich in der
Gegenwart entscheidet – mit Blick auf die Zukunft.“301
Paul schildert das Schicksal von Mutter Tulla und Sohn Konny. Damit erstellt er
Identitätsentwürfe für seine Familie als „Wir-Gruppe“ aus der Vergangenheit hinein in
die Zukunft. Pauls einzige Verankerung als Figur in dieser Geschichte – selbst als
Journalist ist sein Leben durch Tulla und Konny dominiert - unterstreicht die eigene
Geschichte und die „Wir-Gruppe“ als Basis für individuelle Identitätsentwürfe.
Wie vorstehend erläutert ist die Bildung der eigenen Identität die Verankerung für die
zweite Bedeutungsebene des Erinnerns, die der Erkenntnis. Kettner (vgl.
„Einführung“) beschreibt das Erinnern im Prozess des Durcharbeitens, d.h. des
Aufbrechens des Verdrängten, nicht als ein Wiederfinden von Objekten, sondern als
„erneutes Verstehen von schon einmal (irgendwie) Verstandenem.“302 Indem Paul bei
seinem imaginierten Pressetermin auf der Gustloff die Frage nach der eigenen
Handlungsweise unter gegebenen historischen Bedingungen stellt (59), begibt er sich
(und den Rezipienten) auf den Pfad der Re-Interpretation, der die Chance birgt auf ein
„erneutes Verstehen von schon einmal (irgendwie) Verstandenem.“
300
Petra Strasser, `Blick zurück in die Zukunft´, in Mauser; Pfeiffer, Erinnern, S. 137-149, Bd. 23, S. 140.
Harald Welzer, `Das soziale Gedächtnis´, in ders., S.11.
302
Matthias Kettner, `Das Konzept der Nachträglichkeit in Freuds Erinnerungstheorie´, S. 309-342 in „Psyche“,
53. Jahrgang 1999, S. 316.
301
133
Beide Bedeutungsebenen der Erinnerung – Identität und Erkenntnis – fußen auf der
Authentizität der Erinnerung. Dabei steht nicht die Wahrheit subjektiver und
objektiver Erinnerungen im Vordergrund – als „starre Vorgaben“ könnten diese den
Fluss der Identitätsbildung und Erkenntnisgewinnung eher beeinträchtigen. Vielmehr
ist dem Wesen der Erinnerung an sich zu entsprechen und der Frage danach, welche
Erinnerungen einfließen müssen, damit eine Geschichte authentisch wird.
Paul recherchiert seine Geschichte aus verschiedenen Quellen:
 Gespräche mit der Zeitzeugin Tulla („Ond maine Mama hädd nech aufheeren
jekonnt (…) – 33 u.v.a.m.);
 Bücher des Zeitzeugen Heinz Schön (61f);
 Internet („Holte Infos für den Gebrauch oder zum Wegschmeißen per
Mausklick rein (…) – 8,“www.blutzeuge.de“ – 63; „Zündelseite“ - 63);
 zeitgenössische Bücher („eine Streitschrift, die der Parteigenosse und
Reichsredner Wolfgang Diewerge im Franz Eher Verlag (…)“ – 14;
„Romanautor Emil Ludwig“ – 28);
 zeitgenösische Zeitungen („(…) in linken Zeitungen hieß er `Der Diktator von
Davos´“ – 23; „Völkischer Beobachter“ - 36);
 Filme (Film von „Regisseur Rolf Lyssy“: „Ich habe mir eine Kassette auf
häuslicher Mattscheibe angeschaut; (…)“ – 68); und
 andere historische Dokumente („Den folgenden Satz hat er zuerst dem
wachhabenden Beamten zu Protokoll gegeben (…)“ – 28); „In mir vorliegenden
Papieren (…)“ – 85).
Dieser Dualismus aus subjektiven (Zeitzeugen) und öffentlichen
(multiperspektivischen) Ressourcen scheint das Wesen der individuellen Erinnerungen
wiederzugeben: zwar sind diese perspektivisch, d.h. standortgebunden und darin
134
unaustauschbar und unübertragbar.303 Allerdings existieren sie nicht isoliert (vgl.
Halbwachs, s.o.),
(…) sondern sind mit den Erinnerungen anderer vernetzt sowie mit den im
kulturellen Archiv gespeicherten Bildern und Daten. Durch ihre auf Kreuzung,
Überlappung und Anschlussfähigkeit angelegte Struktur bestätigen sie sich
gegenseitig. Damit gewinnen sie nicht nur Kohärenz und Glaubwürdigkeit,
sondern sie wirken auch verbindend und gemeinschaftsbildend.304
Mit Blick auf die Vielzahl seiner Quellen, erscheinen die Ergebnisse von Pauls
Erinnerungsarbeit somit als authentisch. Im Teil „Durcharbeiten“ wird dargelegt, dass
diese Authentizität durch einen dort zu erörternden Aspekt beschränkt wird. In diesem
Abschnitt soll zugunsten der Argumentationsführung zunächst jedoch von der
Annahme der Authentizität von Pauls Erinnerung(skorpus) ausgegangen werden.
Die den verschiedenen Ressourcen entstammenden Erinnerungen sind fragmentarisch,
begrenzt und ungeformt: „Was als Erinnerung aufblitzt, sind meist isolierte Szenen
ohne ein Vorher oder ein Nachher. Erst durch Erzählungen erhalten sie Form und
Struktur, durch die sie zugleich ergänzt und stabilisiert werden.“305 Diese ungeformte
Fragmentierung und Begrenzung reflektiert sich in Tullas traumatischem
Erinnerungsmodus. Ihre Erinnerungen sind stückweise; sie sind begrenzt, weil Tulla
ihr eigenes Trauma umgeht (vgl. Abschnitt „Trauma“,) und sie wirken ungeformt
durch ihr unkontrolliertes Auftreten („Flashbacks“). Sie gibt den Auftrag, eine
Geschichte daraus zu formen, an Paul weiter. (19)
Anhand einer Metapher von Maurice Halbwachs erläutert Aleida Assmann, wie die
Vielzahl der immer nur aus Teilansichten freigegebenen, standpunktgebundenen
Geschichten in den modernen Begriff der Geschichte306 eingeflossen sind wie Ströme
in ein Meer, „und wie diese sind sie im Meer der abstrakten Geschichte aufgehoben
303
A. Assmann, in Das soziale Gedächtnis, S. 117.
Ebd.
305
Ebd., S. 117f.
306
Anmerkung: Lt. Reinhart Koselleck seit etwa der 2. Hälfte des 18. Jh., vgl. Koselleck, `Nachwort zu:
Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums., Frankfurt, 1994, S. 117.
304
135
und somit ununterscheidbar geworden.“307 Diese Metapher führt die individuelle
Ebene des Erinnerns zu einer kollektiven Ebene.308 Im Krebsgang ist Halbwachs´ Bild
zu sehen: „ (…) die Ostsee hat zu all dem, was hier zu berichten sein wird, (…) ihr Ja
und Amen gesagt.“ (9) Halbwachs erinnert bei seiner Beschreibung des kollektiven
Gedächtnisses daran, dass dieses zwar auf einer Gesamtheit der Menschen beruhe,
dass es aber Individuen sind, die sich erinnern.309 Daraus ergibt sich, dass
Erinnerungen nicht nur durch subjektive und objektive Quellen gespeist werden,
sondern im Ergebnis immer individuell und kollektiv zugleich sind.310
Die Grundformen des kollektiven Gedächtnisses bilden zwei Begriffe aus der
aktuellen Erinnerungsdebatte: das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Das
kommunikative Gedächtnis umfasst tatsächliche oder mündlich tradierte Erfahrungen
aus der Vergangenheit, die kommuniziert werden. Für den Kulturwissenschaftler Jan
Assmann ist diese Erinnerungsform eine Art „Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft“311.
Es ist an die Existenz lebendiger Träger gebunden und umfasst „maximal drei
Generationen, (…) die zusammen eine Erfahrungs-, Erinnerungs- und
Erzählgemeinschaft bilden können.“312 Die Novelle Im Krebsgang basiert auf diesem
kommunikativen Gedächtnis, indem Tulla ihre Erfahrungen auf ihren Sohn Paul und
ihren Enkel Konny tradiert.
Das kulturelle Gedächtnis hingegen ist ein „epocheübergreifendes Konstrukt“313, das
sich auf externe Medien (Texte, Bilder, Denkmäler, Rituale) und Institutionen stützt.
„Diese verfestigen sich im kulturellen Gedächtnis zu objektivierter Kultur, die durch
ein Erlernen angeeignet werden kann.“314 Für Jan Assmann ist das kulturelle
Gedächtnis der „jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an
307
A. Assmann, in Das soziale Gedächtnis, S. 119.
Anmerkung: Das Bild des Meeres als ein Schmelztiegel von individueller Erinnerung und kollektiver
Geschichte stammt von Maurice Halbwachs, der in den 1920er Jahren den Begriff des „kollektiven
Gedächtnisses“ eingeführt hat. vgl. Assmann, ebd., S. 119.
309
Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt, 1985, S. 31.
310
Harald Welzer, `Das gemeinsame Verfestigen von Vergangenheit im Gespräch´, S. 160-178 in ders. Das
Soziale Gedächtnis, S. 166.
311
Jan Assmann, `Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität´, S. 9-19 in J. Assmann, Tonio Hölscher (Hg.),
Kultur und Gedächtnis, Frankfurt, 1988, S. 11.
312
Ebd.
313
Cornelißen, S. 14.
314
Ebd.
308
136
Wiedergebrauchstexten, -bildern und -Riten (…), in deren Pflege sie ihr Selbstbild
stabilisieren und vermitteln, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise über die
Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart
stützt.“315 Pauls Bestand des kulturellen Gedächtnisses zeigt sich in Schilderungen
über die NS-Zeit, die er „externen Medien“ entnommen hat (vgl. nachfolgenden
Abschnitt).
Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis lassen sich zwar als Analyseobjekte
trennen, in der Erinnerungspraxis fließen sie jedoch ineinander über.316 Der Erzähler
entspricht diesem Ineinanderfließen der kollektiven Erinnerungen, indem er sich in
seiner Erinnerung sowohl kultureller als auch kommunikativer Erinnerungsquellen
bedient (s.o.). Diesem Aspekt kommt mit Blick auf den generationellen Umbruch seit
den 1990er Jahren eine besondere Bedeutung zu: die kommunikativen Erinnerungen
der Zeitzeugen wandeln sich in der Gegenwart sukzessive zu einem kulturellen
Gedächtnis schriftlicher und bildlicher Zeugnisse. Im Krebsgang resultiert dieser
Wandel scheinbar in einer Wiederholung: in der rechtsextrem anmutenden Webseite
„`www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de´“ (216) und der Mordtat an Wolfgang
alias David (175).
Die Identität eines Menschen und der Erkenntnisgewinn als dessen Fortentwicklung
stellen fließende Prozesse dar. Im Hinblick auf die Erinnerungen an die Epoche
zwischen 1933-45 stellt sich daraus für das kollektive Gedächtnis eine wesentliche
Anforderung: „Die Stabilität der Erinnerung wird (…) von ihrer Fähigkeit zur
Erneuerung abhängen.“317 Im Krebsgang wird implizit auf die Notwendigkeit dieser
Wandlungsfähigkeit verwiesen: „Menschen, die immer nur auf einen Punkt starren, bis
es kokelt, qualmt, zündelt, sind mir noch nie geheuer gewesen.“ (68) Aleida Assmann
verweist darauf, dass weder persönliche noch kollektive Erinnerungen in einem
statischen Zustand gespeichert, sondern vielmehr in einem Modus dynamischer
Prozesse eingebettet sind,
315
J. Assmann, S. 15.
Vgl. Welzer, Das soziale Gedächtnis, S. 15.
317
A. Assmann, in Das soziale Gedächtnis, S. 120.
316
137
in dem man sich von den Bedingungen und Bedürfnissen der Gegenwart aus
immer wieder anders auf die Vergangenheit einlässt und dabei gerade so viel von
ihr zulässt, wie man gebrauchen oder ertragen kann. (…) Die Gesellschaft legt
die Bezugsrahmen und Deutungsmuster für die Vergangenheit immer neu fest,
die darüber entscheiden, wie und was von der Vergangenheit zur Sprache
gebracht wird. Der Wandel dieser Bezugsrahmen ist abhängig von inneren und
äußeren Faktoren.318
Dem dynamischen Prozess des Wandels im individuellen und kollektiven Gedächtnis
steht jedoch das Statische des Traumas entgegen.
Andererseits ähnelt Assmanns Beschreibung der persönlichen und kollektiven
Erinnerungen in ihrer Struktur dem phasischen Prozess des Durcharbeitens (vgl.
Bohleber/Horowitz, Abschnitt „Verdrängung“). So wie Assmann für die (normale)
Erinnerung postuliert, dass von der Vergangenheit nur so viel zugelassen wird, wie zu
„ertragen“ ist, wechseln sich bei der Bearbeitung des Traumas in ähnlicher Weise
Erinnerung und Verdrängung ab. Beides kann im Endresultat zu einer Integration der
historischen Erfahrung führen. Nach Assmanns Einordnung kann demnach ein
Trauerprozess im individuellen und kollektiven Gedächtnis angenommen werden, der
über die „Umleitung“ der Verdrängung verläuft und an deren Ende (in der Theorie)
Erkenntnisgewinn und eine reifere Form des eigenen Selbstbildes steht (vgl.
„Durcharbeiten“).
Obwohl Paul bei seiner Erinnerungsarbeit im Hinblick auf die Authentizität sämtliche
Voraussetzungen zu erfüllen scheint, gelingt es ihm weder, eine autonome Identität
aus „seiner“ Geschichte zu gewinnen, noch Erkenntnisse daraus zu ziehen. Im Resultat
kann der Vater Paul die Katastrophe, in die der Sohn Konny gerät, nicht verhindern.
Am Ende bleibt der Trauerprozess erfolglos, die Melancholie gewinnt die Überhand:
„Nie hört das auf.“ (216). Hierin offenbart sich das Unzureichende in der bloßen
Wiedergabe historischer Fakten, bei aller Authentizität der Erinnerungen. Es zeigt die
Notwendigkeit für den Erzähler, sich den sinnlichen Impulsen (vgl. oben Reichel und
Peisker) der Erinnerungen zu öffnen, um in deren Kern gelangen zu können. Im letzen
318
A. Assmann in Erinnern, S. 84.
138
Kapitel dieser Arbeit wird darzustellen sein, warum der Fluss dieses Impulses
außerhalb der Erinnerungen Pauls verbleibt. Im Ergebnis sind der Gegenwart und der
Zukunft die Erkenntnis aus dem Geschehenen verschlossen. Daraus stellt sich die
Frage, ob auf anderen Ebenen der Novelle Geschichte sinnliche erfahrbar dargestellt
ist.
Bei seiner Schilderung über den Untergang der Gustloff knüpft der Erzähler Paul
Verbindungen zu Ereignissen, die zunächst nicht in direktem Zusammenhang dazu zu
stehen scheinen. Indem er die Vorgeschichte des Untergangs in ein Dreigestirn
zwischen den Protagonisten Gustloff, Frankfurter und Marinesko einbettet,
kontextualisiert er den Untergang. Indem er dies aus der Warte seiner Gegenwart tut,
verknüpft er – gemäß Foucault und Halbwachs – individuelle Erinnerung, objektive
Historie und kulturelle Kommemoration miteinander. Indem Ursprünge und
Nebenschauplätze der Geschichte narrativ aufgesucht, d.h. kontextualisiert
wiedergegeben werden, versucht Paul die Geschichte des Untergangs in eine
kohärente Form zu bringen. Zwar kann Konnys Schicksal dadurch nicht ungeschehen
gemacht werden und Paul wird nicht von frei von Schuld - „Nichts spricht uns frei.“
(184) -, aber ein Erzählprozess beleuchtet die Kette von Ursache und Wirkung in
sachlicher Weise. Erneut zeigt sich, hier auf der Ebene der historischen
Kontextualisierung das Fehlen einer „sinnlich erfahrbaren“ (Reichel) Darstellung bzw.
der des „kognitiven Erfassens der historischen Fakten mit deren emotionaler und
moralischer Bedeutung“ (Peisker).
Ein Blick in die (moderne) Naturwissenschaft, die „zu erklären versucht, auf welche
Weise die Dinge geschehen“319, veranschaulicht das Prinzip der sinnlichen
Erfahrbarkeit als eine Voraussetzung für das Erfassen des Gesamtbildes. Der Physiker
Jürgen Neffe erläutert:
Naturforscher halten die Dinge auseinander – Sterne, Pflanzen, Krankheiten. Sie
zerlegen die Erscheinungen und gliedern die Welt in elementare Vorgänge und
Zustände, in reine Stoffe, in immer speziellere Eigenschaften und Sonderheiten.
Kaum etwas bestimmt ihr Handwerk mehr als die Fähigkeit, aufgrund sinnlicher
319
Jürgen Neffe, Einstein. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg, 2005, S. 62.
139
Erfahrung zu unterscheiden – den Fixstern vom Planeten, die Kreisbahn von der
Ellipse, den Wurf vom Fall (…). Nach dem Trennen kommt das Ordnen der
Sinnesempfindungen, nach dem Sammeln die Systematik.320
Der britische Philosoph David Hume betrachtete „als oberstes Ziel menschlicher
Erkenntnis, die (Anm. d. Autorin: sinnliche) Erfahrungen mit den empirisch
aufgefundenen Ursachen zusammenzubringen.“321 Es geht demnach nicht darum zu
beschreiben, wie die Dinge sind oder waren. Im Kern geht es darum zu beschreiben,
wie sie sich zueinander verhalten. Erst die fortlaufende Darstellung von Ursache und
deren Wirkung, gewährt die Erkenntnis über deren Verhalten zueinander.
In den Geisteswissenschaften scheint niemals eine einzelne Wirkungskette für einen
Vorgang zu stehen. Die menschliche Psyche entbehrt mathematischer Eleganz und
physikalischer Klarheit, indem sie Emotionen birgt, die eine weitere – schwer
erfassbare - Dimension von Wirkungsketten entstehen lassen. Aus dieser
Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften ist die wesentliche
Schwierigkeit bei der Annäherung an den Erkenntnisgewinn aus der Geschichte
erkennbar.
Ein Weg, dieser Herausforderung zu begegnen, ist eine Vielzahl von Blickwinkeln
heranzuziehen. Im Krebsgang ist diesem Vorgehen implizit mit einer Frage begegnet,
die sich gegen die Kultur der öffentlichen Kommemoration zu stellen scheint:
Doch wer, (…), kennt heutzutage Robert Ley? Dabei ist er es gewesen, der gleich
nach der Machtergreifung alle Gewerkschaften aufgelöst, deren Kassen geleert,
deren Häuser mit Räumkommandos besetzt und deren Mitglieder – Millionen an
der Zahl – in der Deutschen Arbeitsfront zwangsorganisiert hat. Ihm, (…) fiel es
ein, allen Staatsbeamten, danach allen Lehrern und Schülern, schließlich den
Arbeitern aller Betriebe die erhobene Hand und den Ruf `Heil Hitler´ als
Tagesgruß zu befehlen. (38)
Dem offenbar verlorenen Wissen um die Anfänge der Diktatur wird im Krebsgang mit
resignativ anmutender Hinnahme begegnet: „Alles vergangen, verweht!“ (37) Die
320
321
Ebd., S. 61.
Ebd., S. 135.
140
Abwesenheit verschiedener Blickwinkel – i.S.v. sachlicher und sinnlicher
Wahrnehmung – offenbart sich hierin, indem die „Verführung“ und die „Angst“ durch
das nationalsozialistische System ausgeblendet bleibt.
Als „sinnlich“ nachvollziehbare Ergänzung dieser Sequenz um Robert Ley folgt: „Und
ihm ist die Idee gekommen, auch den Urlaub der Arbeiter und Angestellten zu
organisieren, ihnen unter dem Motto `Kraft durch Freude´ billige Reisen in die
bayerischen Alpen und ins Erzgebirge, Urlaub an der Ostseeküste und am
Wattenmeer, nicht zuletzt kurze und längere Seereisen zu ermöglichen.“ (38) Diese
Sequenz, in der Aspekte der Diktatur und der Verführung miteinander verschmelzen,
nicht als „Verständnis“ für abgründiges menschliches Verhalten einzuordnen, sondern
als „Verstehen“ der historischen Vorgänge zu werten, bedingt das Bewusstsein über
die eigene Ambivalenz. Über die Offenheit gegenüber der eigenen Ambivalenz
(Rüsen) entsteht eine sinnlich nachvollziehbare Wirkungskette zwischen den
Anfängen der Diktatur und der Begeisterung der „Volksgemeinschaft“, die für das
historische Gesamtbild unabdingbar erscheint.
Die sachliche und sinnliche Kontextualisierung historischer Ereignisse im Krebsgang
(nachfolgend „Kontextualisierung“ genannt), wie sie im nächsten Abschnitt
herauszuarbeiten sein wird, strebt im Rahmen dieser Arbeit die Wahrnehmung von
menschlichem Verhalten unter bestimmten zeitgenössischen Bedingungen und
Gegebenheiten sowie deren historischen Ursachen und Entwicklungen an, die aus der
Gegenwart schwer nachvollziehbar scheinen, nicht zuletzt, weil sie das
Nachvollziehen der Ambivalenzen der Protagonisten bedingt. Diese Einordnung stellt
eine Grundlage für das Kapitel „Durcharbeiten“.
Mit Blick auf das NS-Regime stellt der Historiker Norbert Frei fest:
Symbolisiert das Jahr 1933 die parasitäre Zersetzung überlieferter Formen
staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung im Innern, so 1945 eine nach außen
und nach innen gerichtete politische Destruktivität welthistorischen Zuschnitts.
Aber es wäre falsch, Hitlers Herrschaft nur von diesen Eckdaten her zu
betrachten – schon deshalb, weil allein daraus keine Erkenntnis zu gewinnen ist
über die Fähigkeit des Nationalsozialismus, zu einer gewissen Konsolidierung zu
141
finden, die es eigentlich erst erlaubt, von einem `Regime´ zu sprechen. Das Dritte
Reich war gewiss keine statische Größe, doch es war auch kein bloßer politischer
Prozess. (…) Es gab eine Phase konsolidierter Herrschaft mit realen und
potentiellen Entwicklungen, Wirkungskräften und Zeiterfahrungen, die nicht
einfach ausgeblendet werden dürfen (…).322
Wie im Abschnitt „Verdrängung“ dargelegt, bestand insbesondere in den 1950er und
frühen 1960er Jahren in vielen gesellschaftlichen und privaten Bereichen eine Tendenz
zur Verdrängung und Verleugnung der nationalsozialistischen Vergangenheit.
Stichworte wie „Dämonisierung“, „Exterritorialisierung“ und „Opferstatus“ zeugen
davon. Vor diesem Hintergrund geriet der Versuch einer Kontextualisierung durch die
Zeitzeugen auch in späteren Phasen in den Verdacht einer interpretatorischen
Schieflage mit dem Ziel der Schuldentlastung. Als in den frühen 1990er Jahren eine
neue Generation von Historikern antrat, die nach dem Krieg geboren waren, und die
sich der osteuropäischen, während des Kalten Krieges unzugänglichen, Archive
bedienten, kristallisierte sich bald ein neuer Blick auf die Ereignisse heraus. Vor allem
auf den Tätern lag nun das Augenmerk. Dies nicht zuletzt als Reaktion auf Goldhagens
These von 1996, der den Deutschen einen „eliminatorischen Antisemitismus“ vorwirft
(vgl. Abschnitt „Antisemitismus“).
Zwanzig Jahre nach dem Historikerstreit zwischen Ernst Nolte und Jürgen
Habermas323, der ein weiterer polarisierender Höhepunkt in der erinnerungskulturellen
Nachkriegsgeschichte Deutschlands war, scheint die Zeit des Nationalsozialismus
insgesamt unverkrampfter und ausgewogener betrachtet zu werden. Als literarische
Zeugnisse hierfür stehen die Romane von Autoren wie Bernhard Schlink, Uwe Timm
oder Hans-Ulrich Treichel, in deren Werken die Protagonisten als ambivalente
„Opfertäter“ gezeichnet werden oder als Täter ein menschliches Gesicht bekommen, in
dem es zu lesen gilt. Eine kontextualisierte Perspektive auf die Geschichte gerät
inzwischen weniger schnell in den Verdacht einer Beschwichtigung. Die Gegenwart
322
Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945. München, 1987, S. 85.
(nachfolgend Führerstaat)
323
Anmerkung: Gegenstand des Streits war Vergleichbarkeit (Nolte) respektive Nicht-Vergleichbarkeit
(Habermas) von Nationalsozialismus und Bolschewismus mit dem Kern der Einzigartigkeit des Holocaust. Ernst
Nolte hatte dabei die These aufgestellt, Hitlers Politik könne als womöglich legitime Reaktion auf den
bolschewistischen Terror erscheinen, was eine heftige Auseinandersetzung auslöste und den Historiker
nachhaltig isolierte.
142
ist „in der Lage (…), die Vergangenheit, indem sie sie ins Bewusstsein ruft, zu
verändern“324 und vermag somit gleichfalls bestimmte Haltungen gegenüber der
eigenen Historie aufzubrechen. Die Notwendigkeit dieses Aufbrechens einer „nur“
abgründigen Geschichte ergibt sich aus Aleida Assmanns Verweis darauf, dass
Erinnerungen nur dann ihre Stabilität wahren, wenn sie fähig sind, sich zu erneuern.325
Ohne eine „erneuerte“, i.S.v. differenzierender Erinnerung (i.S.v. Rekonstruierung) an
die Geschichte, scheint der historischen Verantwortung schwerlich entsprochen
werden zu können.
Die Kernfrage, die sich vor einer Kontextualisierung stellt – unter welchen
zeitgenössischen Bedingungen Menschen gehandelt bzw. nicht gehandelt haben - wird
nachfolgend in zwei Themenblöcken erörtert. In einem ersten Block wird das totalitäre
Experiment des Nationalsozialismus mit den Aspekten Ideologie, Volksgemeinschaft,
Diktatur und Krieg im Krebsgang beleuchtet. Im zweiten Teil steht der
Antisemitismus im Mittelpunkt der Analyse. Bei diesem schwierigen, weil
unerklärlich scheinenden Phänomen, geht es auch um die Frage nach der Kausalität
zwischen Antisemitismus und Holocaust und wie sich Grass diesem Aspekt im
Krebsgang genähert hat.
324
Hartmut Raguse, `Erinnerung, Eingedenken und das Problem der psychoanalytischen Hermeneutik´, S. 11-21,
in Bohleber „Vergangenes“, S. 16.
325
A. Assmann, in Das Soziale Gedächtnis, S. 121.
143
Abschnitt
„Nationalsozialismus“
144
Kontextualisierte Perspektiven im Krebsgang auf die Epoche des
Nationalsozialismus in Deutschland 1933-1945
In seiner Rede vor dem deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 sagte Richard von
Weizsäcker:
Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der
Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte miterleben,
was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über
versteckte Intoleranz bis zum offenem Hass. Wer konnte arglos bleiben nach den
Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem
Judenstern, dem Rechtsentzug, den unaufhörlichen Schändungen der
menschlichen Würde? Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich
informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten.
Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Umfang der Vernichtung nicht
ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu
vieler, (…) nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.326
Weizsäckers Diagnose der Gleichgültigkeit bzw. Toleranz gegenüber Gewalt und
Unterdrückung von Minderheiten durch eine breite Bevölkerungsschicht in
ideologischen Systemen spiegelt sich diametral in einer Schilderung des russischen
Schriftstellers Kirill (Konstantin) Simonov über die Erlebnisse während der
„Stalinistischen Säuberungen“ in den Jahren 1937/38:
Simonov, whose own career took off in theses years, wrote with extraordinary
candour and remorse about what he saw as the collaboration of the silent Soviet
majority in the Great Terror. In his memoirs, dictated on his death-bed in 1979,
Simonov accused himself: `To be honest about those times, it is not only Stalin
that you cannot forgive, but you yourself. It is not that you did something bad –
maybe you did nothing wrong, at least on the face of it – but that you became
accustomed to evil. The events that took place in 1937-8 now appear
extraordinary, diabolical, but to you, then a young man of 22 or 24, they become
a kind of norm, almost ordinary. You lived in the midst of these events, blind and
deaf to everything, you saw and heard nothing when people all around you were
shot and killed, when people all around you disappeared.´327
326
Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Rede vor dem Bundestag am 8. Mai 1985
http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/NeueHerausforderungen_redeVollstaendigRichardVonWeizsaecker8
Mai1985/index.html.
327
Orlando Figes, The Whisperers – Private Life in Stalin´s Russia, London, 2007, S. 266f.
145
Gegenüber einer aus heutiger Sicht schwer verständlichen Vergangenheit stellt sich in
der Gegenwart die Frage, welche die Bedingungen, Umstände und Ereignisse in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Toleranz gegenüber Gewalt und Unterdrückung
in einem nie zuvor erlebten Ausmaß geführt haben.
146
Das Fundament: Globale historische Kontextualisierung vor 1933
Vorbemerkung
Wann beginnt die Geschichte im Krebsgang? Zu Beginn der Novelle bemerkt der
Erzähler Paul: „…denn diese Geschichte fing lange vor mir, vor mehr als hundert
Jahren an….“. (7) Der Beginn von Pauls Existenz ist auf die Mitte des 20.
Jahrhunderts datiert. Zu den politischen und kulturellen Ereignissen ab Mitte des 19.
Jahrhunderts, die für die Entwicklung Deutschlands in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts eine Rolle spielen, gehörten etwa Preußens militärische
Vormachtstellung (ab Mitte 19. Jh.), Nationalstaat und Reichsgründung (1871),
Kolonialisierung (Eugenische Theorien), Kulturepoche der späten Romantik,
Marxismus, allmählicher Übergang in die Moderne, Bolschewismus, Faschismus,
(industrielle) Gründerzeit und Erster Weltkrieg. Vor dem Hintergrund des Phänomens
Gewalt und Gegengewalt sollen nachfolgend deren Einflüsse auf die Zeit zwischen
1933-45 umrissen werden.
147
Das Trauma entfesselter Zivilisation im 20. Jahrhundert
Pauls Schilderung der zufolge „Professor Höllerer“ vor begeisterten Studenten
Vorlesungen über Literatur zwischen Klassik und Moderne (30) hält, zeichnet eine
Verbindungslinie zwischen der Objektivierung des „idealen“ menschlichen Geistes,
des „Wahren, Guten, Schönen“328 (Goethe über Schiller) und der industrielltechnologisierten Moderne in der erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der ganzheitlich
kulturell-historische Ansatz bzw. die Betonung auf die Geschichte durch den realen
Höllerer unterstreichen diese Verbindung: „Die Ausgangsfragen dieser Studien
(Klassik und Moderne) sind historischer Art.“329 Diese Linie deutet auf eine der
Bedingungen für die epochalen Katastrophen: die Diskrepanz zwischen
zivilisatorischer Geisteshaltung und moderner Technologie. Am Ende der Novelle Im
Krebsgang findet sich diese Diskrepanz als perpetuierendes Element wieder: dem
„Computerding“ (198) („Technik“) stehen Tullas von Orientierungslosigkeit zeugende
fragmentarische Geschichten gegenüber („Geist“), die sie an den Enkel Konny
tradiert; dem „Schießeisen“ („Technik“) vom „Russenmark“ (198), das der Enkel von
der Großmutter erhält, steht die Ideologie bzw. Gewaltbereitschaft der „Glatzköppe“
(ebd.) („Geist“) als Motiv für die Weitergabe gegenüber. Beides wird zum
auslösenden Moment des Mordes an Wolfgang alias David. Die konkreten Folgen der
Diskrepanz zwischen „Geist“ und „Technik“ am Beginn des 20. Jahrhunderts werden
ersichtlich vor dem Hintergrund, dass der Erste Weltkrieg
der erste Krieg (war), in dem mit den Mitteln der modernen Technik Menschen
massenhaft und anonym vernichtet wurden: durch Flammenwerfer und Gas,
durch Torpedos von Unterseebooten und Bomben aus Flugzeugen. Der
Schrecken wirkt bei den Überlebenden nach, aber auch die Faszination, die von
der Entdeckung ausging, was Masse und Technik vermochten, wenn man ihnen
gestattete die Fesseln der Zivilisation abzustreifen.330
Es mag den „tiefen Verstörungen“ bei Siegern und Besiegten als Hinterlassenschaft
aus dem Ersten Weltkrieg331 zuzuschreiben sein, dass die zivilisatorische Humanität
auch im weiteren Verlauf der Epoche nachhaltig abgestreift blieb.
328
Günter Grimm (Hg.), Deutsche Dichter. Sturm und Drang, Klassik, Stuttgart, 1989, Bd. 4, S. 261.
Walter Höllerer, Zwischen Klassik und Moderne, Köln, 2005, S. 12.
330
Winkler, S. 378.
331
Ebd.
329
148
In Deutschland offenbarte sich dieses etwa in dem Bestreben des NS-Regimes, durch
Nutzung neuer Technologien („angekündigte Wunderwaffe“ - 123) globale Macht zu
erlangen. Doch auch direkt bekannten sich die Nationalsozialisten gegen
zivilisatorische Humanität. In seiner Antrittsrede an der Berliner Universität 1933
postulierte Alfred Bäumler, einer der führenden Philosophen der Nationalsozialisten,
den „ideologischen Kampf gegen den Humanismus der deutschen Klassiker als
Hauptaufgabe der `politischen Pädagogik´“.332 Zwar fand der erste Reichsparteitag der
NSDAP im Jahr 1926 wegen seiner Topographie als Zentrum der deutschen Klassik in
Weimar statt.333 Allerdings blieb die Klassik unter den Nationalsozialisten
„uneinholbar an ein Deutschtum gebunden, das seine Erfüllung im Heldentod
suchte.“334 Auch hierin offenbart sich die Nachhaltigkeit der Diskrepanz zwischen
(zivilisatorischen) Geist und (moderner) Technik.
Das Streben nach universaler Macht und arischem Heldentod („Überall wurden
denkmalreife Heldentaten vollbracht; (…).“ – 123), die Verachtung für „den
Humanismus der deutschen Klassiker“ („Geist“) und der Zugriff auf
Massenvernichtungswaffen („Technik“) gehörten zu den wesentlichen Wegbereitern
des Zweiten Weltkrieges. Diese epochale zivilisatorische Entfesselung blieb in der
Abfolge von Gewalt und Gegengewalt nicht auf das nationalsozialistische Deutschland
beschränkt, was sich u.a. auch in den US-amerikanischen Nuklearangriffen gegen
Hiroshima und Nagasaki zeigt.
Im Kontext von „Geist“ und „Technik“ („Klassik und Moderne“) erhebt die
Universität als ein von Intellektuellen besetzter Raum die Frage nach der Stellung der
Intellektuellen nach 1918. Tatsächlich war deren Position dominant in einer
politischen Kultur, „that fed into the post-war crisis and shaped the character of the
Nazi appeal (…).“335 Im Krebsgang ist mit der Gegenüberstellung von Geist und
332
Georg Lukács, `Der faschistische und der wirkliche Georg Büchner. Zu seinem hundertsten Todestag 1937´,
S. 185-203 in Dietmar Goltschnigg, (Hrsg.), Büchner im Dritten Reich, Bielefeld, 1990, S. 187.
333
Rolf Selbmann, Deutsche Klassik, Darmstadt, 2005, S. 25.
334
Ebd., S. 26.
335
Ian Kershaw, `Reich after Reich´ in „Times Literary Supplement“, 15.02.2008, S. 13.
149
Technik in einem „intellektuellen Raum“ eine Plattform bereitet, auf der retrospektiv
deren Diskrepanz hätte erkannt und thematisiert werden können. An Gelegenheiten
fehlt es nicht: „Mit Themen wie `Telefonseelsorge´“, die „zum epischen Entwurf
herausfordern“ (30), scheinen Ansätze des Durcharbeitens erkennbar. Außerdem sind
„ein gutes Duzend (talentierte) Hoffnungsträger“ (30) unter den Anwesenden, von
denen sich zwei, drei „einen Namen gemacht“ haben (ebd.). In Grass´ literarischem
Kosmos wird jedoch „Unfertiges vorgelesen und zerredet“ (30). Die Diskrepanz aus
Geist und Technik bleibt in ihrer Bedeutung für eine Kontextualisierung unerkannt:
„Bei mir reiche es allenfalls zum Kolportageroman.“ (30)
150
Der Faschismus im Kontext der Moderne
Um die Ereignisse bis 1945 – dem Zeitraum der Vorgeschichte des Untergangs der
Gustloff - in ihren zeithistorischen Kontext einordnen zu können, erscheint ein Blick
auf die Entwicklung der nationalsozialistischen Ideologie aus dem Faschismus heraus
als aufschlussreich. Der Historiker Sven Reichardt erinnert an den „Niedergang der
vergleichenden Faschismusforschung“ in den 1980er Jahren, dessen Folgen bis heute
insbesondere in Deutschland spürbar seien:
Die häufig ökonomisch verengten und vergleichsarmen Interpretationen
verhinderten die Durchsetzung eines modernen, auf dem Stand der empirischen
Einzelforschung fußenden, innovativen Faschismusbegriffs. (…) Gerade in
Deutschland wurde die Faschismustheorie, (…), fast ausschließlich am Beispiel
des Nationalsozialismus exemplifiziert (…) Man diskutierte darüber, welche
Unternehmergruppen am stärksten von der NS-Herrschaft profitierten und welche
Bedeutung die finanziellen Zuwendungen aus bürgerlichen Kreisen für den
Aufstieg des Faschismus hatten. 336
Aus dieser Diagnose stellt sich die weitgehende Abwesenheit aufschlussreicher
Perspektiven, etwa „typologisch differenzierte, handlungstheoretisch orientierte oder
kulturgeschichtlich inspirierte“ 337, die die Zeit zwischen 1933-45 für spätere
Generationen „sinnlich und kognitiv“ (vgl. oben) nachvollziehbar erhellen könnten.
Unumstritten ist, dass die wirtschaftliche Ausgangslage eine wesentliche Rolle bei
dem Niedergang der Demokratien in Europa gespielt hat. Allerdings lässt die
ökonomische Erklärungslinie für den Faschismus eine wesentliche Entwicklung in
Deutschland für nachfolgende Generationen jedoch im Dunkeln: “Only in Germany
was fascism both revolutionary and totalitarian in deed as well as in word. Only in
Germany did dictatorship ultimately lead to industrialized genocide.”338
Um sich weiterer Erklärungslinien für die historischen Begebenheiten zwischen 193345 anzunähern, erscheint ein Blick auf das zentrale Wesen der Quelle des
Nationalsozialismus, des Faschismus, als aufschlussreich: seine Biegsamkeit. Die
faschistischen Weltanschauungen waren nicht originell und von Land zu Land
Sven Reichardt, `Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung´, in „Mittelweg 36. Zeitschrift des
Hamburger Instituts für Sozialforschung“, S. 9-25, 16. Jahrgang, Feb./März 2007, S. 9.
337
Ebd., S. 10.
338
Ferguson, S. 232.
336
151
unterschiedlich. Da die einzelnen Ideen der Faschisten kohärenter Systeme entbehrten,
waren sie flexibel genug, „um je nach machtpolitischer Opportunität innerhalb eines
weiter gefassten Möglichkeitsspektrums aktualisiert und verändert werden zu
können.“339
Trotz dieser Dehnbarkeit der Ideologie bestanden vor allem drei Elemente, darunter
radikaler Nationalismus, Popularität und pseudoreligiöse Sakralität340 als wesentliche
theoretische Fixpunkte. Typisch für den Faschismus ist der „Mythos vom Neuen
Menschen“. Daraus ergeben sich wichtige Merkmale wie der „Massenappeal, die
charismatische Führerschaft, de(r) Korporativismus und ökonomische Triebkräfte.“341
Als zentrale Definitionsmerkmale des Faschismus benennt Reichardt „Gewalt und
Zwang“.342
Diese Merkmale zusammen gefasst heben das Bild eines „kulturrevolutionären
Charakters“343 des Faschismus an die Oberfläche. Dieser offenbart sich in „seiner
Ideologie, seinen Ritualen und Mythen, im politischen Stil und in der Ästhetik sowie
in seiner Fähigkeit zur Massenmobilisation (…).“344 Die Phase zwischen 1933 und
1945 auch aus der Sichtweise der „Kulturrevolution“ zu betrachten, scheint ein
facettenreiches Spektrum bei der Suche nach Erklärungsansätzen bereitzustellen, die
sich im Krebsgang bieten. Assoziativ findet sich das Bild der Kulturrevolution in der
Novelle über eine von Martin Heidegger geprägte Metapher. Nach dem Tod ihres
behinderten Bruders Konrad zieht Tulla sich für eine Woche in die Hütte des Hundes
Harras zurück. (66) Tullas Handlung lässt sich als Zustandsbeschreibung nach einer
verlorenen Ordnung bewerten. Die Metapher der Hütte ist eine abgewandelte Form der
Höhle bei Heidegger: Die griechische Philosophie, so Heidegger, habe den Menschen
aus der Höhle der mythischen Benommenheit befreit. Inzwischen sei aber die
Weltgeschichte wieder ins trübe Licht der Uneigentlichkeit getaucht, sie sei in die
platonische Höhle zurückgekehrt. Die Revolution von 1933 deutete Heidegger als
339
Reichardt, S. 15.
Ebd., S. 12.
341
Ebd., S. 13.
342
Ebd.
343
Ebd.
344
Ebd.
340
152
Chance für den erneuten Ausbruch aus der Höhle, „ein neuer geschichtlicher
Augenblick der Eigentlichkeit.“345
Aus dem „Mythos vom Neuen Menschen“ ergibt sich als eines der Hauptmerkmale
des Nationalsozialismus die Ausgrenzung anderer als Voraussetzung für die
„Arisierung“. Offen spiegelt sich diese Ausgrenzung im Krebsgang in der Erinnerung
Tullas an „Itzig“, die Figur des Halbjuden aus Hundejahre, der vom Hof gejagt
worden ist. (106)
Für die Analyse der Novelle Im Krebsgang erscheint der Blickwinkel der „kulturellen
Revolution“ auf die Epoche von 1933-45 auch im Hinblick auf ihren Endpunkt
weiterführend. Am Beispiel Italiens erörtert der italienische Historiker Emilio Gentile:
Das totalitäre Experiment des Faschismus verschlang sich in seinen Rhythmen,
Zeitabläufen und Methoden mit anderen totalitären Experimenten und endete wie
jene in einer Katastrophe. Gewiss gelang es dem Faschismus nicht, seine
totalitären Wunschvorstellungen zu realisieren. Der Zweite Weltkrieg hielt ihn
auf. Es ist daran zu erinnern, dass dieses totalitäre Experiment an der
militärischen Niederlage zugrunde ging. Der Faschismus scheiterte nicht am
Widerstand (…) traditioneller Institutionen (…).346
Gentiles auch für Deutschland zutreffende Diagnose beinhaltet die Abwesenheit, das
Fehlen eines organischen, inneren Absterbens des Nationalsozialismus. Erst dadurch
wäre das Scheitern dieser Ideologie vor aller Augen sichtbar geworden. Das Ende des
Nationalsozialismus in Deutschland ist jedoch mit der militärischen Niederlage im
Jahr 1945 verbunden.
Dieser Tatbestand versinnbildlicht sich im Untergang der Gustloff. Sie sinkt durch
feindlichen Beschuss am Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Krebsgang bleiben die
organischen Überreste aus der Zeit vor dem Untergang lebendig. Immer wieder
schwärmt Tulla von der Gustloff als dem „scheenen Schiff“ (206) und von der
„klassenlosen KdF-Gesellschaft“ (50). Tulla, die zur Zeit des Mordes an Gustloff
345
346
Martin Heidegger zitiert in: Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre. München, 2007, S. 361.
Emilie Gentile, `Der Faschismus´, in „Mittelweg 36“, S. 81-99, ebd., S. 97.
153
„achteinhalb“ Jahre alt ist (24), wird Zeugin der Schwärmereien ihrer Eltern. Erna
Pokriefke ist verzückt vom „Trachtensaal, dem Wintergarten“ (66), der Vater ist nach
seiner Gustloff-Reise „bejeistert von frieh bis spät“ (67) und will seine Tochter im
Anschluss daran als Mitglied der „Jungmädels“ (67) verpflichten. Die organischen
Anteile Tullas scheinen sich auf den Enkel Konny zu übertragen. Auch er spricht von
dem „schönen Schiff“. (73) Am Ende übernimmt er die für sein Alter und Geschlecht
in der nationalsozialistischen Ideologie zuzuordnende Identität als „Kamerad“: aus
Konnys Webseite „www.blutzeuge.de” (8) und der „Kameradschaft Schwerin“ wird
„www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de“ (216).
Joachim Gauck, der erste Bundesbeauftragte für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der DDR, bestätigt Gentiles Analyse auf eindringliche Weise:
Selbst der dümmste Schüler bekommt einen Anfall von Genialität, wenn der
Lernstoff sich auf den Führerschein bezieht. Bei all dem aber, was wir anders
lernen als mit dem Kopf, bei dem, was in uns hinein gelebt wird durch Vorbild,
durch Gewöhnung an Unterdrückung, was unser habituelles Ich ausmacht, bei all
dem ist Veränderung unendlich langsam. Psychotherapeuten wissen das aus ihrer
Praxis, aber das gilt eben auch politisch.347
Erst allmählich scheint sich eine totalitäre Realität aufzulösen, die zuvor sämtliche
Lebensbereiche des Alltags durchzogen hat. Im Rahmen dieses Prozesses mag Vieles,
das im vorangegangenen Abschnitt als Verdrängung ausgewiesen worden ist, aus
zeitlicher Distanz als eine Entwicklungsstufe auf dem Weg zu einer (inneren)
demokratischen Ordnung sein. Aus dieser Perspektive gesehen, geben Verdrängung
und Verleugnung Aufschlüsse über den Entwicklungsstand einer post-totalitären
Gesellschaft. Mit Blick auf die Kontextualisierung stellt sich als Maßstab, je offener
der jeweiligen Epoche gegenüber getreten wird, desto reifer stellt sich die Entwicklung
hin zu der neuen Gesellschaftsform dar.
347
Joachim Gauck, `Mentalität und Mentalitätswandel in posttotalitären Gesellschaften. Die Situation der
Deutschen nach 1945 und 1989´, S. 12-33 in Ibrahim Özkan, u.a., (Hg.), Trauma und Gesellschaft, Göttingen,
2002, S. 28.
154
Der Erste Weltkrieg und die Angst vor dem Bolschewismus
Durch Hans Castorp (9), der Hauptfigur des in den Jahren 1913-24 entstandenen
Romans Thomas Manns, Der Zauberberg, richtet sich der Blick auf die Zeit vor,
während und nach dem Ersten Weltkrieg. Hierdurch wird eine kausale Verbindung
zwischen diesem epochalen Ereignis und dem Untergang der Gustloff hergestellt. Es
sind die Lungenkranken vom Zauberberg, denen Paul nahe kommt, wenn er sich als
Kettenraucher bezeichnet:
Wie dieser Jude Frankfurter, füge ich heute hinzu, der gleich mir ein Stäbchen am
nächsten angezündet hat und über den ich jetzt schreiben muss, weil die Schüsse
ihr Ziel gefunden haben, weil der Bau des in Hamburg auf Kiel gelegten Schiffes
Fortschritte machte, weil im Schwarzen Meer ein Navigationsoffizier Marinesko
auf einem in Küstennähe tauglichen U-Boot Dienst schob und weil am 9.
Dezember sechsunddreißig vor dem Gericht des Schweizer Kantons Graubünden
der Prozess gegen den aus Jugoslawien stammenden Mörder des Reichsdeutschen
Wilhelm Gustloff begann. (45)
Verstärkt wird die kausale Verbindung durch den „aus Jugoslawien stammenden
Mörder“ (ebd.): der Mord am österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand im Jahr
1914 in Serbien war auslösendes Moment des Ersten Weltkrieges.
The First World War changed everything. In the summer of 1914 the world
economy was thriving in ways that look distinctly familiar. The mobility of
commodities, capital and labour reached levels comparable with those we know
today; (…) The war sank globalization (…). In the war´s aftermath, revolutionary
regimes arose that were fundamentally hostile to international economic
integration. Plans replaced the market; autarky and protection took place of free
trade. Flows of goods diminished; flows of people and capital all but dried up.348
Die ökonomische Regression war das für alle sichtbare Ergebnis der Schockwirkung
eines nie zuvor erlebten Krieges. Weit schwerwiegender, so ist anzunehmen, wogen
jedoch die unsichtbaren Folgen. Erst in unserer Gegenwart wird allmählich damit
begonnen, die Folgen von Kriegseinsätzen bei Soldaten und deren Familien
systematisch zu untersuchen. Für die Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts blieben
diese Folgen der Gewalt außerhalb des Bewusstseins. „(T)he brutalization that soldiers
348
Ferguson, S. 73.
155
experienced in the Great War may have prepared a world that condoned the barbarism
of the camps.“349
Neben dem „Großen Krieg“ war die Angst vor dem Bolschewismus prägend für das
frühe 20. Jahrhundert. Vor allem die Stalinistischen Säuberungen zwischen 1937-8,
denen Schätzungen zufolge zwischen 20-25 Millionen Menschen zum Opfer fielen,
wurden weltweit zum Schreckgespenst. Aus der Erfahrung mit fundamentalem
Terrorismus in der Gegenwart verweist der britische Historiker Geoffrey A. Hoskins
auf eine mögliche Erklärung für die Reaktion auf den Kommunismus zu Beginn des
20. Jahrhunderts:
Our own twenty-first century `war on terror´ has reminded us of the way in which
even the most impeccably democratic governments, once they are alarmed, can
override elementary legal principles. Faced with the unfamiliar menace of
Communism, the leaders of 1919 were even more panic-stricken and
disoriented.350
Im Krebsgang erzählt Paul von Alexander Marinesko: „Schon im Sommer, und
während die von Stalin angeordneten Säuberungsprozesse die Admiralität der
Baltischen Flotte nicht verschonten, wurde er Kommandant eines U-Bootes.“ (53) Die
„Säuberungen“ richteten sich nicht nur gegen Aristokratie und „Bourgeoisie“
Russlands. Auch die so genannten „Kulaks“, die russischen Bauern, wurden Opfer des
von einem paranoiden Stalin entworfenen irrwitzigen „Fünf-Jahres Plan“, durch den er
seine Revolution auf eine ökonomisch tragbare Basis stellen wollte.351
Die Angst vor dem Bolschewismus in Europa war nicht ausschließlich eine Furcht vor
etwas, das in der Ferne lag. Die Weltwirtschaftskrise ausgelöst durch die Hypothek aus
dem Ersten Weltkrieg, ließ viele im kapitalistischen Westen mit den Ideen des
Kommunismus liebäugeln:
349
Fritz Stern, Five Germanys I have known, New York, 2006, S. 38.
Geoffrey A. Hoskins, `Lenin´s Poland.´ Rezension über Anthony Reads `The World on Fire. 1919 and the
battle with Bolshevism´, in “Times Literary Supplement”, 02.05.08, S. 30.
351
vgl. Figes.
350
156
The First World War had cost millions of young lives to produce a settlement that
was far from guaranteeing either peace or prosperity. Governments owed huge
war debts, and could no longer provide services or guarantee public order.
Hunger and illness were widespread (…). Many of the soldiers who had survived
the fighting were being discharged into a labour market that could not absorb
them, and were enduring long periods of poverty and uncertainty.352
Manchem wurde damit die Weltwirtschaftskrise zur Krise des Kapitalismus. Andere
Ideologien, vor allem der (vermeintlich) menschfreundliche Kommunismus erschienen
plötzlich verheißungsvoller.
Die Angst vor dem Kommunismus verbreitete sich blitzartig um den Globus353, ein
Flächenbrand, der für manche eine Plattform für die faschistische Ideologie als
Antipoden zum Kommunismus vorbereitete. In Deutschland wurde die Angst vor dem
„inneren“ Bolschewismus jedoch zunächst zu einer Triebkraft für die Demokratie:
„Revolutionäre Aufrufe und Taten in Russland erzeugten Revolutionsängste in
Deutschland – und förderten die Entschlossenheit der gemäßigten Kräfte in
Arbeiterschaft und Bürgertum, durch Friedensschluss und Demokratie einer
Revolution von unten zuvorzukommen.“354 Diese Haltung wurde nicht zuletzt durch
eine geistige Verbundenheit mit den Vereinigten Staaten gefördert:
Weit stärker als das Russland (…) Lenins wirkte seit der Jahreswende 1917/18
das Amerika Woodrow Wilsons auf die innere Entwicklung Deutschlands ein.
Die `Vierzehn Punkte´ vom 8. Januar und die `Vier Grundsätze´ vom 11. Februar
1918, in denen der Präsident der Vereinigten Staaten seine Vorstellungen von
einer gerechten Weltfriedensordnung darlegte, waren nicht nur eine Antwort an
die Bolschewiki, sondern schienen auch eine Alternative zu dem
Vergeltungsfrieden zu bieten, wie ihn die Regierungschefs in Paris und London
(…) beschworen. Wilsons Parole `to make the world safe for democracy´ sprach
auch in Deutschland sehr viel mehr Menschen an als Lenins Aufruf zur
proletarischen `Weltrevolution´ (…).355
Das Verheißungsvolle, das durch eine demokratische Ordnung in der Weimarer
Republik geschaffen werden sollte, schien jedoch erst unter Führung der NSDAP
352
Hoskins.
Ebd.
354
Winkler, S. 365.
355
Ebd., S. 361.
353
157
Mitte der dreißiger Jahre in einer vermeintlichen Stabilität erzielt worden zu sein. 1933
schreibt Joseph Roth an Stefan Zweig: „Keineswegs hat der Kommunismus einen
ganzen Weltteil verändert. Er hat den Faschismus und den Nationalsozialismus
gezeugt und den Hass auf die Freiheit des Geistes.“356
Bevor die Kontextualisierung von NS-Regime und „Volksgemeinschaft“ im
Krebsgang weiter fortzusetzen ist, sollen einige sich chronologisch an dieser Stelle
einfügende Aspekte aus dem frühen 20. Jahrhundert in kurzen Umrissen dargestellt
werden, die die zeitgenössische Verfassung mit Blick auf Sven Reichardts Einordnung
von „Gewalt und Zwang“ des Nationalsozialismus in Vorbereitung auf die
nachfolgenden Ausführungen veranschaulicht.
356
Joseph Roth zitiert in: Manfred Funke `Absolute Verfügbarkeit´; Rezension zu Domenico Losurdo´s `Kampf
um die Geschichte´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 14.1.09, Nr. 11, S. 6.
158
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert
Zum narrativen Kern der Novelle im Krebsgang gehört die Vertreibung der Deutschen
aus dem Osten, die zahlenmäßig den Höhepunkt einer langen Geschichte der
Vertreibungen in Europa darstellt. Obwohl die Geschichte der Vertreibungen lang ist
(z.B. Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert, Vertreibung der Hugenotten),
empfanden „die Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts, das als das Jahrhundert des
Flüchtlings gilt, (…) die von Massakern begleiteten Vertreibungen der Armenier,
Türken und Griechen zu Recht als einen unerhörten, neuartigen Vorgang“357. In einer
kurzen Sequenz reflektiert sich im Krebsgang die Vertreibungsgeschichte der
Moderne in der multiethnischen Bewohnerschaft Odessas: „Russen, Ukrainer und
Rumänen, Griechen und Bulgaren, Türken und Armenier, Zigeuner und Juden“. (13)
Insbesondere das Bild, in dem diese verfeindeten bzw. vertriebenen Gruppen „eng
aufeinander lebten“ (ebd.), assoziiert Feindseligkeit und Aggression.
Im Krebsgang findet sich die Einordnung der Vertreibungen als „unerhörten und
neuartigen Vorgang“ in der formellen Forderung nach einer „unerhörten Begebenheit“
(Goethe) für die Novelle wieder. Im Ergebnis bildet sich aus der neuen, skrupellosen
Gewalttätigkeit der „modernen“ Vertreibungsgeschichte ein abgewertetes
Menschenbild: „Als der `Führer´ im August 1939 der Generalität den Charakter des
künftigen Ostkrieges beschrieb, zu dem auch Bevölkerungsverschiebungen gehören
würden, suchte er Einwänden mit der zynischen rhetorischen Frage zu begegnen: `Wer
redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?´“358
Ausgelöst wurden die Vertreibungen im 20. Jahrhundert von einem Gedanken, der
sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts verfestigt hatte: Frieden sei nur in einem
homogenen Staat möglich. Die Radikalisierung dieser Idee bewirkte, dass mehr als
dreißig europäische Völker von Vertreibung betroffen waren – darunter allein zwanzig
Millionen Deutsche zwischen 1918 und 1950.359 Der Ursprung des größten „Exodus
der neueren Geschichte zur Vertreibung und Flucht von rund 14 Millionen Deutschen
357
Wehler, S. 9.
Ebd.
359
Vgl.: welt.de/wissenschaft/history/article2087508/ Warum_die_Vertreibenen-Chefin_vertreiben_wurde.html.
358
159
und `Volksdeutschen´“360 war eine Folge der „ethnischen Flurbereinigung“361 des NSRegimes: „Die Vertreibung von 14 Millionen Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten
im Osten – Ostpreußen, Schlesien, Sudetenland – ist unzweifelhaft Folge des Krieges,
den Deutschland begonnen und vor allem in den Ostgebieten brutal geführt hat.“362
Maßgeblich für die Gegenwart mit Blick auf die Vergangenheit ist insbesondere das
abgewertete Menschenbild zu erfassen, von dem die Vertreibungsgeschichte Europas
zeugt. Mit diesem abgewerteten Menschenbild in der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts einher geht ein Abstumpfen gegenüber Gewalt, das als ein
Erklärungsansatz für die Epoche des Nationalsozialismus im weitern Verlauf dieser
Arbeit in den Blickpunkt rückt.
360
Wehler, S. 10.
Wehler, S. 9.
362
Wehler, S. 10.
361
160
Die Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland 1933-1945
Die oben dargestellten Aspekte der Geschichte vor 1933 richten den Blick auf die
Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt. Im Kapitel „Durcharbeiten“ sollen diese
Mechanismen u.a. in einen psychologischen Kontext gesetzt und anhand der
Protagonisten im Krebsgang veranschaulicht werden. An dieser Stelle soll der Aspekt
von Gewalt und Gegengewalt als ein Fundament für die nachfolgende Darstellung der
Zeit zwischen 1933-45 dienen. Bei der Auswahl der Aspekte und Ereignisse aus der
NS-Epoche für diese Darstellung erhebt sich eine Kernfrage, die Grass seinen Erzähler
Paul formulieren lässt: „Als Journalist habe ich mich bei der Sichtung des mir
zugänglichen Materials gefragt: Wie konnte es dem durch Ermächtigung entstandenen
Staat und der einzig übriggebliebenen Partei in so kurzer Zeit gelingen, die in der
Arbeitsfront organisierten Arbeiter und Angestellten nicht nur zum Stillhalten, sondern
zum Mitmachen, alsbald zum Massenjubel bei angeordneten Anlässen zu verleiten?“
(39).
Die Begriffe „Stillhalten“, „Mitmachen“ und „Massenjubel“ umreißen drei Eckpunkte:
zum einen die Angst in einem diktatorischen Regime („Stillhalten“), zum anderen die
indifferente (unpolitische) Haltung, die in passive oder aktive Unterstützung mündet
(„Mitmachen“) und schließlich die Begeisterung für das NS-Regime („Massenjubel“).
Innerhalb dieser drei Eckpunkte – Angst, Indifferenz, Begeisterung – liegt die „fatale
Dialektik von `Verführung und Gewalt´, die den Erfolg der nationalsozialistischen
Diktatur zu einem maßgeblichen Teil zu erklären vermag.“ 363
Im Rahmen dieser Arbeit kann eine Darstellung der Zeit zwischen 1933-45 die
Realität lediglich in groben Umrissen wiedergeben. Am Beispiel der Berliner
Philharmonie verweist der kanadische Historiker Misha Aster auf das „komplizierte
Geflecht aus Abhängigkeiten, Verstrickungen, Zugeständnissen und
Selbstbehauptungsversuchen“, die etwa zwischen maßgeblichen Institutionen und dem
363
Klaus Hildebrand zitiert den Historiker Hans Ulrich Thamer in: `Auf Zusatzprotokollsuche´, Rezension zu
Ernst Piper: `Kurze Geschichte des Nationalsozialismus´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 11.3.2008, Nr. 60,
S. 9.
161
Regime bestanden haben.364 Bei der Suche nach Motiven für die Unterstützung des
NS-Regimes durch die deutsche Bevölkerung wird je nach Bildungsschicht,
Einkommensniveau und gesellschaftlichem Milieu unterschieden. Für die
Arbeiterklasse wird vor allem die wirtschaftliche Verbesserung der Lebensverhältnisse
unter dem NS-Regime als Erklärungsansatz herangezogen. Für das Bildungsbürgertum
stellt die rechtskonservative Haltung, die seit den 1880er Jahren und in den späteren
Krisen der Weimarer Republik zugenommen hatte, einen wesentlichen Aspekt dar.
Mit Hilfe „fragmentarischer Geschichtsstücke“ soll nachfolgend ein Bild gefunden
werden, das die „Dialektik von Verführung und Gewalt“, das Wechselspiel von Angst,
Indifferenz und Begeisterung innerhalb der „Volksgemeinschaft“ mit der Absicht
umreißt, eine näherungsweise Antwort auf Pauls Fragestellung zu erhalten.
364
Julia Spinola, `Ein Himmel voller gleichgeschalteter Geigen´, Rezension zu: `Das Reichsorchester. Die
Berliner Philharmonie und der Nationalsozialismus´, Misha Aster, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 10.10.07,
Nr. 234, S. L32.
162
Die „Verführung“: Kontextualisierung von NS-Ideologie und „Volksgemeinschaft“
(„Freiwillige Beteiligung“)
Bis heute bleiben die Motive für eine freiwillige Beteiligung der „Volksgemeinschaft“
am nationalsozialistischen Regime ein umstrittenes Phänomen. Der Schweizer
Historiker Philippe Burrin richtet seinen Blick vor allem auf den Aspekt eines
vermeintlich „verheißungsvollen“ Selbstbildes, das aus der nationalsozialistischen
Ideologie zu erwachsen schien: „Die innen- und außenpolitischen Erfolge – vor allem
der Rückgang der Arbeitslosigkeit, die Wiedererlangung der Souveränität und der
ohne Krieg erreichte Anschluss Österreichs sowie des Sudentenlandes – ließen diese
Identität viel versprechend erscheinen.“365 Das „Verheißungsvolle“ dieser neuen
Identität hatte die bereits erörterte fatale Konsequenz: „Dem im
Volksgemeinschaftsgedanken ausgesprochenen Ideal einer harmonischen Inklusion
aller Deutschen stand faktisch die brutale Exklusionspraxis gegenüber, der sich die
jüdischen, behinderten, `gemeinschaftsfremden´ Deutschen ausgesetzt sahen.“ 366
Der Historiker Sven Oliver Müller fasst beide Elemente zusammen, wenn er darauf
verweist, dass das „Volk“ gleich zweifach aufgewertet wurde: als eine egalitäre
Gemeinschaft und als ein sich via Ausgrenzung homogenisierter „Rasseverband“.367
Der Einzelne konnte sich dieser „Verheißung“ offensichtlich nur selten entziehen,
denn die `Volksgemeinschaft´ versprach allen `Volksgenossen´, die ihren
gesellschaftlichen Funktionen nachkamen, materielle Absicherung und politische
Geltung. Andererseits resultierte aus der Gleichheit dieser Gemeinschaft eine scharfe
biologistisch legitimierte Grenzziehungen gegen jeden, der dem NS-Wertekanon nicht
genügte.368
365
Philippe Burrin, Warum die Deutschen? Antisemitismus, Nationalsozialismus, Genozid, Berlin, 2004, S. 86.
Michael Wildt, `Volksgemeinschaft im Krieg. Die deutsche Gesellschaft 1939 bis 1945´, in „Mittelweg 36“,
S. 65-76, 16. Jahrgang., April/Mai 2007, S. 67.
367
Sven Oliver Müller zitiert in: Wildt, ebd.
368
Ebd.
366
163
Der „Nazi“ Gustloff im Kontext seiner Epoche
„Zuerst ist jemand dran, dessen Grabstein zertrümmert wurde“ (9) eröffnet der
Erzähler seinen Rückblick auf die Katastrophe der Gustloff. Die klassisch
antisemitische Handlung der Grabschändung assoziiert als Protagonisten, der „dran“
ist, den Juden David Frankfurter. Die assoziative Vertauschung durch die Nennung
Wilhelm Gustloffs eröffnet einen Wechsel der Perspektiven auf den
Nationalsozialisten Gustloff. Die dieser Eröffnung folgenden Informationen über ihn sein Geburtsjahr 1895 und der Hinweis auf den „angegriffenen Kehlkopf, sein
chronisches Lungenleiden, das ihn hinderte, im Ersten Weltkrieg tapfer zu sein.“ (9) –
richten den Blick auf die Zeit vor 1933.
Der bereits erwähnte Vergleich mit Hans Castorp eröffnet eine Sichtweise auf
Gustloff, die ihn in den Kontext seiner Epoche einbettet und die somit nicht bei dem
Bild des „Nazi“ Gustloff verbleibt. Die Hauptfigur in Thomas Manns Der Zauberberg
muss „auf Geheiß seines Erfinders den Zauberberg verlassen (…), um auf Seite 994
des gleichnamigen Romans in Flandern als Kriegsfreiwilliger zu fallen“. (9) Die
Verbindung zu Castorp, der zunächst seinen Cousin in einem Sanatorium in Davos
besuchen will, dann jedoch selbst erkrankt, wird noch verstärkt durch den Hinweis auf
Gustloffs Lungenleiden.
Die Einbettung Thomas Manns Roman Der Zauberberg in den Ersten Weltkrieg rückt
damit ebenso in den Blickpunkt, wie die Einstellung des Autors und seiner Generation
dazu. Die positive Grundstimmung Thomas Manns gegenüber dem „Großen Krieg“369
zeigt sich in einem Brief an Paul Amann. Mann schreibt über den Zauberberg: „ (…)
und der Schluss, die Auflösung – ich sehe keine andere Möglichkeit als den
Kriegsausbruch. Man kann als Erzähler diese Wirklichkeit nicht ignorieren, und ich
glaube ein Recht auf sie zu haben, da das Vorgefühl davon in allen meinen
Konzeptionen war.“370 Später, in seinen essayistischen Werken („Gedanken im Kriege,
369
Max Weber zitiert in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), `Einleitung: Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten
Weltkrieg´, S. 1-15 in ders., Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im
Ersten Weltkrieg, München, 1996, S. 8.
370
Brief Thomas Manns an Paul Amann vom 03. August 1915, zitiert in: Michael Walter; Nadine Heckner,
Thomas Mann. Der Zauberberg. Hollfeld, 2007, S. 24.
164
Friedrich und die große Koalition“ oder „Betrachtungen eines Unpolitischen“)
versucht er „diesen Krieg (…) nationalistisch zu rechtfertigen“.371
Grass‘ Formulierung, die Hauptfigur „muss“ auf „Geheiß“ des Autors in den Krieg,
verweist auf diese Haltung Manns, von der zugleich eine ganze Generation
durchdrungen war. Der Krieg, schreibt Wolfgang J. Mommsen, wurde als eine
extreme Lebensform des Menschen angesehen und in gewisser Weise als ein
Naturereignis empfunden, darüber hinaus „von so außerordentlicher Qualität, dass
man die Kriegsereignisse unbedingt aus erster Hand erleben müsse.“372 Für Georg
Simmel war der Erste Weltkrieg „die große Chance eines Bruchs – mit den tragischen
Tendenzen der modernen Kultur“.373 In seiner Vision wurde die Person wieder
bildsam, erfahre ekstatisch den sozialen Charakter der Individualität; Handlungen
würden im Krieg wieder als zukunftswirksam erlebbar und erlaubten die
Wiedergewinnung echter Zeitlichkeit; die durch das Geld unüberschaubar gewordenen
Zweck-Mittel-Ketten würden in der soldatischen Erfahrung auf elementare
Überlebenszwecke zurückgeführt.374
Gustloff, „ein hochgewachsener Mann, der angestrengt entschlossen guckte“ (25)
gehört nicht der kulturellen Elite des frühen 20. Jahrhunderts an. Dennoch offenbaren
die Haltungen Simmels und Manns gegenüber dem Ersten Weltkrieg die
Ausgangsbasis für den im Heraufziehen des Krieges noch jungen Gustloff. Im
christlichen Kulturkreis ist der Atem „Träger der Seele“: „Nachdem Jahwe den
Menschen aus Erde geformt hatte, blies er den Lebensodem in seine Nase“375. Die
Lunge wird somit zum „Domizil“ der Seele. Die von Grass bereits in Katz und Maus
verwendete Metapher des Kehlkopfes deutet auf die „körperlich-geschlechtlichen
Entwicklungen“ bei männlicher Adoleszenz.376 Beides, „Seele“ und „körperlich-
371
Ebd.
Mommsen, S. 9.
373
Georg Simmel zitiert in: Hans Joas, `Die Sozialwissenschaften und der Erste Weltkrieg´, in: Mommsen, S.
21.
374
Ebd.
375
1 Mos 2,7.
376
Pasche, S. 67.
372
165
geschlechtliche Entwicklung“ sind bei Gustloff „angegriffen“ und hindern ihn, am
Krieg teilzunehmen.
Die verwehrte Kriegsteilnahme bleibt für Gustloff nicht ohne Folgen. Mit Blick auf
die Bücherverbrennungen im Mai 1933 schreibt der Kulturwissenschaftler Georg
Bollenbeck:
Die Organisation der Bücherverbrennungen sind repräsentativ für eine jüngere
nationalsozialistische Elite und ihre `reaktionäre Modernität´. Die meisten zählen
zur `Kriegsjugendgeneration`, die sich von der älteren, vermeintlich gefühligen
und aufs Individuum bezogenen Generation durch Kühle, Härte und Sachlichkeit
unterscheidet und das vermeintliche Manko der nicht vorhandenen
Frontkämpfererfahrung durch die Stilisierung des kalten, entschlossenen,
hochbeherrschten Kämpfers kompensieren will.377
Als „Landesgruppenleiter der NSDAP“ (10), der, „nie den Grabenkrieg erlebt hatte
und dem Trommelfeuer oder `Stahlgewitter´, wie es bei Jünger heißt, erspart worden
sind“ (37), offenbart sich in der Figur Gustloff diese Stilisierung: „Ich liebe auf der
Welt am meisten meine Frau und meine Mutter. Wen mein Führer mir befähle, sie zu
töten, würde ich ihm gehorchen.“ (10) In dem Wunsch nach Auslöschung im Ersten
Weltkrieg zeigt sich implizit das Ausmaß der Prägung der „Kriegsjugendgeneration“
durch eine fatale Geisteshaltung: „Ach wäre er doch vor Verdun dabei gewesen und
rechtzeitig in einem Granattrichter krepiert!“ (37) Der Gefreite Adolf Hitler, der
„`überwältigt (war) von stürmischer Begeisterung´ und `in die Knie´ (sinkend), um
dem Himmel `aus übervollem Herzen´ zu danken, `dass er mir das Glück geschenkt, in
dieser Zeit leben zu dürfen´“378, meldete sich zwei Wochen nach Kriegsausbruch als
Freiwilliger. Seine „Frontkämpfererfahrung“ im Ersten Weltkrieg trugen nicht
geringfügig zu dem „Mythos“ bei, der sich Mitte der 1930er Jahre um seine Person zu
ranken begann.
377
Georg Bollenbeck, Tradition, Avangarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 18801945, Frankfurt, 1999, S. 295.
378
Adolf Hitler zitiert in: Marlis Steinert, Hitler, München, 1994, S. 84.
166
Der messianische „Führerkult“ um Hitler
Die eingangs von Paul formulierte Frage, wie es zum „Stillhalten“, „Mitmachen“ und
„Massenjubel“ durch die „Volksgemeinschaft“ kommen konnte (39), findet sich bei
Ferguson aus einem erweiterten Blickwinkel wieder:
The challange is to explain how a pathological individual like Hitler was able to
gain total control over what seemed to many people, at least prior to 1933, to be
the most sophisticated country in Europe, if not the world. (…) To many visitors,
Germany in the 1920s was the United States of Europe: big, industrial, ultramodern. It was home to some of Europe´s biggest and best corporations. (…) It
had by far the best universities in the world.379
Unter dem Begriff „Führerkult“ wird ein zentraler Baustein für den Erfolg des NSRegimes subsumiert. Nur wenige Jahre nach Hitlers Ernennung zum Kanzler hatte sich
ein „ungekanntes Maß an Lobhudelei und Unterwürfigkeit seitens der Bevölkerung“380
gegenüber dem „Führer“ entwickelt, das zur Zeit seiner Ernennung im Jahr 1933 kaum
vorstellbar war. In der Sequenz der Gustloff Taufe reflektiert sich dieser überbordende
Zuspruch im Krebsgang: „Hitler´s Sonderzug lief um zehn Uhr vormittags im
Dammtorbahnhof ein. Dann ging´s im offenen Mercedes, mal mit gestrecktem, mal
mit gewinkeltem Arm grüßend, durch Hamburgs Straßen, umjubelt, versteht sich.“
(51)
Als einen zentralen Aspekt des „Führerkults“ hat der britische Hitler-Forscher Ian
Kershaw die messianische Verherrlichung der Person Hitlers untersucht:
Im breiten Spektrum politischer und psychologischer Kräfte, die zur Bildung der
Idee des `heroischen´ Führertums beitrugen, verdient die pseudo-religiöse
Färbung besondere Beachtung. Die Idee des Führertums entsprang teils der
traditionellen Autoritätshörigkeit, teils der Säkularisierung des christlichen
Heilsglaubens. Insbesondere für die deutschen Protestanten, deren Bindung an
die Kirche schwand, die jedoch traditionell zur Unterordnung unter eine
Autorität, vor allem unter die des Staates, erzogen wurden, bildete die von der
völkisch-nationalistischen Rechten propagierte Idee eine Art säkularisierten
Heilsglauben.381
379
Ferguson, S. 235.
Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, Stuttgart, 1999, S. 17.
381
Kershaw, S. 33.
380
167
Der messianische Aspekt in der Verehrung des „Führers“ offenbart sich im Krebsgang
indirekt durch einen Vergleich zwischen Gustloffs Begeisterung und der
„Aussendungsrede“ im Matthäus Evangelium382: „Ich liebe auf der Welt am meisten
meine Frau und meine Mutter. Wenn mein Führer mir befähle, sie zu töten, würde ich
ihm gehorchen.“ (10) In der „Aussendungsrede“ heißt es: „Wer Vater oder Mutter
mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als
mich, ist meiner nicht würdig.“383 In der „Aussendungsrede“ wird berichtet, wie Jesus
durch „alle Städte und Dörfer“ zog und Mitleid mit den „vielen Menschen“ bekommt,
„denn sie waren müde und erschöpft wie verlorene Schafe, die keinen Hirten
haben“.384 Er bemächtigt seine zwölf Jünger Krankheiten zu heilen und Leid zu
mildern385 und fordert sie auf, den „Schafen, die keinen Hirten haben“386 das
unmittelbare Bevorstehen des „Himmelreichs“ zu verkünden.387
In seiner Rede vor Werftarbeitern anlässlich der Gustloff Taufe reflektiert sich diese
apostolische Aufgabe in der Figur Robert Ley im Krebsgang:
Die frischfreie Anrede hieß: `Deutsche Menschen!´ Und dann hat er
weitausholend seine volksbetreuende Idee `Kraft durch Freude´ gefeiert, um
schließlich deren Anstifter zu nennen: `Der Führer gab mir damals den Befehl:
`Sorgen Sie dafür, dass der deutsche Arbeiter seinen Urlaub bekommt, damit er
seine Nerven behält, denn ich könnte tun und lassen, was ich wollte, es wäre
zwecklos, wenn das deutsche Volk seine Nerven nicht in Ordnung hätte. Es
kommt darauf an, dass die deutschen Massen, der deutsche Arbeiter stark genug
sind, um meine Gedanken zu begreifen. (52)
Impliziert wird hierin, dass der „Schwache“ durch das Raster des „Verheißungsvollen“
hindurch fällt, der „Starke“ jedoch belohnt wird. Erneut lässt sich eine Parallelität zur
Botschaft am Ende der „Aussendungsrede“ finden: als „Lohn“ für die „Unterwerfung“
verspricht Jesus: „…wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es
382
Mt 9, 35-11,1.
Mt 10, 37.
384
Ebd., 9, 35-36.
385
Ebd., 10,1.
386
Ebd., 9, 36.
387
Ebd., 10, 7.
383
168
gewinnen.“388 Derjenige, dessen „Kraft“ vermag, sein bisheriges Weltbild zugunsten
jenes des „Messias“ aufzugeben, dem wird der Gewinn einer neuen „Welt“ zuteil.
Der „Führer-Mythos“ wurde zum Kern der Propaganda von Goebbels, der zu dessen
„beredtesten Verfechter“ wurde.389 Bereits 1926 erklärte dieser: „Der große Führer
(…) werde nicht gewählt, sei nicht abhängig von den Launen der Massen, sei kein
Parlamentarier, sondern ein Befreier der Massen. Mit einer deutlich pseudoreligiösen
Note sprach er vom Führer als der `Erfüllung einer geheimnisvollen Sehnsucht´ und
als einem Mann, der den Massen in ihrer tiefsten Verzweiflung den Weg zum Glauben
wiese.“390 Auch diese Formulierung stellt eine Verbindung zur „Aussendungsrede“
her. Darüber hinaus erfüllte der „Führerkult“ eine praktische Aufgabe: er verwischte
den Mangel an ideologischer Einheit und Klarheit der verschiedenen Fraktionen
innerhalb der NS-Bewegung. Vor allem in den ersten Jahren nach der Gründung der
NSDAP lieferte die Führerfigur „den Kitt, der die `Anhängerschaft´ normaler
Parteimitglieder und untergeordneter Parteiführer verband.“391
Das Konzept des „Führerkults“ war keine Erfindung der Nationalsozialisten. Diese
verstanden lediglich, bereits vorhandenes Potential zu nutzen. Lange vor Hitlers
spektakulärem Aufstieg war das „heroische Führertum“392 eine „der zentralen Ideen
der antidemokratischen Bewegung der Weimarer Republik.“393 Die wachsende
Enttäuschung der populistischen Rechten über Wilhelm II. erzeugte „das Wunschbild
eines `Volkskaisers´, der als Verkörperung von Stärke und Lebenskraft die Feinde
Deutschlands im Innern vernichten und der jungen Nation auf Kosten `minderwertiger
Völker´ die wohlverdiente Größe verleihen (…) würde.“394 Wenig später radikalisierte
sich dieser Wunsch:
Das Trauma der Rechten von 1918 – der militärische Zusammenbruch, der Sturz
der Monarchie und der alten Ordnung, die Übernahme der Macht durch die
388
Ebd., 10, 39.
Kershaw, S. 41.
390
Ebd.
391
Ebd.
392
Kershaw, S. 31.
393
Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München, 1962, S. 268.
394
Kershaw, S. 30.
389
169
verhassten Sozialdemokraten, die vor 1918 als `Reichsfeinde´ diffamiert worden
waren – transformierte die zuvor eher latente als wirksame konterrevolutionäre
Kraft, die zunächst vage und zerrissen war, aber eine alternative Vision zu der
des Weimarer parteipolitischen Systems darstellte.395
Mit Blick auf den Ursprung des „Führerkults“ gegenüber Hitler erachten einige
Historiker nicht die Betrachtung dessen, was Hitler war, für aufschlussreich, sondern
vielmehr was er für Millionen Deutsche darzustellen schien. Sie geben zu bedenken,
dass die Quellen der immensen Popularität „in denen, die ihn bewunderten, nicht so
sehr im Führer selbst“ zu suchen seien.396 Auch J.P. Stern verweist darauf, dass das
`heroische´ Hitlerbild “nicht nur den Massen aufgezwungen, sondern auch von ihnen
mit geschaffen worden” ist.397 Kershaws Verweis auf die Ausgangslage vieler prädiktatorischer Gesellschaften erhellt diese Prozesse:
„Die Befürworter eines starken autoritären Führertums durch bedrohte Eliten und
seine Annahme durch verängstigte Massen war (und ist) in vielen Gesellschaften
zu beobachten, in denen ein schwaches pluralistisches System unfähig zur
Überbrückung tiefer politischer und ideologischer Gräben ist und sich in einer
letzten Krise zu befinden scheint.“398
Der Versuch, der humanistischen Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der
wirtschaftlichen Misere in der Zeit danach ein konstruktives Gegengewicht zu setzen,
scheiterte in der Weimarer Republik. Sie vermochte weder nachhaltig zu stabilisieren
noch eine gemeinschaftstragende Zukunftsvision zu schaffen, die die ins Wanken
geratenen Werte einer bürgerlichen Gesellschaft hätten erneuern können.
Eine weitere Rolle spielte, dass sich kaum jemand der ständigen Darstellung des
`Führer-Mythos´ in Zeitungen, Radio oder Kino ganz entziehen konnte. Nur
überzeugten Gegner vermochten zu leugnen, dass Hitler eine phänomenale
Veränderung in Deutschland bewerkstelligt hatte: „Die Verbindung augenscheinlich
eindrucksvoller Taten, die für sich selbst zu sprechen schienen, mit der
395
Ebd., S. 33.
T.W. Mason, `Open Questions on Nazism´, S. 205-210 in R. Samuel (Hg.), People´s History and Socialist
Theory, London, 1981, S. 207.
397
J.P. Stern, Hitler: Der Führer und das Volk, München, 1978, S. 106.
398
Kershaw S. 28.
396
170
allgegenwärtigen Propaganda machten es schwer, der Droge `Führer-Mythos´ zu
widerstehen.“399 In der Schilderung welche Wirkung das Schiff Wilhelm Gustloff, das
auf den Namen Adolf Hitler hätte getauft werden sollen (41), auf die Kritiker des
Regimes hatte, spiegelt sich dieses: „Die Wilhelm Gustloff soll (…) vom Bug bis zum
Heck ein schwimmendes Erlebnis gewesen sein. Das war selbst von Leuten zu hören,
die sich nach dem Krieg als von Anfang an überzeugte Antifaschisten aufgespielt
haben. Und diejenigen, die an Bord durften, sollen hinterher wie erleuchtet an Land
gegangen sein.“ (57)
Unmittelbar nach den Wahlen im März 1933 war die Stimmung gegenüber dem
„Führer“ ambivalent: die meisten Deutschen standen ihrem neuen Kanzler entweder
feindselig oder zwiespältig gegenüber.400 Der von einigen Historikern, wie etwa
Robert Gellately, im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Deutschland
verwendete Begriff einer „Konsensdiktatur“ („dictatorship by consent“) erscheint
unzutreffend: „Die furchtsamen Reaktionen auf die Sudetenkrise demonstrierten die
Oberflächlichkeit des Glaubens an Hitler in weiten Teilen der Bevölkerung, sie
machen deutlich, wie sehr die Popularität des `Führers´ von ständigen Erfolgen
abhing.“401 Über eine geraume Zeit hinweg blieb die Popularität des „Führers“
erhalten. Das Ansehen und das Vertrauen gegenüber der Person Hitlers war trotz der
Angst vor einem lang andauerndem Krieg auch am Vorabend des Angriffs auf die
Sowjetunion „bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung ungebrochen.“402 Erst als
Hitlers erstaunliche Abfolge von Siegen schrittweise „jedoch unerbittlich in eine
katastrophale Niederlage umschlug, begann die Hochflut von Hitlers Popularität
zunächst langsam zurückzugehen und schließlich stark zu verebben.“ “403 Als Hitlers
persönliche Verantwortung für die katastrophale Entwicklung um Stalingrad erkannt
wurde, offenbarte sich allmählich: der „Messias“ hatte versagt.
399
Kershaw, S. 104.
Ebd., S. 17.
401
Kershaw, S. 167.
402
Ebd., S. 196.
403
Ebd., S. 246.
400
171
Die Außenpolitik des „General Unblutig“
Im Krebsgang feiert „Webmaster Wilhelm“ alias Konny Pokriefke den Einsatz der
Gustloff als „`schwimmendes Wahllokal´“: „Es ging um die Volksabstimmung nach
dem bereits vollzogenen Anschluß Österreichs ans nunmehr Großdeutsche Reich.“
(64) Diese Formulierung zielt auf eines der wichtigsten Ereignisse in Deutschland
nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Ob sich aus der Kriegsmüdigkeit in großen
Teilen der Bevölkerung nach 1918 ein nachhaltig friedenserhaltender Pazifismus
entwickeln würde, hing davon ab, ob sich ein „gerechter Friede“ erzielen ließe.404 Was
darunter zu verstehen war, darüber gab es damals weder Einigkeit noch Klarheit.405
Vielen galten sowohl Elsaß-Lothringen als auch die polnisch sprechenden Teile
Preußens unwiederbringlich verloren. Die Hoffnungen nach „Gerechtigkeit“ stützten
sich in Deutschland vor allem auf Österreich:
Nachdem die Habsburgermonarchie, Deutschlands engster Verbündeter im
Weltkrieg, zerfallen war und die Provisorische Nationalversammlung in Wien am
12. November 1918 Deutschösterreich zur Republik und zu einem Bestandteil der
Deutschen Republik erklärt hatte, wäre dies eine Lösung im Sinne des von
Wilson geforderten Selbstbestimmungsrechts der Völker gewesen.406
Tatsächlich sollte sich die Hoffnung auf „Ausgleich“ für die verlorenen Gebiete erst
mit Hitlers Anschluss von Österreich erfüllen.
Die Kriegsmüdigkeit von 1918 blieb nachhaltig über zwei Jahrzehnte: „Im Sommer
1939 nämlich waren die Deutschen alles andere als kriegsbereit. Genauer: Sie hofften
auf den Erhalt jenes fragilen Zustandes, der den meisten noch als Frieden erschien.“407
Im Krebsgang reflektiert sich diese fehlende Kriegsbereitschaft in den wiederholten
narrativen Verschiebungen des Kriegsausbruchs: „Kurzgefaßt könnte es jetzt heißen:
Und dann begann der Krieg. Aber das geht noch nicht.“ (78) „Und dann begann immer
noch nicht der Krieg (…).“ (79) etc.
404
Heinrich August Winkler, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der
Weimarer Republik, München, 2000, Bd. 1, S. 378.
405
Ebd., S. 379.
406
Ebd., S. 378.
407
Frei, 1945 und Wir, S. 117.
172
Der Anschluss Österreichs und eine Reihe anderer außenpolitischer Erfolge des NSRegimes erzielten ihre Wirkung in der Bevölkerung: Hitler hatte die Saar und das
Rheinland „befreit“, Österreich, das Sudeten- und das Memelgebiet „heim ins Reich
geholt“, Böhmen und Mähren unter sein Protektorat gezwungen. Die „Schmach von
Versailles“ war nahezu getilgt.
Dafür verehrten, dafür liebten die Deutschen ihren Hitler – nicht des Risikos
wegen, das er eingegangen war, sondern, weil er die außenpolitischen Triumphe
der letzten Jahre ohne Blutvergießen erzielt hatte. Die gewaltige Popularität, die
Hitler an seinem 50. Geburtstag genoss, galt gerade nicht dem kriegslüsternen
Diktator. Der schier grenzenlose Jubel am 20. April 1939 galt dem `General
Unblutig´.408
Getragen von der grenzenlosen Verehrung Hitlers schlug die Kriegsmüdigkeit nur
wenig später um in ihr Gegenteil. Der Waffenstillstand mit Frankreich infolge des
Einmarschs der deutschen Truppen in Paris im Sommer 1940 führten zum Höhepunkt
einer Begeisterung für den Krieg und für den „Führer“:
Der Faszination eines Krieges, der nichts als schnelle, leichte Siege produzierte,
vermochte sich nahezu niemand mehr zu entziehen. (…) Das Empfinden für die
Gewalt, mit der Deutschland Europa überzogen hatte, schien ausgelöscht wie
jede Spur von Unrechtsbewusstsein. Sozialpsychologisch gesehen, wurden in
dieser Zeit Normen gesetzt, ohne die das Verhalten – genauer: das Durchhalten –
der Deutschen in der zweiten Hälfte des Krieges nicht zureichend zu erklären
ist.409
Neben den außenpolitischen Erfolgen Hitlers spielte die nationalsozialistische
Wirtschafts- und Sozialpolitik seit etwa Mitte der 1930er Jahre eine maßgebliche Rolle
für die „Bindung“ der Deutschen an das NS-Regime, wie nachfolgend dargelegt.
408
409
Ebd.
Frei, 1945 und Wir, S. 118f.
173
Die gefühlten „Guten Jahre“
„Vorher, (Anm. d. Autorin: vor Kriegsausbruch) den langen schönen Sommer über
durfte das KdF-Schiff auf gewohnter Route ein halbes Dutzend Norwegenreisen hinter
sich bringen. (…). Überwiegend waren Arbeiter und Angestellte aus dem Ruhrgebiet
und Berlin, aus Hannover und Bremen an Bord.“ (78) Um die Verführung der
gefühlten „guten Jahre“ zu verstehen, scheint es erforderlich, sich in diese Verführung
„einzufühlen“. Doch die Zeugnisse aus der „schönen Zeit“ sind zerstört: „Wenns die
Fotos noch jäb, die auffe Justloff jeknipst wurden, kennt ech diä zaigen, was die alles
jesehen ham in die paar Tage nur…“ (66)
Nachdem zunächst koalitionspolitische und später kriegspolitische Zwänge das
Agieren des NS-Regimes beeinträchigten, benennt Frei die Jahr zwischen 1935 und
1938 als die wesentliche Wirkungsphase für die NS-Herrschaftsentfaltung.410 Diese
mittleren Jahre der NS-Zeit sind als die „guten Jahre“ vor dem Krieg in das
Bewusstsein vieler damals lebender Deutscher eingegangen.411 Erst durch die
Bombardierung der Alliierten ab 1942/43 erreichte viele der Schrecken des Krieges,
sodass relativ lange eine scheinbare Normalität erhalten blieb. Die materielle Lage
hingegen hat sich in der allgemeinen Wahrnehmung bereits vor 1935 gebessert.412
Im Krebsgang reflektiert sich diese „gute“ Phase in der Figur Liebenau. Ihm wird
wegen besonderer Verdienste für den „Führer“ (sein Schäferhund Harras ist der
Deckrüde für den Wurf aus dem Hitlers Hund „Prinz“ hervorgeht) (65) eine KdFReise angeboten. Er kann diese Reise jedoch nicht antreten, „weil seine Tischlerei
Hochkonjunktur hatte: Barackenbau in Flughafennähe.“ (66) In diesem Nebensatz
finden sich drei Aspekte, die auf die wesentlichen Entwicklungen in den Jahren 1935
bis 1938 hinweisen.
Der Begriff „Hochkonjunktur“ deutet auf das rasante „NS-Wirtschaftswunder“, den
die Menschen wie in einem „Taumel“ erlebten. Der wirtschaftliche Erfolg zählte
410
Frei, Führerstaat, S. 86.
Ebd.
412
Ebd.
411
174
neben dem außenpolitischen Wiederaufstieg zum zentralen Wegbereiter für eine breite
Unterstützung des NS-Regimes.413 Der beispiellose Aufschwung basierte
ausschließlich auf einer steigenden Staatsverschuldung. Im Zeitverlauf flossen immer
größere Teile dieser Ausgaben in die Aufrüstung für Hitlers Kriegspläne, was wenig
bekannt war.414 Dieser Aspekt ist mit dem Begriff der „Flughafennähe“ impliziert, der
auf Görings Luftwaffe hindeutet, die vor allem anderem Kriegsgerät eine „technische
Erprobung“ im Spanischen Bürgerkrieg durch die Legion Condor vollzogen hatte. Im
Krebsgang heißt es: „Zum ersten Mal sollten die Schiffe als Truppentransporter Platz
bieten. Da der Bürgerkrieg zu Ende war, General Franco und mit ihm die Falange
gesiegt hatten, durften die seit sechsunddreißig auf Francos Seite kämpfenden
deutschen Freiwilligen der `Legion Condor´ heimkehren.“ (71)
Der Begriff „Barackenbau“ als dritter Aspekt assoziiert im Kontext der Tischlerei die
Baracken in den Konzentrationslagern. Darüber hinaus steht dieser Begriff im Kontext
von „Hochkonjunktur“ (NS-Wirtschaftswunder) und „Flughafennähe“ (Aufrüstung)
für die dritte Säule des NS-Regimes: die Propaganda. Baracken waren die Unterkünfte
von Arbeiterkolonnen, die mit geschulterten Spaten zum Einsatz bei dem 1933
begonnenen Bau der Reichsautobahn marschierten. Diese populären Bilder
transportierten das Image eines „zupackenden und vorausschauend denkenden
Führers“, „der die Arbeitslosen `von der Straße holt´, um sie ein gewaltiges Netz
großzügiger Fernverkehrswege bauen zu lassen, ohne die ein modernes Deutschland
nicht auskommen werde.“415 Diese „populistische Darreichungsform“416 wurde zu
einem „genuinen Bestandteil der Wirtschafts- und Sozialpolitik“417 des Regimes.
413
Ebd.
Ebd.
415
Ebd., S. 87.
416
Ebd.
417
Ebd.
414
175
Die Arbeiter im „Wirtschaftswunder“
Da der gut laufende Betrieb Liebenaus dessen Reise mit dem KdF-Schiff Gustloff
vereitelt, schlägt er vor, „seinen tüchtigen Hilfsarbeiter, den eifrigen Parteigenossen
August Pokriefke, und dessen Frau Erna reisen zu lassen.“ (66) Die Reise geht zu
Lasten der Betriebskasse. (ebd.) In dieser Sequenz wird die Situation der größten
Gruppe der Bevölkerung418, der Arbeiterschaft, im NS-System in mehrfacher Hinsicht
aufgegriffen.
Gegen die Arbeiterbewegung, „in den Augen des Regimes das größte und
gefährlichste Oppositionspotential“ richteten sich die ersten Schläge der
Nationalsozialisten.419 Trotz der brutalen Zerschlagung der Gewerkschaften gelang es,
das Gros der Arbeiter für die nationalsozialistische Ideologie zu gewinnen. Die
Schwächung des Sozialmilieus, die die Zerstörung der Gewerkschaften und deren
zwangsweise Eingliederung in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) nach sich zog, wurde
bald durch die Integration der Arbeiter in die Volksgemeinschaftsideologie
aufgefangen.420
Ein wesentliches Motiv vor allem für die Gefolgschaft der Arbeiter war der „gefühlte“
Wirtschaftsaufschwung im nationalsozialistischen Deutschland ab Mitte der 1930er
Jahre. Waren bei Hitlers Antritt als Kanzler noch sechs Millionen Deutsche arbeitslos,
fiel diese Zahl bereits zwei Jahre später auf weniger als zwei Millionen und sank bis
August 1939 auf rund 30.000 ab.421 Das Bild der Werftarbeiter im Krebsgang, die den
nach oben steigenden Hitler begrüßen und der Bau des neuen Schiffes, das der
„Volksgemeinschaft“ im Rahmen des KdF-Programms „dienen“ soll (später jedoch
zum Truppentransporter mutiert) reflektiert diese Entwicklung: „Unterhalb der
Taufkanzel drängten grüßend die Werftarbeiter, als er (Anm. d. Autorin: Hitler)
treppauf stieg.“ (51) Indem ein Großteil der Staatsausgaben in Rüstungsprogramme
floss (s.o.), profitierte die breite Bevölkerung kaum vom Wirtschaftswunder. Spürbar
418
Ebd., S. 93.
Chr. Kleßmann, `Widerstand in Deutschland´, S. 57-88 in Ger von Roon, (Hg.), Europäischer Widerstand im
Vergleich, Berlin, 1985, S. 64.
420
Vgl. Frei, Führerstaat, S. 93-4.
421
Ferguson, S. 246-248.
419
176
war lediglich eine allmähliche Wiederangleichung an den Lebensstandard vor der
großen Krise.422 Es war vor allem der Abbau der Arbeitslosigkeit, der der
„Volksgemeinschaftsideologie“ eine materielle Grundlage verschaffte.423 Im
Krebsgang ist aufgegriffen, dass selbst standhafte Sozialdemokraten, denen der
Rüstungskurs nicht verborgen geblieben war, sich immer weniger der durch die
sinkende Arbeitslosigkeit entstandenen Begeisterung entziehen konnten424: „Bei der
letzten freien Wahl, vor vier Jahren noch, hatten die meisten von ihnen für die Sozis
oder Kommunisten gestimmt. Jetzt gab es nur noch die eine und einzige Partei; und
leibhaftig gab es den Führer.“ (51)
Die NS-Unterstützung der Arbeiterschaft war nicht alleine auf den wirtschaftlichen
Erfolg beschränkt. Im Krebsgang zeigen sich zwei weitere Parameter der
nationalsozialistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik als Erklärungsansätze - die
„Volksgemeinschaft“ und der sozialpolitische Aktivismus der Feierabendorganisation
DAF (Deutsche Arbeiter Front) „Kraft durch Freude“ (KdF): „Eine Teilantwort ergibt
sich aus den Tätigkeiten der NS-Gemeinschaft `Kraft durch Freude´, von der viele
Übriggebliebene insgeheim noch lange schwärmten (…).“ (51) Diese These wird
indirekt durch Kershaws Einordnung des Antisemitismus gestützt (vgl. Abschnitt
„Antisemitismus“), der zwar innerhalb der NS-Bewegung integrierend gewirkt habe.
Für die Beziehung zwischen Volk und Regierung galt dies jedoch nicht. Hier war in
erster Linie die Attraktivität der vom Regime propagierten „Volksgemeinschaft“ – die
Vorstellung einer scheinbar sicheren sozialen, politischen und moralischen Ordnung –
ausschlaggebend gewesen.425
Frei untermauert Kershaws Diagnose indem er als die eigentliche Quelle für die
emotionale Treue gegenüber dem NS-Regime weder die ständige Bedrohung durch die
Gestapo, die „oft nur kosmetischen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen“, noch
die NS-Ideologie erachtet. Auch seiner Ansicht nach war das Hauptmotiv für die
422
Frei, Führerstaat, S. 94.
Ebd., S. 93.
424
Ebd.
425
Ian Kershaw zitiert in Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die
Judenverfolgung 1933-1945, München, 2006, S. 12.
423
177
innere Verbundenheit zum Regime eine neuartige Form von Lebensqualität.426 Da die
Löhne, gemessen am Volkseinkommen, seit 1934/35 kontinuierlich fielen, wurde vor
allem der Anteil der nichtpekuniären Vergünstigungen zunehmend bedeutender. So
stellte etwa der von drei auf zwölf Tage gestiegene Urlaub international eine
Errungenschaft dar.427 Das Flakschiff des „Kraft durch Freude“ (KdF) Aktivismus war
die Flotte der Hochseedampfer, die seit 1934 zwischen Madeira und den Fjorden
Norwegens kreuzten.428 Das prächtigste Schiff dieser Flotte war die Wilhelm Gustloff.
Im Krebsgang erzählt Tulla über ihren Vater August Pokriefke: „Das wurd nu alles
anders als frieher. Main Papa, der ja bai ons inne Tischerlei nur Hilfsarbaiter jewesen
is ond der aigentlich an nuscht mehr jeglaubt hat, der hädd auf Kaadeäff schweeren
jekonnt, weil er mit maine Mama zum ersten Mal in sain janzes Leben hat verraisen
jedurft…`.“ (39)
Besondere Beliebtheit erlangten die Schiffe der KdF-Flotte wegen ihrer
vermeintlichen Klassenlosigkeit an Bord: „Das mit dem klassenlosen Schiff war
wirklich ein Knüller. Nehme an, dass deshalb die Werftarbeiter wie verrückt gejubelt
haben, als am 5. Mai siebenunddreißig der Neubau, acht Stockwerke hoch, vom Stapel
lief.“ (50) Das Konzept der Klassenlosigkeit avancierte schließlich zur Essenz der
„Volksgemeinschaft“, da in Hitlers politischer Terminologie dieser Begriff niemals
klar definiert war. Seit Ende der 1920er Jahre sprach er von der „Volksgemeinschaft“
im Zusammenhang mit seiner Forderung nach Überwindung der „Klassenspaltung“
und der „Zerreißung“ des deutschen Volkes. Die Zusammenführung von Bürgertum
und Proletariat erklärte Hitler zur „lebendigen Theorie der Volksgemeinschaft“ und
reagierte damit instinktsicher auf ein der Wirtschaftskrise entsprungenes starkes
Bedürfnis nach sozialer Integration.429
Der Effekt dieser sozialen Integration wird an Tullas Mutter Erna sichtbar: sie hat sich
nicht mehr „(…) ainkriegen jekonnt, weil nämlich im Speisewagen alle Urlauber
durchainander jesessen ham, ainfache Arbaiter wie main Papa, aber och Beamte ond
426
Frei, Führerstaat, S. 97.
Ebd.
428
Ebd.
429
Frei, 1945 und Wir, S. 110.
427
178
Parteibonzen sogar.“ (50) Diese Bild assoziiert das seinerzeit populäre Bild der
„klassenlosen Eintopfsonntage“, an denen Direktoren und Arbeiter gemeinsam ihre
Suppe aßen. Die Botschaft des von Goebbels inszinierten Paradestücks
nationalsozialistischer „Volkserziehung“ lautete: „Die `Volksgemeinschaft´ existiert,
und alle machen mit; `oben´ und `unten´ sind weniger wichtig als der `guten Wille´;
materielle Anspruchslosigkeit zeugt von `nationaler Solidarität´.“430
Tatsächlich war die „Klassenlosigkeit“ jedoch eine vermeintliche. Die Propaganda
gaukelte vor, dass ausschließlich deutsche Arbeiter ihren Urlaub auf den
Dampfschiffen verbrachten431. Tatsächlich war überwiegend Mittelstand an Bord,
während durchschnittliche Arbeiterfamilien preisgünstige Reisen in den Bayerischen
Wald oder an die Nordsee machten.432 Im Krebsgang spiegelt sich die Mär der
„Klassenlosigkeit“ wieder: „Nach nächtlicher Bahnfahrt wurden die stets sorgfältig
ausgewählten Passagiere in Genua eingeschifft. (…) Immer öfter waren hohe Tiere aus
Partei und Wirtschaft dabei, was die klassenlose Gesellschaft an Bord des KdFSchiffes in Schieflage brachte.“ (70)
Diese Schieflage verblieb jedoch außerhalb der Wahrnehmung:
Einer der bemerkenswertesten Erfolge nationalsozialistischer Sozial- und
Gesellschaftspolitik bestand in der Verbreitung des Gefühls sozialer Gleichheit.
Wo unentwegt an der bewusstseinsmäßigen Abtragung von Rang- und
Statusunterschieden gearbeitet wurde, da konnten selbst bescheidene Ansätze von
`Massenkonsum´ als Indizien einer vielversprechenden Zukunft gelten. In einer
solchen Atmosphäre ließen sich die Hoffnungen der Bausparer und der
Autobesitzer in spe propagandistisch vervielfältigen wie die Dampferfahrten ins
Portugal Salazars.433
In der Figur Gustloff offenbart sich diese neue Zuversicht: „im Jahr zuvor (hatte) das
Ehepaar Gustloff vom Ersparten ein Klinkerhaus in Schwerin (…) bauen lassen,
vorsorglich möbliert“. (25)
430
Ebd., S. 114.
Mit der „KdF“ als Reiseveranstalter sind bis 1939 rund sieben Millionen Urlauber unterwegs, zuzüglich 35
Millionen Tagesausflügler, ebd.
432
Ebd.
433
Ebd.
431
179
Das Zusammenspiel einer „naiven Bereitschaft“ (Kershaw), dem Regime Glauben und
Vertrauen zu schenken mit der perfiden Ideologie der Nationalsozialisten
veranschaulicht sich im Krebsgang in dem Protagonisten August Pokriefke. Als
Arbeiter gehört er zu jener Volksgruppe, die ihrer traditionell linken Gesinnung durch
den Mythos der Klassenlosigkeit entrissen werden konnte. Nach der Wahl im Jahr
1932 sank das „Proletariat“ zur untergeordneten Bedeutung für das Regime und rückte
erst gegen Kriegsbeginn als „ausführende Volksgewalt“ wieder in den Fokus.
Entsprechend sind es nicht Tullas Eltern, die auserwählt waren, um auf der
klassenlosen Gustloff Urlaub zu machen. Es waren August Pokriefkes
Handwerksmeister Liebenau und dessen Frau. Selbst dort schien der gesellschaftliche
Status alleine nicht hinreichend für ihre „Auserwählung“, denn diese war die
„Belohnung“ für ihren Deckrüden Harras, den Erzeuger von Hitlers Schäferhund
Prinz. Der „auserwählte“ Liebenau muss für seine bzw. stellvertretend für Pokriefkes
Reise eine Geldsumme aus der Betriebskasse entrichten. Diese offensichtliche
Perfidität wird auch von der „Volksgemeinschaft“ nicht wahrgenommen und lässt so
keinen Schatten auf das Regime fallen.434 Im Umkehrschluss stand hinter der „naiven
Gefolgschaft“ der Bevölkerung ein nahezu druchgängiges Desinteresse am politischen
Geschehen der Zeit.
434
Rudolf Augstein, `Rückwärts krebsen, um voranzukommen. Über Im Krebsgang´, S. 48-50 in Aust,
Burgdorff, (Hg.), Die Flucht, München, 2005, S. 49.
180
Das unpolitische Milieu der „Kleinen Leute“
Das Milieu der „Kleinen Leute“ als Mitläufer und Mittäter in Grass´ Danziger Trilogie
ist im Krebsgang mit den Pokriefkes fortgesetzt, deren Begeisterung für das NSRegime offenkundig ist. Tatsächlich hatte diese Milieu jedoch eine eher
untergeordnete Bedeutung im NS-Regime: „Dem `klassischen Kleinbürgertum´ wird
zu Unrecht gerne nachgesagt, es sei besonders anfällig für den Faschismus gewesen.
Dabei war diese Schicht zahlenmäßig viel zu klein, um eine große Massenbewegung
zu tragen.“435 Daraus ergibt sich für den Historiker Michael Mann, dass „Klassen, in
welcher Definition auch immer, nur wenig zum Verständnis des Faschismus
beitragen.“436 Vielmehr verweist Mann auf die Breite des Spektrums bei der
Zustimmung zum Regime, wonach nach 1930 weder die Nazis noch ihre Wähler
besonders bürgerlich oder kleinbürgerlich waren. Zuspruch erhielten sie aus
sämtlichen sozialen Schichten.437
Ein Merkmal des „klassischen Kleinbürgertums“ ist dennoch entscheidend für den
Erfolg des Nationalsozialismus in Deutschland. Wiederholt rückt die naive
Begeisterung Vater Pokriefkes in den Blickpunkt: „Main Papa, der em Prinzip ain janz
Lustiger jewesen is, war, als er von Norwejen zurickkam, bejeistert von frieh bis spät.“
(67) Sein Wunsch, die Tochter nach seiner Reise bei den „Jungmädels“ zu
verpflichten, einem Ableger der NSDAP Partei, basiert somit nicht auf einer
ideologischen Überzeugung. Offenkundig zeigt sich hierin der unpolitische
Wesenszug: „Zwar habe viel freiwillige Zuarbeit die faschistische Massenorganisation
geprägt, diese war aber in einem hohem Maße durch politische Apathie geprägt.“438
Bei der Suche nach den Ursprüngen des weltweit einzigartigen Phänomens eines
Nationalsozialismus als Massenbewegung, erweist sich das Bild des unpolitischen
Volkes als maßgeblich. „Hitlers Machtergreifung hatte in dem Augenblick eine
revolutionäre Stimmung ausgelöst, als man mit Schrecken, aber auch mit
435
Michael Mann, `Der Faschismus und die Faschisten. Vorbereitende Überlegungen zur Soziologie
faschistischer Bewegungen´, S. 26-54 in „Mittelweg 36“, 16. Jahrgang, Feb./März 2007, S. 47.
436
Ebd.
437
Ebd., S. 48.
438
Victoria De Grazia zitiert in: Reichardt, S. 23.
181
Bewunderung und Erleichterung bemerkte, dass die Nazis tatsächlich daran gingen
(…) (das) Weimarer System zu zerschlagen.“439 Der Fehlschlag, eine gescheiterte
Monarchie durch eine demokratische Regierung zu ersetzen, öffnete für etwas
offenkundig wirklich Neues: eine Volksherrschaft ohne Parteiengezänk mit einem
starken Führer, der Deutschland wieder einig nach innen und groß nach außen machen
sollte. Politik galt vielen seit Weimar als ein „Verrat an den Werten des `wahren´
Lebens: Familienglück, Geist, Treue, Mut.“440
Sebastina Haffners Stimmungsbild über den Machtantritt der Nationalsozialisten
untermauert den Wesenszug des Unpolitischen noch einmal deutlich: „Es war – man
kann es nicht anders nennen – ein sehr weit verbreitetes Gefühl der Erlösung und
Befreiung von der Demokratie.“441 Die „Sehnsucht nach dem Unpolitischen“ aus einer
als unerträglich empfundenen Last der Verantwortung dem autoritären Gebahren der
monarchistischen Epoche (Michael Hanekes Das weiße Band) zuzuschreiben oder
dem Trauma des Ersten Weltkrieges bleibt spekulativ.442 Ein Blick auf die nach dem
Zweiten Weltkrieg erwachsende Kultur der „Heilen Welt“ in den 1950er Jahren, etwa
in zahllosen „Heimatfilme“ oder im bodenständigen Humor eines Heinz Erhard, lässt
Parallelen mit der „unbeschwerten“ Seite der Alltagskultur, insbesondere in den
gefühlten „guten Jahren“ der NS-Zeit erkennen und offenbart ein Versinken in die
Phantasie einer „Schönen neuen Welt“.443
439
Safranski, S. 362.
Ebd.
441
Sebastian Haffner, Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick, München, 1989, S. 237.
442
vgl. Heinrich Mann, Der Untertan.
443
Anmerkung: In seinem gleichnamigen Roman (1932) lässt Aldous Huxley seine Protagonisten durch die
Droge „Soma“, durch Konsum und Kurzurlaubsreisen in eine Scheinwelt versinken, hinter der eine skrupellose
Diktatur Menschen „züchtet“ und als Objekte in Nutzkategorien einteilt.
440
182
„Das Volk singt und tanzt“
Das Unpolitische mit seiner befreienden Wirkung von der Last der Verantwortung als
„sinnlicher“ Inhalt von Geschichte vermag den Massenappeal des Nationalsozialismus
nicht hinreichend zu erklären. Ergänzend drückt sich eine tiefer liegende Schicht im
Konzept der „Volksgemeinschaft“ als „Leitkultur“ aus, die im Begriff des
„Volksvermögens“ subsummiert werden kann.
Der originäre Stellenwert der „Volksgemeinschaft“ für die nationalsozialistische
Ideologie offenbart sich durch eine Tagebuchnotiz Joseph Goebbels vom März 1933:
Wenn ich den politischen Umbruch auf seinen einfachsten Nenner bringe, dann
möchte ich sagen: Am 30. Januar ist endgültig die Zeit des Individualismus
gestorben. Die neue Zeit nennt sich nicht umsonst Völkisches Zeitalter. Das
Einzelindividuum wird ersetzt durch die Gemeinschaft des Volkes. Wenn ich in
meiner politischen Betrachtung das Volk in den Mittelpunkt stelle, dann lautet
die nächste Konsequenz daraus, dass alles andere, was nicht Volk ist, nur Mittel
zum Zweck sein kann. Wir haben also in unserer Bestätigung wieder ein
Zentrum, einen festen Pol in der Erscheinung Flucht…das Volk als Ding an sich,
das Volk als den Begriff der Unantastbarkeit, dem alles zu dienen und dem sich
alles unterzuordnen hat.444
Das Konzept des Volkes „als Ding an sich“ geht in seiner Begrifflichkeit zurück in das
frühe 19. Jahrhundert. Friedrich Ludwig Jahn bildete 1810, um den Begriff
Nationalität einzudeutschen, den Ausdruck „Volkssturm“ und „Schleiermacher und
Adam Müller hatten zum ersten Mal von Volksgemeinschaft gesprochen.“445 Im
Krebsgang ist das Wirken des Turnvaters Jahn aufgegriffen: „Und dann begann noch
nicht der Krieg, vielmehr diente die Gustloff der Leibeserziehung. Zwei Wochen lang
fand in Stockholm ein friedliches Turnerfest, die `Lingiade´ statt, benannt nach Per
Henrik Ling, einem, nehme ich an, schwedischen Turnvater Jahn. Das Urlauberschiff
war Wohnschiff für über tausend uniform gekleidete Turner und Turnerinnen, unter
ihnen Maiden vom Arbeitsdienst, die Nationalmannschaft der Reckturner, aber auch
alte Herren, die immer noch am Barren turnten, sowie Gymnastikgruppen der
Gemeinschaft `Glaube und Schönheit´ und viele auf stadionweites Massenturnen
444
445
Josef Goebbels, Tagebücher, München, 1988, H.G. Reuth (Hg.), Bd. III, S. 1076.
Safranski, S. 351.
183
gedrillte Kinder.“ (79) Der Hauslehrer Friedrich Ludwig Jahn errichtete 1811 den
ersten Turnplatz in Berlin, auf dem sich die Männer für den Kampf gegen die
französischen Besatzer vorbereiten sollten. Die Turnerschaft wird so zu einem frühen
Kristallisationspunkt der deutschen Nationalbewegung.446
Bis hierher lag das Augenmerk in diesem Abschnitt auf der Frage nach der Wirkung
der „Verführung“ und wie sich diese in Grass´ Krebsgang darstellt. Grass verbleibt in
seiner Novelle, anders als in der Danziger Trilogie, nicht im Milieu der „Kleinen
Leute“ im NS-Regime. Im Krebsgang ist das Spektrum erweitert: neben Hinweisen
auf die NS-Diktatur richtet sich der Blick auch auf die Eliten und auf das Ausland.
Dieses vergrößerte Spektrum repräsentiert eine Plattform, von der aus weitere
Erklärungsansätze bzw. Aufschlüsse über die komplexen Verflechtungen in der Zeit
zwischen 1933-45 gewonnen werden können.
446
Planert, S. 70.
184
Die „Gewalt“: Historische Kontextualisierung von NS-Diktatur, Staatsterror und
Krieg („Angstgesteuerte Beteiligung“)
Paul als imaginierter Journalist in der NS-Epoche
Entgegen der Einschätzung vieler Historiker, dass das Gefühl über den Anbruch einer
„neuen Epoche“ im Jahr 1933 weit stärker wog als die Angst vor polizeistaatlichem
Terror447, reflektiert sich für die Skeptiker und Kritiker des Regimes im Krebsgang
Angst als Motiv der passiven Unterstützung. Die zeitüberblendende Imagination, mit
der sich Paul als Journalist gedanklich in die NS-Zeit zurückversetzt, bewertet der
Erzähler selbst als müßig: „Auch ich, der während realer Berufstätigkeit keinen
Skandal aufgedeckt, nie eine Leiche im Keller, weder Mauscheleien mit
Spendengeldern noch geschmierte Minister ausfindig gemacht hat, hätte als
zurückdatierter Journalist wie alle anderen das Maul gehalten. Nur pflichtschuldig
staunen durften wir von Deck zu Deck.“ (58f)
Paul untermauert den Aspekt der Angst im NS-Regime, indem er Fragen formuliert,
die er bei einem imaginierten Pressetermin auf der Gustloff nicht hätte stellen wollen
und Wahrnehmungen auflistet, die er nicht hätte haben sollen. Die Frage nach dem
Geld der Gewerkschaften zielt auf die Zerschlagung der Gewerkschaften als die erste
gewalttätige Aktion des NS-Regimes im Jahr 1933 (s. nachfolgend). Die
Wahrnehmung, dass das Sonnendeck von „lästigen Aufbauten“ frei sei, assoziiert die
Verschleierung der Wahrheit über die Konzentrationslager durch das Regime (s.
Abschnitt „Holocaust“); „sah Duschkabinen und sanitäre Einrichtungen“ (59) verweist
darauf, dass Informationen über die Massentötungen mit Gas in den
Konzentrationslagern für jene zugänglich waren, die zu „sehen“ bereit waren (s.
Abschnitt „Holocaust“). Anstatt jedoch zu fragen, notiert Paul „beflissen“. (59)
Grass lässt seinen Erzähler sich nicht explizit zur Angst bekennen, vielmehr ist es die
Angst vor der Angst als Feigheit: „kommt es mir dennoch vor, als sei ich begeistert
und zugleich schwitzend vor Feigheit dabeigewesen.“ (59) Die Angst kriecht als
„Schweiß“ unter die Haut und wird zum Motiv für die Feigheit. Diese Angst führt bei
447
Vgl. etwa Frei, 1945 und Wir, S. 113, oder Sebastian Haffner, vorstehend.
185
Paul jedoch nicht zu einer Beflissenheit aus innerlicher Überzeugung für die
nationalsozialistische Ideologie.
„Wie ich mich kenne, wäre mir allenfalls eine verklausulierte Frage nach dem
restlichen Kapital über die Lippen gekommen, worauf mir der durch nichts zu
beirrende KdF-Reiseleier prompt geantwortet hätte: `Die Deutsche Arbeitsfront
schwimme, wie man ja sehe, im Geld.´“ (58f) Diese propagandistische Antwort auf
seine imaginierte Frage vermag Paul nicht zu überzeugen, denn „(w)eitere Fragen
wurden verschluckt“ (58). Die Attribute der „neuen Zeit“ sind unzureichend, um die
Angst zu überwinden: „Staunend sahen wir die Festhalle, den Trachtensaal, die
Deutschland- und die Musikhalle. (…) In allen Sälen hingen Bilder des Führers (…)
überwiegend bestand der Bildschmuck aus altmeisterlich in Öl gemalten Landschaften
(…) schrieb später nach altdeutscher Wortwahl über die `sieben gemütlichen
Schänken´ an Bord (…).“ (59) Auch die moderne Technik, etwa die „hypermoderne
Tellerwaschanlage“, der „Hochtank“ als „Wasserwerk“ (59) als Symbole für den
wesentlichen Baustein bei der Positionierung als „moderner“ NS-Staat, bewirkt bei
dem imaginierten Journalisten Paul keine Wandlung hin zur inneren Überzeugung.
Am Ende hört er einfach auf, wahrzunehmen: „Und weiteres Zahlenmaterial, das ich
nicht mehr notierte.“ (60)
Offenkundig wird seine Resignation als er sich ein letztes Mal als kritischer
Beobachter versucht. Er erkennt die Gefahr etwa des unterhalb der Wasserlinie
liegenden Schwimmbads oder die unzureichende Anzahl von Rettungsbooten (60):
Aber ich bohrte nicht nach, beschwor keinen Katastrophenfall, sah nicht voraus,
was sieben Jahre später in eisiger Kriegsnacht geschah (…); vielmehr flötete ich,
sei es als Journalist des `Völkischen Beobachters´, sei es als Korrespondent der
gediegenen `Frankfurter Zeitung´, in höchsten oder sachlich gedämpften Tönen
eine Hymne auf die schmucken Rettungsboote des Schiffes. (60)
Pauls Rückblicke aus der Gegenwart erweist sich als nichts weiter als gescheiterte,
„(v)erspätete Mutproben!“ (58).
186
Die Anfänge: Wahlen für Hitler
Entgegen etwa der Ansicht Freis bewertet Reichardt die polizeistaatliche
Unterdrückung in den Jahren 1933-34 nicht als eine untergeordnete, vielmehr als eine
gleichgewichtige Komponente neben sozialen Wohlfahrtsversprechen und
imperialistischer Expansionspolitik.448 Auch im Krebsgang sind die Anfänge des NSRegimes durch Hinweise auf den diktatorischen Aspekt umrissen: „dem durch
Ermächtigung entstandenen Staat und der einzig übriggebliebenen Partei“. (39)
Hierin drückt sich jedoch bereits der zweite Schritt vor dem ersten aus. Der
amerikanische Sozialwissenschaftler Robert O. Paxton verweist auf die anfängliche
konstitutionelle Legitimität faschistischer Regierungen.
Obwohl sie zunächst Gewalt anwandten, um das liberale Regime zu
destabilisieren, und später, um ihre Regierungen in Diktaturen zu verwandeln,
haben weder Hitler noch Mussolini das Steuer gewaltsam an sich gerissen. Beide
wurden von einem Staatsoberhaupt in rechtmäßiger Ausübung seiner offiziellen
Funktionen, und auf den Rat seiner konservativen Berater hin, ersucht, ihr Amt
als Regierungschef anzutreten, und zwar unter sehr bestimmten Bedingungen:
einer Blockierung der konstitutionellen Regierung; konservativer Führer, die sich
durch den Verlust ihrer Fähigkeit, die Bevölkerung im Augenblick massenhafter
Mobilmachung unter Kontrolle zu halten, bedroht sahen; einer aufstrebenden
Linken; und konservativer Führer, die sich einerseits weigerten, mit dieser
Linken zusammenzuarbeiten, und sich andererseits außerstande sahen, ohne
zusätzliche Verstärkung gegen die Linke weiterzuregieren.449
Die „Bedingung“ einer “aufstrebenden Linken” spiegelt sich im Krebsgang: „Bei der
letzten freien Wahl, vor vier Jahren noch, hatten die meisten von ihnen für die Sozis
oder Kommunisten gestimmt. Jetzt gab es nur noch die eine und einzige Partei; (…).“
(51) Was sich in ein „totalitäres Diktaturregime faschistischer Prägung“450 entwickeln
sollte, war vor dem „Radikalisierungsprozess des Nationalsozialismus“451 in ein
weitgehend rechtsstaatliches Gewand gekleidet. Deutlich beschleunigt wurde der
448
Reichardt, S. 20.
Robert Paxton, `Die fünf Stadien des Faschismus´, S. 55-80 in „Mittelweg 36“, 16. Jahrgang, Feb./März
2007, S. 73f.
450
Wolfgang Schieder zitiert in: Reichardt, S. 19.
451
Ebd.
449
187
Prozess der `Verselbständigung faschistischer Apparate´ durch: „(…) die sukzessive
Entmachtung der konservativen Bündnispartner.“452
Einer der entscheidenden Kämpfe des Regimes bis zur völligen Machtübernahme
vollzog sich zwischen Hitler und Hindenburg. Erst im Verlauf des Januar 1933 gab
Hindenburg nach langem Zögern sein Einverständnis zur Bildung eines
Präsidialkabinetts Hitler.453 Hitler schien für Hindenburg schließlich mit Ausnahme
einer Militärdiktatur den einzigen Weg aus einer Sackgasse zu weisen.454 In den
Monaten nach seiner Ernennung zum Reichskanzler ergriff Hitler entgegen den
Erwartungen, die Hitler-Papen Regierung würde sich ebenso schnell wie ihre
Vorgänger verbrauchen, fast vollständig die politische Macht. 455 Bis zum Sommer
existierten keine Parteien mehr, es gab weder ein Präsidialregime noch ein
parlamentarisches Regime – inzwischen regierte allein Reichskanzler Hitler mit seiner
Partei.456
Hitler nutze seine Ernennung um mit vielen seiner Gegner abzurechnen. Zur
Regierungseröffnung etwa befanden sich die 81 kommunistischen Abgeordneten
bereits in Konzentrationslagern, im Untergrund oder in der Emigration457: „(Es war)
ein neues Element in die deutsche Politik eingeführt (worden): der legale staatliche
Terror.“458 Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 wurde die Verfassung in
großen Teilen außer Kraft gesetzt und die Möglichkeit willkürlicher Verhaftungen
eingeführt.459
Im Krebsgang reflektieren sich implizit diese Anfänge der Diktatur: „Von der
Kurverwaltung Davos wurden ihm (Gustloff) regelmäßig die Namenslisten angereister
Kurgäste zugespielt, worauf er die Reichsdeutschen unter ihnen, solange die Kur lief,
zu Parteiveranstaltungen nicht etwa nur einlud, sondern aufforderte; unentschuldigtes
452
Reichardt, S. 20.
Steinert, S. 258.
454
Ebd., S. 258.
455
Haffner, S. 233-234.
456
Ebd., S. 234.
457
Ebd.
458
Ebd.
459
Ebd.
453
188
Nichterscheinen wurde namentlich vermerkt und den zuständigen Stellen im Reich
gemeldet.“ (23) Darüber hinaus erscheinen auch die nach Innen gerichteten
gewalttätigen Repressalien in der Novelle: „Strasser, der dem linken Flügel angehörte,
wurde, nachdem er zweiundreißig aus Protest gegen seines Führers Nähe zur
Großindustrie alle Ämter niedergelegt hatte, zwei Jahre später dem Röhmputsch
zugezählt und von den eigenen Leuten liquidiert“. (10) Reichsorganisationsleiter
Gregor Strasser, der zusammen mit seinem Bruder Otto den „sozialrevolutionären“
Kurs der NSDAP gegenüber dem „völkisch-nationalen“ Flügel innerhalb der Partei
einschlug, um die Arbeiterschaft zu gewinnen, nahm Ende 1932 Verhandlungen mit
von Schleicher über eine Regierungsbeteiligung auf, in der er, Strasser, als
Vizekanzler vorgesehen war.460 Für Hitler und Goebbels wurde Strasser, dessen
eigenständiges ideologisches Profil missmutig beäugt wurde, somit zum „Verräter“461.
Nach heftigen Auseinandersetzungen zog sich Strasser aus der Politik zurück und
wurde im Zuge der Parteisäuberung (Röhm-Putsch von 1934) ermordert.
Bald nach diesen Säuberungen im Inneren sollte sich der polizeistaatliche Terror mehr
oder weniger offen nach Außen gegen jene Minderheiten richten, die nicht Teil der
„arischen Volksgemeinschaft“ sein konnten.
460
461
Steinert, S. 257.
Ebd.
189
Der Tod von Tullas Bruder Konrad und die arische Rassepolitik
Rückblickend erzählt Paul im Krebsgang wie Tullas taubstummer Bruder Konrad in
der Ostsee ertrank. (24, 66) Nach dem Verlust des Bruders zieht Tulla sich „eine
Woche lang in die Hütte des Tischlereihundes“ (66) zurück, dem „Zuchtrüden Harras“
(ebd.) und Erzeuger von Hitlers Schäferhund Prinz. Vor dem Hintergrund, dass „Hitler
ein Loblied auf Pferde- und Hundezucht singt und die sozialdarwinistische Vorstellung
eines Kampfs ums Überleben übernimmt“462, entsteht eine Verbindung zur
nationalsozialistischen Rassenpolitik.
Philippe Burrin umreißt diese als eine Ideologie, die sich auch gegen die eigene
„Rasse“ wendet: „Hier handelt es sich um eine streng rassistische Ideologie, denn sie
nimmt nicht nur die `Allochthonen´ ins Visier, also all jene, die nach irgendwelchen
Kriterien als nicht zur eigenen Rasse gehörig definiert sind, sondern auch die
Mitglieder der eigenen Rasse, die zur Fortpflanzung (…) auszuschließen sind.“463
Die nationalsozialistischen Aktionen gegen „unreine“ Minderheiten begannen mit der
Ermordung behinderter Menschen unabhängig von Nationalität und von Religion: „Bis
1941 gelten die radikalsten Maßnahmen des Regimes anderen (Anmerkung d. Autorin:
als den jüdischen) Gruppen, man denke nur an die Sterilisation so genannter
Erbkranker und an die Ermordung geistig Behinderter ab 1939.“464 Dieser so
genannten „T4-Aktion“ fielen fast 300.000 kranke und behinderte Menschen zum
Opfer.465 Das Motiv „die asozialen Teile des Volkskörpers“466 zu eliminieren, führte
bereits im Juli 1933 zu einem Gesetz, das die Zwangssterilisierung von Menschen
anordnete, die unter Erbkrankheiten litten. Dazu gezählt wurden „die absichtsvoll
unscharfe Begrifflichkeit `angeborener Schwachsinn, Schizophrenie und schwerer
Alkoholismus´“.467 Auch Tullas Bruder Konrad fiel als „Taubstummer“ in die
Kategorie der Erbkranken.
462
Burrin, S. 60.
Ebd.
464
Burrin S. 80.
465
Bundeszentrale für politische Bildung: NS-Krankenmorde;
http://www.bpb.de/veranstaltungen/583QL1,0,0,NSKrankenmorde.html.
466
Ebd.
467
Ralf Müller-Schmid, `Vom Bekenntnis bis zur neuen Eugenik von unten´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“,
17.07.2008, S. 33.
463
190
Die „T4-Aktionen“ werden zu einem der Ausgangspunkte für die industrielle Tötung
im Holocaust:
In September 1941, following the example of the T-4 `euthanasia´ programme,
500 mental patients were gassed at Mogilev. Three months later, at Chelmno,
specially designed vans with exhaust pipes connected to sealed rear
compartments were used for the first time to asphyxiate Jewish prisoners. The
first and only industrialized genocide had begun.468
Hitlers „Rasseideologie“ orientierte sich in höchst destruktiver Weise an einer
„germanischen Moral“ und basiert, wie sie sich aus Mein Kampf ergibt469, auf der
Rasse als Grundlage für die Erklärung der Weltgeschichte. Danach spielen vor allem
zwei „Naturgesetze“ für die Evolution aller Lebewesen eine wichtige Rolle: „Das eine
ist das Gesetz der Rassenreinheit (…), dessen Verletzung durch Vermischung zum
Verfall der Rasse und letztlich zu deren Untergang führe. Das zweite ist das Gesetz der
Auslese, also die Ausmerzung der `Schwachen´ (…).“470 Diese „Naturgesetze“
versucht Hitler mit historischen Erkenntnissen zu belegen, „indem er sich eine
Geschichte der Arier zurechtlegt.“471
Danach sollen die arischen Völker, deren Überlegenheit aus ihrem idealistischen
Gemeinschaftsgeist resultierte, der sich in Arbeit und Kampf zeige, auf die Reinheit
des Blutes geachtet und zum Beispiel missgebildete Kinder bei der Geburt getötet
haben. Dadurch hätten sie zahlenmäßig überlegene Völker zu unterwerfen und als
Sklaven für den Aufbau großer Reiche einzusetzen vermocht. Diese Reiche hätten
großartige Kulturen hervorgebracht, die am Ende aber wegen der so genannten
Vermischung mit den unterworfenen Völkern zu Grund gegangen seien.472 Damit
hatten sich die Nationalsozialisten eine historische Mission auf die eigenen Fahnen
geschrieben: Deutschland vor dem Verfall zu retten und es wieder zu einem mächtigen
468
Ferguson, S. 451.
Ebd., S. 59.
470
Ebd., S. 59f. Anmerkung: Tacitus schreibt in seiner Schrift „Germania“: „Ich selbst schließe mich der Ansicht
an, dass sich die Bevölkerung Germaniens niemals durch Heirat mit Fremdstämmen vermischt hat und so ein
reiner, nur sich selbst gleicher Menschschlag von eigener Art geblieben ist. Daher ist auch die äußere
Erscheinung trotz der großen Zahl von Menschen bei allen dieselbe: wild blickende blaue Augen, rötliches Haar
und große Gestalten, die allerdings nur zum Angriff taugen. Für Strapazen und Mühen bringen sie nicht dieselbe
Ausdauer auf, und am wenigsten ertragen sie Durst und Hitze; (…)“. Ders., Stuttgart, 1971, S. 5.
471
Burrin, S. 61.
472
Burrin, S. 61f.
469
191
Land zu machen, das auf dem Wege des Imperialismus antiken Großreichen in nichts
nachstünde.473
Die Quellen dieser rasseideologischen Staatsdoktrin lagen im „biopolitischen
Rassismus“ der Kaiserzeit und führen in ihrer Konsequenz zu einem radikalisierten
Nationalismus.474 Am Ende des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein tiefgreifender
Wandel hin zu einem radikalisierten Nationalismus, der mit der Umdeutung der Nation
zu einem biopolitischen Programm eine vollkommen neue Form entwickelte.
Ausgehend von den Klassikern der rassistischen Theorien – Joseph Arthur Gobineau
und Charles Darwin - können bei völkischen und antisemitischen Denker sowie der
Kolonialbewegung diese Neuformierung des Rassengedankens gefunden werden.475
Der Historiker Sönke Neitzel sieht in der Zeit der Jahrhundertwende aufgrund der
Verbindung von Nation und Rassismus eine neue Qualität des deutschen
Nationalismus.476 In der Vorstellung „mehr oder weniger bekannter
Rassentheoretiker“, darunter etwa Houston Steward Chamberlain oder Theodor
Fritsch, „war die Nation nur mehr eine biopolitische Organisation, die im alltäglichen
Leben der Bevölkerung im Rassenkampf bestehen musste.“477 Auch Ferguson verweist
auf die für das „Dritte Reich“ zentrale Konzeption eines rassistischen Weltbilds,
„(which) was rooted in a particular conception of human biology – a singularly
successful `meme´ that had already replicated itself all over the world by the start of
the twentieth century.”478
Der Ursprung dieser Konzeption liegt in Schweden:
(…) the first ostensibly scientific attempt to subdivide the human species into
biologically distinct races was by the Swedish botanist Carolus Linnaeus (Carl
von Linné). In his Systema Naturae (1758), he identified four races: Homo
sapiens americanus, (H. s.) asiaticuas, (H. s.) afer and (H. s.) europaeus.
473
Ebd. S. 62.
Sönke Neitzel, `Neue deutsche Qualität´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 27.01.2005, Nr. 22, S. 9.
475
Ebd.
476
Ebd.
477
Ebd.
478
Ferguson, S. lii.
474
192
Linnaeus, like all his many imitators, ranked the various races according to their
appearances, temperament and intelligence, putting European man at the top of
the evolutionary tree.479
Im Krebsgang besuchen deutsche Turner ein “friedliches Turnerfest” in Stockholm,
die “Lingiade” (79), was Carolus Linnaeus (oder Carl von Linné) assoziiert. Expliziter
Namensgeber ist Per Henrik Ling, ein „schwedische(r) Turnvater Jahn“. (ebd.) Durch
die assoziative Vermengung von Leibeserziehung zu Militärzwecken („uniform
gekleidete Turner und Turnerinnen“ – 79) und den im Handlungsort liegenden
Ursprung einer auf Rassismus basierenden Humanbiologie sind zwei der Kernaspekte
der nationalsozialistischen Ideologie nebeneinandergestellt. Die Kehrseite des
Antisemitismus im NS-Regime war die Aufwertung derjenigen, die den „arischen“
Anforderungen entsprachen. Diese Aufwertung lässt sich in der Plakette für die
„Turnübungsleiter“, die der schwedische König gestiftet hat, symbolisch erkennen.
(79)
Der vom NS-Regime vertretene „Wertekanon“ nahm Gestalt an in Institutionen, die
mit dessen Verwirklichung betraut waren. Diese Institutionen vom
„Jungmädchenbund“ bis zur „SS“ hatten für die Ausbreitung der NS-Identität zu
sorgen: sie durchzogen nahezu sämtliche Lebensbereiche.480 Neben der „SS“ waren
die Gesundheitsberufe führend für die „institutionelle Gerinnung von Idee und
Praktiken“481 zuständig. Dort wurden NS-Werte realisiert, „in denen die schon
während der Weimarer Republik von Eugenik und Rassenlehre beeinflussten
Auffassungen nun die Oberhand gewannen“.482 Vor diesem Hintergrund rundet sich
das Bild der durch die Nahrungsaufnahme aus dem Napf des reinrassigen Hundes (66)
implizierten Wandlung Tullas ab. Noch kurz vor dem Untergang des Schiffes
bekommt die im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie durch ihren Bruder
„erblich belastete“ Tulla eine wehenhemmende („betäubende“) Spritze durch den NSArzt „Doktor Richter“ (138) verabreicht. Die Geburt des „Traumas“ Paul erst nach
dem Untergang auf dem Rettungsboot impliziert in diesem Kontext das schockartige
479
Ebd.
Burrin, S. 87.
481
Burrin, S. 88.
482
Burrin, S. 87.
480
193
Erwachen aus einer massenhaften Wahnvorstellung. (139) Erschöpften sich die
rassistischen und anderen Wahnvorstellungen der NS-Epoche in der breiten
Bevölkerung zumeist im Mitläufer- und im Mitwissertum, zogen sie in anderen
Segmenten der „Volksgemeinschaft“ fatale, oftmals verbrecherische Konsequenzen
nach sich.
194
Deutsche Soldaten und die Wehrmacht
Die Hamburger Wehrmachtsausstellung führte gegen Ende der 1990er Jahre drastisch
vor Augen, wie sich auf den Schauplätze des Krieges massenhafter Wahnwitz
entfaltete: „The worse the war went for them, the more fanatically the Germans
pursued their policies of violence towards those unfortunates still in their power, as if
willing the final cataclysm.”483Goebbels bewertete diese Lage als vorteilhaft:
„Experience shows that a movement and a people that have burned their bridges fight
more unconditionally than those who still have the chance of retreat.”484 Im Krebsgang
werden weiterhin “Todeskandidaten” (85) ausgebildet, obwohl bereits “alle
Frontlinien rückläufig” (86) und die „Lufthoheit über dem Reich längst verloren war.“
(86) Auch „Tullas beide ältere Brüder waren gefallen.“ (77)
Die Suche nach den Ursprüngen dieser Entwicklung hin zu „verbrannten Brücken“
lenkt den Blick auf die Vorgänge innerhalb der Armee, die „weltanschaulich“
ausgerichtet werden sollte. Sowohl die NSDAP als auch durch die Armeespitze
bemühte sich um eine ideologische Festigung der Soldaten. Ende 1943 erging Hitlers
Befehl zur „nationalsozialistischen Führung in der Wehrmacht“, durch den die
gesamte Wehrmacht nationalsozialistisch „durchzukneten“. Nicht zuletzt im
vermeintlichen Geiste der „Klassenlosigkeit“ sollte eine soziale Öffnung des
Offizierskorps durchgesetzt werden, weg vom vormaligen Adelsprivileg und hin zu
einer jungen Elite auf der Grundlage von Frontbewährung und politischer
Verlässlichkeit.485 Dieser Umbau erfolgte rapide. Binnen eines Jahres waren nahezu
50.000 Soldaten zugleich als Nationalsozialistische Führungsoffiziere tätig
geworden.486 Im Krebsgang schlägt sich dieser „erfolgreiche“ Umbau der Wehrmacht
hin zur nationalsozialistischen Geisteshaltung im Bild der „Leibeserzogenen“ nieder:
„Turner und Turnerinnen wurden von Motorrettungsbooten in geregeltem
Pendelverkehr befördert. So blieben die Leibeserzogenen unter Aufsicht. Zu Vorfällen
kam es nicht. Meinen Unterlagen ist zu entnehmen, dass dieser Sondereinsatz ein
Erfolg gewesen ist“. (79) Teil des Plans zur umfassenden Umgestaltung der
483
Ferguson, S. 557.
Goebbels zitiert in: Ferguson, S. 557.
485
Wildt, S. 72.
486
Ebd.
484
195
Wehrmacht bildeten die vielfältigen Bemühungen um die militärische „Ertüchtigung“
der Jugend nach 1933, die nach Einschätzung des Historikers Jürgen Förster
„selbstredend“ einen Kernbereich der nationalsozialistischen Erziehung darstellte.487
Michael Wildt verweist darauf, dass die Wirkung der Um-Erziehungsarbeit und der
Propaganda auf die Wehrmacht insgesamt sich nicht messen lasse. Dies zumal deren
Sozialstruktur sich infolge der Verluste wegen Tod und Verwundung immer jünger
werdenden Soldaten stets veränderte488, was sich im Krebsgang wiederspiegelt: „Die
immer jüngeren U-Bootmatrosen – gegen Schluß nahmen sie Siebzehnjährige – kamen
für ein Vierteljahr an Bord. Danach war vielen von ihnen der Tod sicher, sei es im
Atlantik, im Mittelmeer, später auf Feindfahrt längs der nördlichsten Route nach
Murmansk, auf der amerikanische Geleitzüge, beladen mit Rüstungsgütern für die
Sowjetunion, ihren Kurs nahmen.“ (85)
Für die frühen vierziger Jahre diagnostiziert der Historiker Aristole Kallis mit Blick
auf die nationalsozialistische Propaganda einen Niedergang der Deutungsmacht, „die
seit dem Beginn der schweren alliierten Bombenangriffe und durch die Niederlage in
Stalingrad ihr `Monopol auf Wahrheit´ verloren habe. Die Propaganda stimmte nicht
mehr mit den Erfahrungen derer überein, an die sie adressiert war.“489 In der Novelle
versinnbildlich sich diese Abkehr in einer Szene um den Großadmiral Dönitz: „es sei
denn, man bewertet den Auftritt des Großadmirals Dönitz bei seinem Besuch am Kai
Gotenhafen-Oxhöft als ein Ereignis, von dem allerdings nur offizielle Fotos geblieben
sind. Das fand im März dreiundvierzig statt. Da war Stalingrad bereits gefallen. Schon
bewegten sich alle Frontlinien rückläufig.“ (86) Die ausbleibenden privaten
Fotographien („nur offizielle Fotos“) verweisen auf die innere Abwendung der
Soldaten, denn die schlagen bereits verlorene „Kesselschlachten im Osten“ (85).
Die Vorstellung vom „deutschen Soldaten als fanatisiertem nationalsozialistischem
Kämpfer“490 bricht somit auf. Wildt verweist darauf, dass sich dieses Bild bereits für
487
Jürgen Förster zitiert in: Wildt, ebd.
Ebd.
489
Aristotle Kallis zitiert in: Wildt, S. 72.
490
Wildt, S. 73.
488
196
die Zeitgenossen auflöste, spätestens bei den Verhören in westalliierter
Kriegsgefangenschaft.491 Die nachhaltige Teilnahme der Soldaten, wo eine
massenweise Desertion hätte erwartet werden dürfen, erklärt sich vor allem durch die
Kriegssituation Ende 1943, die sich „noch einmal zugunsten Nazideutschlands zu
wenden schien“ und so das Vertrauen in den „Endsieg“ wieder habe aufleben lassen.
Wildt ergänzt: „Nicht minder ungebrochen war der Glaube an die V-Waffen, als dürfe
es nach all den Untaten, von denen die Soldaten zu berichten wussten, nur den Sieg
geben, da die Vergeltung nach einer Niederlage mindestens so schrecklich ausfallen
würde, wie es die eigenen Verbrechen gewesen waren.“492 Goebbel´s Diagnose der
„verbrannten Brücken“ rundet sich ab. Die Abgründigkeit dieses Kampfes hinter
„verbrannten Brücken“ offenbart sich vor allem auch in dem Krieg gegen die eigene
Bevölkerung.
491
492
Ebd.
Ebd.
197
Flucht und Vertreibung als „Krieg gegen die eigene Bevölkerung“
Die unmenschliche Brutalität machte selbst vor der eigenen Bevölkerung nicht halt:
„Zumindest sei zu erahnen gewesen, dass der Rest der Familie (…) zu den tausend und
noch mal tausend Flüchtlingen gehörte, die zuallerletzt auf der überladenen Gustloff
Platz gefunden hätten, mitsamt der schwangeren Tulla.“ (77) Insbesondere das
Konjunktiv „Platz gefunden hätten“ verweist auf den „Mythos von der Rettung“ über
die Ostsee durch die Marine.
Der Freiburger Historiker Heinrich Schwendemann493 umreißt den Gegenstand dieses
Mythos´ mit der Behauptung der Militärs nach 1945 den Krieg im Osten weitergeführt
zu haben, um die Bevölkerung vor der Roten Armee zu schützen. Tatsächlich hatten
viele Einheiten im Osten im Sinne der Führung bis zum letzten Mann gekämpft. Als
Motiv dafür erachtet Schwendemann die Angst vor russischer Gefangenschaft, wie
oben ausgeführt. Das Bild der vorgeblich durch die Soldaten „zu beschützenden“
Bevölkerung bricht sich in einem Bild der Flucht im Krebsgang: „Von der Brücke her
kamen nun Befehle, alle Nachdrängenden in das verglaste untere Promenadendeck zu
lenken, dessen Türen zu verschließen und bewaffnet zu bewachen in der Hoffnung auf
rettende Schiffe. Diese Maßnahme wurde strikt durchgeführt.“ (135) In dem Bild der
Flüchtenden, die von den eigenen Soldaten bewaffnet bewacht werden, spiegelt sich
Hitlers Befehl, der gelautet habe, „die Front zu halten ohne Rücksicht auf Verluste bei
Zivilbevölkerung und Soldaten. Seine Politik und Kriegsführung im Frühjahr 1945 lief
darauf hinaus, den Sieg doch noch zu erzwingen oder unterzugehen, und die
militärische Führung hat das konsequent durchgesetzt.“494
Das Bild der eingezwängten Flüchtlinge spiegelt die von der Wehrmacht „strikt
durchgeführten“ zahlreichen Befehle, wonach die Trecks von den Straßen zu drängen
waren, um sie für die Wehrmacht freizumachen. Das Bild der Bollerwagen im
Straßengraben vermischt sich im Krebsgang mit der Desinformation als bewusster
Vertuschung wieder: „`Dabei hatt ech nur Strimpfe anne Füß, bis miä ne Oma, die
493
Die nachfolgenden Ausführungen in diesem Abschnitt entstammen einem Interview mit dem Historiker
Heinrich Schwedemann, „Krieg gegen die eigene Bevölkerung“, geführt von Angelika Schindler für ARTE,
April 2005: http://www.arte.tv/de/Die-Welt-verstehen/geschichte/Tabus-der-Geschichte/851210.html.
494
Ebd.
198
selber Flichtling war, paar Schuhe aussem Koffer raus jeschenkt hat. Die saß auffem
Bollerwagen am Straßenrand ond hat janich jewußt, wo wir her sind ond was wir
durchjemacht haben alles….“ (153). Weder wusste die „`Oma, die selber Flichtling
war´“ vom Untergang der Gustloff, noch war diese Katastrophe in den Westen
Deutschlands durchgedrungen: „Der Untergang des einst beliebten KdF-Schiffes
wurde im Reich nicht bekanntgegeben. Solche Nachrichten hätte der
Durchhaltestimmung schaden können.“ (153)
Der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral Karl Dönitz, hatte Hitler Ende
Januar 1945 – der Zeit des Beginns der Fluchtgeschichte im Krebsgang - versprochen,
die Marine werde alles tun, um die in Ostpreußen, Lettland und Kurland
eingeschlossenen Verbände mit Munition, Waffen, Sprit usw. zu versorgen, was nur
über die Ostsee möglich war. Als Folge davon wurde dem Abtransport der Flüchtlinge
über die Ostsee in keiner Weise die erste Priorität eingeräumt, wie Dönitz das nach
dem Krieg behauptete. Als Beleg hierfür erweist sich das Kriegstagebuch der
Seekriegsleitung. Flüchtlinge kamen nur mit, wenn noch Platz war.
Im Krebsgang heißt es: „So bündelten sich auf der Brücke Gegensätze, aber auch die
gemeinsame Verantwortung für des Schiffes schwer zu bestimmende Fracht: einerseits
war es ein Truppentransporter, andererseits ein Flüchtlings- und Lazarettschiff.“ (111)
Im Ergebnis haben „sich in den Hafenstädten an der Ostsee, Danzig, Gdingen, Pillau
hunderttausende Menschen gestaut“, die „nicht wegkamen.“ Während seiner
Gerichtsverhandlung beklagt Konny Pokriefke Dönitz als den Schuldigen: „Der
Verbrecher heißt Dönitz!“ (192).
Da diese großen Flüchtlingsstaus im Danziger Raum waren, hat man die Flüchtenden
per Trecks zurück nach Pommern geschickt, trotz des Wissens darum, dass eine
Offensive der Roten Armee bevorstand. Im Krebsgang ist diese erzwungene Rückkehr
auf umkämpftes Ostgebiet auf die Zeit nach der durch den Untergang gescheiterten
Flucht verlegt: „Eine Anzahl Lebender und Toter musste nach Gotenhafen zurück, wo
die Lebenden auf Transport mit weiteren Flüchtlingsschiffen warten mussten. Seit
Ende Februar war Danzig umkämpft, brannte nieder, entließ Flüchtlingsströme, die
199
sich bis zuletzt auf den von Dampfern, Fährprähmen und Fischkuttern belegten
Kaianlagen stauten.“ (153) Schwendemann schätzt, dass mehrere 100.000 Menschen
der ungeordneten Flucht zum Opfer fielen.
Nach den vier vorangegangenen Abschnitten über die frühzeitig offenkundige
Brutalität des NS-Regimes, die Folgen der arischen Rassenpolitik und die Gräueltaten,
verübt durch große Teile der Wehrmacht, drängt sich die eingangs gestellte Frage
erneut auf: warum fanden sich in den Reihen der „Verführten“ und der „Ängstlichen“
nicht doch jene „Sehenden“, die zum Widerstand entschlossen waren.
200
Der fast abwesende Widerstand im Krebsgang
Die „deutsche Schuld“ ist, wie in der Einführung dargestellt, das zentrale Thema von
Grass´ Werken zwischen 1959-1972, namentlich in der Danziger Trilogie, Örtlich
betäubt und Aus dem Tagebuch einer Schnecke495: „Ja, das Schuldthema ist natürlich
das Thema einer Epoche. Das schlägt sich dann in den Personen, jedenfalls bei mir,
nieder. Es ist die Frage nach der Schuld oder nach der Mitschuld oder der
eingebildeten Schuld, des Spiels mit der Schuld, Schuldbedürfnis (…).“496 Der
Mittelpunkt von Grass´ Werk Krebsgang, der Untergang der Gustloff, rankt sich um
eine „Leidensgeschichte“ der Deutschen im Krieg. Andererseits ist das Werk jedoch
von zahlreichen Bezügen zu Hundejahre und Katz und Maus durchdrungen - allen
voran in der Protagonistin Tulla. Daraus erhebt sich die Frage nach dem Umgang mit
dem zentralen Thema der „deutschen Schuld“ in dieser ambivalenten Konzeption.
Mit der Frage nach der Mitschuld des Einzelnen in einer Diktatur ist die nach dem
Widerstand untrennbar verbunden. Dieser ist ein Indikator dafür, ob der Einzelne sich
gegen den Sog zu stellen vermag, den die Dynamik eines „konstruierten
Identitätsdiskurses“497 in einer Diktatur auslöst. Alfred Andersch schreibt über eine
Begegnung mit Hitler: „Da öffnete auch ich den Mund und schrie: `Heil!´ und als die
Menge sich zerstreute und ich wieder ins Freie trat, da dachte ich, wie ich es heute
denke: Du hast einer Kanalratte zugejubelt.“498 Andersch glaubt selbst, diese passive
Unterstützung hätte sich unter gewissen Umständen in aktive Bereitschaft wandeln
können. Sein Kommentar nachdem er später als internierter Zeuge einer Erschießung
im Konzentrationslager Dachau beiwohnen musste: „An jenem Tag wäre ich zu jeder
Aussage bereit gewesen, die man von mir verlangt hätte. Man hätte mich noch nicht
einmal zu schlagen brauchen.“499
Im Krebsgang ist die Thematik des Widerstands nur indirekt berührt und bereits auf
die Zeit Tullas in der DDR-Diktatur bezogen. Der „Alte“ zeigt sich enttäuscht über
495
Sabine Moser, Günter Grass. Romane und Erzählungen, Berlin, 2000, S. 23.
Grass/Getrude Cepl-Kaufmann, `Ein Gegner der Hegelschen Geschichtsphilosophie´, S. 106-121 in Klaus
Stallbaum, (Hg.), Gespräche mit Günter Grass, in Neuhaus WA, Bd. 10, S. 111.
497
Winfried von Bredow, `Extreme Gewalt´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 27.03.2008, S. 7.
498
Alfred Andersch, Kirschen der Freiheit, Frankfurt, 1952, S. 33.
499
Ebd., S. 43.
496
201
ihre Regimefügigkeit, nachdem sie „inmitten willentlich Blinder“ den „Knochenberg“
(100) - als Synonym für Auschwitz - erkannt habe, „dass sich die überlebende Tulla
Pokriefke in solch banale Richtung, etwa zur Parteifunktionärin und stramm das Soll
erfüllenden Aktivistin (entwickelt). Eher wäre von ihr Anarchistisches, eine irrationale
Tat, so etwas wie ein durch nichts zu motivierender Bombenanschlag zu erwarten
gewesen oder eine im kalten Licht erschreckende Einsicht.“ (100) Einmal tritt die
junge Tulla in offenem Widerstand ihrem Vater August gegenüber, der nach seiner
KdF-Reise im August 1939 (65) von ihr verlangt, „daß ech bai de Jungmädels mecht
Mitglied werden. Aber ech wollt nich. Och später nich, als wir ins Raich heimjeholt
wurden ond alle Mädels im Bädeem rainjemußt ham…“ (67)
Es handelt sich dabei nicht lediglich um ein Auflehnen gegenüber dem Vater, sondern
um eine in der Realität des Sommers 1939 nahezu unmögliche Widerstandsleistung:
Besonders die Jugend vermochte den nationalsozialistischen Ansprüchen und
Zumutungen wenig entgegenzusetzen. Mit der gewaltsamen Übernahme des
Reichsausschusses der Deutschen Jugendverbände hatte NS-Jugendführer Baldur
von Schirach bereits im April 1933 erste Voraussetzungen für den Aufbau einer
Staatsjugend geschaffen, (…). Seit 1936 stieg der Druck auf Jugendliche, die sich
der HJ verweigerten stark an, aber erst im März 1939 machten
Durchführungsverordnungen zum Gesetz über die Hitler-Jugend die
`Jugenddienstpflicht´ obligatorisch.500
Die nationalsozialistische Jugendbewegung wurde bald zu einem Instrument totalitärer
Erfassung und Indoktrination.501 Die Reaktion der Jugendlichen auf die zu leistende
Pflichtübung war unterschiedlich und hing ab von deren Alter, Schichtenzugehörigkeit
und vorangegangener Sozialisation.502 Mit der Reaktion Tullas („Aber ech wollt nich“)
auf ihres Vaters Anliegen rückt Grass seine Protagonistin in dieser kurzen Sequenz in
jene „große Teile der Jugend“, die sich keineswegs den Zumutungen des Regimes
gefügt haben.503 Insbesondere während des Krieges entstanden junge Gruppierungen
wie etwa die „Edelweißpiraten“, die auch bewaffneten Widerstand gegen die Nazis
initiierten oder die studentische Oppositionsgruppe „Weiße Rose“, die zu politischem
500
Frei, Führerstaat, S. 101f.
Ebd.
502
Ebd., S. 103.
503
Kleßmann, S. 72.
501
202
Widerstand aufrief. Insgesamt ist die Bedeutung des Segments jugendlichen
Widerstands in der Geschichte des Widerstands insgesamt relativ gering.
Der verhaltene, indirekte Umgang mit der Thematik des Widerstands im Krebsgang
reflektiert die Schwierigkeit dieses Aspektes der NS-Herrschaftszeit. Sönke Neitzel
verweist auf einen möglichen Grund für die Verschüttung des Widerstands in der
Erinnerungskultur Nachkriegsdeutschlands, wenn er anmerkt, dass die Forschung
zuweilen dazu neige, die Unterscheidung von `Gut´ und `Böse´ in einer „so wohl nur
selten anzutreffenden Trennschärfe“ vorzunehmen.504
Bereits die Festlegung des Begriffs „Widerstand“ in Deutschland birgt zahlreiche
Ambivalenzen, die die Schwierigkeit der Erfassung offenbaren:
Was soll etwa Ernst von Weizsäcker gewesen sein, der zwar gegen die
kriegerische Hybris Ribbentrops und Hitlers opponierte, aber doch bis 1943
Staatssekretär im Auswärtigen Amt blieb? Wie ist das `Nationalkomitee Freies
Deutschland´ zu beurteilen, das sich (…) in Russland mit den Stalinisten einließ
und doch stets das Ziel der Beendigung des Krieges vor Augen hatte? Wie sind
die Fahnenflüchtigen zu kategorisieren (…)? Und wie die `Retter´ und `aktiv
Anständigen´, etwa ein Hauptmann der Reserve, der unter Missbilligung seines
Vorgesetzten im September 1943 630 sowjetische Kriegsgefangene freiließ, aber
trotz seines Wissens über fürchterliche Verbrechen im August 1944 über Hitler
schrieb: `Ich glaube wie bisher, dass er nicht das seelische Ungeheuer ist, zu dem
ihn seine Gegner machen.505
Die nationalsozialistischen Verbrechen in Polen und während des Krieges gegen die
Sowjetunion (Kommissarbefehl, Massenerschießungen von Juden und
Kriegsgefangenen506) sind ein eindringliches Beispiel für das Versagen des
militärischen Widerstands. Wohl gaben diese Fälle für „einzelne Offiziere den Anstoß
zum Widerstand, die Wehrmachtsführung dagegen ließ sich zum aktiven Komplizen
dieser Verbrechen machen, die den Rahmen traditioneller Kriegsführung bewusst
sprengen sollten.507 Erst nach der militärischen Katastrophe von Stalingrad führte die
Neitzel zitiert in Tagungsbericht: Timo Frasch, `Wie wird Widerstand aktenkundig?´, „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“, 26.02.2008, S. 35.
505
Klemens von Klemperer zitiert in: Tagungsbericht, ebd.
506
Kleßmann, S. 74.
507
Ebd.
504
203
Idee einer gewaltsamen Beseitigung Hitlers zur Bildung der Widerstandsgruppe des
20. Juli.
Der letzte einer Serie gescheiterter Mordanschläge auf Hitler erfolgte durch diese
Widerstandsbewegung des 20. Juli um Graf von Stauffenberg.508 Daraus erhebt sich
die Frage, wieso erst 1944 und wieso nur durch vereinzelte Personen aus den Reihen
des „mächtigsten potentiellen Träger(s) von Widerstand gegen den
Nationalsozialismus“509 agiert worden ist. Stauffenberg war „eher die Ausnahme unter
den hohen Militärs“ und zeigt als solche „wie groß immer die Loyalität gegenüber
Hitler war und wie Zweifel, Unentschlossenheit und Blindheit große Teile der
militärischen Elite bestimmten“.510 Als ein Indiz für Resignation erscheinen die
ausbleibenden späteren Anschläge auf Hitler, denn nach dem gescheiterten Attentat
am 20. Juli 1944 wurde kein wesentlicher Beitrag zur eigenen Befreiung mehr
geleistet.511
Die deutsche Arbeiterbewegung, „in den Augen des Regimes das größte und
gefährlichste Oppositionspotential“,512 war sich nach anfänglichen Illusionen darüber
im Klaren, dass Hitler Krieg und Unglück für das ganze Volk bedeuten würde.“513
Über lange Zeit wurden die Hoffnungen auf Widerstand jedoch immer wieder
enttäuscht, und man vergrub sich in der Illusion eines baldigen Zusammenbruchs.514
Die beiden Kirchen in Deutschland bezogen zwar offen gegen die Ermordung
Geisteskranker Stellung, doch waren die Motive „deutlich auf rein kirchliche Belange
und auf die Sicherung eines Freiraums“ gerichtet. Das politische Verhalten beider
Kirchen blieb „mehrheitlich von Vorsicht und Anpassung bestimmt“515. Zunehmend
deutlicher wurde, dass wer die Verfolgung politischer und rassischer Gegner
schweigend duldete, „angesichts der permanenten Radikalisierung der
508
Vgl. ebd., S. 71.
Ebd., S. 62.
510
Ebd., S. 75.
511
Ebd., S. 79.
512
Ebd., S. 64.
513
Ebd., S. 73.
514
Ebd.
515
Ebd. S. 74.
509
204
nationalsozialistischen Politik auf die Dauer auch nicht mehr die eigene Haut retten
konnte.“516
Die Suche nach Motiven für die geringen (sichtbaren) Widerstandsbewegungen aus
der Bevölkerung in Deutschland zwischen 1933 und 1945 lenkt den Blick auf die
Organisation der „Volksgemeinschaft“: „Zweifellos ist eine der zentralen Institutionen
der Volksgemeinschaftspolitik die NSDAP gewesen (…). Es gehört zu den
merkwürdigen Tatsachen der Historiografie über den Nationalsozialismus, die
inzwischen ja ganze Bibliotheken füllt, dass Studien zur NSDAP rar sind.“517 Das
„institutionelle Geflecht“ zu entwirren, „das sich hinter dem Namen der Partei verbarg
und die ganze deutsche Gesellschaft durchdrang“ gehört noch immer zur
Grundlagenforschung.
Der Historiker Armin Nolzen hat den Versuch einer Entflechtung vollzogen. Danach
gehörten der Partei zu Kriegsbeginn über 5,3 Millionen Mitglieder an. Es gehörten zu
ihr weitere Unterorganisationen wie die SS (235.000 Mitglieder), die SA (1,3
Millionen), die Hitler-Jugend, der Bund Deutscher Mädel (zusammen 8,7 Millionen)
und die NS-Frauenschaft (1,4 Millionen). Angeschlossen waren darüber hinaus die
Deutsche Arbeitsfront (DAF) als Zwangsnachfolgerin der freien Gewerkschaften, mit
über 22 Millionen Mitglieder, die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt mit mehr als
14 Millionen Mitgliedern und weitere Berufsverbände. Zu Anfang des Jahres 1940
verfügte die NSDAP über mehr als 28.000 Ortsgruppen, in denen über
einhunderttausend Zellenleiter und knapp 450.000 Blockwarte tätig waren.518 Diese
Zahlen zeugen von der hohen Durchdringungsdichte des Regimes: „Es gab wohl kaum
eine gesellschaftliche Angelegenheit, die ohne die Mitwirkung der NSDAP geregelt
oder entschieden wurde.“519
Jene, die sich dem NS-Regime offen widersetzten, hatten schwere Repressalien zu
erwarten. Eines der frühen Zeugnisse geistig-moralischer Auflehnung gegen die
516
Ebd., S. 74.
Wildt, S. 67.
518
Armin von Nolzen zitiert in: Wildt, S. 68.
519
Wildt, S. 68.
517
205
judenfeindlichen Aktionen der neuen Machthaber entstand im April 1933.520 Ende
März des gleichen Jahres hatte der Antisemit Julius Streicher öffentlich zum Boykott
„jüdischer Warenhäuser, Kanzleien usw.“ aufgerufen. In einem „Sendschreiben an den
Reichskanzler Adolf Hitler über die Vertreibung der Juden aus Deutschland“ lehnte
sich der Schriftsteller Armin T. Wegner gegen dieses antisemitische Vorgehen auf.
Erst 1952 erzählte Wegner welche Folgen diese Intervention für ihn hatte. Zunächst
sei der Eingang des Briefes durch Martin Bormann schriftlich bestätigt worden. Einige
Tage danach wurde er an wechselnden Orten, u.a. KZ Oranienburg als
„staatsfeindliches Element“ Misshandlungen ausgesetzt, die er „zeitlebens nicht
verwunden (konnte).“521 Aus einem im Nachlass Wegners 1970 gefundenen Text
zitiert Jäckel eine Stelle, die den Prozess von der Angst über die Resignation und
schließlich zur Verachtung gegenüber der eigenen Heimat nachzeichnen: „Den
Glauben an mein Volk hatte ich verloren, nachdem es sich so niederträchtig unter
Adolf Hitler benahm, sich an einen so bösartigen Narren verraten und zugrunde
gerichtet hatte.“522
Aus Wegners Schilderung gehen zwei wesentliche Aspekte hervor. Zum einen
offenbart sich die Dimension der Angst, mit der innere und/oder offen
Andersdenkende in der NS-Diktatur leben mussten. Es zeigt das notwendige Ausmaß
an Mut, das zur Auflehnung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime von
Menschen und deren Familien gefordert war, „die ihren Alltag bestmöglich zu
bewältigen versuchten.“ Zum zweiten zeigt Wegners Schilderung, wie wenig er sich
selbst dieser Tatsache bewusst war. Nach niemals überwundener Folter zeigt er sich
resigniert über jene, die sein Schicksal zu vermeiden suchten.
Im Krebsgang gibt auch Tulla schließlich ihren Widerstand auf. Später im totalitären
Regime der DDR widersetzt sie sich lediglich der freiwilligen Mitgliedschaft Pauls bei
520
Quelle der nachfolgende Fallschilderung: Hartmut Jäckel, `Wenn einmal die Städte zertrümmert liegen. Zum
Sendschreiben Armin T. Wegners an Adolf Hitler vom 17. April 1933´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“,
17.04.2008, S. 38.
521
Ebd.
522
Ebd.
206
der FDJ: „Raicht das nich, wenn ech miä hier fier die Schufte abrackern muß!“ (67) In
der stalinistischen DDR wird Tulla zur opportunistischen Mitläuferin, die als „SEDMitglied und ziemlich erfolgreiche Leiterin einer Tischlereibrigade (…) zumeist
überm Soll lag“ (67). Die Schilderung des Kommunisten Alfred Andersch offenbart
Angst als die Hauptquelle widerstrebender Bereitschaft zur aktiven oder passiven
Anpassung in einem diktatorischen Regime. Einen Eindruck über die Abgründigkeit
der menschenverachtenden Haltung der beiden mächtigsten Diktatoren Europas gegen
Ende der 1930er Jahre lässt sich etwa aus dem Hitler-Stalin-Pakt gewinnen.
207
Der Hitler-Stalin-Pakt als Zeugnis zeitgenössischen Zynismus
Eine Woche bevor die deutsche Wehrmacht mit dem Beschuss der Danziger Halbinsel
Westerplatte den Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 auslöste,
wurde ein Vertrag über die Aufteilung Polens in eine deutsche und eine russische
Einflusssphäre abgeschlossen. Im Krebsgang formuliert Grass für den gleichen
Zeitraum die Frage: „Und was tat Kapitän Marinesko. Als zuerst deutsche, dann aber,
auf Grundlage des Hitler-Stalin-Paktes, auch russische Soldaten in Polen
einmarschierten?“ (81)
Gegenüber dem alten Verbündeten Polen begründete Stalin sein Vorgehen damit, dass
der mit Polen bestehende Nichtsangriffspakt hinfällig geworden sei, da der polnische
Staat infolge des deutschen Einmarschs praktisch nicht mehr existiere.523 Der
Einmarsch der Roten Armee in das Territorium des ehemaligen Polens sei lediglich
eine Rettungsaktion zu Gunsten ihrer dort lebenden ukrainischen und belorussischen
Blutsbrüder.524
Die deutschen Besatzer vertrieben unmittelbar nach Kriegsbeginn hunderttausende
Polen, um Platz für Deutsche aus dem Baltikum oder Bessarabien zu schaffen. Stalins
Armeen deportierten gleichfalls zwischen Oktober 1939 und Juni 1941 ebenso viele
polnische Staatsanghörige. Davon wurden 150.000 in die Rote Armee gezwungen,
440.000 verschwanden in Straflagern oder Gefängnissen, bei anderen Zwangsarbeiten
wurden 20.000 eingesetzt und die übrigen nach Sibirien oder Zentralasien
verschleppt.525
Daraus stellt sich die Frage, wie diese Entwicklung bis hin zu einem grenzenlosen
Agieren Hitlers und Stalins in einem internationalen Umfeld anderer Mittel- und
Großmächte möglich war.
523
Taub, in Die Flucht, S. 133.
Ebd.
525
Ebd.
524
208
Tulla in der DDR
Tullas Ankunft in Schwerin nach ihrer Flucht spannt den Bogen vom NS-Regime zum
SED-Regime, das erst 1989 mit dem Fall der Mauer sein Ende nahm. Der gebürtige
Rostocker und ehemaliger Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Stasi, Joachim
Gauck, beschreibt einen womöglich prägenden Aspekt einer „fortdauernden
Entmündigung bei fortdauernden politischen Ohnmachtserfahrungen“526 für die
Menschen in diesem Zeitrahmen: „Von 1933 bis 1989 lernten Menschen ein Leitmotiv
zu verinnerlichen: `Beuge das Haupt, höre auf deine Angst, widersprich nicht und
gehorche´.“527 Über drei Generationen hinweg habe sich so ein Gefühl internalisiert
von „Es lohnt sich nicht, ich selbst zu sein.“528
Tulla gerät aus dieser bipolaren Situation (NS/SED) heraus immer wieder in
Bedrängnis: „Zum Beispiel soll sie sich in ihrem Betriebskollektiv vor den
versammelten Genossen `Stalins letzte Getreue´ genannt und mit nächstem Satz die
klassenlose KdF-Gesellschaft zum Vorbild für jeden wahren Kommunisten hochgelobt
haben.“ (40) Gleich dem Erzählrahmen über die NS-Zeit bleiben im Krebsgang auch
im Hinblick auf die DDR die Formen und das Ausmaß von Repressionen unscharf:
„Als Genossin durfte sie keine Westkontakte haben, bestimmt nicht mit ihrem
republikflüchtigen Sohn, der in der kapitalistischen Kampfpresse (…) Artikel gegen
den Mauer- und Stacheldrahtkommunismus schrieb, was ihr Schwierigkeiten genug
gemacht hat.“ (21) Die Protagonisten werden somit explizit weder im NS-Regime
noch im SED-Regime als Opfer ihrer Staatsform gezeichnet.
Veranschaulicht wird die Dimensionen hinter Pauls Flucht für Tulla durch die
Schilderung über das Schicksal von Gaucks Vater, der 1951 „abgeholt“ wurde: „Wir
verwendeten denselben Begriff, wie andere ihn in der Zeit der Nazi-Herrschaft
verwendet hatte. Abgeholt werden konnte man zu Stalins Zeiten mit oder ohne Grund,
vornehmlich aber ohne Grund, weil die Zahl der Sklavenarbeiter, die man brauchte
und der Feinde, die man aus neurotischen Gründen zu erkennen meinte, groß war.“529
526
Gauck, in Trauma und Gesellschaft, S. 17.
Ebd.
528
Ebd., S. 25.
529
Ebd., S. 15.
527
209
Der Kontakt zu einem in den Westen geflüchteten DDR-Bürger erbrachte Gaucks
Vater eine Verurteilung zu „zweimal 25 Jahren Zwangsarbeit (in Sibirien), einer
damals eher milden Strafe. Viele Tausende erlebten ein ähnliches Schicksal.530 Die
Anpassung der erwachsenen Tulla an das Leben in der Diktatur der DDR, als „SEDMitglied und ziemlich erfolgreiche Leiterin einer Tischlereibrigade“ (67) rückt durch
Gaucks Schilderung in eine andere Perspektive:
(…) die pure Anwesenheit des Faktischen (führte) dazu, selbst größte moralische
Widerstände vieler Menschen zu überwinden. Viele hatten sich angewöhnt, in
den Status einer begrenzten (…) unüberzeugten Minimal-Loyalität einzutreten.
Es ist interessant, dass es quasi mit diesem Hilfsmittel der Minimal-Loyalität lang
funktionieren kann, dass eine Mehrheit der Gesellschaft in einer relativ großen
Distanz zum politischen System lebt.531
Die inneren Prozesse hinter dieser äußeren Anpassung in einer Diktatur folgen einer
ohnmächtigen Suche nach Ordnung, motiviert von der Unmöglichkeit, den Staat zu
ändern: „Es gab, und zwar nicht aus Gründen der Einsicht, sondern aus Gründen der
Ohnmacht, eine Neigung zur Internalisierung dessen, was man – von außen betrachtet
– eigentlich immer noch ablehnte.“532
Bei Tulla zeigt sich dieses Ordnungsdenken in den brennenden Kerzen und ihren
Tränen an Stalins Todestag. In diesem Bild verschmelzen beide Diktaturen, die Tulla
in sich trägt: die götzengleiche Verehrung eines „Führer“ sieht über die Inhalte hinweg
und stellt das äußerlich sichtbare Glaubensbekenntnis, das nach innen dringt, in den
Mittelpunkt. Der Glaube wird gestützt durch eine Idealisierung, die aus dem
Ordnungsdenken erwächst: Faschismus als Antipode zum Kommunismus;
Kommunismus als Antipode zum Kapitalismus. „Die DDR als antifaschistische
Alternative zum kapitalistischen Ausbeutersystem, (…) war plötzlich gar nicht mehr
so schlimm.“533
530
Ebd.
Ebd., S. 17f.
532
Ebd.
533
Ebd., S. 18f.
531
210
Im zweiten Kapitel „Wiederholen“ wird neben der Weitergabe von Traumata auch
herausgearbeitet, wie sich die Erfahrung aus dem Leben in Diktaturen über mehrere
Generationen hinweg übertragen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Analyse
unbewusste Denkstrukturen und Handlungen als Symptome „transgenerationeller
Übertragung“, wie sie sich im Krebsgang darstellen. Zuvor jedoch muss zeitlich noch
einmal zurückgegangen werden in die Epoche zwischen 1933-45, um in einem
gesonderten Abschnitt zwei historische „Phänomene“ aufzugreifen, die als das
eigentlich „Unerklärliche“ der nationalsozialistischen Zeit in Deutschland in die
Geschichte eingegangen sind: Antisemitismus und Holocaust.
211
Abschnitt „Antisemitismus“
212
Vorbemerkung
In diesem Abschnitt gilt es aufzuzeigen, wie im Krebsgang der Weg von den
Ursprüngen der christlichen Judenfeindlichkeit bis in einen „latenten
Antisemitismus“534 in der Gegenwart reflektiert ist. Als wichtige Etappen werden
dabei die Ursprünge des modernen, rassenideologisch geprägten Antisemitismus im
Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die radikalisierenden Tendenzen nach dem
Ersten Weltkrieg und nicht zuletzt Hitlers obsessiver Antisemitismus näher untersucht.
Bei der Betrachtung des Antisemitismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem
Zeitraum, in dem die Novelle ihren Anfang nimmt, rücken für den Erkenntnisgewinn
insbesondere zwei Fragestellungen in den Vordergrund. Erstens: wie die latente
Judenfeindlichkeit in Deutschland und Europa in einen gewaltbereiten Antisemitismus
mutieren konnte. Zweitens: ob der Antisemitismus auslösendes Moment für den
Holocaust war oder nur einer der Wegbereiter in die Katastrophe.535 Hierüber besteht
bis heute Uneinigkeit unter Historikern.
Ian Kershaw, `German Popular Opinion and the „Jewish Question”, 1939-1943: Some further Reflections´, in
Michael Marrus, (Hg.), The Nazi Holocaust. Historical Articles on the Destruction of European Jews, Bd., 5/1,
London, 1989, S. 201.
535
vgl. Burrin, S. 8f.
534
213
Die Verteilung von Antisemitismus im Schweizer Gefängnis
In Frankfurters Haftanstalt Sennhof entspricht „der Anteil von Antisemiten“ (81) in
etwa dem, „was sich außerhalb der Mauern erkennen ließ: ein, die gesamte
Eidgenossenschaft betreffend, ausgewogenes Verhältnis.“ (ebd.). Im Kontext der
„Verteilung von Antisemitismus“ birgt der Begriff „Eidgenossenschaft“ zwei
Assoziationen. Die erste Bedeutung ergibt sich aus der Mehrsprachigkeit der
Eidgenossenschaft: „Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und
Rätoromanisch.“536 Drei dieser Sprachen stehen für die größten
kontinentaleuropäischen Staaten Deutschland, Frankreich und Italien und verweisen
damit auf die zentraleuropäische „Verteilung des Antisemitismus“. Dieser Aspekt wird
im nachfolgenden Abschnitt betrachtet. An dieser Stelle soll das Hauptaugenmerk auf
der zweiten Assoziation liegen, die sich aus dem Begriff der „Eidgenossenschaft“
ergibt. Während dieser Begriff im Hinblick auf die Schweiz deren förderale Struktur
bezeichnet, ist eine „Genossenschaft“ im allgemeinen Sinne eine auf einen
gemeinsamen Zweck ausgerichtete Gruppe. Konzeptionell entspricht dieses dem Kern
der „Volksgemeinschaft“ als ein Kernpfeiler im nationalsozialistischen System zur
Umsetzung der Ideologie im „Dritten Reich“.
Die Assoziation der „Volksgemeinschaft“ richtet den Blick auf die „Verteilung des
Antisemitismus“ in der deutschen Bevölkerung nach 1933. In einer Rede im Sommer
1925 erklärt Hitler: „Der Wert des Menschen (…) und sein Wert für die
Volksgemeinschaft werden nur ausschließlich bestimmt durch die Form, in der er der
ihm zugewiesenen Arbeit nachkommt.“537 Frei erläutert dazu:
In seinem oft wiederholten Bekenntnis zu diesem Konstrukt völkischer Ideologie
trafen rassenbiologische Vorstellungen, Antisemitismus und `Lebensraum´ - Idee
zusammen: Nur als eine homogene und willensstarke, von allen inneren
Auseinandersetzungen und Schwächen befreite `Volksgemeinschaft´, so Hitler´s
These, werde Deutschland schließlich in der Lage sein, sich seiner äußeren
Feinde zu erwehren und den erforderlichen `Lebensraum´ zu erobern.538
536
Anmerkung: seit 1999 im Artikel 4 der Schweizerischen Bundesverfassung verankert.
Hitler, Reden I, S. 96f (12.6.1925) zitiert in: Frei, 1945 und Wir, S. 111.
538
Frei, ebd.
537
214
Hieran knüpft sich die Frage nach der Rezeption der antisemitischen Ideologie in der
Bevölkerung. Ian Kershaw kommt nach einer Untersuchung der antisemitischen
Kampagne des Jahres 1935, des Pogroms vom November 1938 und der Phase der
Deportation und Massenmorde – zu der Schlussfolgerung, dass die Verfolgung der
Juden ein breites Spektrum von Reaktionen hervorgerufen habe. Die Masse der
Bevölkerung, geprägt durch antisemitische Vorurteile und mehr oder weniger
beeinflusst von der NS-Propaganda, habe gesetzliche Beschränkungen für Juden
befürwortet, Gewaltexzesse jedoch abgelehnt. Paranoide Judenhasser seien ebenso in
der Minderheit gewesen wie diejenigen, die aus christlichen oder liberal-humanitären
Motiven den nationalsozialistischen Rassismus abgelehnt hätten.539
Kershaws Schlussfolgerung zum Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung Mitte
bis Ende der dreißiger Jahre – dem Zeitpunkt der Inhaftierung Frankfurters - lautet:
„Das Hauptziel der NS-Propaganda, die Bevölkerung zu leidenschaftlichem Hass
gegen Juden aufzustacheln, (ist) fehlgeschlagen.“540 Diese Diagnose spiegelt sich in
der Ambivalenz wider, mit der man Frankfurter in der Haftanstalt gegenübertritt,
„welcher Makel dem Juden Frankfurter anhing, welches Ansehen er zeitweise genoß.“
(81)
Das Resümee Kershaws und Grass´ Verortung des Antisemitismus als „gleichverteilt“
stehen der These vom „eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen“ entgegen, mit
der vor allem Daniel Goldhagen541 gearbeitet hat. Dem amerikanischen Historiker
zufolge hat „Deutschland die `Eliminierung der Juden´ zu einem `nationalen Projekt´
gemacht“.542 Goldhagen setzt damit eine besonders gefährliche Form des
Antisemitismus in der deutschen Nationalkultur voraus.543 Da diese These „auf einer
sehr extensiven Interpretation des Schweigens (beruht), das in den Quellen zur
Reaktion auf den Holocaust vorherrscht“, erachtet Peter Longerich Goldhagens
Annahme als „weitgehend spekulativ“.544 Mit Blick auf die schwierige Beweisführung
539
Kershaw zitiert in: Frei (aktueller Forschungsstand), ebd., S. 11.
Ebd.
541
vgl. Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Berlin, 1998.
542
Burrin, S. 9.
543
Ebd.
544
Longerich, S. 14.
540
215
dafür, „dass die Feindseligkeit gegenüber den Juden in Europa oder selbst in
Deutschland vor der Katastrophe ein außergewöhnliches Ausmaß erreicht hatte“545,
erachtet auch Burrin Goldhagens Theorie inzwischen als weitgehend isoliert.546
Ein weiteres Indiz gegen die Annahme eines „eliminatorischen Antisemitismus“ mag
sich in einem Aspekt der Denunziationen während der NS-Zeit finden lassen.
For the most important point to note about the prosecutions for `racial
defilement´ is how most of them originated - not as the result of Gestapo
investigations, but as the result of denunciations by members of the public. (…)
Does this confirm the thesis that most ordinary Germans were anti-Semites? No.
At most, denouncers amounted to just 2 per cent of the population. What it does
suggest is that anti-Semitic legislation was a powerful weapon in the hands of a
minority of Germans: (…) the lawyers (…) and the Gestapo.547
In indirekter Weise bestätigt die Figur Hedwig Gustloff, die Ehefrau Wilhelms,
Fergusons Schlussfolgerung. Sie arbeitet in der neutralen Schweiz „bei einem
Rechtsanwalt Moses Silberroth“ (9f), „ohne sich ihrer völkischen Gesinnung wegen
überwinden zu müssen.“ (ebd.)
Bezüglich der Wirkung der antisemitischen NS-Politik unterscheidet Ian Kershaw
zwischen der Bevölkerung und den regimenahen Kreisen. Innerhalb der NS-Bewegung
habe der Antisemitismus mit Sicherheit integrierend gewirkt, für die Beziehung
zwischen Volk und Regierung gelte dies jedoch nicht. Hier sei in erster Linie die
Attraktivität der vom Regime propagierten Vorstellung einer scheinbar sicheren
sozialen, politischen und moralischen Ordnung, die sich im Begriff der
„Volksgemeinschaft“ subsummierte – ausschlaggebend gewesen.548
Der Antisemitismus als verbindendes Element innerhalb der NS-Bewegung spiegelt
sich in der Figur Wilhelm Gustloff. Obwohl dessen Vorbild Gregor Strasser als Hitlers
Hauptgegenspieler von Nazischergen ermordet worden ist und Gustloff „kein Bild“
des Mentors aufstellt (27) steht er in der „Judenfrage“ seiner Partei nahe. Gleichfalls
545
Burrin, S. 10.
Ebd.
547
Ferguson, S. 261f.
548
Kershaw zitiert in: Longerich (aktueller Forschungsstand), S. 12.
546
216
erachtet er diese als „unaufschiebbar“ (27). Die Begeisterung für die Konzeption der
„Volksgemeinschaft“ und das daraus erwachsende Gefühl von Sicherheit, sind im
Krebsgang vor allem in den Figuren August und Erna Pokriefke aufgegriffen (vgl.
Abschnitt: „Nationalsozialismus“).
Aus seiner Untersuchung leitet Kershaw ab, dass „die permanente Radikalisierung der
antijüdischen Politik (…) daher kaum das Ergebnis populärer Forderungen gewesen
sein“ können549. In der `Judenfrage´ habe das Regime nicht mit einem plebiszitären
Mandat, sondern zunehmend autonom gehandelt. Die Geheimhaltung der `Endlösung´
sei der wichtigste Beleg dafür, dass das Regime sich darüber auch im Klaren war.550
Die mangelnde Unterstützung für den radikalen Antisemitismus durch die
Bevölkerung spiegelt sich im Krebsgang indirekt: das Opfer von Tullas Denunziation
ist Studienrat Oswald Brunies. Als Beamter ist er qua Status Teil des
nationalsozialistischen Systems, das ihm zum Verhängnis wird: im
Konzentrationslager Stutthof verliert er sein Leben. (211) Der „Jude Itzig“, Eduard
Amsel551 hingegen wird „nur“ vom Hof gejagt (106)552. Man entledigt sich seiner
Präsenz.
Dieses Unsichtbarmachen entspricht den tatsächlichen Reaktionen in weiten Teilen der
Bevölkerung. Der Verdrängungsmechanismus reichte bis in die osteuropäischen
Konzentrationslager, da „weite Kreise der deutschen Bevölkerung, darunter Juden
ebenso wie Nichtjuden, entweder gewusst oder geahnt haben“, was in Polen und
Russland geschah.553 Doch blieben Wissen und Ahnungen über den industriellen
Genozid nicht zuletzt aufgrund einer Mischung aus relativ geringfügigen
Informationen und wohl auch unzureichender Vorstellungskraft schemenhaft:
549
Ebd.
Ebd.
551
Anmerkung: Für den reichen Vater wird das Synonym „der Jud Amsel“ verwendet, Eduard wird jedoch nach
dessen Tod 1917 katholisch getauft. – vgl. Bernhardt, S. 70 und Hundejahre, S. 33ff.
552
Grass, Hundejahre, S. 216.
553
David Bankier zitiert in: Longerich (aktueller Forschungsstand), S. 15.
550
217
Die diffusen Wechselströme von Ahnung und Verdrängung äußert sich in Tullas
Beobachtung des „Knochenbergs“ (100): „Schließlich, sagt er, sei es die halbwüchsige
Tulla gewesen, die in Kriegszeiten und also inmitten willentlich Blinder abseits der
Flakbatterie Kaiserhafen eine weißlich gehäufte Masse als menschliches Gebein
erkannt, laut den Knochenberg genannt habe: `Das issen Knochenberj!“ (100). Tulla
ist unfähig oder unwillig, ihre Beobachtung mit dem nahe Danzig gelegenen KZStutthof in Verbindung zu bringen und hält sich an einer abstrakten Beschreibung fest,
die das „menschliche“ des Knochenbergs nicht explizit zu denken wagt. Die
vollkommene Verdrängung zeigt sich in Studienrat Brunies: anstatt Deutsch und
Geschichte zu unterrichten „immigriert“ er in die „tote“ Gesteinswissenschaft.554
Tullas Verdrängung und die innere Immigration Brunies´ waren typische Reaktionen
in der Gruppe der Mitläufer: „Um sein Gewissen zu beschwichtigen, habe man
Informationen zu verdrängen versucht, um Schuldgefühle nicht aufkommen zu lassen,
habe man die `Flucht ins Private und ins Nichtwissen´ ergriffen.“555 Neben dem
Verdrängen motiviert aus Ignoranz, Indifferenz oder Schuldgefühlen verweist der
israelische Antisemitismusforscher David Bankier auf eine entscheidende, bereits
erwähnte, Barriere für die Wahrnehmung: Wegen der monströsen und beispiellosen
Dimension des Verbrechens hätten selbst Gegner des Regimes vorhandene
Informationen kaum zu einem Gesamtbild zusammensetzen können.556
Auf Seiten der Opfer des Antisemitismus ist die aus diffusem Wissen und Ahnen
erwachsene Angst in der Reaktion Frankfurters beschrieben: „Überdies wuchs sich
seine (Frankfurters) Berliner Kurzvisite bedrückend aus, sobald er in in- und
ausländischen Zeitungen Berichte über Konzentrationslager in Oranienburg, Dachau
und anderenorts las. So muss gegen Ende fünfunddreißig der Gedanke an Selbstmord
aufgekommen sein und sich wiederholt haben.“ (17) Diese Sequenz verweist auf die
Anfänge der NS-Antisemitismuspolitik, die Nürnberger Gesetze vom 15. September
1935, in denen nach „Ariern“ und „Nichtariern“ gesetzlich unterschieden worden war.
554
Grass, Hundejahre, S. 701.
Bankier zitiert in: Longerich (dto.), S. 16.
556
Ebd.
555
218
Auf den „latenten Antisemitismus“, der Kershaw zufolge unzweifelhaft innerhalb der
deutschen Bevölkerung existierte (s.o.), verweist Tullas abwertende Bezeichnung
„Itzig“ für Anselm. Der Begriff „Itzig“ wird seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
umgangssprachlich abwertend für Juden gebraucht.557 Der „latente Antisemitismus“ ist
zusammen mit dem „Fehlen einer in der Gesellschaft verankerten, organisierten
Abwehr des Antisemitismus vor 1933 dafür verantwortlich (gewesen), dass die
antisemitische Politik des Regimes sich auf eine fast unaufhaltsame Weise
radikalisieren konnte.“558 „Latenter Antisemitismus“ und die fehlende
institutionalisierte Abwehr gegenüber Judenfeindlichkeit reflektieren sich im
Krebsgang in der Figur des misshandelten Onkels von Frankfurter. Anstelle seines
rechtsradikalen Täters (16f) wird der Onkel von der Berliner Polizei „verhört“. (17)
In dieser Sequenz tritt eine Zielgruppe zutage, die sich als besonders anfällig für die
radikalisierte NS-Antisemitismuspolitik erwies. Die fehlende Popularität dieser Politik
in der breiten Bevölkerung kann als ein Indiz für die Konzentration der
Radikalisierung auf bestimmte Gruppen gewertet werden. Verschiedene Historiker
„haben darauf aufmerksam gemacht, dass der Gewalttaten verübende
nationalsozialistische Mob einen erheblichen Teil der männlichen Bevölkerung
repräsentierte und dass insbesondere Jugendliche dazu neigten, sich an solchen von
Parteiaktivisten organisierten Gewalttaten zu beteiligen beziehungsweise ihnen offen
zuzustimmen.“559
In der Hauptstadt des „Reiches“ wird der Onkel „von einem jungen Mann, der laut
`Jude, hepp, hepp´ schrie, am rötlichen Bart gezerrt“ (16). Auch sind es im Krebsgang
ausschließlich „Studenten, die sich lauthals der arischen Rasse zuzählten“ (16). Dieser
Vorfall am Beginn der Novelle ist auf das Jahr 1935 datiert (17) und spiegelt die
557
Bernhardt, S. 82.
Kershaw zitiert in: Longerich, (dto.) S. 14.
559
Longerich, S. 19.
558
219
„zweite Welle jugendlicher Übergriffe und Ausschreitungen“, die die antisemitische
Anhängerschaft der NSDAP in diesem Jahr in Gang gesetzt hatte.560
Eingeleitet wurden die Ausschreitungen durch antisemitische Klischees, die sich die
NS-Propaganda zum Inhalt machte:
Die Hintergründe für die neue (Anm. d. Autorin: zweite) Welle sind komplex.
(…) Ganz allgemein handelte es sich um den Versuch, zwei Jahre nach der
Machtergreifung die weit verbreitete Unzufriedenheit und Apathie in der
Bevölkerung aufzufangen und die offenkundigen Mißstände, die in breiten
Kreisen der Bevölkerung empfunden und artikuliert wurden, auf das Wirken von
inneren Störenfrieden und Feinden zurückzuführen. Die nach wie vor miserable
wirtschaftliche Lage sollte dem negativen Einfluss der Juden in der Wirtschaft
zugeschrieben werden.561
Entsprechend schreibt der „Parteigenosse Diewerge“ im Krebsgang über den „Juden
Frankfurter“, dieser „sei nicht nur ein schwächlicher, sondern ein dem Rabbi-Vater auf
der Tasche liegender, so fauler wie verbummelter Student gewesen, ein stutzerhaft
gekleideter Nichtsnutz“ (16).
Um die 1940er Jahre trat eine Komponente hinzu, die im Krebsgang in der Figur von
Tullas Cousin Harry Liebenau aufgegriffen wird, der „an einer der vielen rückläufigen
Fronten kämpft“ (108) und in Tullas älteren Brüdern, die beide gefallen waren (77).
Die Historiker Hans Mommsen und Dieter Obst sind überzeugt, dass die Bevölkerung
seit Beginn der 1940er Jahre „von der Bewältigung der immer stärker den
individuellen Lebensbereich erfassenden Kriegseinwirkungen weitgehend absorbiert
war.“562 Auch Marlis Steinert führt die Gleichgültigkeit gegenüber jüdischen
Schicksalen von den frühen vierziger Jahren an unter anderem auf die Tatsache
zurück, „dass nur noch wenige Deutsche direkte Kontakte zu Juden hatten; man war in
erster Linie mit den eigenen Problemen angesichts des Krieges beschäftigt.“563
560
Ebd. S. 75. Anmerkung: Die ersten Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte fanden im Zeitraum zwischen
dem Weihnachtsgeschäft 1934 und Februar 1935 statt.
561
Longerich, S. 76.
562
Vgl. H. Mommsen; D. Obst, `Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 19331943´, S. 374-485 in H. Mommsen; S. Willems, (Hg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich, Düsseldorf, 1988.
563
Marlies Steinert zitiert in: Longerich, S. 10.
220
Diese wenigen Berührungspunkte zwischen Nichtjuden und Juden spiegeln sich im
Krebsgang: ein großer Teil der Novelle spielt zur Zeit des Nationalsozialismus, dessen
Kernpfeiler der Antisemitismus war. Neben David Frankfurter und dessen Onkel gibt
es jedoch kein weiteres jüdisches Figurenensemble. Der „Itzig“ spielt keine aktive
Rolle, sondern erscheint lediglich in Tullas Erinnerung in der Tischlerei. (109) Die
Figur selbst bleibt im Verborgenen. Außer dem Mord Frankfurters an Gustloff und den
Repressalien Jugendlicher gegenüber dem Onkel – beide Ereignisse fallen in die Zeit
vor dem Krieg - gibt es keine Kontakte zwischen Juden und Nicht-Juden. Zum
Zeitpunkt des Mordes an Gustloff ist Tulla acht Jahre alt und trauert um ihren
ertrunkenen Bruder Konrad. (24) Von einem „Mord und dem Mörder“ (29)
Frankfurter hat sie nie etwas gehört, „nur Märchenhaftes über ein Schiff.“ (ebd.)
221
Der Antisemitismus als europäisch verteiltes Phänomen
Wie eingangs dargestellt, deutet „der Anteil von Antisemiten“ (81), der in der
„gesamte(n) Eidgenossenschaft“ ein „ausgewogenes Verhältnis“ (ebd.) aufweist, über
die Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch auf die Verteilung des
Antisemitismus in Zentraleuropa hin. Verstärkt wird diese Lesart des Antisemitismus
als europäisch „verteiltes“ Phänomen in der Beschreibung Berns – der Hauptstadt der
neutralen Schweiz - als „vermeintlich sichere(r) Ort“ (16), an dem Frankfurter
antisemitischen Repressalien zu entkommen versucht.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts grassierte der Antisemitismus in ganz Europa.564
Unterschiede zeigten sich lediglich in seiner Präsenz im öffentlichen Raum, die nach
Burrin vor allem auf den Grad der Modernisierung und die Art der politischen Kultur
zurück zu führen waren.565 In Ländern mit liberalem Regime und einer kommerziellen
Kultur wie England und Holland war die Situation der Juden am besten. Schematisch
gesehen am schlechtesten gestaltete sich das Leben der Juden dagegen in autoritären
Staaten klerikaler Ausrichtung mit einer monarchistischen, von Großgrundbesitzern
geprägten Kultur wie Rumänien und Russland. Dort kam es häufig zu Pogromen, eine
Emanzipation der Juden war nicht vorhanden.566
Letzteres reflektiert sich in der Figur Marineskos, der in Odessa aufwächst - dem Ort,
an dem die ersten russischen Pogrome stattfinden (1821, 1849, 1859, 1871)567.
Marineskos jüdische Identität ist nur schemenhaft; seine multikulturelle Herkunft
erhebt das Bild des heimatlosen und vertriebenen Juden. Die Heimatlosigkeit findet
sich in der Sprache wieder. Er spricht „ein Mischmasch aus vielerlei Sprachen“, das
von „jiddischen Einschiebseln“ „durchsuppt“ ist (13). Durch Vater Marinesko, einen
im rumänischen Heimatland zum Tode Verurteilten, wendet sich der Blick gleichfalls
auf die Kategorie „autoritäre Staaten“ in Europa.
564
Burrin, S. 40.
H. Mommsen; D. Obst, `Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933-1943´,
in H. Mommsen; S. Willems, (Hg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich, Düsseldorf, 1988, S. 374-485.
566
Ebd.
567
vgl. Ferguson S. 60.
565
222
Niall Ferguson verweist auf die Unterstützung, die die Nationalsozialisten als
“Architekten” des Holocaust in vielen europäischen Ländern fanden:
In short, while the `final solution´ was unmistakeably German in design, it is
impossible to overlook the enthusiasm with which many other European peoples
joined the killing. (…) Collaborators could be found not only in countries that
allied themselves with Germany – Italy, Romania, Hungary and Bulgaria – but
also in Norway, Denmark, Holland, Belgium, France, Yugoslavia, Greece and the
Soviet Union, countries the Germans invaded and occupied.568
Die Motive für diese Kollaboration lagen nicht ausschließlich in der Angst vor den
Besatzern: “Some were undoubtedly motivated by a hatred of the Jews as violent as
that felt by the Nazi leadership. Others were actuated by envy or base greed (…) Selfpreservation also played its part.“569
Die eingangs formulierte Frage, ob der gewaltbereite Antisemitismus in Deutschland
und Europa ursächlich für den Holocaust war, schließt sich an dieser Stelle an.
Historiker versuchen sich dieser Fragestellung durch einen Blick zurück in die
Geschichte des Antisemitismus zu nähern.
568
569
Ferguson, S. 454f.
Ebd., S. 455.
223
Die Geschichte vom feindlichen zum gewaltbereiten Antisemitismus im
Krebsgang
Die Frage nach der Bedeutung des Antisemitismus für den Holocaust rückt zwei
unterschiedliche Kategorien in den Blickpunkt: zum einen jene allgemeiner bzw.
langfristiger Natur und zum anderen jene, die in den unmittelbaren Kontext des NSRegimes gehört. Burrin ordnet zu den langfristigen Faktoren die christliche
Judenfeindlichkeit und die Epoche der Moderne bzw. deren zerstörerisches
Potential.570 Im Krebsgang finden sich Bezüge zur Geschichte des Antisemitismus
vorwiegend auf einer subtextualen Ebene.
Der Antisemitismus wurde durch die Jahrhunderte aus einem Wechselspiel aus
religiöser Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, sozialen und wirtschaftlichen Spannungen
gespeist.571 Entsprechend lange instrumentalisierten elitäre Institutionen, Volk und
Kirche diese Phänomene für eigene Zielsetzungen. Im ersten Jahrtausend, dessen
allgemeinen kulturellen Rahmen das Christentum bildete, gab es zwar Spannungen
zwischen den beiden Gruppierungen Christen und Juden, doch wurde das Verhältnis
„nicht von Gewalt bestimmt“572. Burrin vergleicht die Auseinandersetzungen mit
jenen, die man „in der Beziehung zwischen verwandten Sekten und Religionen
antrifft“573. Erst mit der wachsenden Kommerzialisierung der Wirtschaft im 12.
Jahrhundert, in der Juden eine exponierte Stellung im Waren- und Geldverkehr
einnahmen, entwickelte sich in Nordeuropa „eine Judenfeindlichkeit, die stärker von
Gewalt geprägt war und eine neue, im engeren Sinne phantasierte Dimension aufwies,
wie sie in den Anschuldigungen des Ritualmords, der Hostienschändung oder der
Brunnenvergiftung zum Ausdruck kam.“574
Im Krebsgang ist das Motiv des Ritualmords aufgegriffen: Frankfurter „opfert“
Gustloff, um auf diese Weise „sein Volk zum Widerstand aufzurufen“ (28). In
alttestamentarischen Bezügen reflektiert sich gleichfalls der Ritualmord als das
570
Burrin, S. 27.
Ebd.
572
Ebd.
573
Ebd.
574
Ebd.
571
224
vermeintliche „Motiv“ Frankfurters: dieser wird zum „Helden von biblischem
Zuschnitt“ (ebd.) im „Kampf David gegen Goliath“ (ebd.). Auch das Motiv der
Brunnenvergiftung findet sich indirekt in der Novelle. Vor Kriegsbeginn hat jemand
den Hund vergiftet, in dessen Hütte Tulla nach dem Tod ihres Bruders eine Woche
lebt (66): „`ain Kumpel von dem Itzich“ (108). Die Formulierung „Hofhund“ (ebd.)
deutet auf den Wachhund einer Stätte, an der Ware produziert und Umsatz erzielt
wird. Die von Burrin umrissenen Anfänge des gewalttätigen Antisemitismus, der mit
der Kommerzialisierung im 12. Jahrhundert einsetzt (vgl. oben), werden hier
assoziiert. Die Tat der Vergiftung des Hofhundes assoziiert das Bild der von Juden
„vergifteten Brunnen“ als Bestandteil eines Hofes.
Diesen beiden Urklischees „Ritualmord“ und „Brunnenvergiftung“ aus den Anfängen
der gewaltbereiten Judenfeindlichkeit werden zwei der Leitklischees aus dem so
genannten „modernen Antisemitismus“575 gegenüber gestellt. Burrin umschreibt die
prägenden Vorurteile dieser Form der Judenfeindlichkeit mit: „der Jude, der den
`jüdischen Krieg´ anzettelt, um daraus Profit zu schlagen oder die nichtjüdischen
Nationen, die sich ihm widersetzen, gegeneinander zu hetzen.“576 Entsprechende
Aussagen finden sich auf Konnys Homepage: „Ohne den Juden wäre es (…) nie zur
größten Schiffskatastrophe aller Zeiten gekommen. Der Jude hat….Der Jude ist
schuld.“ (14) Auch die „Frage nach den Hintermännern“ (35) des jüdischen
„Meuchelmörder(s)“ Frankfurter wird gestellt: „Auftraggeber `der feigen Mordtat´ sei
das organisierte Weltjudentum“ (ebd.). Ergänzt wird das Klischee des „Profitierens“
durch die Beschreibung Frankfurters als „ein dem Rabbi-Vater auf der Tasche
liegender, so fauler wie verbummelter Student“. (16)
In Europa tritt der moderne Antisemitismus auf, nachdem sich die christlich geprägte
Stigmatisierung der Juden im 17./18. Jahrhundert unter dem Einfluss der Aufklärung,
„die die Autorität der Kirche in Frage stellte und im Namen der Vernunft gegen
Vorurteile kämpfte“, zunächst verbessert hatte.577 Allerdings erfolgt die rechtliche
575
Ebd., S. 30.
Ebd., S. 36.
577
Ebd., S. 29.
576
225
Gleichstellung der Juden genau zu dem Zeitpunkt, als West- und Mitteleuropa von
Industrialisierung, Verstädterung, Massenpolitik und Nationalismus erschüttert
wurden.578 Aus verschiedenen Gründen gehörten die Juden zu den ersten, die von der
wirtschaftlichen Modernisierung profitierten: berufliche Spezialisierung, hoher
Alphabetisierungsgrad, städtische Standorte, typische Verbindungen innerhalb
ethnischer Minderheiten.579 Der verbesserte Status vieler Juden spiegelt sich in der
Berufswahl Frankfurters. Er studiert Medizin, und auch sein Vater und sein Großvater
haben studiert. (16)
Unter den von der Modernisierung nachteilig betroffenen Schichten bildet sich die
Vorstellung, die Juden seien die treibende Kraft hinter den laufenden
Veränderungen.580
Allgegenwart, Zusammenhalt und Fremdheit der Juden sowie das Bild einer
geheimen, verschwörerischen Macht – die neuen Verhältnisse in der Welt, mit
der Undurchsichtigkeit und Instabilität, die ein rascher Wandel mit sich bringt,
und insbesondere mit der Aufweichung der überkommenen Grenzen zwischen
den Konfessionen, den sozialen Schichten oder den Geschlechtern, gaben dem
judenfeindlichen Wahn beträchtliche Nahrung.581
Ausschlaggebend für diesen Wahn war die mit der Modernisierung einhergehende
Neuorientierung der Identität. Der Antisemitismus wurde zu einem Motiv mit
Ersatzfunktion im Rahmen einer Identität, die sich den Herausforderungen einer Welt
zu stellen versuchte, in der die alten Fundamente der christlichen Gesellschaft von der
heraufziehenden Moderne erschüttert wurden.582 Die durch Umbrüche ausgelöste
Identitätsfrage speiste sich aus dem Bedürfnis nach Selbstbehauptung und der diffusen
Angst vor Neuen. Die Legende vom Mord an dem „reinrassigen“ Schäferhund durch
den „Kumpel vom Itzich“ (108) im Krebsgang symbolisiert diese wahnhafte Angst.
Die Mechanismen der Identität werden mit Blick auf Mehrheitsgesellschaften deutlich:
578
Ebd.
Vgl. ebd., S. 31.
580
Vgl. ebd., S. 32.
581
Ebd., S. 33.
582
Ebd., S. 34.
579
226
Wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ist auch der Antisemitismus eine Waffe
im Kampf um Identität. Über solche Konstruktionen bringt die
Mehrheitsgesellschaft, die in der Regel einen Teil der betreffenden Gesellschaft
darstellt, ihre Ängste und Spannungen zum Ausdruck und versucht, die Zweifel
an der eigenen Identität zu überwinden.583
Die positive eigene Identität setzt somit die negative fremde Identität voraus. Im
Krebsgang spiegeln sich diese beiden Seiten des Identitätsaspekts in der abwertenden
Bezeichnung „Itzich“ (108), der vom Hof gejagt wird. Auf der Gegenwartsebene zeigt
sich die Negativinterpretation fremder Identität in der „Freizeitbeschäftigung“
rechtsradikaler Jugendlicher: „Negerklatschen“. (82)
Für Deutschland diagnostiziert Burrin aus dem modernen Antisemitismus eine
Besonderheit, die er als spezifisch für den nationalsozialistischen Antisemitismus
erachtet. Im Gegensatz zu Kershaw sieht Burrin integrative bzw. identitätsstiftende
Elemente im Antisemitismus für sämtliche Bevölkerungsgruppen. Die integrativen
Elemente führt Burrin vor allem auf den rassistischen Antisemitismus zurück, der sich
gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte und sich Begriffe aneignete, die zu dieser
Zeit wissenschaftlich anmuteten. Diese „Rassenlehre“ wurde populär durch die „neue
Welle des europäischen Kolonialimperialismus und die Ausbreitung des
Sozialdarwinismus.“584 Allerdings hielt das Konzept der “Rassenlehre” in Deutschland
erst relativ spät Einzug:
Because they came so much later to (be an) overseas empire, Germans adopted
`scientific´ racism at a relatively late date. There was no German translation of
Gobineau (…) until 1898. (…) they were more likely to apply imported theories
of Social Darwinism and `racial hygiene´ to Jews – the nearest identifiable `alien´
race – than to Africans or Asians.585
In der Novelle findet sich der Aspekt der „Rasse“ in der nationalsozialistischen
Ideologie im „Zuchtrüden“ Harras, der im Zwinger der Schutzpolizei eine Hündin
deckt, „aus deren Wurf des Führers Lieblingshund Prinz“ (65) hervorgeht. Eine
583
Ebd., S. 23.
Ebd., S. 35.
585
Ferguson, S. 26.
584
227
Verbindung zwischen der „reinen Rasse“ und dem „formbaren Menschen“ entsteht,
indem es immer „wenn es um den Hund ging“ auch um das formbare „Kind Tulla“
geht. (66)
Lediglich in Deutschland führten die „Rassetheorien“ des 19. Jahrhunderts in eine neu
erfundene Identität - „die des Ariers, des Germanen oder des nordischen
Menschen.“586 Im Krebsgang wird das Zusammenspiel aus der „höheren arischen
Rasse“ und dem Kolonialismus impliziert durch die gleichzeitige Nennung des
„Konzentrationslager(s) Buchenwald“ (41) und „der deutschen Kolonie im
brasilianischen Curitiba“ (ebd.). Die nordischen Länder Norwegen und Schweden als
Destinationsort der Gustloff (78) verweisen auf das Ziel einer homogenen
„Volksgemeinschaft“, bestehend aus „germanischen Ariern“. (vgl. Abschnitt
„Nationalsozialismus“)
In seiner 1946 veröffentlichten Schrift Die Massenpsychologie des Faschismus
betrachtet auch der (kommunistische) Soziologe Wilhelm Reich den „rassischen“
Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland als eine besondere
Entwicklung aus den sozialdarwinistischen Ideen des 19. Jahrhunderts:
Die theoretische Achse des deutschen Faschismus ist seine Rassentheorie. Das
Wirtschaftsprogramm der sog. 25 Punkte erscheint in der faschistischen Ideologie
nur als ein Mittel zur `Höherzüchtung der germanischen Rasse und ihres Schutzes
vor Rassenvermischung´, die nach Ansicht der Nationalsozialisten immer den
Niedergang der `höheren Rasse´ bedeutet. Die `Reinhaltung der Rasse und des
Blutes´ wäre daher die vornehmste Aufgabe einer Nation, zu deren Erfüllung
man jedes Opfer bringen müsste. Diese Theorie wurde in Deutschland und in den
besetzten Gebieten in Form der Judenverfolgung mit allen Mitteln in die Praxis
umgesetzt. Die Rassentheorie geht von der Voraussetzung aus, dass als `ehernes
Gesetz´ in der Natur die ausschließliche Paarung jedes Tieres mit seiner eigenen
Art gelte. (…) Bei jeder Kreuzung zweier Lebewesen verschiedener `Höhe´
müsse die Nachkommenschaft ein Mittelding darstellen. Die Natur erstrebe aber
eine Höherzüchtung des Lebens, daher widerspreche die Bastardierung dem
Willen der Natur. Die Auslese der höheren Art erfolge auch im Kampf ums
tägliche Brot, bei dem die schwächeren, also rassisch weniger wertigen Wesen
untergehen. (…) Dieses Gesetz lasse sich auf Völkerschaften übertragen (…).587
586
587
Burrin, S. 39.
Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, Wiesbaden, 2005, S. 85.
228
Im Krebsgang reflektiert sich die „Anschauung“ der „ordnenden Natur“ in der
Beschreibung des Juden Frankfurters als „kränkelnd“ (35) und „schwächlich“ (16). Er
fällt durch die Prüfungen seines Studiums, ist „faul“ und liegt „dem Rabbi-Vater auf
der Tasche“ (ebd.) Der Nationalsozialist Gustloff hingegen kann von seiner Krankheit
genesen (27).
Die eugenisch-darwinistischen Ideen als Basis des rassistischen Antisemitismus
geistern im Krebsgang auch in der zweiten Generation. Wiederholt macht Mutter Gabi
die „Gene“ für die Verfehlungen Konnys verantwortlich (67). Ihre Folgerung daraus
lautet: „Inzwischen bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß tief in ihm, und zwar
bis in die letzten Gedanken hinein, alles gründlich verdorben ist. (…) Da wird sich
nichts ändern lassen.“ (213). Indem sich die Pädagogin Gabi gegen jegliche
Verharmlosung der braunen „Pseudo-Ideologie“ (184) ausspricht und „linke
Positionen“ (ebd.) vertritt, offenbart ihre unreflektierte Aussage über die „Gene“ wie
Strukturen prägend wirken, die dem Sprecher meist nicht bewusst sind. Werden diese
Strukturen nicht offengelegt, besteht die Gefahr, dass sie unreflektiert von Mensch zu
Mensch und von Generation zu Generation weitergereicht werden.588
Mit Blick auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Antisemitismus und
Holocaust erachtet Burrin weder die Überreste christlicher Judenfeindlichkeit, noch
die Einflüsse eugenisch-darwinistischer Ideen oder den Aspekt der Identität als
Ursache für die extreme Gewalt und den Hass gegenüber Juden. „Die Deutschen
erwiesen sich nach 1933 nicht plötzlich als Judenfeinde, die sie insgeheim alle seit
langem schon gewesen wären.“589 Vielmehr sieht Burrin den Auslöser des extremen
Antisemitismus in Deutschland in einer bestimmten Art von Vorstellungswelten bzw.
in einer wahnhaften Interpretation der Realität:
Aber der Hass muss sich in Vorstellungen niederschlagen, wenn er Wirkung und
Bestand haben soll. Er muss Motive und Rationalisierungen besitzen, wenn
daraus Handlungen werden sollen. Diese Vorstellungen gilt es zu erfassen, und
588
589
Vgl. Hannes Fricke, S. 165.
Burrin, S. 15.
229
man muss versuchen zu verstehen, über welche Mechanismen die deutsche
Gesellschaft sie sich in solchem Ausmaß aneignete, dass jeder ernsthafte
Widerstand gegen eine radikale Verfolgung der Juden ausblieb.590
Der Politikwissenschaftler Winfried von Bredow teilt Burrins These einer
Wahnvorstellung als Voraussetzung für einen gewaltbereiten Antisemitismus:
Die sozialpsychologische Logik solcher Massengewalt, denn ihr wohnt in der Tat
eine solche Logik inne, fußt auf der Sündenbockstrategie, einem mit kollektiven
Ängsten besetzten und imaginär aufgebauschten Feindbild und der Tötung als
Reinigungs- und Heilungsakt. Entscheidend ist die Angst: Verschwörungsdenken
und kollektive Paranoia lassen sich mit ihrer Hilfe leicht in eine wahnhafte
Rationalität ummünzen. Wahn und Kalkül, das Imaginäre und die Rationalität
haben hier breite Schnittfelder.591
Das Abbild einer wahnhaften Interpretation der Realität, die zum Gewaltexzess führt
(dem Mord an David), findet sich am Ende der Novelle Im Krebsgang in der
Gerichtsszene. Konny äußert sich zur vorgegebenen jüdischen Identität Wolfgangs:
„Das ändert nichts am Sachverhalt. Allein ich musste entscheiden, ob die mir als
David bekannte Person als Jude sprach und handelte.“ (182) Auf die Frage des
Richters, gibt Konny an, niemals einem Juden begegnet zu sein: „`Für meinen
Entschluß war das nicht relevant. Ich schoß aus Prinzip´“ (ebd.). Burrins
Aufforderung, antisemitische Wahnvorstellungen durch Aufklärung aufzubrechen,
wird in der Novelle nicht entsprochen. Vielmehr wird jede Annäherung an den Kern
des Mordmotivs – etwa die Forderung Konnys nach einer Gedenkstätte für Gustloff als
Namensträger für das Trauma seiner Großmutter, unterdrückt, was im nachfolgenden
Kapitel „Wiederholen“ ausführlich dargestellt werden soll. Zu den Vorbedingungen
des Traumas seiner Großmutter, dem Nationalsozialismus mit seinem „rassistischen“
Antisemitismus (symbolisiert in dem Mord Frankfurters an Gustloff) kann somit nicht
vorgedrungen werden.
Die Hilflosigkeit der Elite gegenüber Konny mutiert schließlich in Zynismus, etwa
indem der Jugendstaatsanwalt: „für Wolfgang Stremplin (…) einen, wie er sagte
590
591
Ebd., S. 16.
Bredow, `Extreme Gewalt´.
230
`Nachweis arischer Herkunft´ vorlegte und sich dabei ironisch gab.“ (182) Die
vermeintliche Aufklärung, die Konny über den Holocaust bekommen hat, hält ihn
nicht von der Mordtat ab. Vielmehr ist ihm seine Mutter „mit ihrem dauernden
Auschwitzgerede oft auf die Nerven gegangen.“ (195)
Allein Paul sucht nach einer offenen Form der Aufklärung. Indem das Wahnhafte, d.h.
das vermeintlich „Positive“ und die Realität von Auschwitz, Diktatur und Krieg
nebeneinander gestellt werden, können die „Schnittflächen“ (s.o.: Bredow) bloßgelegt
werden. Auf einer fiktiven Elternversammlung von Konnys Schulklasse ruft Paul dem
Lehrer zu: „`Warum dieses Verbot? Wo bleibt die Toleranz!´ (…). Womöglich hätte
Konnys Vortrag mit dem Untertitel `Die positiven Aspekte der NS-Gemeinschaft
>Kraft durch Freude<´ etwas Farbe in das langweilige Unterrichtsfach Sozialkunde
gebracht.“ (184) Der Begriff „Farbe“ verweist auf eine facettenreiche Ambivalenz, die
sich durch die Offenlegung jener „positiven Aspekte der NS-Gemeinschaft“ (184)
veranschaulichen ließe.
Wie zuvor erwähnt, deutet Paul bereits im ersten Drittel der Novelle auf die
Notwendigkeit dieser ambivalenten Perspektive:
Menschen, die immer nur auf einen Punkt starren, bis es kokelt, qualmt zündelt,
sind mir noch nie geheuer gewesen. Gustloff, zum Beispiel, dem einzig des
Führers Wille das Ziel setzte, oder Marinesko, der in Friedenszeiten nur eines,
das Schiffeversenken übte. Oder David Frankfurter, der eigentlich sich selbst
erschießen wollte, dann aber, um seinem Volk ein Zeichen zu geben, eines
anderen Fleisch mit vier Schüssen durchlöcherte. (68)
Erst die Offenlegung des gesamten Spektrums - abgründige und verführende Anteile
in der Zeit zwischen 1933-1945 – scheinen jene „Mechanismen der deutschen
Gesellschaft“ offen legen zu können, die diese „sich in solchem Ausmaß aneignete,
dass jeder ernsthafte Widerstand gegen eine radikale Verfolgung der Juden
ausblieb.“592
592
Burrin, S. 16.
231
Die Figuren im Krebsgang gelangen nicht auf die (vorstehend) von Bredow
beschriebenen Schnittfelder zwischen Wahn und Realität. Schon einmal hat der Wahn
über die Realität triumphiert: „Ond maine Mama hädd nech aufheeren jekonnt, von
dem ieberall mit bunte Bilder jekachelten Schwimmbad zu schwärmen, in dem später
all die Helferinnen vonne Marine janz dichtjedrängt ham hocken jemußt, bis denn der
Russki mit sainem zwaiten Torpedo jenau da all die jungen Dinger zermanscht hat…“
(33) Erst indem die Schnittfelder erinnernd begangen werden, lässt sich jedoch deren
historische Entstehung erkennen:
Solche Schnittfelder entstehen (…) nicht von selbst. Sie werden vielmehr in
einem Identitätsdiskurs hergestellt oder, wie man heute in den
Sozialwissenschaften sagt: konstruiert. Die Konstrukteure sind Politiker,
Intellektuelle, zuweilen auch religiöse Führer. Ihr aufhetzender Diskurs bereitet
die Legitimation extremer Gewalt vor. Medien schüren die Gewaltstimmung, die
schließlich so aufgepeitscht ist, dass das Tötungstabu bröckelt. Der Mord
unterliegt nicht mehr einem Verbot, das man respektieren muss. Es wird
stattdessen zum Gründungsakt eines neuen, gereinigten Kollektivs. Diese
Dynamik entwickelt einen Sog, gegen den die Einzelnen nur schwer
ankommen.593
Der historische Auftakt dieser Dynamik erscheint in einer Parallele des NSDAPProgramms von 1920 und einer Äußerung Konnys. Während das Regime die
Auswüchse, die der Holocaust angenommen hatte, zumindest anfänglich zu verbergen
suchte594, wurde die Entrechtung der jüdischen Minderheit bereits im NSDAPProgramm von 1920 (Punkt 4) als Zielvorgabe aufgeführt: „Staatsbürger kann nur
sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist (…)
Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“595 Konny reflektiert dieses NS-Reglement
während seines Prozesses. Er habe nichts gegen Juden, sagt er gegenüber dem
Jugendstaatsanwalt: „Doch vertrete ich, wie Wilhelm Gustloff, die Überzeugung, dass
der Jude innerhalb der arischen Völker ein Fremdkörper ist. Sollen sie doch alle nach
Israel gehen, wo sie hingehören.“ (196)
593
Bredow, ebd.
vgl. Kershaw zitiert in: Longerich (aktueller Forschungsstand), S. 12.
595
Hartmut Jäckel, `Wenn einmal die Städte zertrümmert liegen´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“,
17.04.2008, S. 38.
594
232
Wie erörtert, wird der gewalttätige Antisemitismus im Krebsgang aus einem
historischen Kontext zwischen christlicher Judenfeindlichkeit bis hin zur Moderne
abgeleitet. Durch die zeitliche Umspannung des Phänomens Antisemitismus wird
dessen Bedeutung als Erklärungsansatz für den Holocaust eingeschränkt (s. auch
Kapitel „Holocaust“). Damit lässt sich der Krebsgang als literarisches Produkt dem
Lager jener Historiker zuordnen, die dem Antisemitismus als Ursache für den
Holocaust ein nur bestimmtes Maß an Bedeutung beimessen596 – etwa im Gegensatz
zu Saul Friedländer oder Daniel Goldhagen. Burrin meint hierzu: „Gibt es zwischen
der Katastrophe des Genozids und der Banalität, ja `Normalität´ des Antisemitismus
vor und während des NS-Regimes nicht doch einen deutlichen Unterschied? Unsere
Gesellschaften sind überfrachtet mit Vorurteilen, ohne dass dies zu solchen Tragödien
führte“.597 Indem in der Novelle darin offen bleibt, ob der „Kumpel von dem Itzich“,
der den Hofhund getötet hat (108), gleichfalls ein Jude war und die Aussage assoziativ
mit dem antisemitischen Klischee des „Vergiftens“ ummantelt wird, ist vorgeführt,
dass und wie die Mechanismen antisemitischer Vorurteile wirken.
596
597
Burrin, S. 10.
Ebd.
233
2. Kapitel: „Wiederholen“
234
Die transgenerationelle
Übertragung von
Schuldgefühlen und
Traumata
235
Die Schriftsteller eines Volkes sagen, was ist. Sie können das
Denken eines Volkes in Bewegung bringen durch Wahrhaftigkeit.
Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?
Ein Schriftsteller, Kinder, ist jemand, der gegen die
verstreichende Zeit schreibt.
Günter Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnecke
Denken und Handeln so einrichten, dass Auschwitz sich nicht
wiederhole.
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik
236
Vorbemerkung
Im Vergleich mit anderen Ländern formuliert Günter Grass im Jahr 1979 ein
Spezifikum im Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte:
Andere Völker sind auf fragwürdige Weise glücklicher, also vergesslicher.
Niemand wird das russische Volk für den stalinistischen Massenmord, verübt im
Namen der Revolution, schuldig sprechen. Nur vergleichsweise wenige Bürger
der Vereinigten Staaten von Amerika fühlen sich heute noch für das
amerikanische Kriegsverbrechen des Vietnamkrieges verantwortlich. England,
Frankreich, Holland haben das bis heute folgenreiche Unrecht ihrer
Kolonialherrschaft zu den Akten gelegt: es zählt nicht mehr. Das ist Geschichte.
Und die Geschichte geht weiter. Einzig den Deutschen ist kein Ausweichen
erlaubt. Je harmloser sie sich geben, umso unheimlicher sind sie ihren Nachbarn.
Ihr wirtschaftlicher Erfolg kann das moralische Vakuum ihrer unvergleichbaren
Schuld nicht verdecken. Kein Hinweis auf die unschuldigen Nachgeborenen, kein
Sichberufen auf die Verbrechen anderer Völker, nichts kann sie entlasten. Man
zeigt auf sie, sie zeigen auf sich selbst. Mit genauso pedantischer
Unerbittlichkeit, wie sie den Völkermord an sechs Millionen Juden geduldet,
geplant und vollzogen haben, fragen sie sich immer wieder nach den Gründen,
nach dem Grund und werden (von Generation zu Generation dringlicher) von
ihren Kindern gefragt. Auf alttestamentarische Weise überdauert die Schuld, sie
überträgt sich.598
Aus dieser sich „übertragenden Schuld“ stellt sich eine paradoxe Aufgabe: Wie kann
eine Schuld von einer „unschuldigen“ Generation angenommen werden und wie soll
damit verfahren werden? In einer Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag
des Kriegsendes vom 8. Mai 1985 finden sich Antworten darauf:
Sie (die Nachgeborenen) können nicht eine eigene Schuld bekennen für Taten,
die sie gar nicht begangen haben (…) nur weil sie Deutsche sind. Aber die
Vorfahren haben ihnen eine schwere Erbschaft hinterlassen. Wir alle, ob schuldig
oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. (…) Jüngere
und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen, zu verstehen, warum es
lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. (…) Wir suchen als Menschen
Versöhnung. Gerade deshalb müssen wir verstehen, dass es Versöhnung ohne
Erinnerung gar nicht geben kann.599
598
Grass, `Wie sagen wir es unseren Kindern´, S. 150-167 in ders., Aufsätze zur Literatur, Darmstadt, 1980, S.
151.
599
http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews/Reden-Richard-von-Weizsaecker,12166.629421/Rede-von-Bundespraesident-Rich.htm?global.back=/Reden-und-Interviews/%2C12166%2C0/Reden-Richard-von-Weizsaecker.htm%3Flink%3Dbpr_liste.
237
Vor dem Streben nach Versöhnung steht ein „praktisches“ Ziel für den Akt der
Erinnerung im Vordergrund: wie können nachfolgende Generationen lernen,
„Strukturen, die den Holocaust ermöglicht haben, zu verhindern.“600 Vor dem Diktum
der Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust scheint es jedoch nahezu unmöglich, die
Katastrophe in ihrer Entwicklung und ihren Auswüchsen zu erfassen. Hat Günter
Grass diese Diskrepanz in seiner Novelle Im Krebsgang zu überwinden vermocht?
600
Paul Hara, `Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse des deutsch-israelischen Forschungsprojekts´,
S. 273-284 in D. Bar-On, u.a., (Hg.), „Da ist etwas kaputtgegangen an den Wurzeln…“ Identitätsformation
deutscher und israelischer Jugendlicher im Schatten des Holocaust, Frankfurt, 1997, S. 284.
238
Das Diktum der Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust seit 1945 bis in die
Gegenwart der Dritten Generation
Kämpfe und Kriege tragen nicht ausschließlich den Tod in ihrem Kern, sondern auch
Verlierer und Gewinner.601 Durch epocheal Umwälzungen in der Vergangenheit haben
nachfolgende Generationen einen Nutzen ziehen können: die Französische Revolution
(1789) besetzt die Begriffe Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit mit seinerzeit neuen
Inhalten, der Amerikanische Bürgerkrieg beendet die Sklaverei (1865), über 60 Jahre
Frieden folgen den beiden Weltkriegen in Westeuropa. Hingegen endet Genozid bei
Sinnlosigkeit und Unverständnis.
Raul Hilberg, der „in einem heroischen Forscherleben den Gesamtumfang der Untaten,
von Griechenland bis Norwegen, von Frankreich bis zur Krim, darzustellen versucht“,
hinterlässt „eine bleibende Irritation“:
Die Frage nach den Motiven der Täter, überhaupt jede historisch-psychologische
Deutung des Geschehens hat er mit grimmiger Sachlichkeit in sich verschlossen.
Sie mag ihm überflüssig oder frivol erschienen sein angesichts des Gewichts
dessen, was sein Studium der Akten ans Licht brachte. (…) So gibt es von ihm
auch keine `Lehren´, die aus dem Holocaust zu ziehen wären: Er, der am meisten
zu sagen hätte ….602
Anders Primo Levi und Jean Améry, die bewusst den Weg der „Erkenntnis“
beschritten haben. Sie versuchten
ihr Schicksal im Rahmen der europäischen Philosophie zu verstehen, und suchten
den Dialog mit den Tätern. Sie erkannten, dass ihre Erfahrung in der
europäischen Philosophie keine Heimat hatte. Darum ihr Leiden am Schweigen
der Deutschen, der Europäer, trotz aller öffentlichen Anerkennung. (…) Améry
und Levi richteten ihre Schriften an die Deutschen, von denen sie die Bestätigung
ihrer Zeugenschaft durch grundlegende Verhaltensänderung erwarteten. Neue
Generationen wuchsen heran, Deutschland normalisierte sich und ließ Améry und
Levi emotional ins Leere laufen. Trotz offizieller Anerkennung sahen sie sich
hilflos vor dem Schweigen der Deutschen.603
Ari Kelman, `For what?´, “Times Literary Supplement”, 25.07.08, S. 15.
Lorenz Jäger, `Die Sache selbst. Zum Forschungsstand: Hilberg, Aly und die Vernichtungspolitik´,
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 27.01.2005, S. 33.
603
Susanne Klingenstein, `Nach Hiob. Elie Wiesels Erbschaft´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 5.11.2008, S.
N 5.
601
602
239
Dieses Schweigen der Deutschen mag sein Motiv in jenem Unverständlichen haben,
das der israelische Historiker Yehuda Bauer umschreibt, wenn er die „Normalität der
Täter“ postuliert und dabei zugleich einen wichtigen Aspekt aufwirft:
Das Fürchterlichste an der Shoa ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich
waren, das Fürchterlichste ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich.
Wenn wir sagen, dass sie anders waren als wir und dass wir in Ruhe schlafen
können, denn die Nazis waren Teufel, und wir sind eben keine Teufel, weil wir
keine Nazis sind, so ist das eine billige Ausflucht. Eine genauso billige Ausflucht
ist es, wenn man sagt, dass die Deutschen irgendwie genetisch programmiert
waren, diesen Massenmord durchzuführen. Da die meisten Menschen keine
Deutschen sind, glauben viele, dass das was damals geschah, bei niemanden
mehr passieren kann und es nur in Deutschland geschehen konnte.604
Hieraus ergibt sich die Zwangsläufigkeit einer humanistisch-evolutionären Aufgabe
der Analyse des Zivilisationsbruchs, der jedoch eine Reihe unüberwindbar
erscheinender Hindernisse vorstehen. Zunächst einmal verwischt sich das
„Menschliche“ der „Nazis“ vor deren „Sinngebung“ des Massenmords: den
nationalsozialistischen Tätern galt als das Ziel ihrer Bewegung der „Erschaffung des
neuen Menschen“, was die „Entmenschlichung“ jener zur Folge hatte, die außerhalb
eines Clusters wahnwitziger Merkmale lagen. Zu verstehen, wie jene „Sinninhalte“ aus
geistigen Entartungen und perversen Ideen entstehen konnten, ist der Kern jener
humanistisch-evolutionär begründeten Aufgabe nachfolgender Generationen, die etwa
Levi und Améry einfordern. Als Vorbedingung für dieses Verstehen gilt es, die
Dimensionen der historischen Katastrophe zu erfassen. Im Krebsgang ist die
Bestandsaufnahme dieses Erfassens düster bewertet: „Alles vergangen, verweht! (…)
Falls in einem Fernsehquiz nach Himmler oder Eichmann gefragt würde, könnte mit
teils richtiger Antwort, aber auch mit ratloser Geschichtsferne gerechnet werden“.
(37f) Das Diktum der „Nicht-Repräsentierbarkeit“ des Holocaust scheint dem Erfassen
der historischen Katastrophe als Vorbedingung für die zivilisatorisch-evolutionäre
604
Yehuda Bauer, `Rede zum Gedenktag an die Opfer des Holocaust im Deutschen Bundestag am 27.1.1998´,
„Frankfurter Rundschau“, 08.01.1998, S. 8.
240
Aufgabe in der Gegenwart entgegen zu stehen: „Nothing can convey the sheer,
unimaginable horrors of Auschwitz.“605
In den Jahrzehnten nach 1945 bestand ein breiter Konsens darüber, dass es für
„Auschwitz keine Sprache gibt“606, und in extremer Form, dass „nach Auschwitz keine
Gedichte“ mehr geschrieben werden können (Adorno). Der Massenmord an zwei
Dritteln der europäischen Juden mit seiner industriellen Vernichtung ohne Ansehen
von Person, Alter und Geschlecht war für die Zeitzeugen nicht repräsentierbar. Die
Angst vor der Trivialisierung durch Repräsentation ist im Krebsgang formuliert:
„Doch die über viertausend Säuglinge, Kinder und Jugendlichen, für die es kein
Überleben gab, waren, allein aus Kostengründen, nicht zu verfilmen, blieben und
bleiben abstrakte Zahl, wie all die anderen in die Tausende, Hunderttausende,
Millionen gehenden Zahlen, die damals wie heute nur grob zu schätzen waren und
sind. Eine Null am Ende mehr oder weniger, was sagt das schon; in Statistiken
verschwindet hinter Zahlenreihen der Tod.“ (136)
Dennoch gab es Versuche, den Holocaust in der Literatur darzustellen, um so „den
Anderen zum Zeugen nicht einer bloßen dichterischen Phantasie, sondern eines
unvorstellbaren realen historischen Traumas zu machen“.607 Auch Günter Grass nahm
sich als junger Autor vor, Adorno „schreibend zu widerlegen“608. Dennoch
kapitulierten viele Autoren schließlich vor der selbst gestellten Aufgabe. Eines der
prominentesten Beispiele aus der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur ist das
Gedicht „Todesfuge“, das Paul Celan 1944 verfasste, noch während das Trauma
andauerte.
Paul Celans Todesfuge steht am Anfang einer umfangreichen Gruppe lyrischer
Bemühungen, das umfaßbare Phänomen der Ermordung von Millionen Juden in
William D. Rubinstein, `…and out of it´, Rezension zu Alfred Wetzler, Escape From Hell, “Times Literary
Supplement”, 04.01.2008, S. 5.
606
Martin Walser, Düsseldorfer Schauspielhaus, 8.11.07.
607
Annegret Mahler-Bungers, `Zur Literatur und Dichtung des Holocaust´, S. 27-53, in Mauser; Pietzcker, (Hg.),
Trauma, Bd. 19, Würzburg, 2000, S. 40.
608
Grass, Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung, Frankfurt, 1990, S. 18.
605
241
Klage und Anklage darzustellen, es ins Gedächtnis zu rufen und zu ihm auf eine
jeweils andere, persönliche Weise ein inneres Verhältnis zu begründen.609
Doch spätestens im Frankfurter Auschwitz-Prozess zu Beginn der 1960er Jahre hatte
die Sprachlosigkeit gegenüber dem Holocaust schließlich eine für alle sichtbare
konkrete Form angenommen: die traumatisierten Zeugen hatten keine Worte, um das
Grauen zu schildern, das sie erlebt haben.610
Auch die Literatur der „Betroffenen“ vermochte es nicht, das Unbeschreibliche in die
Öffentlichkeit zu vermitteln. Wirkliche Breitenwirkung erzielte erst die amerikanische
TV-Serie „Holocaust“, die in den späten 1970er Jahren in der Bundesrepublik
ausgestrahlt worden war.611 Indem Täter und Opfer ein Gesicht erhielten, bewirkt diese
TV-Serie erstmals eine breite Emotionalisierung. Über die Einsicht in die singuläre
Dimension des industruiellen Massenmords an den Juden und vor dem Hintergrund
einer Ausrichtung Westdeutschlands an einem westeuropäischen Erfahrungs- und
Erinnerungshorizonts bildete sich in den 1980er Jahren in Westdeutschland ein breiter
Konsens über die Verurteilung des NS-Herrschaftssystem.612
Die zahllosen Reflexionen des Holocaust in der Kunst weltweit seit 1945 offenbaren,
dass das Bedürfnis nach Ausdruck stets stärker gewesen ist, als die Angst vor einer
trivialisierenden Form der Repräsentation. Auch Adorno nahm später sein Diktum
zurück: „Das perennierende Leiden hat so viel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte
zu brüllen, darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht sich
mehr schreiben.“613 Diesem Bedürfnis nach Ausdruck scheint bis in die Gegenwart der
dritten Nachkriegsgeneration hinein der unbedingte Wille entgegen zu stehen, an der
„Nicht-Repräsentierbarkeit“ festzuhalten: Die erinnernde Darstellung an den
Holocaust wird als eine “Exkorporation des Traumas“ (Weinberg), als „ein() Frevel an
der traumatischen Erinnerung“ (Caruth), als ein unzulässiges Spiel „mit der Realität
der Vergangenheit“ (Caruth, Braese), als ein „den Toten die Treue“ brechen (Sebald,
609
Werner Brettschnieder, Zorn und Trauer. Aspekte deutscher Gegenwartsliteratur, Berlin, 1981, S. 31.
Vgl. Irmtrud Wojak, Fritz Bauer. 1903-1968. Eine Biographie, München, 2009.
611
Vgl Cornelißen, S. 16.
612
Ebd.
613
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt, 1966, S. 353.
610
242
Braese) oder zumindest das „Genießen“ des „traumatischen Wissens“ verderbend
(Juranville) und es für die „narrative Lust“ aufopfernd (Roth) beschrieben. 614
Der Germanist und Psychotherapeut Harald Weilnböck offenbart das Paradox dieser
Abwehr von Repräsentation aus psychologischer Sicht: „Allen gemeinsam (…) scheint
die Grundüberzeugung zu sein: `Das Trauma (muss dem Gedächtnis) unverfügbar
bleiben´.“615 Demnach sei die Verbalisierung und `Integration´ traumatischer
Erfahrung kein Gewinn, „sondern ein Verlust der `wesentlichen Genauigkeit und
starken Wirkung´ des Traumas.“616 Weilnböck verdeutlicht, dass es jedoch gerade
diese Furcht vor dem Verlust ist, die sich der humanistisch-evolutionären Aufgabe des
Verstehens in den Weg stellt:
Dass die `schreckliche Vergangenheit durch die vorhandenen psychischen
Strukturen´ (der Person) gereinigt werden könnte´ - ein Gedanke übrigens,
welcher ex negativo die Möglichkeit von Trauma- und Psychotherapie in
bezeichnender Weise überschätzt und geradezu messianischen Erwartungen
Vorschub leistet -, hat in Roths Sichtweise die missliche Folge, dass dadurch die
traumatische `Vergangenheit´ `relativiert´ und `normalisiert´ wird. Und Caruth
fürchtet, dass die `wesentliche Unfassbarkeit´ des Traumas sowie sein aggressivdestruktives Potenzial, einen `massiven Anschlag auf das Verstehen´
auszuführen, verlorengeht. Darin aber erkennt sie keineswegs einen
therapeutisch-zivilisatorischen Zuwachs an Gewaltverarbeitungskompetenz,
sondern im Gegenteil einen zu beklagenden Sachverhalt, den es ausdrücklich zu
verhindern gilt.617
Die Idee einer „Heilung“ durch Repräsentation ergo Konfrontation mit dem Trauma
scheint in den Kulturwissenschaften fest verankert: „Während sich also die
Psychoanalyse notwendig an einer `Heilung´ und somit Abschaffung des Traumas
interessiert zeigt, ist dem Kulturwissenschaftler das Trauma unverzichtbar, und er wird
alles daran setzen, gerade dessen `Unheilbarkeit´ zu erweisen.“618 In seiner konkreten
Alle zitiert in: Harald Weilnböck, `„Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben.“ TraumaOntologie und anderer Miss-/Brauch von Traumakonzepten in geisteswissenschaftlichen Diskursen´, S. 2-64,
„Mittelweg 36“. 16. Jahrgang, April/Mai 2007, S. 39.
615
Ebd., S. 40.
616
Ebd., S. 45.
617
Ebd., S. 45f.
618
Ebd., S. 51.
614
243
Kritik etwa an der Haltung Manfred Weinbergs verweist Weilnböck auf mögliche
Folgen eines „inhumanen“ Paradoxes:
Radikal bzw. extremistisch ist dieser Zugang jedoch vor allem deshalb, weil er
den Ausweis der `Unheilbarkeit (des Traumas)´ als seine höchste Priorität
formuliert und damit eine Unmöglichkeit bzw. Unsinnigkeit verabsolutiert –
denn: spezifische Traumata sind durchaus als in spezifischem Ausmaß heilbar zu
begreifen! – und unbedingt durchzusetzen gewillt ist. Der löbliche philosophische
Grundtenor, den man in diesem Fall wohlwollend als einen Wunsch auslegen
könnte, das Erbe der Geschichte westlicher Gewaltexzesse im öffentlichen
Bewusstsein zu bewahren, kontrastiert mit einer eigentümlich radikalen und
latent inhumanen Zielbestimmung. Auch wird dabei der geringsten der
Forderungen, der man sich bei solchen Wagnissen stellen sollte, nicht
nachgekommen, das heißt: die konkreten oder wahrscheinlich empirischen
Konsequenzen, die die Folge des eigenen Denkens und Schreibens sein mögen,
zu erwägen und ihnen nachzuforschen. Scheint es doch bei einer Zielsetzung, die
sich die `Unheilbarkeit (des Traumas) zu beweisen´ vorsetzt und von allen
Therapiebelangen absieht, beinahe unausweichlich, dass sie ungewollt
`Funktionen´ ins Werk setzt oder mit ihnen kongruiert, welche, in der einen oder
anderen Weise, den gesellschaftlichen Möglichkeiten der psycho- und/oder
sozialtherapeutischen Gesundung und nachhaltigen Entwicklung
entgegenarbeiten.619
Schließlich überführt Weilnböck die Notwendigkeit der Repräsentation aus einem rein
psychologischen Feld in einen historisch-philosophischen Ansatz im Geist der
Aufklärung:
Wenn Weinberg und andere sich paradoxerweise für `Unheilbarkeit´ und implizit
gegen Narration/Psychotherapie aussprechen und an Aspekten der Heilung und
Linderung von psychotraumatisch bedingten Folgeschäden ausdrücklich `nicht
interessiert´ sind – was genau ist dann ihr Interesse? Was sind die mehr oder
weniger bewusstseinsnahen, konfliktdynamisch geprägten Bestrebungen, die
diesem Interesse innewohnen? Und wie ist dieses Interesse mit
Wissenschaftlichkeit in der Tradition der Aufklärung in Übereinstimmung zu
bringen?620
Weilnböcks Diagnose findet sich in einer Kritik gegenüber Günter Grass wieder. Der
Germanist und Antisemitismusforscher Klaus-Michael Bogdal kritisiert Grass im Jahr
2007 dafür, dass er einen „Gewinn“ aus Auschwitz ziehen wolle. Dieser hatte in seiner
619
620
Ebd., S. 52.
Ebd.
244
Frankfurter Vorlesung von 1990 Schreiben nach Auschwitz gesagt: „weil Auschwitz
(…) bleibendes Brandmal unserer Geschichte ist und – als Gewinn! – eine Einsicht
möglich gemacht hat, die heißen könnte: jetzt endlich kennen wir uns.“621 Bogdal setzt
dem entgegen:
Auschwitz kann als Gewinn für die Selbsterkenntnis der Deutschen nur ernsthaft
ins Spiel gebracht werden, wenn man davon abstrahiert, dass es um wirkliche,
getötete oder überlebende Menschen geht. Doch diese verschwinden in der
Darstellung von Grass hinter der vorrangigen Aufgabe, eine neue deutsche
Literatur zu schreiben.622
Diese Kritik birgt zwei Aspekte, die - wie auch aus den oben aufgeführten Zitaten
Weinbergs, Caruths, Braeses etc. ersichtlich - die öffentliche Erinnerungskultur
Deutschlands in den vergangenen sechs Jahrzehnten mitgeprägt haben. Die Opfer
sollen nicht „abstrahiert“ werden, was dem Kanon der Nicht-Repräsentierbarkeit des
Holocaust entspricht. Tulla verstößt gegen dieses Gebot und abstrahiert die als
„menschliche(s) Gebein“ erkannte „Masse“ als „Knochenberg“ (100). Eine
Verknüpfung zu dem nahegelegenen Konzentrationslager Stutthof vermag sie nicht
herzustellen (vgl. Abschnitt „Antisemitismus“). Im weiteren Verlauf erweist sich nicht
die Abstraktion selbst als fatal, sondern die Unmöglichkeit, diese mit äußerer Hilfe
über die Narration aufzulösen – wie im Kapitel „Durcharbeiten“ ausführlich zu
erörtern sein wird. Tullas Abstraktion erscheint als eine (natürliche) schockartige
Reaktion des „Nichtwahrhabenwollens oder –könnens“ gegenüber dem
Unaussprechlichen. Aus traumatologischer Sichtweise bietet sich für die Beobachtung
des „Knochenberg“ der Begriff der Deckerinnerung (vgl. Abschnitt „Verdrängung“)
als eine Erinnerung an, die ein „wichtigeres (…) Ereignis, das nicht erinnert wird“623
überdeckt. Im Ergebnis führt das Nichtauflösen der Abstraktion zur
Bewegungsunfähigkeit. Die Figuren der Novelle verharren in der Stagnation, was sich
in der Wiederholung von Vergangenem äußert: einer erneuten wahnwitzigen Gewalttat
im Mord an David alias Wolfgang. Das „Verbot“ der Abstraktion umschließt das
zweite Element, das die öffentliche Erinnerungskultur mit prägte: die Furcht vor dem
621
Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 42.
Klaus Michael Bogdal, (Hg.), `Einführung´, in ders. Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart,
2007, S. 2.
623
Hirsch, Psychoanalytische Traumatologie – Das Trauma in der Familie, S. 21.
622
245
Entfernen. Bogdal impliziert durch das „Verschwinden der Getöteten“, dass die
„gewonnene“ Erkenntnis eine Ordnung schafft, die es erlaubt sich abwendend
fortzubewegen. Beide Elemente zusammen – Schockzustand und Bewegungsangst generieren eine Kultur sich selbst perpetuierender Erstarrung.
Vor den seit den 1970er Jahren gewonnenen Erkenntnisse zur Traumatologie erscheint
diese Erstarrung als unausweichlich und damit gewissermaßen legitim für die
traumatisierten Opfer und die scham- und schulderfüllten Zeitzeugen (Mitwisser,
Mitläufer, Mittäter). Inzwischen beginnt eine neue Epoche ohne Zeitzeugen
anzubrechen: im Krebsgang repräsentiert durch Tullas Enkel Konny und Wolfgang
alias David. In einer Welt ohne Menschen, die den Holocaust unmittelbar oder
mittelbar erfahren haben, erscheint es unabdingbar, Brücken zu bauen, die den
Gattungsbruch Holocaust in das Gedächtnis der Gegenwart - der dritten und den
nachfolgenden Generationen – überführen können. Ohne Zeitzeugen kann das, wofür
kein Medium gefunden wird, in einer alltäglichen Gegenwart nicht erinnert werden:
„Unser Vorstellen und primäres Erkennen schneidet eben aus der unendlichen Fülle
des Wirklichen und seinen unendlichen Auffassungsmöglichkeiten Bezirke heraus,
wahrscheinlich so, dass die damit jeweils umgrenzte Größe als Grundlage unserer
praktischen Verhaltungsweisen ausreicht.“624 Dass der Holocaust als „Verschnitt“ aus
unserer Wirklichkeit vergessend überwunden wird, weil er jenseits der alltäglich
gebrauchten „Grundlage unserer praktischen Verhaltungsweisen“ liegt, wird
vorstellbar, möglicherweise wahrscheinlich. Auch darauf mag Grass hinweisen, wenn
er die Architekten des Holocaust in die Vergessenheit verschwinden lässt („Falls in
einem Fernsehquiz nach Himmler oder Eichmann gefragt würde, könnte mit teils
richtiger Antwort, aber auch mit ratloser Geschichtsferne gerechnet werden.“ - 37)
Die Frage nach der Form der Darstellung in einer Epoche ohne Zeitzeugen stellt sich
vor einer Beobachtung Georg Simmels – lange vor dem Holocaust - umso dringlicher.
„Spekulativ“ erscheint es möglich, dass der Holocaust erst nach dem Ableben der
624
Georg Simmel, `Lebensanschauungen: Die Transzendenz des Lebens´, S. 212-235 in Gregor Fitzi, Otthein
Rammstedt, (Hg.), Georg Simmel. Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, Gesamtausgabe, Bd. 16,
Frankfurt, 1999, S. 214.
246
Zeitzeugen in seinem tatsächlichen Kern darstellbar wird. In einer Nachwelt ohne
Zeitzeugen mögen sich (Schutz-)Blockaden lösen, die als unüberwindbare
Grenzschranken die Wiedergabe des Infernals bislang beeinträchtigt haben. Nicht
grenzenlos enthemmte Darstellung ist als Gegenstand der Repräsentation gemeint,
vielmehr eine „Grenzverschiebung“ im Sinne Georg Simmels:
Über die Welt, die wir sozusagen in vollsinnlicher Realität haben, führen uns der
Begriff und die Spekulation, die Konstruktion und die Berechnung hinaus und
zeigen uns erst damit jene als eine begrenzte, lassen uns ihre Grenzen von außen
sehen. (…) Dieses Sich-selbst-Überschreiten des Geistes vollzieht sich nicht nur
an einzelnen Abschnitten, um deren quantitative Begrenzung wir von Fall zu Fall
eine weitergehende legen, um sie so, indem wir sie sprengen, erst wirklich als
Begrenzung zu erkennen. Auch die beherrschendsten Prinzipien des
Bewusstseins werden von ihm beherrscht.625
In der Figur des Wolfgang Stremplin alias David scheint im Krebsgang der Versuch
einer Grenzverschiebung erkennbar zu sein. Der deutsche Christ Wolfgang wünscht
sich zu Weihnachten einen siebenarmigen Leuchter (185) und schlüpft, indem er für
ihn fremde Sitten und Gebräuche annimmt, in die Rolle des jüdischen David (ebd.).
Ihm scheint eine Grenzverschiebung möglich zu sein, indem er seine eigene Identität
um die jüdische Kultur erweitert. Eine echte Erweiterung würde Verknüpfungen und
Einsichten erlauben, die Erkenntnisse in sich bergen mögen. Allerdings scheitert der
Versuch. Die Grenzverschiebung wird zur sinnlosen Grenzverlagerung, indem
„David“ die Identitätsanteile von „Wolfgang“ negiert, dessen Mutter beklagt: „In
letzter Zeit ist uns unser Bub unerreichbar gewesen.“ (ebd.) Selbst für den Fall, dass
Raum für Wolfgangs Identität verblieben wäre, würde der Versuch scheitern: „So
verlief ihr Rollenspiel“ (118) deutet auf die Wiedergabe bloßer Klischees, die jenseits
Wolfgangs eigener Zeit in der Vergangenheit liegen. Der Ansatz zur
Grenzverschiebung in der Gegenwart bleibt leblos und hohl.
Simmels Ausführungen stellen die Schablonen „praktischer Verhaltensweisen“ als
Hemmnis der „Grenzverschiebungen“ dar. Das Brückenschlagen zwischen der
Vergangenheit und der Gegenwart als Akt der „Grenzverschiebung“ mag somit eher in
625
Ebd.
247
einem Raum jenseits „praktischer Verhaltensweisen“ vollziehbar sein: wie der Kunst
bzw. der Literatur. Der Hinweis des „Auftraggeber(s)“, Pauls „Bericht“ (123) über die
Vergangenheit habe „das Zeug zur Novelle“ (ebd.), mag darauf verweisen. Die
Darstellung in der Literatur ist zunächst jedoch gleichfalls Begrenzung. Der Rezipient,
lässt sich mit Ernst Cassierer folgern, empfindet den Mangel von der begrenzten
Darstellung jedoch nicht.626 Dieser Mangel ermögliche im Gegenteil die
eigenschöpferische Rezeption, wodurch das Werk seine eigentliche Aufgabe erfülle:
„Es (das Werk) wird zum Vermittler zwischen Ich und Du, nicht indem es einen
fertigen Gehalt von dem einen auf das andere überträgt, sondern indem sich an der
Tätigkeit des einen die des anderen entzündet.“627
Die Literatur verfügt demnach über Spielräume und Mittel, um infernale Abgründe
nachzuzeichnen. Sie kann mit Verstand und Emotion gleichermaßen „entzünden“ wie
mit Lücken und Schweigen. Die Mittel, derer sie sich bedient, können dabei
automatisch eine Grenzüberschreitung durchlaufen, wie Paul Celan deutlich macht:
Erreichbar, nah und verloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache.
Sie die Sprache, blieb verloren, ja, trotz allem. Aber sie musste hindurchgehen
durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares
Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede.
Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging
durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten,
`angereichert´ von allem.628
Vor dem Diktum Albert Camus´ - „Alles, was der Mensch beim Spiel der Pest und des
Lebens gewinnen konnte, waren Erkenntnis und Erinnerung“629 - sollen im
nachfolgenden Abschnitt mögliche „Grenzverschiebungen“ im Krebsgang hin zum
Erkennen und Erinnern untersucht werden.
626
Ernst Cassierer: `Die Tragödie der Kultur´, in: R. Konsermann, (Hg.), Kulturphilosophie, Leipzig 1996, S.
117.
627
Ebd.
628
Paul Celan: `Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen´, S.
185-189 in Beda Allemann, (Hg.), Gesammelte Werke, Bd. 3, Frankfurt, 1983, S. 185f.
629
Albert Camus, Die Pest, S. 330.
248
Die Grenzverschiebung in der Novelle Im Krebsgang
Wiederholt finden sich im Krebsgang Hinweise auf die Schwierigkeit der Darstellung
extrem traumatischer Ereignisse: „Was aber im Schiffsinneren geschah, ist mit Worten
nicht zu fassen.“ (136) Auch der filmischen oder bildlichen Repräsentation wird eine
Absage erteilt: „Das hat der Schwarzweißstreifen mit Bildern versucht….“ (136) oder
„Eigentlich kann man so etwas Schreckliches gar nicht verfilmen.“ (114) Dass es für
die Katastrophe keine Repräsentationsformen gibt, ist als Diktum unzertrennbar mit
dem Holocaust verknüpft. Indem in einer Novelle über den Untergang der Gustloff das
Fehlen von Repräsentationsformen für die Katastrophe explizit genannt wird, entsteht
ein Subtext zur Problematik der Repräsentation des Holocaust.
Die Formulierung des Erzählers Paul findet sich wieder bei Claude Lanzmann, dem
Regisseur des Films „Shoa“: „Man kann um die Shoa und mit ihr sehr viel machen.
Aber man kann nicht zeigen, wie dreitausend Menschen in der Gaskammer von
Auschwitz-Birkenau sterben. Es gibt keine Fotografie, es gibt kein Bild davon. Es gibt
nichts. Sie starben in der schwarzen Dunkelheit. Stumm. Darauf darf sich niemand
einlassen.“630 Grass´ Erzähler hingegen begibt sich in diese Dunkelheit: „Beim
Abseilen vom Bootsdeck erblickten die im Promenadendeck eingesperrten Frauen und
Kinder durch die Panzerglasscheiben das nur halb besetzte Boot; und die Insassen der
Pinasse sahen einen Augenblick lang, welche Masse Mensch sich hinter der
Verglasung staute.“ (138) Indem er keine Worte findet, verharrt auch der Autor
zunächst bei schockartiger Bewegungslosigkeit: „Was im Schiffsinneren weiterhin
geschah, blieb ungesehen, kam nicht zu Wort.“ (ebd.) Indem sich der Erzähler in
dieser Sequenz, die den Blick in die Gaskammern durch die in den Türen angebrachte
„Verglasung“ assoziiert, nicht auf das Hineinschauen einlässt, folgt er Lanzmanns
Überzeugung.
Anstatt des Blickes in die Abgründe rückt vielmehr die Schuldfrage in den
Vordergrund. Pauls Darstellung des Geschehens ist spiegelbildlich: nicht allein die im
Schiffsbauch Eingeschlossenen sind Dunkelheit und Tod geweiht. „Wenn diese nicht
Claude Lanzmann, `Littell hat die Sprache der Henker erfunden´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 28.
11.2007, S. 35.
630
249
auf dem Schiff bleiben, könnt ihr nicht gerettet werden“, sagt der Apostel Paulus zu
den Matrosen während des Seesturms.631 Im Krebsgang werden die vermeintlich
Geretteten in einem Boot in das dunkle, eisige Wasser hinab gelassen und sinken so in
eine Zukunft, die bereits vernichtet ist: „…die über viertausend Säuglinge, Kinder und
Jugendlichen, für die es kein Überleben gab“. (136) Diejenigen im Boot schauen in
das Grauen hinein. Ihre Tatenlosigkeit bei dem Blick in diesen Abgrund hat ihre
Menschlichkeit kompromittiert – auch wenn ihnen rettendes Handeln im Moment der
Katastrophe unmöglich schien oder war. Die im Schiffsbauch Eingesperrten hingegen
zeichnen das alttestamentarische Bild des Jonas im Bauch des Wals632. So wie dieser
sein Leben zurück gewinnt, behalten die Eingesperrten ihre Menschlichkeit.
Grass’ Erzähler verbleibt allerdings nicht bei dem Diktum, das bei der Wortlosigkeit
enden will. Er „entzündet“ eine „Grenzverschiebung“: „Jetzt wird mir geraten, mich
kurz zu fassen, nein, mein Arbeitgeber besteht darauf. Da es mir ohnehin nicht
gelinge, das tausendmalige Sterben im Schiffsbauch und in der eisigen See in Worte
zu fassen“ (139) und die Konsequenz daraus: es gelingt nicht, „ein deutsches Requiem
oder einen maritimen Totentanz aufzuführen“. (138) Die Wortlosigkeit geht mit der
Unfähigkeit zu trauern einher. Hierin lässt sich die Aufforderung erkennen, Grenzen
zu überwinden und das für die Traumatisierten Unaussprechliche in Worte zu fassen.
Verbleibt es bei der Wortlosigkeit, die das Trauma nicht benennen kann, wiederholt
sich das Vergangene in der nachfolgenden Generation im Mord an Wolfgang alias
David.
Es bleibt nicht bei der Aufforderung allein. Das Mittel zur „Grenzverschiebung“ wird
vorgeführt, indem der Erzähler Paul gleich seinem Namensvetter Paul Celan
„aufschreibt“. Mit dem Aufschreiben in der Gegenwart wird dem Verstummen um die
Gustloff in der Vergangenheit ein entschiedenes Sprechen entgegengesetzt. Auch Paul
Pokriefkes Sprache scheint durch die Wortlosigkeit hindurch gehen zu wollen: „Das
Gedicht spricht ja. Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber – es spricht.“633
631
Apostelgeschichte 27, 31.
Das Buch Jonas, 2, 1-11.
633
Paul Celan, `Meridian´, in Gesammelte Werke, Bd. 3 S. 196.
632
250
Der Empfang bedingt das Sprechen. Im Sinne Cassierers obliegt es dem Empfänger,
die Worte in Erkenntnis zu formen. Dem Rezipienten wird eine Bahn angeboten,
innerhalb der er formen kann. Indem der „Alte“, der sich „leergeschrieben zu haben“
(30) scheint, dem keine Worte mehr verfügbar sind, Paul auswählt (78), wählt er den
„Anderen“. Paul ist das personifizierte Trauma (vgl. Abschnitt „Trauma“), dessen
Kern die Sprachlosigkeit ist:
Bezogen auf den Holocaust scheint daher der Zweifel an der Tauglichkeit der
Sprache und ihrer Metaphern ein Konflikt des Überlebenden, des unmittelbaren
Zeugen zu sein, der einerseits wünscht, vom Trauma und der verlorenen
Objektwelt zu zeugen und andererseits befürchtet, sie gerade dadurch zu verraten.
Diese Furcht rührt vor allem von der traumatischen Erschütterung des Vertrauens
in das empathische, haltende Verstehen durch den Anderen her.634
Tatsächlich hat der „Alte“ Paul wie eine verlorene „Fundsache“ (78) wiedergefunden.
Die dem Empfänger angebotene Bahn, auf der sich dessen grenzüberschreitende
„Tätigkeit“ (Cassierer) der Suche nach Erkenntnis „entzünden“ kann, ist damit die des
Traumas.
Das Trauma erscheint als „Bahn“ geeignet, weil es die gesamte Dimension des
Holocaust zu umfassen vermag:
Die Furcht, eine sprachliche Beschreibung des Holocaust könne die Schrecken
dieser Geschehnisse trivialisieren und abschwächen, ja, sie sogar vergessen
machen, scheint mir daher ein Ausdruck dafür zu sein, dass unsere Kultur als
ganze traumatisiert ist als Folge des `Zivilisationsbruches´, dessen
Hinterlassenschaft ein Gewahrwerden genereller Hilflosigkeit ist.635
Indem das Trauma als eine Ursache für die Sprachlosigkeit sichtbar gemacht wird,
kann sich die „Tätigkeit“ der Sprachfindung „entzünden“.
Im Krebsgang findet sich eine Metapher gegen die Gefahr des Ablegens, der
Endlichkeit des „Entzündens“. Das Wesen der Menschlichkeit leitet sich aus der
634
635
Mahler-Bungers, S. 35.
Mahler-Bungers, S. 29.
251
Genesis ab: „Humanity, so the myth tells us, belongs within an ordered world, which
can be seen to be good, and of which it is possible to make sense.”636 Durch die
Narration versucht der Erzähler Paul Ordnung in einer zerstörten Welt zu schaffen.
Dieses Vorhaben scheitert, denn „Nie hört das auf.“ (216) Mit diesem Hinweis auf
„Sisyphos“, der in seinem Kampf gegen den Gipfel die Frage erhebt, ob das Leben die
Mühe, gelebt zu werden, lohnt oder nicht, zeigt sich die Schranke für die
Grenzverschiebung: Die Trauer kann niemals endlich sein, eine endgültige Antwort
kann es nicht geben. Entsprechend „Sisyphos“ gilt es, stets und immer weiter
fortzufahren im Prozess der Erkenntnis. Dies gilt für die Erste, Zweite und Dritte
Generation gleichermaßen, denn „unsere Schande (wird) sich weder verdrängen noch
bewältigen“ lassen und niemals aufhören „gegenwärtig zu bleiben.“637
John Habgood, `Bad as we are´, Rezension zu Paul W. Kahn, Out of Eden, “Times Literary Supplement”,
09.05.08, S. 25.
637
Grass, ebd, S. 9.
636
252
Das Sichtbarmachen des Traumas
Eine Kritik von Grass betrifft das Schlüsselwort „Auschwitz“, das in seinem
semantischen Gehalt gleichzeitig zuwenig und zuviel enthalte: einerseits reduziere es
die auf grauenhafte Weise komplexe Realität der Vernichtungslager – aller
Vernichtungslager – auf einen bloßen Ortsnamen, der es beinahe unmöglich mache,
den alltäglichen Mechanismus dieser Lager zu erklären. Andererseits verweise der
Name nur allzu leicht auf „jeglichen Völkermord“.638 Im Krebsgang ist dieses
semantische Problem aufgegriffen. Indem das Unglück „einen Namen von globaler
Bedeutung trug“ (135) ist das nicht Fassbare im „globalen“ anerkannt. Im
Umkehrschluß findet sich ein Hinweis auf die Auflösung der NichtRepräsentierbarkeit: nur das „globale“ Gesamte ist nicht fassbar.
Im März 2006 hat der spanische Aktionskünstler Santiago Sierra Autoabgase in eine
Synagoge geleitet, die von den Besuchern mit Atemmasken und in Begleitung von
Feuerwehrmännern betreten werden durfte. Das Projekt wurde bald gestoppt. Der
belgische Maler Luc Tuymans beschreibt das Gefühl beim Durchschreiten der
Synagoge: „Was bleibt, ist ein Glücksgefühl durch die Erfahrung des Schreckens. Man
ist froh, dass einem nichts passiert ist. (…) In anderen Bereichen ist diese Katharsis
zwar nicht grundsätzlich abzulehnen, aber bei diesem Thema fehlt die Distanz.“639
Distanz, erläutert Tuymans weiter, steht für „die Reflexion und für das Wissen um die
Unmöglichkeit, die Gräueltaten sinnlich zu vermitteln.“ Tuymans kritisiert, Sierra
habe „die Idee einer Tatsache zu seinem künstlerischen Objekt“ gemacht. „Es kann
aber nicht darum gehen, den Horror nachzufühlen. Das ist unmöglich.“640
Tuymans bricht das Diktum der Nicht-Repräsentierbarkeit auf, indem er den Komplex
„Auschwitz“ in Einzelteile fasst:
Meine Meinung ist, dass es nicht der moralische Nachweis ist, der hier wichtig
ist, sondern (…) dass wir begreifen, dass es Teil einer Kultur ist. Das Gefühl des
Schreckens kann nicht der einzige und banale Zugang sein. (…) Der Holocaust
638
Ebd., S. 10.
Luc Tuymans, `Wie darf Kunst den Holocaust zeigen?´, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 17.03.2006, S.
40.
640
Ebd.
639
253
lässt sich nur in präziser Detailarbeit erahnen. Es ist ganz wichtig, dass man die
Geschichte nicht als Ganzes versteht, das heißt Allgemeinplätze referiert, sondern
sie in ihren Einzelheiten sieht.641
Die Abbildungen dieser Einzelheiten finden sich im Krebsgang. Die wenigen
expliziten Bezüge zum Holocaust beschränken sich auf die Namen Dachau und
Oranienburg (17), Stutthof (211) und Buchenwald (41). Indem die Einzelteile als
Subtext unter der Schablone einer Geschichte über die Vertreibung der Deutschen
hervor dringen, stechen sie umso deutlicher heraus. Durch die Konfrontation mit
einzelnen Ausschnitten des Traumas als ein Weg der seelischen Integration (vgl.
„Durcharbeiten“), bricht der „Schrecken“ als „einzige(r) banale(r) Zugang“ auf.
Es sind die zahlreichen Bilder im Krebsgang, die als auf den „Holocaust“ zielenden
Subtext untrennbar mit diesem verbunden sind: „Kinder sind ohne Mütter aufs Schiff
gekommen. Und Mütter haben erleiden müssen, wie in dem Gedränge auf der
Gangway ihr Kind von der Hand weggerissen (wurde)……Da half kein Schreien.“
(108) Eine Krankenschwester entscheidet, dass Eltern und Tochter Pokriefke getrennt
voneinander untergebracht werden. (109) Die Figur der Krankenschwester assoziiert
den mit einem Fingerzeig über Leben und Tod entscheidenden „Arzt“ auf der Rampe
der ankommenden Züge. Das traumatische, „schreck-liche“ Wesen dieser Bilder wird
anerkannt durch die „Spaltung zwischen dem Gesprochenem und dem Visuellen“ als
ein Versuch, „dem Trauma als dem Unsichtbaren und dem Unartikulierbaren
Ausdruck zu verleihen.642
Die „Einzelteil“-Konfrontation mit dem Holocaust findet sich auf mehreren Ebenen
der Novelle. Grass hat das Trauma „Auschwitz“ als Zäsur gewertet. Diese Zäsur solle
„unseren Begriff von menschlicher Existenz mit Ereignissen (…) datieren, die vor und
nach Auschwitz geschehen sind.“643 Indem die Ereignisse vor und nach dem
traumatischen Ereignis des Untergangs der Gustloff gegliedert sind, findet sich diese
Struktur in der Erzählung der Novelle wieder.
641
Ebd.
Koch, in Das Soziale Gedächtnis. S. 132.
643
Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 10.
642
254
Der Erzähler Paul bezeichnet den 30. Januar als das „verfluchte Datum, mit dem alles
begann, sich mordsmäßig steigerte, zum Höhepunkt kam, zu Ende ging.“ (11) Durch
das Datum, das Paul „anhängt, mich stempelt“ (116) entsteht eine Verbindung zur
Erfahrung Paul Celans: „Vielleicht darf man sagen, dass jedem (jüdischen) Ich sein 20.
Jänner eingeschrieben ist.“644 Tulla fordert Paul auf: „Das musste aufschraiben. Biste
ons schuldig als glicklich Ieberlebender.“ (31) Als Ausgangspunkt steht Celan: „Ich
hatte mich, das eine wie das andere Mal, von einem `20. Jänner´, von meinem `20.
Jänner´ hergeschrieben.“645
In der Realität des Holocaust werden vier Tage vor dem Beschuss der Gustloff, am 26.
Januar 1945 die Lager Auschwitz und Birkenau durch sowjetische Truppen befreit. Im
Krebsgang zeichnet Paul das Bild dieser „verspäteten“ Befreiung: „Bald hielt die
hundertsechsundsechzig Meter lange, Steuer- und Backbord umlaufende Vitrine
tausend und mehr Menschen gefangen. Erst ganz zum Schluß, als es zu spät war, sind
an einigen Abschnitten der Promenadenverglasung die Panzerglasscheiben
zerborsten.“ (136) Das Motiv diese Bilder hinter der Schablone von Flucht und
Vertreibung scheint nicht der Vergleich. Während das eine im diffusen Licht des
Hintergrunds bleibt, weil es als Ganzes nicht darstellbar ist, war „zu riechen, zu sehen,
zu zählen, zu fotografieren und für alle Kinos im Reich als Wochenschau zu filmen,
wie viele Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt, danach totgeschlagen, an
Scheunentore genagelt worden waren. T-34-Panzer hatten Flüchtende eingeholt und
zermalmt. Erschossene Kinder lagen in Vorgärten und Straßengräben.“ (101)
Luc Tuymans hält eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht zuletzt deshalb
für unabdingbar, „weil er einen totalen, psychologischen Zusammenbruch von
Westeuropa bedeutete.“646 Indem im Krebsgang das Trauma als „Bahn“ gelegt wird,
wird an diesem psychologischen Zusammenbruch angesetzt. Im nachfolgenden
644
Celan, `Meridian´, S. 201. Anmerkung: Am 20. Januar 1942 fand die Wannseekonferenz statt, auf der
Heydrich und die NS-Führungselite zusammenkamen und Heydrich nach dem gemeinsamen Essen von der
beschlossenen „Endlösung“ Mitteilung machte - von der geplanten systematischen Ausrottung der gesamten
europäischen Judenheit.
645
Celan, ebd.
646
Tuymans, ebd.
255
Kapitel „Transgenerationelle Übertragung“ soll untersucht werden, wie sich ein
unbearbeiteter psychologischer Zusammenbruch in der Vergangenheit in die Zukunft
verschleppt. Im abschließenden Kapitel dieser Arbeit „Durcharbeiten“ wird die
Konfrontation des Traumas als „Bahn“ zur Erkenntnis weiter verfolgt.
256
Das Gewesene im Sein
Aus der Koexistenz von „Jung und Alt“ in Deutschland hat Ralph Giordano im Zuge
des Historikerstreiks Mitte der 1980er Jahre den Begriff der „Zweiten Schuld“
abgeleitet, die entstanden sei mit der „Verdrängung und Verleugnung der ersten nach
1945“.647 Opfer dieser zweiten Schuld seien vornehmlich die Söhne, Töchter und
Enkel, denn auf diese komme zu, was von den Älteren versäumt worden sei, die
Aufarbeitung der Schuld.648 Giordanos Urteil der Schuldverweigerung der Deutschen
nach 1945 lässt zwar die Wirkungen von Traumata aus Krieg, Nationalsozialismus und
Holocaust außen vor. Wie im Abschnitt „Verdrängung“ dargelegt, können
Abwehrmechanismen, Verweigerung und Verleugnung im Wechsel mit zwanghafter
Konfrontation mit dem Geschehenen (Wiederholungszwang) pathologische Merkmale
als Folge von Traumatisierungen sein. Andererseits „begreift“ Giordano die Prozesse
der transgenerationellen Übertragung auf der „Täterseite“, wenn er die nachfolgenden
Generationen als „Opfer“ bezeichnet.
Jörn Rüsen verweist darauf, dass vor allem die Erinnerungen als Faktoren der
kulturellen Orientierung und Identität auf den Einfluss des Vergangenen auf das
Gegenwärtige deuten: „Geschichte als Inhalt des Geschichtsbewusstseins ist eine
Orientierungsgröße der menschlichen Lebenspraxis.“649 Um zu verstehen, wie die
Inhalte dieser Geschichte als Orientierungsgröße in den nachfolgenden Generationen
gestaltet sind, muss erfasst werden, was als Geschichte an sie weitergegeben worden
ist. Vor dem Hintergrund, dass sich die Epoche der Zeitzeugen als Träger dieser
Geschichte allmählich dem Ende neigt, sieht Werner Bohleber eine gewisse Brisanz
für die Frage nach den Inhalten der übertragenen Geschichte: „(D)ie Historisierung der
kollektiven Katastrophen des 20. Jahrhunderts (hat) durch das Aussterben der
Zeitzeugen die Frage nach der transgenerationalen Weitergabe von Erinnerung
individuell und gesellschaftlich erneut dringlich gemacht.“650
647
Ralph Girodano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg, 1987, S. 11.
Ebd., S. 21.
649
Rüsen, Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln, 2006, S. 71.
650
Bohleber, in „Vergangenes“, S. 3.
648
257
Bohleber deutet in seiner Formulierung auf einen Kerninhalt der Geschichte des 20.
Jahrhunderts. Es sind die „Katastrophen“, die Menschen erlebt haben und die
(pathologischen) Traumatisierungen, die daraus entstanden sind. Die
transgenerationelle Weitergabe von traumatischen Erlebnissen ist ein Phänomen, das
bislang vorwiegend auf Seiten der Holocaustopfer untersucht worden ist. Erst seit den
1980er Jahren wurden die Folgen von Nationalsozialismus und Krieg für die nächste
Generation vermehrt Gegenstand psychoanalytischer Untersuchung.
Die Pathologie der Eltern, das Verleugnen der Beteiligung am
Nationalsozialismus und an seinen Verbrechen, die Hörigkeit gegenüber seinen
Idealen, die Korrumpierung des elterlichen Ich-Ideals, die Unfähigkeit, sich mit
Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen, all das zeitigte für die Kinder
Spätfolgen, weil die Eltern sie, vor allem wenn Schuld und Verantwortung
verleugnet wurden, im Sinne ihrer Abwehr narzisstisch funktionalisierten und
missbrauchten. Eine solche Situation konnte durchaus als traumatisch im Sinne
einer lang einwirkenden Schädigung angesehen werden.651
In Anlehnung an Harold Marcuses „Generational Cohorts and the Shaping of
Popular Attitudes towards the Holocaust“652 hat der Erziehungswissenschaftler
Jürgen Zinnecker die “unbeteiligten” Generationen der Nachgeborenen
kategorisiert und so die zeitliche Dimension der transgenerationellen Weitergabe
definiert. Für die zwischen 1937-1953 geborene „Erste Nachkriegsgeneration“
benennt Zinnecker als prägende Erlebnisse die Studentenbewegung, die
Auschwitzprozesse und den Vietnamkrieg. Diese Generation sei unmittelbar mit
dem Schweigen der Eltern konfrontiert gewesen. Die „Zweite
Nachkriegsgeneration“, geboren zwischen 1954-1966 ist in einem Umfeld der
öffentlichen Aufarbeitung des Holocaust (z.B. TV-Serie „Holocaust“) und mit
Eltern aufgewachsen, die die „Gnade der späten Geburt“ (1926-1936) hatten. Die
„Dritte Nachkriegsgeneration“, die Kinder der „68er“ sei zwischen 1967-1976
geboren und geprägt durch eine mediale bzw. schulische Vermittlung von NS und
Holocaust (z.B. Reagan in Bitburg).653
Bohleber, in „Trauma“ S. 820.
University of California, USA, März 2000.
653
Vgl. Zinnecker, KWI-Tabelle.
651
652
258
Im Krebsgang sind Konny und Wolfgang Repräsentanten der „Dritten
Generation“. Sie sind die Kinder der „68er“, in der Novelle besetzt mit den Figuren
Gabi als Konnys Mutter und dem Ehepaar Stremplin als Eltern von Wolfgang.
Paul ist auf der narrativen Ebene zwar Konnys Vater. Maßgeblich für dieses
Kapitel ist jedoch dessen metaphorische Rolle als Trauma (vgl. Abschnitt
„Trauma“). Nachfolgend wird das Phänomen der transgenerationellen Übertragung
von erlebter Geschichte und historischen Traumata sowie deren nachhaltige
traumatische Ausprägung (Bohleber) vor allem auf die Dritte Generation im
Krebsgang untersucht, jene Generation die die größte zeitliche Distanz zu den
Ereignissen vor 1945 hat und in einer Epoche mit nur noch wenigen Zeitzeugen
lebt. Hierdurch wird die Intensität der Übertragung besonders deutlich. Die
Prozesse von Generation zu Generation sind vergleichbar und gelten entsprechend
für die Zweite Nachkriegsgeneration.
259
Die Tradierung der Geschichte
Im Rahmen einer Mehrgenerationenstudie zur Thematik der „Tradierung von
Geschichtsbewusstsein“ verweist Harald Welzer auf die identitätsbildende
Wirkung von Familiengeschichten:
Die kommunikative Vergegenwärtigung von Vergangenem in der Familie
ist mithin kein bloßer Vorgang der Aktualisierung und der Weitergabe von
Erlebnissen und Ereignissen, sondern immer auch eine gemeinsame
Praxis, die die Familie als Gruppe definiert, die eine spezifische
Geschichte hat, an der die einzelnen Mitglieder teilhaben und die sich –
zumindest in ihrer Wahrnehmung – nicht verändert.654
Es ist die Erinnerung an Tullas Geschichte, die Konny „aufsaugt“ (44), aus der er
die Bestätigung der „sozialen Identität der Familie“655 gewinnt:
Die beiden verstanden sich auf Anhieb. (…) Bin sicher, dass Mutter ihn mit
ihren Geschichten, die ja nicht nur auf dem Tischlereihof in Langfuhrs
Elsenstraße spielten, vollgedröhnt hat. Alles, sogar ihre Abenteuer als
Straßenbahnschaffnerin im letzten Kriegsjahr, hat sie ausgepackt. Wie ein
Schwamm muß der Junge ihr Gerede aufgesogen haben. Natürlich hat sie ihn
auch mit der Story vom ewigsinkenden Schiff abgefüttert. (44)
Entsprechend ist es Tulla, die er „auf ihren Wunsch“ (44) hin „Oma“ nennt, zu der
Konny eine innige familiäre Zugehörigkeit empfindet: „Mich wollte er nicht sehen,
bevor er abgeführt wurde. Und noch im Gerichtssaal hat er nicht etwa seine
Mutter, sondern seine Großmutter umarmt“. (198)
Ob Tullas Erinnerungen wahrhaftig sind, oder traumatisch verzerrt hat für
deren Wert als Identitätsfunktion für Konny keine Bedeutung: „Auch wenn sie
es nicht immer sind, müssen wir unsere Erinnerungen doch für wahr halten,
weil sie der Stoff sind, aus dem Erfahrungen, Beziehungen und vor allem das
Bild der eigenen Identität gemacht ist. Ohne Erinnerungsvermögen könnten wir
kein Selbst aufbauen und nicht mit anderen als individuelle Personen
654
Welzer, `Das gemeinsame Verfestigen von Vergangenheit im Gespräch´, S. 160-178 in Das Soziale
Gedächtnis, S. 163.
655
Ebd.
260
kommunizieren.“656 Die fragmentarische Narration, die sich aus Tullas
Traumatisierung ergibt (vgl. Abschnitt „Traumata“) ist dem Wesen des
Familiengedächtnisses vergleichbar: „Das Familiengedächtnis ist kein
umgrenztes und abrufbares Inventar von Geschichten, sondern besteht in der
kommunikativen Vergegenwärtigung von Episoden, die in Beziehung zu den
Familienmitgliedern stehen und über die sie gemeinsam sprechen.“657 Für
Konny ist in dieser Fragmentierung nicht ersichtlich, dass Tullas Erinnerungen
traumatisch geprägt sind. Er übernimmt diese als Familienerinnerung.
Durch die Fragmentierung der Geschichten, die weder aus einem Stück, noch
vollständig oder konsistent sind, werden „Anknüpfungspunkte für
unterstützende, unterbrechende und korrigierende Kommentare und
Ergänzungen (geboten).“658 In Konnys eigener Interpretation der Erlebnisse
Tullas zeigen sich diese Ergänzungen: „Dieser Terror droht immer noch ganz
Europa, falls gegen die asiatische Flut kein Damm errichtet wird…“: Konnys
bedrohliches Bild beschwört die Botschaft eines CDU-Wahlplakats aus den
1950er Jahren „das ein gefräßiges Ungeheuer asiatischen Typs zur Schau
stellte“ (101-2). Dieses Plakat agierte mit der diffusen Angst vor den „Russen“
in der deutschen Bevölkerung auch nach Kriegsende. Tullas nachhaltige Angst
offenbart sich in dem Kauf einer Waffe, die sie sich „glaich nach de Wende
auffem Russenmarkt“ (198) besorgt hatte.
Unerheblich ist, ob die Geschichten der einzelnen Familienmitglieder übereinstimmen:
Das Familiengedächtnis basiert nicht auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner
Geschichten, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung des Erinnerns.659
Tatsächlich unterscheidet sich Konnys Version der Flucht von der Tullas, denn sie hat
„ihn mit ihren Gräuelgeschichten, Vergewaltigungsgeschichten vollgepumpt, die sie
zwar nicht leibhaftig erlebt hatte, die aber (…) überall erzählt und verbreitet wurden“.
(100-1) Auf Konnys Internetseite heißt es: „In Ruhe und Ordnung nahm das Schiff die
656
A. Assmann, `Wie wahr sind Erinnerungen?´, in Welzer, S. 103.
Welzer, ebd., S. 161.
658
Ebd., S. 164.
659
Ebd.
657
261
vor den russischen Bestien fliehenden Mädchen und Frauen, Mütter und Kinder
auf….“. (102-3) Konnys Version indiziert bereits die Tradierung der Verdrängung von
Tullas Trauma, das an späterer Stelle ausführlich untersucht wird (vgl. „Der Auftrag
aus dem transgenerationell übertragenen Trauma“). Durch die Montage narrativer
Versatzstücke aus der Gegenwart, aus Tullas Erlebnissen und der Historie entsteht eine
besondere Eindringlichkeit: Indem verschiedene „historische und subjektive Zeitkerne
aneinandermontiert werden“, wird ein „Prozess der Verlebendigung“ eingeleitet.660
Eine spezielle Situation ergibt sich im Fall vieler deutscher Familien. Bei
Familienerzählungen an die NS-Vergangenheit besteht das Phänomen, dass
eine auf der Ebene des kulturellen Gedächtnisses als verbrecherisch markierte
Vergangenheit mit einem Familiengedächtnis in Übereinstimmung gebracht
werden muss, „das unter den Erfordernissen von Kohärenz, Identität und
wechselseitiger Loyalität jedes Mitglied dazu verpflichtet, die `gute
Geschichte´ der Familie aufrechtzuerhalten und fortzuschreiben.“661
Tatsächlich nimmt Konny nur Tullas Seite der Geschichte wahr:
Warum log Konny? Warum beschwindelte der Junge sich und andere?
Warum wollte er, der sonst so penible Detailkrämer (…) nicht zugeben,
dass weder ein Rotkreuztransporter noch ein ausschließlich mit
Flüchtlingen beladener Großfrachter am Kai lag, sondern ein der
Kriegsmarine unterstelltes, bewaffnetes Passagierschiff, in das
unterschiedlichste Fracht gepfercht wurde? Warum leugnete er, was seit
Jahren gedruckt vorlag und selbst von den Ewiggestrigen kaum mehr
bestritten wurde? (103-4)
Nicht selten resultierte die Unmöglichkeit eine „gute Geschichte“
aufrechtzuerhalten in einem Schweigen der Eltern: „In der Kriegsgeneration
gab es vielfach kollektive Versuche, die eigene Verantwortung für die
Verbrechen der Nationalsozialisten zu relativieren bzw. zu verleugnen. Diese
Phänomene haben sich auf familialer Ebene ebenfalls gezeigt.“662 Eine Folge
660
Ebd., S. 178.
Ebd., S. 168.
662
Wolfgang Neumann, Spurensuche als psychologische Erinnerungsarbeit, Tübingen, 1999, S. 41.
661
262
davon war, dass das Ende des „Dritten Reiches“ vielfach auch das Ende von
Erzähltraditionen in den Familien bewirkte.663 Entsprechend gehört zu den
häufigsten Erfahrungen der nachfolgenden Generation, sowohl der Opfer- als
auch der Täterkinder, das Schweigen der Eltern über die im Krieg oder
Konzentrationslagern gemachten Erfahrungen.664 An dieser Stelle spaltet sich
Konnys Rolle auf. Die historische Ambivalenz Tullas als „Opfertäterin“
bewirkt, dass Konny als ihr Nachfahre beide Ausprägungen in sich trägt: die
aus dem Beschweigen des Traumas und die aus dem Verschweigen über die
Schuld. Konny ist einerseits der Empfänger von traumatischen
Erinnerungsfragmenten und andererseits von „leeren Stellen“ aus dem
Schweigen über Tullas Schuld aus ihrer Denunziation gegenüber Studienrat
Brunies. Diese beiden bilden für Konny das Familiengedächtnis, aus dem er
seine Identität bezieht. Nachfolgend sollen zunächst die Tradierung des
Schweigens (Schuld) und im Anschluss die Tradierung des Beschweigens
(Trauma) als Inhalte des Familiengedächtnisses untersucht werden.
663
664
Ebd., S. 14.
Vgl. Sebald, Luftkrieg und Literatur, S. 83.
263
Das Schweigen der Eltern
Der 1944 geborene W.G. Sebald verbindet das Schweigen der (Mitläufer, Mitwisser,
Mittäter-) Eltern für den Heranwachsenden mit dem Gefühl, „es würde mir etwas
vorenthalten, zu Hause, in der Schule und auch von den deutschen Schriftstellern, deren
Bücher ich in der Hoffnung las, mehr über die Ungeheuerlichkeiten im Hintergrund
meines eigenen Lebens erfahren zu können.“665 Auch Konny liest Bücher deutscher
Autoren. Zwei Bände Kafkas stehen im Regal seiner Gefängniszelle. (215) Rüdiger
Görner erinnert daran, dass Grass Kafka „als einen Menschen und Schriftsteller (sah),
der sich und seine Figuren Geschichte erleiden lässt.“666 Tulla selbst sieht Konny als das
Opfer ihrer eigenen Geschichte und scheint so ihre „Zweite Schuld“ (Giordano)
anzuerkennen: „Nich das Jungchen, mich hätten se ainlochen jemußt.“ (198)
Jörn Rüsen diagnostiziert Folgen für die nachfolgenden Generationen aus
diesem Schweigen:
Man sollte aber nicht übersehen, dass das Beschweigen (…) eine mentale
Innenseite hatte und dort einen hohen kulturellen Preis forderte. Da man
die Vergangenheit ja nicht einfach durch Beschweigen zum Verschwinden
bringen kann, blieb sie als Beschwiegene mental präsent und wurde im
Schweigen der Öffentlichkeit so verarbeitet, dass sie auf der Oberfläche
des Bewussteins ihren störenden und belastenden Charakter verlor. Das
geschah teilweise durch schlichte Verdrängung. Aber viel wichtiger für
die Mentalitätsgeschichte der BRD waren die (noch wenig erforschten)
mentalen Vorgänge der Umdeutung, die sie erträglich machten.
Zusammen mit der Kraft unbewusst gemachter Erinnerung braute sich
eine Konstellation des Erinnerns und Vergessens zusammen, die von der
nachfolgenden Generation als schwere Belastung empfunden wurde und
in den Prozessen ihrer Bewältigungsversuche wirksam blieb. Man kann
vom Zerbrechen einer intergenerationellen Erinnerungsgemeinschaft
sprechen. Ein solches Zerbrechen stellt eine schwere Störung von
historischer Identität dar.667
Als Konny den ehemaligen Ehrenhain Gustloffs als Ort für das erste Treffen
vorschlägt, protestiert Wolfgang gegen Konnys „revisionistischen
Geschichtsrelativismus“ (160). Dem entgegnet Konny: „Wer die Geschichte
665
Ebd.
Görner in Honsza; Swiatlowska, (Hg.), S. 482.
667
Rüsen, `Holocaust, Erinnerung, Identität´, S. 243-259 in Das soziale Gedächtnis, S. 248f.
666
264
seines Volkes vergisst, ist ihrer nicht wert!“ (ebd.) In Konnys Reaktion zeichnet
sich Rüsens Diagnose einer „schweren Störung von historischer Identität“ aus
dem Erinnern und Vergessen ab. Was als unverfängliche Feststellung über die
Historie zu beginnen scheint – „Wer die Geschichte seines Volkes vergisst“ –
endet in der Ausgrenzung aus der (Erinnerungs-)Gemeinschaft – „ist ihrer nicht
wert!“ In den Begriffen der Wertigkeit und der Ausgrenzung lassen sich die
Merkmale nationalsozialistischer Ideologie wiedererkennen. Auch in der
klischeehaft anmutenden Überreaktion Wolfgangs - „revisionistischen
Geschichtsrelativismus“ - deutet sich eine Störung an. In beiden Fällen scheint
das Wissen über die tatsächliche Ereigniskette unterbrochen durch „leere
Stellen“, entstanden aus dem Schweigen der Zeitzeugen.
Neumann veranschaulicht den Prozess der „leeren Stellen“ innerhalb der
Familien:
Aus den Familienbüchern und –biographien wurden aufgrund des
`kollektiven Schweigens´ (…) viele Details gestrichen: Namen, Fakten,
Orte, Personen, Tatbestände und Tathinweise, Tote und Verletzte,
Materielles und Immaterielles, Ideale und Lebensinhalte sowie
Erfahrungen mit Freud und Leid. Die nachfolgenden Generationen
wurden und werden von ihren Eltern und Großeltern durch Verschleierung
von Details der NS-Zeit über innerfamiliäre geschichtliche Wahrheiten im
Unklaren gelassen, weil das konkrete Ausmaß von Schuld (…) vertuscht
werden sollte. Dadurch erfolgt eine besonders starke und nicht `greifbare´
Übertragung tabuisierter Themen auf die nachfolgenden Generationen in
Form familiärer Aufträge, deren Inhalte oft unbekannt bleiben und die von
diffusen Gefühlen, von Spannung, Angst und Schuldgefühlen, begleitet
werden.668
Besonders deutlich zeigen sich diese diffusen Schuldgefühle aus der „Übertragung
tabuisierter Themen“ in der Figur Wolfgang Stremplin: „Doch habe ihr Sohn sich
schon früh, seit seinem vierzehnten Lebensjahr, den Vornamen David auferlegt und
sich wegen der, weiß Gott, sattsam bekannten Kriegsverbrechen und Massentötungen
derart in Sühnegedanken gesteigert, daß ihm schließlich alles Jüdische irgendwie
heilig gewesen sei.“ (185) Auf eine Bürde aus der Geschichte vergangener
668
Neumann, S. 14.
265
Generationen deutet insbesondere der Schlüsselbegriff des „auferlegten“ Namens
David. Die Umschreibung der „sattsam bekannten Kriegsverbrechen und
Massentötungen“ für den Holocaust offenbart die Verschleierung durch Mutter
Stremplin, die einer „seit Generationen im Badischen ansässigen Bauernfamilie“ (181)
entstammt, die den Mitläufern und Mitwissern zugeordnet werden kann.669
Das Ausblenden der Historie resultiert im Krebsgang in der Hilflosigkeit Mutter
Stremplins gegenüber der eigenen Geschichte. Indem sie nur das Vordergründige
in der philosemitischen Verwandlung ihres Sohnes zu sehen vermag, dem
„schließlich alles Jüdische irgendwie heilig gewesen sei“ (185) - nicht aber die
hintergründigen (Schuld-)Motive und deren Ursprünge dafür erkennt – „All das
habe wohl mit diesem Gustloff (…) zu tun (…) hat es an Wissen, was den Fall
Gustloff betrifft, leider gefehlt“ (186), bleibt ihr am Ende die Erkenntnis
verschlossen. Sie ist geneigt, „alles irgendwie unerklärlich zu finden.“ (187)
Entsprechend bleibt ihr der Zugang zu ihrem Sohn - auch als Metapher ihrer
eigenen Zukunft - versagt: „In letzter Zeit ist uns unser Bub unerreichbar
gewesen.“ (ebd.) Die leeren Stellen des Vergangenen resultieren in der
(Erkenntnis-)Störung für zukünftige Identitätsentwürfe. Die eigene Hilflosigkeit
lässt Mutter Stremplin in den geistigen Ausgangspunkt ihrer Existenz Mitte der
1950er Jahre, dem Wunsch nach „Tabula rasa“, regredieren: „irgendwann müsse
Schluß sein mit den ewigen Anklagen“. (185)
Der Psychologe Peter Pogany-Wnendt erklärt, wie sich aus dem Schweigen der Eltern
ein Auftrag für die Kinder ergibt:
Die unverarbeiteten Verlust- und Verfolgungserfahrungen der ÜberlebendenEltern, sowie die uneingestandenen Taten der Täter- bzw. Mitläufer-Eltern
werden an die Kinder weitergegeben, die dann die Aufgabe aufgebürdet
bekommen, sie zu verarbeiten. Da die Weitergabe zum größten Teil unbewusst
geschieht, wissen die betroffenen Kinder nichts davon. Sie wissen ebenso wenig,
wie sie die unmöglichen Aufgaben erledigen können und entwickeln oft
669
Vgl. Friedel Scheer-Nahor, `Händlergeschick traft Bauernschläue´, in Badische Bauern Zeitung, 15.04.2006,
S. 4.
266
unbestimmte Gefühle von Hilflosigkeit, Unzulänglichkeit und Schuld gegenüber
den Eltern.670
Diese „Hilflosigkeit, Unzulänglichkeit und Schuld“ offenbart sich in der Figur
Wolfgang Stremplin, der die Identität David Frankfurters annimmt:
So verlief ihr Rollenspiel: wie eingeübt. Und doch zweifelte ich mehr und mehr
an meiner Annahme, es klicke sich Mal um Mal ein erfundener David ein, es
quassle ein Homunkulus gestanzte Sätze, etwa diese: `Euch Deutschen wird
Auschwitz als Zeichen der Schuld ewiglich eingebrannt sein…´Oder: `Du bist ein
deutliches Beispiel für das nachwachsende Unheil…´ Oder Sätze, in denen sich
David im Plural versteckte: `Uns Juden bleibt die nie endende Klage.´- `Wir
Juden vergessen nie!´ (118).
Mit der Annahme einer jüdischen Identität negiert der christliche Deutsche seine
eigene. Der Preis für die Annahme der (fremden) jüdischen Identität als David
Frankfurter (nachfolgend „David“) ist in letzter Konsequenz der Tod der eigenen –
narrativ dargestellt in dem Tod Wolfgangs durch den Mord an „David“ (175). Der Tod
Wolfgangs in der Rolle des historischen David offenbart den Bruch der
intergenerationellen Erinnerungsgemeinschaft671.
670
Peter Pogany-Wnendt, `Dialog zwischen den Nachkommen der Opfer und den Nachkommen der Täter in der
zweiten Generation nach dem Holocaust.´, Beitrag zu Kongress: “Memory, Narrative & Forgiveness. Reflecting
on ten years of South Africa's Truth and Reconciliation Commission”, University of Capetown, 22.-26.
November 2006, http://www.pakh.de/Archiv/Kongress_Kapstadt_2006/body_kongress_kapstadt_2006.html, S.
6.
671
Vgl. Rüsen.
267
Der Auftrag aus dem transgenerationell übertragenen Trauma
Zu dem Ausblenden der Historie aus Schuld- und Schamgefühlen heraus, fügt sich das
„Nicht-wissen“ des Traumas672 als leere Stellen. In der öffentlichen Aufarbeitung der
NS-Zeit ab der zweiten Phase673 Mitte der 1960er Jahre (Auschwitz Prozesse)
überlagerte das unfassbare Trauma des Holocaust andere Katastrophen zwischen 1933
und 1945. Als Folge davon blieb ein gesamthistorischer Ansatz in der Bearbeitung der
erlebten Geschichte weitgehend aus. Erst im Jahr 2005 plädiert etwa Peter Glotz mit
Blick auf die Vertriebenen für die öffentliche Anerkennung der Kriegsleiden:
`Die Henker wollen sich als Opfer darstellen´, heißt eine weitverbreitete
polnische These. Wir haben nicht vergessen, wer den Zweiten Weltkrieg
angefangen hat – Hitler, und zwar mit Zustimmung vieler Deutscher. Das heißt
aber nicht, dass es Täter- oder Opfervölker gäbe. Jedes Volks ist eine vertrackte
Mischung aus Tätern, Mittätern, Mitläufern und Opfern. Wir haben nie
bezweifelt, dass das deutsche Volk im Griff Hitlers viel zu viele Täter, Mittäter
und Mitläufer hatte. Das ist aber kein Grund, der deutschen Opfer, die es eben
auch gab, nicht zu gedenken.674
Die Gefahr der Vermengung von „Henkern und Opfern“ reflektiert sich im Krebsgang
in der Metapher Paul als Trauma: „Wenn ich jetzt beginnen muss, mich selber
abzuwickeln, wird alles, was mir schiefgegangen ist, dem Untergang eines Schiffes
eingeschrieben sein“. (7) Auf die Gefahr der Schuldabwehr ist hingedeutet, indem das
was Paul „schiefgegangen“ ist (er bewahrt seinen Sohn nicht vor einer Mordtat), dem
Trauma des Untergangs zugeschrieben wird. Tatsächlich ist nicht das Trauma
ursächlich „schuld“ an dem „Schiefgegangenen“ (Paul hat Konny nicht zum Mord
aufgefordert), sondern die Katastrophe wiederholt sich, weil das Trauma sich nicht
selbst „abwickelt“ und zur (Er-)Kenntnis „gebracht“ werden kann. Tullas Versuche ihr
Trauma durchzuarbeiten, scheitern an „dessen“ Sprachlosigkeit. Die wiederholten
Aufforderungen gegenüber Paul, er möge die Geschichte ihres Traumas
„aufschraiben“ (31) scheitern, weil sich das Trauma nicht selbst „abwickeln“ (7) kann:
„Traumatisierung schließt das Wissen vom Trauma aus.“675 Es bedarf der äußeren
Hilfe, um ein Trauma zu bearbeiten (vgl. „Durcharbeiten“). Wie gestaltet sich nun der
672
Vgl. Laub
Vgl. A. Assmann in „Einführung“
674
Peter Glotz, Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers, Berlin, 2005, S. 36.
675
Laub, S. 866.
673
268
Einfluss des „Gewesenen auf das Sein“, wenn Geschichte außerhalb des Bewusstseins
liegt?
„Dieser Ausschluß (des Wissens über Trauma) sowie die dissoziierte Erfahrung und
Erinnerung des Traumas sind kein passives Ende der Wahrnehmung oder Erinnerung.
Das Nicht-Wissen ist vielmehr eine aktive, hartnäckige, gewaltsame Verweigerung,
eine Auslöschung, eine Zerstörung von Form und Struktur.“676 Durch die Prozesse der
transgenerationellen Übertragung wird diese zerstörte Form und Struktur zum
unbewussten bzw. unterbewussten Inhalt des Geschichtsbewusstseins: „Wenn
Verfolgte und Verfolger (…) nicht in der Lage oder nicht gewillt sind, was sie
erfahren oder getan haben zu verarbeiten, dann geben sie das Unverarbeitete an ihre
Kinder weiter.“677
„Lauter Schnitzeljagten im familiären Gehege“ (193), fasst Paul die Gutachten der
beiden Kriminalpsychologen zusammen, die die Ursachen von Konnys Mordtat
erklären sollen, der „in Mutters Fänge geraten ist.“ (ebd.) Das (traumatisch)
Fragmentarische – „Schnitzeljagten“ – aus dem Familienkanon des
Familiengedächtnisses – „familiäres Gehege“ – dem nicht zu entkommen ist - „in
Mutters Fängen“ – werden so als Quelle der Mordtat assoziativ miteinander
verbunden.678 Tulla lässt Konny durch „ihre Geschichten“, beginnend beim
Tischerleihof in Langfuhr, den Abenteuern als „Straßenbahnschaffnerin im letzten
Kriegsjahr“ und dem „ewigsinkenden Schiff“ (44) an ihrem Trauma teilnehmen, das
so zum prägenden Erlebnis in Konnys Leben wird. Diese Prägung zeigt sich in dem
Trauma Paul als genealogisches Bindeglied zwischen Tulla und Konny als Sohn bzw.
Vater.
Im Krebsgang kulminiert das „Nicht-Wissen“ in der Auslöschung Wolfgangs alias
David, nachdem Konny seiner Großmutter geschworen hat, „die Wahrheit, nichts als
676
Ebd.
Pogany-Wnendt, S. 8.
678
Anmerkung: Maurice Halbwachs hat die Familie im Vergleich zu anderen sozialen Gruppen als eine
„unauflösliche Einheit“ bezeichnet: selbst wenn die Familienbeziehungen aufgrund von Tod, Scheidung etc.
zerreißen, blieben Väter Väter und Söhne Söhne. Vgl. hierzu Welzer in Das Soziale Gedächtnis, S. 168.
677
269
die Wahrheit zu bezeugen“ (73). Die Wahrheit verweigert sich jedoch im
Traumatischen, indem die einzelnen Fragmente kein Gesamtbild ergeben. Dieses
Gesamtbild erschlösse das historische Vorher und Nachher des Traumas. Entsprechend
bleiben Tulla die historischen Zusammenhänge ihres Traumas verschlossen: „Mecht
mal bloß wissen, was sich dieser Russki jedacht hat, als er Befehl jab, die drai Dinger
direktemang auf ons loszuschicken….“ (11). Das sichtbare Zeichen der Wahrheit (des
Traumas) seiner Großmutter ist für Konny der Ehrenhain Gustloffs. Er kämpft für die
Wiedererrichtung des von den Russen zerstörten Mahnmals als einen Ort der Trauer
für das schreckliche Erlebnis seiner Großmutter (192), das den Namen „Gustloff“
trägt:
Da ich in der Stadt zwischen den sieben Seen aufgewachsen bin, weiß ich, wo
später am Südufer des Schweriner Sees die Urne im Fundament eingemauert
wurde. Drauf stand ein vier Meter hoher Granit, den eine keilförmig gemeißelte
Inschrift beredt macht. Mit den Grabsteinen anderer Alter Kämpfer bildete er den
Ehrenhain um die eigens gebaute Ehrenhalle. (…) Für mein mir vernetztes
Gegenüber jedoch (Konny) bestand Bedarf, wiederum und an gleicher Stelle
einen Gedenkstein zu errichten; nannte er doch Schwerin unentwegt die
`Wilhelm-Gustloff-Stadt´. (37)
Das Zerstörerische des Nicht-Wissens nimmt seinen Lauf, nachdem David alias
Wolfgang „auf das vermooste Fundament gespuckt, also den Ort des Gedenkens, wie
mein Sohn später aussagte, `entweiht´ haben (soll).“ (175) Das Zerstörerische in der
Dritten Generation im Krebsgang, der Mord an Wolfgang alias David, ist somit die
Folge der „leeren Stelle“ im Geschichtsbewusstsein: „Aus Gründen der Fairneß müsse
gesagt werden: Wie er, so habe auch Frankfurter `ganz aus innerer Notwendigkeit´
gehandelt.“ (189-90) In dieser Verbindung zwischen der historischen Orientierung und
dem gegenwärtigen Handeln zeigt sich die gestörte historische Identität im
ungebrochenen Kreislauf der Gewalt.
Ein Blick auf die psychologischen Abläufe der transgenerationellen
Übertragung von Traumata verdeutlicht den Hintergrund von Konnys
Mordmotiv. Die nachfolgenden Ausführungen über die transgenerationelle
Weitergabe von Traumata sind der Holocaustforschung entlehnt. Die
270
Forschungsergebnisse in diesem Feld, beginnend in den 1960er Jahren, sind
umfangreich und damit von entsprechend empirischem Gehalt. Derzeit liegen
nach meinen Recherchen keine substantiellen Ergebnisse zur Erforschung der
Prozesse transgenerationeller Weitergabe von Traumata von „Opfertäter“ an
ihre Kinder vor. Die Ergebnisse aus der Holocaustforschung können aus
offensichtlichen Gründen nur näherungsweise Erkenntnisse im Rahmen dieses
Kapitels erbringen. Wesentlich zu beachten ist dabei, dass „die Folgen einer
lang anhaltenden kumulativen Traumatisierung komplexer sind, vor allem auch
in den langfristigen Auswirkungen auf soziale Beziehungen und in der
Interdependenz mit dem sozialen Gefüge“ als bei kurzen, konkreten
traumatischen Sequenzen.679 Für die nachfolgenden Generationen auf Seiten
der „Opfertäter“ und Opfer liegt der gemeinsame Nenner in den pathologischen
Grundmustern von extremer Traumatisierung durch Gewalt und Verfolgung.
(vgl. hierzu Abschnitt „Trauma“) Ein Unterschied ergibt sich für letztere durch
den Prozess der „Entmenschlichung“ in den Konzentrationslagern, was die
Intensität der Traumasymptome bestimmt.
Bohleber beschreibt, wie die genealogische Transmission von Traumata auch bei
den Kindern der Betroffenen eine Traumatisierung bewirkt:
Schwer traumatisierte Eltern waren nur sehr begrenzt in der Lage, für ihre
Kinder eine Container-Funktion (...) zu übernehmen bzw. einen geschützten
Raum für ihre Entwicklung bereitzustellen. Da die traumatisierte Mutter
durch eigene Ängste, aufgestaute Hassimpulse, Bindung an verlorene
Objekte, Affektlähmung und andere Formen der Ich-Regression sich nicht
adäquat in die Bedürfnisse ihrer Kinder einfühlen konnte, wirkte die
Extremtraumatisierung der Eltern auf die Kinder als ein kumulatives Trauma
(...). Die Eltern konnten ihre Affekte und Phantasien und davon geprägten
Selbstanteile nicht in sich halten und beruhigen oder sie symbolisch
bearbeiten, sondern sie brauchten ihre Kinder, um sich von dem
unerträglichen Übermaß an Trauer und Aggression projektiv zu entlasten. 680
679
Angela Kühner, Kollektive Traumata. Annahmen, Argumente, Konzepte. Eine Bestandsaufnahme nach dem
11. September, i.A. Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung, Berlin, 2002, S. 21.
680
Bohleber in „Trauma“, S. 815f.
271
Selbst nach dem Mord an Wolfgang kann Tulla ihre Projektion gegenüber Konny
nicht beenden: sie schenkt ihm ein Modellschiff Gustloff:„Kann Mutter kein Ende
finden?“ (208)
Wesentliches Merkmal der transgenerationellen Weitergabe von Traumata ist die
Erteilung eines „Auftrags“: „Unbewusst wird vom Kind erwartet, dass es die affektiv
belasteten Traumata ungeschehen macht, die die seelische Struktur der Eltern zerstört
haben.“681 Für die Zeit nach dem Treffen in Damp erzählt Paul: „Ab dann war Konny
oder `Konradchen´, wie Mutter sagte, ihre große Hoffnung.“ (44) Da das Mahnmal als
Ort der Trauer verweigert bleibt, versucht Konny durch den Mord an Wolfgang alias
David am Geburtsort Wilhelm Gustloffs (172) die Vorzeichen umzukehren und so das
Geschehen rückwirkend ungeschehen zu machen: ohne David Frankfurter kein Mord
an Wilhelm Gustloff usw.
Der Mord an Wolfgang alias David reflektiert ein weiteres Phänomen, das in der
traumatisierten Tulla verborgen liegt:
Für das Kind bedeutet dies682, dass es mit seiner Person einen psychischen
Raum darstellt für Wünsche, Ängste und Affekte eines anderen, die nicht die
seinen sind, ihm aber eingeschrieben werden. Aufgrund der engen
Verbundenheit mit dem Elternteil ist es ihm nicht möglich, sie als fremd zu
erkennen und seine Autonomie zu behaupten.683
Der besondere Auftrag, den das Kind zugeschrieben bekommt, wird zu seinem
Lebensziel: das Kind soll den Familienstolz durch persönliche Leistungen wieder
herstellen und vergangene Verletzungen heilen. „Indem nun das Kind diese
elterlichen Phantasien übernimmt, rechtfertigt es die traumatisierten Erwachsenen,
versucht ihnen zu helfen und erhält so die enge Beziehung aufrecht. Die ElternKind-Beziehung (hat) einen stark symbiotischen Charakter.“684 Die Symbiose zeigt
sich in der Dimension der transgenerationellen Übertragung: „Mein Sohn hat
offenbar eine Menge von Mutter mitbekommen. “ (67)
681
Ebd., S. 816.
Anmerkung: der unbewusste Auftrag, das Trauma ungeschehen zu machen.
683
Ebd.
684
Ebd.
682
272
Ohne die direkte Erfahrung verheerender Gräueltaten, denen ihre Eltern ausgesetzt
waren, sollen sie diese Realität durch eigene Vorstellung ins Bewusstsein rücken bzw.
durcharbeiten: „(Dabei) verwandeln sich `die Ungeheuerlichkeit und der Schrecken
schwerster Zerstörung´ bei Kindern von Überlebenden `zu primären Ereignissen,
hemmen aber gleichzeitig genau jene imaginativen Prozesse, mit deren Hilfe sie zum
Wissen gelangen.“685 Tulla hat Konny „(…) mit ihren Gräuelgeschichten,
Vergewaltigungsgeschichten vollgepumpt, (…)“ (100-1) Auf Konnys Internetseite
offenbart sich die Diskrepanz in der Imagination: „In Ruhe und Ordnung nahm das
Schiff die vor den russischen Bestien fliehenden Mädchen und Frauen, Mütter und
Kinder auf….“. (102-3)
In Ermangelung von Imagination der Gräueltaten nähern sich die Kinder unbewusst
auf andere Weise ihrem „Auftrag“:
Vor allem bei Eltern, die ihre massive Traumatisierung nur abwehren konnten,
indem sie ihre traumatischen Erfahrungen verleugneten bzw. entwirklichten,
erfassen die Kinder unbewusst das Erlittene, bearbeiten Anzeichen mit ihrer
Phantasie und agieren diese Phantasien in der äußeren Welt aus. Diese Kinder
suchen das, was den Eltern zugestoßen ist und was sie erlebt haben zu verstehen,
indem sie in ihrem Leben die Erfahrungen der Eltern und die dazugehörigen
Affekte wiedererschaffen. Da diese nicht symbolisch zu verarbeiten sind, hat das
Verhalten der Kinder eine Art von Konkretismus, der die unbewusste
Identifizierung mit dem Schicksal der Eltern aufzeigt. Diese Externalisierung soll
helfen, die schreckliche Realität ungeschehen zu machen oder sie zu verleugnen.
Die Kinder leben in zwei Wirklichkeiten, der eigenen und der, die der
traumatischen Geschichte der Eltern angehört.686
„Die Gustloff war ein schönes Schiff.“ (73) schreibt Konny auf seiner Homepage, die
Erfahrungen Tullas aus ihrer Lebenszeit als junge Frau wiedergebend, die ihrerseits
diese Attitüde von ihren Eltern übernommen hatte (66f). Die „dazugehörigen Affekte“
werden in dem Rollenspiel als Wilhelm Gustloff erschaffen. Im virtuellen Raum als
Symbol für die zweite Wirklichkeit – Paul und Gabi sind sich einig, dass „all das
Unglück“ begann, als Konny den Computer von Tulla geschenkt bekam (67-8) - in der
685
686
Laub, S. 867.
Bohleber, „Trauma“, S. 816.
273
Konny als Gustloff „lebt“, trifft er auf Wolfgang alias David Frankfurter: „Der fortan
immer wieder auflebende Disput wurde per Vornamen geführt, indem ein Wilhelm
dem ermordeten Landesgruppenleiter Stimme gab und sich ein David als verhinderter
Selbstmörder in Szene setzte.“ (48) Die eigentliche Wirklichkeit der beiden, die neben
der angenommenen historischen Wirklichkeit steht, offenbart sich im Verhalten
zueinander: „Man hätte sie für Freunde halten können, sosehr sie bemüht blieben,
ihren wechselseitigen Haß wie ein Soll abzuarbeiten.“ (49) Beide scheinen gefangen in
ihrem Rollenspiel, in dem sie sich gegenseitig die ‚Bälle zuspielen’: „Dazu fiele dem
Duett Wilhelm und David ein Streitgespräch ein. Wie beim Tischtennis“. (64) Der
Wunsch, die schreckliche Realität ungeschehen zu machen, zeigt sich bereits im
virtuellen Raum: „Wilhelms in den Chatroom gestellt Frage `Würdest du, wenn mich
der Führer ins Leben zurückriefe, abermals auf mich schießen?´ beantwortete David
umgehend: `Nein, nächstes Mal darfst du mich abknallen`.“ (49)
Das Rollenspiel geht mit einer Einbettung in das entsprechende historische Umfeld
einher:
Die Identifizierung findet nicht mit der Person oder den Eigenschaften von Vater
oder Mutter alleine statt, sondern es ist ein Typus von Identifizierung mit einer
Geschichte, die vor seiner Lebenszeit lag. Kerstenberg spricht von
`Transposition´(...), einer unbewussten identifikatorischen Teilhabe an der
vergangenen traumatischen Lebenszeit der Elterngeneration. Faimberg (...)
kennzeichnet diesen Identifizierungstypus als `téles-copage´ (Telescoping), als
ein Ineinanderrücken von drei Generationen. Klein und Kogan (...) verwenden
das Konzept `Mythos of Survival´, das als unbewußtes Phantasma über die
Geschichte der Eltern in die Psyche der Kinder eindringt und um Tod und Leben
oder um die Rollen von `Mörder´ und `Opfer´ kreist.687
In der Rolle Gustloffs identifiziert sich Konny mit einer Geschichte, die „vor seiner
Lebenszeit lag“ (s.o.) und die im Abschnitt „Nationalsozialismus“ dargelegt
worden ist: Auf seiner Webseite www.blutzeuge.de „klopft“ Konny „markige
Sprüche“ (8), behauptet etwa, ohne „den Juden wäre es (…) nie zur größten
Schiffskatastrophe aller Zeiten gekommen. Der Jude hat….Der Jude ist schuld….“
687
Ebd., S. 817.
274
(14) oder „Niemals hätte die Adolf Hitler sinken können, weil nämlich die
Vorsehung….“ (41)
Das Bild Konnys als vermeintlicher Neonazi bricht immer wieder auf und offenbart so
die transgenerationelle Weitergabe von Tullas Vergangenheit in die Gegenwart: „Bei
der Schilderung des Mordes in Davos, den er, nüchtern wie ein Kriminalbeamter auf
Motivsuche, bis in alle Einzelheiten zerlegt hat, sprach er zwar wie auf seiner Website
von mutmaßlichen Hintermännern des Mörders, vom `Weltjudentum´ und von der
`jüdisch versippten Plutokratie´, aber Beschimpfungen wie `Schweinejuden´ oder der
Ruf `Juda verrecke!´ standen nicht in seinem Redemanuskript. Selbst die Forderung
nach der Wiederaufstellung eines Gedenksteins am Südufer des Schweriner Sees,
`genau dort, wo seit 1937 der hochragende Granit zu Ehren des Blutzeugen gestanden
hat´, war gesittet in Form eines Antrages gestellt, der die üblichen demokratischen
Gepflogenheiten bemühte.“ (82f)
Auch ist Konnys Antisemitismus von vermeintlicher Natur, insofern sich die
Übertragungen jener Attitüden, die „vor seiner Lebenszeit“ lagen, darin spiegeln: „`Im
Prinzip habe ich nichts gegen Juden. Doch vertrete ich, wie Wilhelm Gustloff, die
Überzeugung, dass der Jude innerhalb der arischen Völker ein Fremdkörper ist.“ (196)
Hierin reflektiert sich vordergründig der nationalsozialistische Antisemitismus (vgl.
Abschnitt „Antisemitismus“). Zugleich lässt sich darin der Wunsch nach Isolierung
des „Traumaauslösers“ in Konnys Vorstellungswelt erkennen: „Sollen sie doch alle
nach Israel gehen, wo sie hingehören. Hier sind sie nicht zu ertragen, dort braucht man
sie dringend im Kampf gegen eine feindliche Umwelt.“ (ebd.) Konnys Agieren ist
weder direkt noch indirekt von dem ideologischen Wunsch getrieben, einen „neuen
Menschen“ zu schaffen (vgl. „Antisemitismus“). Sein Motiv ist der Wunsch, ein
öffentlich sichtbares Zeugnis für das Trauma seiner Großmutter zu errichten.
Dass es trotz der Identifikation als „Mörder“ und „Opfer“ stets bei einem Rollenspiel
zwischen Konny und Wolfgang bleibt, zeigt sich in der gelegentlichen Distanz zu den
selbst gewählten Figuren:
275
Doch gelegentlich fielen sie aus der Rolle, etwa, wenn mein Sohn, als Wilhelm
die Schlagkraft der israelischen Armee lobte, hingegen David die jüdischen
Siedlungen auf palästinensischem Grund und Boden als `aggressive Landnahme´
verurteilte. Auch konnte es geschehen, dass sich beide plötzlich bei der
Beurteilung von Tischtennismeisterschaften sachkundig einig waren. So verriet
ihr individueller, mal scharfer Ton, dass sich im virtuellen Raum zwei junge
Leute gefunden hatten, die, bei allem feindseligem Getue, hätten Freunde werden
können. (118f)
Die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart resultiert in einer fragmentierten
Identität:
Indem die Geschichte eines anderen in das Kind hinein projeziert wird und es
sich damit identifiziert, erlebt es in seinem Teil seines Selbst ein Gefühl der
Entfremdung. Diese Identifizierungen können nicht ins Selbst assimiliert werden,
sondern bilden einen Fremdkörper. (…) Indem diese Kinder in zwei
Wirklichkeiten leben, ist die Vergangenheit mit der Gegenwart vermischt. Die
Folge ist eine zumindest partielle Identitätsverwirrung oder das Gefühl einer
fragmentierten Identität.688
Stellenweise verläuft Konnys und Wolfgangs Streit im Internet „bitterernst“ und
„verbissen“ (48), um jedoch im nächsten Moment in den jugendlichen „Plauderton“
(48) einer wahren „Quasselbude“ (117) zu wechseln. Noch deutlicher offenbart sich
die fehlende Innerlichkeit der angenommenen Rollen in der absurden Vermengung
zwischen bemühtem „wechselseitigem Hass“ (49) und freundschaftlicher Zuneigung
(ebd.), was schließlich in das geisterhaft und zugleich rührend anmutende Angebot
Davids kulminiert, Konny dürfe das nächste Mal ihn „abknallen“ (49), wenn er vom
Führer ins Leben zurückgeholt werde.
Während vorstehend die Prozesse der transgenerationellen Weitergabe von
Traumata vorwiegend auf die Dritten Generation nach Kriegsende dargestellt
worden sind, werden im nachfolgenden Kapitel - „Durcharbeiten“ - Ansätze für die
Bearbeitung der Traumata bei den Zeitzeugen (Tulla) und den transgenerationell
traumatisierten Nachfahren (Konny und Wolfgang) im Krebsgang untersucht.
688
Bohleber, ebd., S. 817.
276
3. Kapitel: „Durcharbeiten“
277
Wer wird, und wann, die Sprache wiederfinden.
Einer, dem der Schmerz den Schädel spaltet, wird es sein. Und bis
dahin, bis zu ihm hin, nur das Gebrüll und der Befehl und das
Gewinsel und das Jawohl der Gehorchenden.
Christa Wolf, Kassandra
(…) das `Verstehen´ in der Tradition der Aufklärung und der
selbstreflexiven Vertiefung der Analyse des Unbewussten (ist) eines
der mächtigsten Hilfsmittel bei der besseren Integration dessen, was
wir erlebt haben, sowie bei der Aufhebung des Kreislaufes von
Gewalt und Leiden, der doch die unausbleibliche Folge von
psychotraumatisch bedingtem Nichtverstehen ist.
Harald Weilnböck, Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben
278
Erkenntnisgewinn als ein Prozess von Verdrängung und Melancholie hin zu
einer Kultur „offener“ Trauerprozesse
Anders als nach dem Ersten Weltkrieg ist nach dem Holocaust keine neue Literatur
entstanden, durch die das Trauma in innovative Formen hätte gegossen werden
können. Auch die bildenden Künste zeichneten sich nach 1945 vor allem durch die
Abwesenheit ästhetischer Neuformulierungen aus. Die Bearbeitung des Holocaust
wurde in jene Formen gegossen, „die der Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs
bereits entwickelt hatte.“689
Allerdings wandelt sich nach 1945 das Verständnis gegenüber der Kunst. In den
avantgardistischen Kunstströmungen der Moderne, die durch Abstraktion und
Fragmentierung eine Form gefunden hatte, die dem Werteverlust infolge des Ersten
Weltkriegs erfasste, war stets eine Erlösungsversprechen immanent. Kunst und
Literatur nach dem Holocaust „waren im Gegensatz dazu in jeder Hinsicht antierlöserisch – unversöhnlich mit sich selbst und dem Grauen, das sie zu repräsentieren
suchten.“690
Das „Anti-erlöserische“ wird zum Ausgangspunkt (auch) im Werk von Grass. Mit
Blick auf die Blechtrommel schreibt er:
Mich hat nicht edle Absicht getrieben, die deutsche Nachkriegsliteratur um ein
robustes Vorzeigestück zu bereichern. Und auch der damals billigen Forderung
nach `Bewältigung deutscher Vergangenheit´ wollte und konnte ich nicht
genügen, denn mein Versuch, den eigenen (verlorenen) Ort zu vermessen und
mit Vorzug die Ablagerungen der sogenannten Mittelschicht (proletarischkleinbürgerlicher Geschiebemergel) Schicht um Schicht abzutragen, blieb ohne
Trost und Katharsis.691
Vor dem Hintergrund, dass Kunst, Literatur und Gesellschaft in einem
Wechselverhältnis zueinander stehen, „insofern jede Kunstproduktion einerseits durch
den gesellschaftlichen Kontext mit bedingt ist und andererseits wieder auf diesen
689
James E. Young, `Zwischen Geschichte und Erinnerung´, S. 41-62 in Das Soziale Gedächtnis, S. 43.
Ebd.
691
Grass, `Rückblick auf die Blechtrommel´, S. 102-114 in ders. Der Autor als fragwürdiger Zeuge, S. 103f.
690
279
zurückwirkt“692, ist nach 1945 eine Lücke entstanden: die anti-erlöserische
Auseinandersetzung in der Kunst hat die Alltagskultur der Nachkriegszeit nur wenig,
wenn überhaupt durchdrungen. Betrachtet man diese Auseinandersetzung als
Trauerarbeit, tritt insgesamt eher eine Verdrängung der anti-kathartischen
Trauerprozesse zu Tage. Alessia Ricciardi glaubt darin eine Tendenz des
„Auslagerns“ zu erkennen und meint, „consumerist pop culture might be understood
to present itself as operating beyond the necessity of mourning and thus to transcend
the ethical language of responsibility and regret for the past.”693 Vor diesem Symptom
des Auslagerns oder auch Abschiebens der Trauer erhebt sich die grundsätzliche
Frage, ob das Konzept der Trauer um den Anderen überhaupt der Ort für das ist, „was
Anderen als Anderen widerfährt“694, d.h. nimmt die Trauer „überhaupt angemessen
Maß an der Erfahrung, die sie unter dem reichlich abstrakten Begriff des `Übels´ zur
Sprache bringt.“695
Am Ende des 19. Jahrhunderts hat Freud696 die kathartische Form der Trauer
formuliert (1895)697. Dem Konzept liegt, wie eingangs kurz dargelegt, die Annahme
zugrunde, dass ein (durch Verlust traumatisierter) Patient über das Offenlegen und
wiederholte Durchleben seiner Gedanken und Träume unerwünschte Affekte
bewältigen und somit zur Heilung gelangen kann.698 Dieser Anspruch auf Heilung,
der „Loslösung“ von der „Libido“699 lässt den Prozess der Trauerarbeit im Freudschen
Sinne als ungeeignet für die Bearbeitung der unheilbaren Brüche im 20. Jahrhundert
erscheinen. Es bedarf daher einer anderen Wahrnehmung von Trauer.
Jean Laplanche verweist in seinem Konzept der Trauer auf das „Mysterium“, aus dem
sich stets offen bleibende Fragen ergeben, “because it confronts us with the ultimate
enigma of the Other (…). If, as Laplanche asserts, death always entails some form of
692
Meike Steiger, `Kunst und Gesellschaft´, in Achim Trebeß, (Hg.), Metzler Lexikon Ästhetik, Stuttgart, 2006,
S. 222.
693
Alessia Riccardi, The ends of Mourning. Psychoanalysis, Literatur and Film, Standfort, USA, 2003, S. 5.
694
Burkhard Liebsch, Revision der Trauer, Weiterswist, 2006, S. 43.
695
Ebd.
696
Anmerkung: in Zusammenarbeit mit Josef Breuer.
697
Franz Caspar, `Katharsis´ und `kathartische Methode´, in Dorsch Psychologisches Wörterbuch, Hartmut
Häcker und Kurt H. Stapf, (Hg.), Bern, 1998, S. 425f.
698
Ebd.
699
Sigmund Freud (1916), `Trauer und Melancholie´, in Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt, 1946, S. 430.
280
the demand, `what would he/she have said?´, we must challenge ourselves to remain
mindful of the alterity700 of the departed addressee”701. Aus der Sichtweise dieser
perpetuierenden Fragestellung wird Trauer zu einem anti-kathartischen Vorgang, in
dem es niemals (Los-)Lösung geben kann. Durch die stete Auseinandersetzung wird
die „kathartische Trauerarbeit“ zum „offenen Trauerprozess“.
Bezogen auf die Vergangenheit birgt die Auseinandersetzung mit dem „Anderssein“
des (historischen) Anderen, mit dessen „Mysteriösem“, die Chance, durch einen
Prozess des „Re-kategorisierens“702 ein „Wiederverstehen von bereits irgendwie
Verstandenem“703 zu erzielen. Dieser „offene Trauerprozess“ der steten
Auseinandersetzung findet sich im Krebsgang wieder: dem mysteriösen „Alten“ in
der Rolle des Fragenden (z.B. 54: „Doch Erinnerungsbrocken wie diese machen den
Alten kaum satt.“) steht der um Formulierungen ringende Erzähler mit seinen
„Sprachschwierigkeiten“ gegenüber (7: „Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit
mir.“). Diese Thematisierung von Fragestellung und Sprachlosigkeit als einer
unendlichen Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 20. Jahrhunderts entspricht
einer Trauerarbeit ohne Katharsis. Für den äußeren Betrachter bleibt der „Alte“ als
Figur unnahbar, da seine Innenansicht verschlossen bleibt. Als der einzig gesicherte
Ort für dessen offene Fragen, das „Mysteriöse“, steht die Ewigkeit: „Nie hört das
auf.“ (216)
Vor der Forderung nach der Übernahme der historischen Verantwortung stellt sich die
Frage nach der künftigen Ausgestaltung dessen, was den (traumatisierten) Zeitzeugen
in der Gegenwart als anti-erlöserische Ewigkeit erscheint. Im Krebsgang stellt sie sich
durch die Einführung einer weiteren Generation - Konny und Wolfgang. Die
Fragestellung, ob „wir (die Zeitzeugen) es wagen (können), denen, die nach uns
folgen, oder die wir ungefragt `in diese Welt hinübergezogen´ (…) haben, unter die
Augen zu treten“704, weil (unsere) eigene Glaubwürdigkeit in dem Ansinnen, Anderen
700
Das Anders-sein, das jedem Seienden, sofern es ist, zukommt.
Riccardi, S. 4.
702
Vgl. Strasser: Einführung.
703
Vgl. Kettner: ebd.
704
Liebsch, S. 192.
701
281
ein geschichtliches Leben zuzumuten“ auf dem Spiel stehe, muss ehrlicherweise zu
der Diagnose gelangen: „Weder das Erinnern noch das Vergessen lässt sich aber in
diesem Sinne (einer anti-erlöserischen Auseinandersetzung) einfach auf Dauer stellen,
institutionalisieren und politisch garantieren. Wer das Gegenteil glauben macht,
befördert ein noch tieferes Vergessen“.705
Hierin findet sich Riccardis Diagnose des “Auslagerns der Trauer” wieder, die
demnach auf eine Überforderung zurückzuführen ist: eine anti-erlöserische
Auseinandersetzung von einer schuldlosen Generation zu verlangen, erscheint als
inkompatibel. Indem sie das „Vergessen“ oder „Auslagern“ fördert, lässt sich aus
dieser Art des Umgangs mit der Vergangenheit kein „Gewinn von Einsicht“706 aus der
Geschichte erreichen.
Vereinzelte, dennoch sichtbare Aufbrüche des Unauflösbaren zeugen von
Trauerprozessen, die aus einem melancholischen Kreislauf heraustreten:
Whereas Kristeva´s work on mourning over the course of time has moved away
from a largely aesthetic conception of melancholia (as in Black Sun) to a more
engaged notion of mourning, other thinkers such as Judith Butler and Jacques
Derrida have insisted even more strongly on the need for a political and ethical
reinterpretation of the task of mourning.707
In Deutschland ist die Tendenz zu einer „engagierten“ und „politisch
reinterpretierten“ Form der Trauerarbeit gegen Ende der 1960er Jahre in einer
konkreten Form erkennbar. Als sichtbares Zeichen dieser Entwicklung steht
insbesondere die Gesellschaftsanalyse der Mitscherlichs, durch deren Werk Die
Unfähigkeit zu trauern (1967) die negativen gesellschaftlichen Folgen einer NichtTrauer sichtbar gemacht wurden und so der Prozess des Trauerns insgesamt eine
Aufwertung erfahren hat. Im Resultat schärfte dieses Werk das allgemeine
Bewusstsein für die vielfache Bedeutung der Trauer als notwendige Voraussetzung
für die Erneuerung der menschlichen Situation, die sich in einer in die Melancholie
705
Ebd.
Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 42.
707
Riccardi, S. 67.
706
282
abgleitenden Trauer nicht verwirklichen kann. „Dieses Bewusstsein schafft sich
Ausdruck in Formulierungen wie `produktive Trauer´ (Hans Norbert Janoweski) und
die scheinbare Paradoxie noch stärker heraus treibend, `optimistische Trauer´ (Christa
Wolf).“708
Im Gegensatz zu den Mitscherlichs, die die Melancholie noch als pathogenen
Zustand, bzw. als Blockade des Trauerprozesses bewerten, erachtet Grass sie als die
Vorstufe bzw. die Voraussetzung zur Trauer. In seiner Rede zum Dürer-Jahr „Vom
Stillstand im Fortschritt. Variationen zu Albrecht Dürers Kupferstich `Melancholia
I´709 „wird (…) die Melancholie zu einer Erkenntnismöglichkeit, zur Voraussetzung
von `Reue´ als `Utopie´.“710 Während in der Unfähigkeit zu trauern die Melancholie
noch im Sinne einer jeden Fortschritt lähmenden Spätfolge der “deutsche(n) Art zu
lieben“711 verstanden wird, will Grass die Melancholie als produktives Element in den
Seelenhaushalt der siebziger Jahre einführen, in denen man zwischen “Freud und
Marx“712 deren Namen „metonymisch für die pathogene Melancholie und die ebenso
pathologische Formen annehmende Utopie stehen, die nötige Balance finden
müsse.“713 Damit wandelt sich die „Unfähigkeit zu trauern“ zu einer prozesshaften
Trauerarbeit um, in der Verdrängung und Konfrontation einander abwechseln und so
die Voraussetzung für eine „Re-kategorisierung“, eine Erneuerung der menschlichen
Situation schaffen (vgl. Abschnitt „Trauma“).
Für die Trauerprozesse in der Gegenwart gilt es zwischen der Zeitzeugengeneration
und den nachfolgenden Generationen zu unterscheiden. Über die „Vorstufe“ der
Melancholie (Grass) würde die Zeitzeugengeneration zu einer steten – „ewigen“ –
Auseinandersetzung gelangen können, weil ihr das historisch Mysteriöse
(Traumatisierung) unauflösbar erscheint. Wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit an
708
Helmuth Kiesel, Literarische Trauerarbeit. Das Exil- und Spätwerk Alfred Döblins, Tübingen, 1986, S. 22.
In: Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnecke in Volker Neuhaus, Werkausgabe (WA), Bd. 4, Darmstadt,
1987.
710
Thomas Kniesche, `“Das wird nicht aufhören, gegenwärtig zu bleiben. Grass und das Problem der deutschen
Schuld´, S. 169-190 in Günter Grass. Ästhetik des Engagements, Hans Adler; Jost Herrmann (Hg.), New York,
1996, S. 181f.
711
Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München, 1998, S. 16.
712
Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnecke, S. 265-567 in Neuhaus WA, Bd. 4, S. 545.
713
Kniesche, ebd.
709
283
der Figur Tulla zu zeigen ist, gestaltet sich dabei insbesondere die Übernahme der
Mitschuld durch die „Opfertäter“ als schwierig vor dem Hintergrund, dass selbst
erlittene Traumata nicht durchgearbeitet werden können.
Aus der Forderung nach Übernahme der historischen Verantwortung durch die
nachfolgenden Generationen stellt sich die Aufgabe, Voraussetzungen für den
Erkenntnisgewinn zu schaffen. „(U)m nicht ironischerweise im Erinnern zu
vergessen“714, führt der Weg dorthin über das „sich stets neu und anders
(E)rinnern“715, das „Re-kategorisieren“ und „Wiederverstehen“. Das
„Wiederverstehen“ bedingt den Tod des bisher „Verstandenen“, im übertragenen Sinn
auch die Loslösung des ererbten Traumas.716 In dem Tod Wolfgang Stremplins
scheint dieses versinnbildlicht, indem das Trauma Paul nach dessen Tod feststellt:
„Hinterher, heißt es, ist man klüger.“ (81) Dieses „klüger“ indiziert eine
„Horizonterweiterung“ im Sinne Hans-Georg Gadamers.
714
Liebsch, S. 192.
Ebd.
716
Vgl. „Wiederholen“.
715
284
Die Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit als Erkenntnisprozess
Die Literatur hat eine lange Tradition als Ort der Trauer, nicht zuletzt wird Literatur
als Ersatz sich auflösender gesellschaftlicher Trauerrituale selbst zu einer Form der
Trauer um Verlorenes: „der Mythos von Orpheus lässt sich als eine frühe Spur solcher
literarischer Verarbeitungsformen verstehen. Im `Trauerspiel´, in der `Tragödie´ ist
Trauer seit jeher ein wesentlicher Bestandteil.“717
Ein Motiv für diese lange Tradition mag in dem Wissen des menschlichen Lebens um
seine Sterblichkeit begründet liegen: Das Wissen darum, dass „uns der Tod sicher ist
und dass uns die Traurigkeit sicher ist“, macht uns „zu Lesern und zu Zuhörern, zum
Benützer von Geschichten“ 718. Peter Bichsel erkennt darin Auswirkungen auf die
Verfassung unserer eigenen Lebengeschichten, wodurch man Literatur tatsächlich als
Lebenshilfe verstehen könne, jedoch nicht im Sinne von Tröstung oder Betäubung.
Die Tatsache, „dass es das Erzählen gibt, dass uns vordemonstriert wird, das lässt uns
unsere eigenen Geschichten herstellen.“719 Wir könnten uns deshalb im Stillen unsere
eigenen Geschichten erzählen, in Geschichten leben, denn unser Leben „wird dann
sinnvoll, wenn wir es uns erzählen können“720. Als Aufgabe für die Literatur ergibt
sich daraus, „die Tradition des Erzählens fortzusetzen, weil wir unser Leben nur
erzählend bestehen können“721.
Die Narration über das Leben in der Vergangenheit wird für die nachfolgenden
Generationen dann sinnvoll, wenn sich eine Erkenntnis, eine „Wahrheit“ daraus
gewinnen lässt. Um die Wahrheit einer der Historie entstammenden Narration, einer
„Überlieferung“ im Sinne Hans-Georg Gadamers zu erfassen, bedarf es des „Aussich-heraus-tretens“ bzw. eines Herausgehens aus der eigenen Gegenwart:
Wir sind immer von dem uns Nächsten hoffend und fürchtend eingenommen und
treten in solcher Voreingenommenheit dem Zeugnis der Vergangenheit
entgegen. Daher ist es eine beständige Aufgabe, die voreilige Angleichung der
717
Mauser und Pfeiffer, Trauer, S. 1.
Peter Bichsel, `Die Zeit und das Erzählen´, S. 217-230 in Luc Ciompi, Hans-Peter Dauwalder, (Hg.), „Zeit
und Psychiatrie. Sozialpsychiatrische Aspekte“, Bern, 1990, S. 223.
719
Ebd., S. 225.
720
Ebd., S. 226.
721
Ebd., S. 228.
718
285
Vergangenheit an die eigenen Sinnerwartungen zu hemmen. Nur dann wird man
die Überlieferung so hören, wie sie sich in ihrem eigenen anderen Sinne hörbar
zu machen vermag.722
Um diesen „anderen Sinn“ zu „hören“, bedarf es des Bewusstwerdens der eigenen
„Vormeinung“:
Wer verstehen will, wird sich von vorneherein nicht der Zufälligkeit der eigenen
Vormeinung überlassen dürfen, um an der Meinung des Textes so konsequent
und hartnäckig wie möglich vorbeizuhören (…). Wer einen Text verstehen will,
ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muss ein
hermeneutisch geschultes Bewusstsein für die Andersheit des Textes von
vorneherein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt aber weder
sachliche `Neutralität´ noch gar Selbstauslöschung voraus, sondern schließt die
abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein. Es gilt der
eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der Text selbst in seiner
Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche
Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen. (…) Ein mit
methodischem Bewusstsein geführtes Verstehen wird bestrebt sein müssen, seine
Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewusst zu
machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte
Verständnis zu gewinnen.723
Dabei ist die eigene Vormeinung selbst nicht losgelöst von der Historie, sondern
vielmehr ein Resultat daraus, was sich in der genealogischen Verbindung zwischen
den Generationen reflektiert:
Wenn sich unser historisches Bewusstsein in historische Horizonte versetzt, so
bedeutet das nicht eine Entrückung in fremde Welten, die nichts mit unserer
eigenen verbindet, sondern sie insgesamt bilden den einen großen, von innen her
beweglichen Horizont, der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die
Geschichtstiefe unseres Selbstbewussteins umfasst.724
Als Zielvorgabe für das Ver-setzen in Historie formuliert Gadamer die Erweiterung
durch das Verstehen der „authentischen“ Geschichtswahrheit, versinnbildlicht mit
dem Begriff der alles umschließenden „Horizonterweiterung“:
722
Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen,
1990, S. 310.
723
Ebd., S. 273f.
724
Ebd., S. 309f.
286
Solches Sichversetzen ist weder Einfühlung einer Individualität in eine andere,
noch auch Unterwerfung des Anderen unter die eigenen Maßstäbe, sondern
bedeutet immer die Erhebung zu einer höheren Allgemeinheit, die nicht nur die
eigene Partikularität, sondern auch die des anderen überwindet. Der Begriff
`Horizont´ bietet sich hier an, weil er der überlegenen Weitsicht Ausdruck gibt,
die der Verstehende haben muss. Horizont meint immer, dass man über das
Nahe und Allzunahe hinaussehen lernt, nicht um von ihm wegzusehen, sondern
um es in einem größeren Ganzen und in richtigeren Maßen besser zu sehen.725
Hierin eröffnet sich ein Aktionsfeld für den Rezipienten einer Narration, denn erst die
Verschmelzung des historischen (aus der Narration überlieferten) und (seines
eigenen) gegenwärtigen Horizonts führt zum Verstehen:
In Wahrheit ist der Horizont der Gegenwart in steter Bildung begriffen, sofern
wir alle unsere Vorurteile ständig erproben müssen. Zu solcher Erprobung gehört
nicht zuletzt die Begegnung mit der Vergangenheit und das Verstehen der
Überlieferung, aus der wir kommen. Der Horizont der Gegenwart bildet sich also
gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont
für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr
ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für
sich seiender Horizonte.726
Im ersten Kapitel dieser Arbeit „Erinnern“ steht das individuell erfahrene Trauma Tullas Erlebnis auf der Gustloff - der „kollektiven“ Geschichte aus Geschichtsbüchern
gegenüber, entsprechend der jeweiligen Reflexion im Krebsgang. Es ergeben sich aus
der traumabedingt verzerrten, bzw. eingeschränkten Wahrnehmung Diskrepanzen. 727
Anders gesagt: die „Vormeinung“ der Protagonisten gegenüber der subjektiven und
der kollektiven Historie ist durch das Trauma beeinträchtigt. Dies gilt, wie im zweiten
Kapitel „Wiederholen“ dargelegt, nicht nur für die Zeitzeugen. Im
transgenerationellen Übertragungsprozess sind diese Diskrepanzen aus der
Vergangenheit in die Gegenwart weiter gegeben worden. Nachfolgend sollen diese
Diskrepanzen und deren Ursachen getrennt nach Zeitzeugengeneration und
nachfolgenden Generationen umrissen werden. Darüber hinaus gilt es, die Hinweise
des „Färtenlegers“ Grass in der Novelle Im Krebsgang herauszuarbeiten, die Wege
aufzeigen, um diese Diskrepanzen in der Wahrnehmung aufzulösen, damit
725
Ebd.
Ebd., S. 311.
727
Vgl. Abschnitt „Trauma“.
726
287
Gegenwarts- und Vergangenheitshorizont verschmelzen und zu einer „Erweiterung“
im Sinne Gadamers – einer Erkenntnis – gelangen.
288
Ansätze von offenen Trauerprozessen im Krebsgang
Die Trauer beginnt mit der Erinnerung, deren Wesen im ersten Kapitel dargelegt
worden ist. Die unterschiedlichen Formen des Gedächtnisses728 spiegeln eine „Fülle
der Befunde“ und einen „Fortschritt der Theoriebildung“, die deutlich werden lassen,
dass „ein zentraler Bereich der sozialen Erinnerungspraxis mit wissenschaftlichen
Mitteln nur schwer zu erfassen ist“.729 Die komplexe und zugleich empheme Textur
der Erinnerungen scheint „ Künstlern und Schriftstellern viel eher zugänglich (…) als
Wissenschaftlern.“730
Grass beschreibt das komplexe und empheme Wesen der Erinnerung als „Material“
für den Autor:
Erinnerung ist – so verschwommen und lückenhaft sie erscheint – mehr als das
auf Genauigkeit zu schulende Gedächtnis. Erinnerung darf schummeln,
schönfärben, vortäuschen, das Gedächtnis hingegen tritt gerne als
unbestechlicher Buchhalter auf. (…) Der Schriftsteller erinnert sich
professionell. Als Erzähler ist er in dieser Disziplin trainiert. Er weiß, dass die
Erinnerung eine oft zitierte Katze ist, die gestreichelt sein will, manchmal sogar
gegen den Strich, bis es knistert: dann schnurrt sie. So beutet er seine Erinnerung
aus und notfalls die Erinnerung frei erfundener Personen. Erinnerung ist ihm
Fundgrube, Müllhalde, Archiv. Er pflegt sie, wie man nachwachsenden
Schnittlauch pflegt. Zwar weiß er, dass die Literatur ein Vielfraß ist und sogar
Zeitungsnotizen und ähnlich unreife oder roh vom Messer springende –
Aktualität verschlingt, aber wiedergekäute Erinnerungen sind sein
Hauptnahrungsmittel; in Dürrezeiten erinnert er sich an bereits abgegraste
Erinnerungen. Es mag eine berufliche Deformation sein, die es ihm erlaubt,
Schmerzhaftes, Beschämendes, sogar erinnertes Versagen mit Lust zu
verwerten.731
Der Erzähler Paul gibt Tullas Erinnerungen wieder. Ihr auf „Streichholzlänge“ (55)
geschnittenes Haar, das „(k)nisterte, wenn ich drüberstrich“ (ebd.), lässt sich vor
dieser Schilderung als ein Hinweis für ein Erinnern „gegen den Strich“ verstehen, d.h.
zur „Re-kategorisierung“ und zum „Wiederverstehen von bereits irgendwie
728
Vgl. Welzer in Das Sozial Gedächtnis, S. 11.
Ebd.
730
Ebd.
731
Grass, `Ich erinnere mich…´, in Wälde, (Hg.), S. 34.
729
289
Verstandenem“732 und somit als eine Öffnung im Prozess des Durcharbeitens. Wie
gestaltet sich diese Öffnung aus dem Krebsgang für den Rezipienten?
Das Kernthema der Handlung in der Novelle ist eine zerstörerische Vergangenheit,
die die Protagonisten in der Gegenwart beherrscht. Das während der Zerstörung
geborene Trauma Paul weiß als Erzähler nicht, „ob, wie gelernt, erst das eine, dann
das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll oder ob ich
der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muss. Etwa nach Art der Krebse, die
den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell
vorankommen.“ (8-9) Der Krebs ist als vorwiegend im Wasser lebendes Tier ein
„Symbol der Urflut“733 und steht bis „in den neuzeitlichen Volksglauben hinein (…)
in einem Bedeutungszusammenhang mit dem Weiblich-Mütterlichen“.734 Der seinen
Panzer wechselnde, sich häutende Krebs wurde im Mittelalter zum Symbol der
Auferstehung und damit vereinzelt auch zum symbolischen Hinweis auf Christus.735
Hierin findet sich ein erster Hinweis auf einen „offenen“ Trauerprozess: Erneuerung
durch Tod, indem das „Wiederverstehen“ das Sterben des bisher „Verstandenen“
bedingt. Dabei stirbt die „alte Vormeinung“ durch Wandlung, indem sie durch eine
Öffnung erweitert wird („Horizonterweiterung“) und zur „neuen Vormeinung“ wird.
In der Novelle Im Krebsgang findet sich diese Öffnung etwa, indem die durch das
Trauma in der Vergangenheit entstandene Schräglage jenes Weges erkannt wird, auf
dem die „alte Vormeinung“ einst erlangt worden ist.
Eine Aufforderung zur Re-Kategorisierung lässt sich zugleich in einer Aussage über
den „Alten“ als Alter Ego von Grass finden: „Mein einstiger Dozent scheint sich
hingegen leergeschrieben zu haben, sonst hätte er mich nicht als Ghostwriter in Dienst
gestellt.“ (30) Wie eingangs dargelegt, hat Jacques Derrida den Begriff des
„Hautology“ eingeführt, womit er das Phänomen der Erinnerungen umschreibt, die
immer wieder zurück in das Gedächtnis „spuken“. Durch Paul in der Funktion des
Traumas und dessen Symptom des Wiederholungszwangs gewinnt das „Haunting“
Vgl. Kettner in „Einführung“.
Manfred Lurker, `Krebs´, in Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart, 1991, S. 403f.
734
Ebd.
735
Ebd.
732
733
290
aus der Vergangenheit konkrete Form. Die Schwierigkeit des kontinuierlichen
Wiederverhandelns und Re-Kategorisierens, die auch bei Derrida Inhalte der
Trauerarbeit darstellen, deutet sich in der Abwehr des Traumas Paul an: „Ich will aber
nicht weiter im Krebsgang.“ (30)
Das Trauma als Ausgangspunkt der Re-kategorisierung zeigt sich im Amorphen der
Novelle: „Schwere psychische Traumatisierung hat eine amorphe Präsenz, die nicht
durch Raum, Zeit und Handlungsfähigkeit eingegrenzt ist. Ohne Anfang, Mitte und
Ende zieht sie sich durch die Erinnerung mehrerer Generation.“736 Indem das
Amorphe das Traumatische symbolisiert, deutet es auf die traumatisierte Figur,
insbesondere Tulla, als Plattform für die Re-Kategorisierung. Im Krebsgang erinnert
sich der „Alte“: „Zu meiner Zeit hatte die etwa zehnjährige Tulla Pokriefke ein
Punktkommastrichgesicht“. (55) In der Novelle Katz und Maus folgt der gleichen
Beschreibung Tullas durch Pilenz - „Tullas Gesicht wäre mit einer Punkt Komma
Strich Zeichnung wiederzugeben“737 - ein Hinweis auf Tulla als „Wasserwesen“:
„Eigentlich hätte sie Schwimmhäute zwischen den Zehen haben müssen, so leicht lag
sie im Wasser.“738 In Hundejahre, dem letzten Teil der Trilogie wird diese
Verbindung zum Amorphen in Tullas Namen eingebunden: „Du wurdest auf den
Namen Ursula gerufen. Wahrscheinlich leitet sich dieser Rufname von dem
koschnäwjer Wassergeist Thula her“.739 Diese dem Untergang der Gustloff und dem
Krebsgang zeitlich vorgelagerte Beschreibung erweitert den Blick auf Grass´
Protagonistin Tulla als eine bereits vor dem Untergang von Traumatischem
Durchdrungene.
Die amorphe Präsenz des Traumas symbolisiert sich zugleich in der Ostsee als Tatort
des Untergangs - dem Auslöser des Traumas - und im Gang des Krebses. Dieser
wandelt zwischen Land und Wasser, was sich narrativ in Pauls Wandern zwischen
den Räumen (Ländern, Orten) und Zeiten (historischen Epochen, Generationen) des
20. Jahrhunderts vor und nach dem Trauma spiegelt. Eine Folge des Amorphen (der
736
Laub, S. 866f.
Grass, Katz und Maus, S. 33.
738
Ebd.
739
Grass, Hundejahre, S. 108.
737
291
Traumatisierung) ist das Ineinanderfließen; eine Folge des Ineinanderfließens ist das
Ununterscheidbare; eine Folge des Ununterscheidbaren ist eine desorientierte
Vorausdeutung. Aus der Abwesenheit der erzählerischen Allwissenheit Pauls – er
kann das Trauma nicht erfassen – ergibt sich die Abwesenheit der Vorausdeutung.
Die Wirkung einer abwesenden Vorausdeutung in einem literarischen Werk erschließt
sich über Wolfgang Kayser: „Die Vorausdeutungen in der Dichtung geben dem Leser
die volle Gewissheit, dass die Welt des jeweiligen Werkes nicht amorph und diffus ist
und dass sich die volle seelische Teilnahme an den Gestalten und ihren Erlebnissen
lohnt. Eine Nebenfunktion der Vorausdeutung ist schließlich, dass auch sie an der
Beglaubigung des Erzählten hilft.“740 Ist die Vorausdeutung abwesend, verbleibt der
Rezipient in der Narration sich selbst in einer diffusen, amorphen und unsicheren
Welt überlassen. Im Krebsgang scheint es allein dem Rezipienten zu obliegen, die
„Fährten“ des Autors Grass aufzuspüren und die Stränge am Ende der Novelle weiter
zu denken bzw. miteinander zu „verschmelzen“.
Bei den Hauptprotagonisten spiegeln sich die Erfahrung von Traumatisierung durch
Krieg, Bombardement, Flucht und Vertreibung sowie die Folgen davon in der ersten,
zweiten und dritten Generation. In ihnen sind Gegenwartshorizont und
Vergangenheitshorizont nicht zu einer Erweiterung miteinander verschmolzen.
Vielmehr überlagert eine traumatische Vergangenheit die Gegenwart. Im Moment des
Bombardements wird Tullas Haar schlohweiß: „Nicht silbrig weiß. Einfach nur
weiß.“ (55) Das weiße Haar wird so zum äußeren Zeichen ihrer Traumatisierung.
Jedem erzählt sie: „Das is passiert, als ech all die Kinderchen koppunter jesehn
hab…“. (140) Indem die „toten Kinder“ eine Metapher für die Zukunft sind, wird die
Beeinträchtigung der Zukunft durch die Vergangenheit indiziert.
Das Trauma als Mittelpunkt der Re-Kategorisierung im Krebsgang ergibt sich
zugleich aus dem Schluss der Novelle. Der letzte Satz „Nie hört das auf“ erinnert an
die Tragödie. Diese ist „im wesentlichen gleichbedeutend mit dem Trauerspiel“741, in
740
741
Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, Bern, 1976, S. 206.
Gero von Wilpert, `Tragödie´, in ders., Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart, 1989, S. 960f.
292
dem ein „von außen herantretende(s) Schicksal (…) das Geschehen zum äußeren oder
inneren Zusammenbruch führt, doch nicht unbedingt im Tod des Helden, sondern in
seinem Unterliegen vor dem Ausweglosen gipfelt.“742 Es ist die Tragödie, die die
„letzten Seinsfragen der Menschheit um Freiheit und Notwendigkeit, Charakter und
Schicksal, Schuld und Sühne, Ich und Welt, Mensch und Gott“743 stellt. Der
Krebsgang ist als Novelle ausgewiesen. Der Erzähler einer Novelle ist „nur äußerlich
als Zuschauer am Geschehen teilnehmende(r) (…) Berichterstatter.“744 Das
vorstehende Ziel der historischen Überlieferung Pauls scheint demnach nicht die
Verschmelzung von Gegenwartshorizont und Vergangenheitshorizont in der
Beschäftigung mit dem „Unterliegen vor dem Ausweglosen“ zu sein. Paul stellt nicht
offen Fragen zu Schicksal, Charakter, Schuld oder Sühne. Als „Berichterstatter“
erfüllt er eine andere zunächst notwendige Vorbedingung: das Heraufholen von
(historisch) verdrängten Traumata. Entsprechend wird auch das „Trauma“ Paul „aus
der Versenkung geholt“. (30)
Wie im Abschnitt „Trauma“ erläutert, verhindert das Trauma durch die Überflutung
von Information, Ereignisse vollständig und in ihrem tatsächlichen Ablauf zu
erinnern. Die Fähigkeit, die Ereignisse gedanklich zu integrieren, geht dadurch
verloren. Durch den Verlust der Kontrolle, der Identität, des Erinnerungsvermögens
und der Worte für die Erlebnisse bewirkt das Trauma eine Aufhebung des Selbst.
Entsprechend wird der Kampf mit dem Trauma zu einem Kampf mit der Erinnerung.
Das Trauma Paul führt diesen Kampf, indem „es“ von einem Auftraggeber
gezwungen wird, zu berichten. „Dadurch dass die (Traumatisierten) aber darin
unterstützt werden, traumatische Erinnerungen wiederholt hervorzurufen und zu
beenden, kann auch der Eindruck der Kontrolle über diese Vorstellung entstehen.“745
Für den Rezipienten der Novelle Im Krebsgang, der Zeuge von Pauls „Kampf“ mit
der Erinnerung wird, ergibt sich die Aufgabe einer Zusammenführung fragmentierter
742
Ebd.
Ebd.
744
Wilpert, `Erzähler´, in ebd., S. 264.
745
Lamprecht, Praxis der Traumatherapie. Was kann EMDR leisten?, Stuttgart, 2000, S. 58.
743
293
Informationen, „um der Dissoziation entgegenzuwirken.“746: „Es geht darum, die
fragmentierte Erfahrung in Bezug zu setzen, zu assoziieren.“747 Die Narration spielt
dabei eine entscheidende Rolle, insofern als dass das „Versprachlichen der Erlebnisse
(…), ein Verstehen des Sinnes der Symptomatik“748 bedingen kann. Um diesen
„Sinn“ hinter den einzelnen Fragmenten zu verstehen, bedarf es des Deutens. „Die
Narration ist eine Unterabteilung des Deutens im weiten Sinn. In unterschiedlichen
Formen der Narration tragen wir unsere Erfahrungen zusammen und konstruieren so
unser Wissen von der Welt und dem Leben, das wir leben.“749 Durch das Deuten
vermag der Rezipient „andere Narrationen daraus (…) zu machen, die vollständiger,
kohärenter, überzeugender und adaptiv nützlicher sind als jene, die zu konstruieren
(er) gewohnt war.“750 Auf die Gefahr, die sich bei der Suche nach dem „anderen
Sinn“ einstellt, verweist Gadamer: „Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch
Vor-Meinungen ausgesetzt“.751 Vor diesem Hintergrund erweist sich die, wie
eingangs ausgeführt, abwesende Vormeinung im Krebsgang als eine im Werk
immanente Öffnung.
Sämtliche Hauptprotagonisten im Krebsgang sind nahe dem Wasser verortet, worin
sich, wie ausgeführt, die Durchdringung des Traumas manifestiert: Tulla und Konny
in Schwerin, Paul in Kreuzberg (Spree, S. 206: „Kreuzberger Junggesellenchaos“). In
der Folge des (allgegenwärtigen) Traumas ist die „Vormeinung“ der Protagonisten
beeinträchtigt, eine Verschmelzung beider Horizonte zur „Erweiterung“ kann sich
nicht vollziehen. Der Entwicklungsprozess im Zeitablauf, der durch die
nachfolgenden Generationen dargestellt ist, führt im Krebsgang mithin anstatt zur
„Erweiterung“ erneut in die Destruktivität - versinnbildlicht im Tod Wolfgangs. Der
Schlusssatz der Novelle legt eine sich in die Unendlichkeit fortsetzende Destruktivität
nahe, solange eine traumatische Vergangenheit die Gegenwart überlagert. Indem die
Verschmelzung von Vergangenheitshorizont und Gegenwartshorizont im Krebsgang
746
Ebd., S. 111.
Ebd.
748
Ebd.
749
Jürger Reeder, `Die Narration als hermeneutische Beziehung zum Unbewußten´, S. 22-34 in Bohleber,
„Vergangenes“, S. 31.
750
Roy Schafer zitiert in: Reeder, S. 31.
751
Gadamer, S. 272.
747
294
ausbleibt, ist die historische „Wahrheit“ - die Motive für das Trauma in der
Vergangenheit und die Motive für die Handlungen in der Gegenwart - verschlossen.
Dieser Verschluss äußert sich in Tullas (politisch) ratloser Frage: „Mecht mal bloß
wissen, was sich dieser Russki jedacht hat, als er Befehl jab, die drai Dinger
direktemang auf ons loszuschicken…“(11) oder in Konnys (vermeintlichem)
Rechtsextremismus. Indem sie ihr Trauma nicht aufzulösen vermag, ist es der
Protagonisten Tulla nicht möglich, diesen Verschluss zu lösen.
Die geringfügige Ausarbeitung der Hauptprotagonisten bewirkt deren
Schemenhaftigkeit: „Dadurch legt sich um und in jede Einzelgestalt etwas
Geheimnisvolles, Irrationales, das den Leser in dauernder Spannung hält. Er wird so
zugleich aufgefordert, von sich aus in die Tiefe zu dringen.“752 Um über eine
Verschmelzung aus Vergangenheit und Gegenwart zu einer Erweiterung zu gelangen,
obliegt es dem Rezipienten die möglichen Motive der Protagonisten zu erkunden.
Diese Motive stellen auch insofern eine „Erkenntniserweiterung“ dar, als die
Protagonisten Symbole für bestimmte Kollektive sind. Die Abwesenheit konkreter
Ausprägungen rückt die symbolische Bedeutung der Figuren in den Vordergrund.753
Durch die geringen konkreten Ausprägungen der Protagonisten im Krebsgang werden
sie zu Repräsentanten eines ihnen zuzuordnenden Kollektivs: etwa der traumatisierten
Zeitzeugen, der „Opfertäter“ und der transgenerationell traumatisierten zweiten und
dritten Generation.
Zugleich umwandert etwa die Abwesenheit der Innenperspektive der Hauptfiguren
und anderer Prägungen die Gefahr, bestimmte Gedanken und Entwicklungen „zum
Zwecke des Eingriffs in die Realität“754 zu unterstreichen: der Kern der Novelle ist
nicht „von der rationalen Idee her geformt“755, etwa der Absicht bestimmte
Erkenntnisse nahezulegen. Die Aufeinanderbezogenheit von Form und Gehalt, „die
752
Kayser, S. 213.
Heinz Gockel, Grass´ Blechtrommel, München, 2001, S. 89.
754
Kayser, S. 223.
755
Ebd.
753
295
für alle Kunst wesensgemäß ist“756, würde durch die Gegenständlichkeit der
rationalen Idee (Erkenntnis) aufgehoben. In der Novelle wird die Gegenständlichkeit
der rationalen Idee als destruktive Kraft hervorgehoben, indem der „Auftraggeber“
dem Erzähler untersagt, in die Gedanken – die Ratio - der Protagonisten einzutauchen.
(199) Die Abwesenheit der „Vormeinung“ im Krebsgang erweist sich damit erneut
als raumgebend für den Rezipienten, der Vergangenheitshorizont und
Gegenwartshorizont der Figuren in der Novelle miteinander verschmelzen kann. Als
eine erste Plattform bietet sich hierfür, wie oben ausgeführt, die Hauptprotagonistin
Tulla Pokriefke.
756
Ebd.
296
Tullas Hausaltar als Symbol der Unüberwindbarkeit des Traumas
Wie im Abschnitt „Trauma“ erläutert, steht das Trauma als „unüberwindbarer
Torwächter“757 der Trauer im Weg. In der Trauer geht es um Lösung bzw. Ablösung
eines verlorenen Objekts und die Überführung in eine Re-Kategorisierung. Die
Figurenkonstellation zwischen Tulla und Paul als Mutter und Kind deutet auf die
Unmöglichkeit der Ablösung. „Wo jedoch keine Ablösung ist, kann auch keine
Trauer erfolgen.“758 Die Unüberwindbarkeit des Traumas ergibt sich aus den,
nachfolgend dargelegten, inneren psychologischen Abläufen der Betroffenen.
Zugleich repräsentieren diese Prozesse die traumatisch bedingte Beeinträchtigung der
„Vormeinung“ Tullas.
In ihrer Wohnung hat Tulla, die „neuerdings den Glauben ihrer Kindheit
wiederentdeckt hat“ (212) auf einem Hausaltar weiße Lilien, ein Marienbildchen und
ein Bild Stalins im weißen Anzug aufgebaut. (212) Die Regression in den „Glauben
ihrer Kindheit“ findet sich in der Traumatologie als das Phänomen der
Reinfantilisierung des Opfers wieder:
Die Situation der Ohnmacht gemeinsam mit der Überflutung mit existentiellen
Ängsten erzwingt (…) eine umfassende Reinfantilisierung des Opfers. Die
eigene Hilflosigkeit, die sich aus der Situation ergebende absolute Abhängigkeit
von den Sichten eines anderen und die alles beherrschende Angst scheinen das
Opfer buchstäblich in seine frühe Kindheit zurückzuversetzen, in der diese
Abhängigkeit selbstverständlich war.759
Auch Paul als das „Kind“ Tullas, das im Moment des Angriffs durch den Täter, den
„Russen“ Marinesko, geboren wird, kann als eine Metapher für die Reinfantilisierung
infolge eines traumatischen Ereignisses gesehen werden.
Durch die Reinfantilisierung werden „die elementarsten Kindheitsängste“
wiederbelebt. In der Folge entsteht der „Wunsch von Elternfiguren der frühen
Vgl. A. Assmann in Abschnitt „Trauma“.
Harald Weilnböck, `´“Dann bricht sie in Tränen aus“. Übertragung von Trauer/Abwehr im Text und im
Gruppenanalytischen Literaturseminar über Judith Hermanns Hunter-Tompson-Musik, S. 241-262 in Mauser;
Pfeiffer, Trauern, S. 255.
759
Pogany-Wnendt, S. 14.
757
758
297
Kindheit geliebt und beschützt zu werden“ erneut.760 Da Tullas Eltern mutmaßlich bei
dem Untergang gestorben sind (109), regrediert sie unmittelbar nach dem
traumatischen Erlebnis zurück in die andere autoritäre Umgebung ihrer Kindheit, die
Schule. (154) Das Trauma Paul legt sie unterdessen unter die Schulbank (154), was
einen Akt der Verdrängung zu symbolisieren vermag.
Die Grundmotive, auf denen diese Abhängigkeit basiert, lassen sich mit dem Gefühl
der Machtlosigkeit des noch ungeformten Kindes vergleichen: „Die Kinder fühlen
sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig
konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können, die überwältigende
Kraft und Autorität des Erwachsenen macht sie stumm“.761 Ehlert und Lorke leiten
daraus ab, dass dieselbe Angst, wenn sie einen (traumatischen) Höhepunkt erreicht,
das Opfer automatisch zwingt, „sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede
seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend mit
dem Angreifer vollauf zu identifizieren. Durch die Identifizierung, sagen wir
Introjektion des Angreifers, verschwindet dieser als äußere Realität und wird
intrapsychisch.“762
Die glühende Anhängerschaft Tullas an Stalin, als Symbol des „obersten“ Russen,
indiziert diese „Introjektion des Angreifers“. Getrieben wird dieser Prozess von dem
Streben des Opfers nach Kontrolle: „Indem das Opfer die Realität in den
intrapsychischen Raum verlagert, zieht es sich seelisch von ihr zurück, kapselt sich
emotional von ihr ab und kann mit ihr in der Phantasie entsprechend `aktiv´ umgehen,
was die Illusion erzeugt, sie steuern zu können.“763 Tulla verdreht „die Augäpfel bis
zum Gehtnichtmehr“ (50), wenn sie mit dem Trauma konfrontiert wird. Ihr
„Binnnichtzuhausegesicht“ (ebd.) zeugt von diesem Rückzug.
760
Ebd.
Ebd.
762
Ehlert und Lorke zitiert in: Pogany-Wnendt, ebd.
763
Pogany-Wnendt, ebd.
761
298
Die Introjektion des Täters durch das Opfer führt zu der paradoxen Situation, dass das
Opfer den Trost über das erfahrene Leid bei dem sucht, der es ihm zugefügt hat.764 Im
Verlauf dieses Introjektionsprozesses wendet sich das Opfer so zwangsläufig gegen
sich selbst:
Die Delegation der Ichfunktion, das Liebesbedürfnis und die
Verschmelzungswünsche, die das Verfolgungstrauma im Opfer induziert, richten
sich auf niemand anderen als auf den Täter. (…) Indem das Opfer nun das Bild,
das der Täter über die Tat von ihm konstituiert, als Selbstbild in sich aufnimmt,
macht es sich in einem bestimmten Sinne tatsächlich zum Komplizen des
Täters.765
Die Tränen Tullas bei Stalins Tod deuten auf diese Verbundenheit zum Täter. Die
Überzeugung der eigenen Schlechtigkeit äußert Tulla, neben dem Altar in ihrer
Wohnung sitzend, mit dem Satz: „`Was in ons drinsteckt im Kopp ond ieberall, das
Beese muß raus…´.“(212). Die Verbundenheit mit dem Täter mutiert aufgrund der
Identifikation mit ihm in eine Abhängigkeit, die auch nach der Verfolgung durch den
Täter bestehen bleibt:
Auf Grund seiner Identifikation mit dem Verfolger glaubt das Opfer auch nach
Ende des Terrors, dass ihm die Würde und die Selbstachtung vom Täter
genommen wurden. Folglich bleibt das Opfer (unbewusst) im Glauben, dass nur
der Täter sie ihm wieder zurückgeben kann, wenn es sich mit ihm `versöhnt´.
Indem das Opfer sich mit dem Täter identifiziert, übernimmt es auch (...) seine
Schuldgefühle. Er fühlt sich (unbewusst) tatsächlich so `schlecht´ und `schuldig´
wie der Täter ihn behandelt. So kann es das Gefühl der Ohnmacht, indem es die
Hoffnung aufrecht erhält, durch `gutes Benehmen´ sich die `Liebe´ des Täters
wieder `verdienen´ zu können, überbrücken. Dies führt nach Beendigung des
Terrors zu einer seelischen Abhängigkeit vom Täter: das Opfer glaubt, dass nur
die `Liebe und Anerkennung´ des Täters ihm die verlorene Würde und
Selbstachtung wiedergeben können. 766
Der menschliche Selbsterhaltungstrieb in seiner psychischen oder physischen
Ausprägung wird zum Treiber für diesen Abhängigkeitsprozess: „Die völlige
Unterwerfung und die damit verbundene illusorische Vorstellung, vom Täter `geliebt´
764
Pogany-Wnendt, ebd.
Ehlert und Lorke zitiert in: Pogany-Wnendt, S. 15.
766
Pogany-Wnendt, S. 15f.
765
299
zu werden, ist die letzte Möglichkeit, die Hoffnung auf Leben aufrechtzuerhalten.“ 767
Tullas Unterwerfung zeigt sich zugleich in ihrer bemühten Anpassung an das von
Stalin mit geschaffene System. Als „mehrfach ausgezeichnete Aktivistin“ leitet sie
eine Tischlereibrigarde beim „VEB Möbelkombinat“. (90) Dass diese Anpassung
nicht ideologischer Überzeugung geschuldet ist, zeigt sich in Tullas Unmut über Pauls
FDJ-Mitgliedschaft: „Raicht das nich, wenn ech miä hier fier die Schufte abrackern
muß!“ (67) Die Abhängigkeit Tullas von ihrem Täter offenbart sich gleichfalls in der
nach dem Mauerfall „unverändert(en)“ (212) Wohnung an ihrem bisherigen Wohnort
Schwerin, die auf eine innere Stagnation deutet: „So diffus ihr Bild zu jener Zeit
gewesen sein mag, genau besehen ist Mutter bis heute Stalinistin geblieben“. (170)
In dieser Stagnation zeigt sich die Tragik der Opfer, die sich von ihrem Täter nicht
lösen können, „weil die ersehnte Versöhnung, die allein dieses Introjekt auflösen
könnte, ausbleibt. Das traumatische Introjekt kann nicht aufgegeben werden, weil es
das Versprechen der Versöhnung enthält, auf die das Opfer nicht verzichten kann.“768
Das letzte Bild Tullas am Ende der Novelle entspricht dem. Sie bleibt zurück im
Wohnzimmer ihrer Plattenbauwohnung, in dessen Ecke der Marienaltar mit dem Foto
Stalins prangt. (212) „Trotz rationaler Einsicht in das Gegenteilige, das heißt in die
Unmöglichkeit vom Täter `geliebt´ zu werden, entsteht hier eine, zwar für die
Bewältigung der traumatischen Situation psychisch rettende Maßnahme, aber für die
Bewältigung des `normalen´ Lebens nach der Verfolgung verhängnisvolle seelische
Situation.“769
Das Bild Stalins im weißen Anzug auf dem Marienaltar Tullas macht diesen zum
Symbol für eine angebetete Gestalt, die „lieben“ und „beschützen“ soll. Die
„verhängnisvolle Situation“ zeigt sich darin, dass sie sich selbst „vor den
versammelten Genossen `Stalins letzte Getreue´ genannt und mit dem nächsten Satz
die klassenlose KdF-Gesellschaft zum Vorbild für jeden wahren Kommunisten
767
Ebd. S. 15.
Ehlert und Lorke zitiert in: Pogany-Wnendt, S. 15.
769
Pogany-Wnendt, S. 15.
768
300
hochgelobt (hat)“. (40) Die „Täterintrojektion“ – und somit der Auslöser von Tullas
Trauma - ist an dieser Stelle erweitert. Im übertragenen Sinn umfasst diese im Symbol
„Stalins“ den Kommunismus und im Symbol der „KdF-Gesellschaft“ den
Nationalsozialismus als den beiden polaren Ideologien der Moderne. Tulla vermag
aufgrund ihrer traumatisch bedingten Desorientierung (vgl. Abschnitt „Trauma“)
weder die historischen Zusammenhänge herzustellen, noch die sich daraus
ergebenden Ambivalenzen zu erkennen.
Präsenter noch als der Nationalsozialismus aus der Vergangenheit Tullas ist Stalin in
der Gegenwart: in Tullas Welt ist Stalin der eigentlich Auslöser der Torpedos auf die
Gustloff, die der Russe Marinesko abgeschossen hat, er ist der Initiator ihrer
Vertreibung und Flucht, durch die sie die Heimat verlor, er ist der Initiator des
„Eisernen Vorhangs“ hinter dem Tulla vierzig Jahre in der DDR gefangen war. Pauls
Flucht in den Westen verdeutlicht in diesem Kontext die Gefangennahme Tullas. (18)
Die Hoffnung des Opfers Tulla auf „Erlösung“ durch den Täter spiegelt sich in der
Position des im weißen Anzug gekleideten Despoten (212) auf dem Marienbild auf
Tullas Altar. Die Muttergottes dient, Jesus auf dem Schoß tragend, als Thron für den
eigentlich Thronenden, den „Erlöser“ Jesus Christus. Solange Tulla von dem
Traumatischen durchdrungen ist, bleibt das Opfer Tulla an den Täter Stalin, der zu
ihrem „Erlöser“ wird, gebunden. Erschwerend tritt hinzu, dass sie ihr Trauma ohne
äußere Hilfe nicht aufzulösen vermag.
Die Unmöglichkeit für Tulla ihr Trauma selbst abzuwickeln und sich aus der
Opferrolle zu lösen, zeigt sich narrativ in der Figur Paul. Dessen Merkmale sind
Sprachlosigkeit und Empathielosigkeit: „Also versuche ich nicht, mir Schreckliches
vorzustellen und das Grauenvolle in ausgepinselte Bilder zu zwingen, sosehr mich
jetzt mein Arbeitgeber drängt, Einzelschicksale zu reihen, mit episch ausladender
Gelassenheit und angestrengtem Einfühlungsvermögen den großen Bogen zu schlagen
und so, mit Horrorwörtern, dem Ausmaß der Katastrophe gerecht zu werden.“ (136)
Im Moment der vom Opfer als traumatisch empfundenen Gewalttat durch einen
anderen Menschen geht das Urvertrauen in die mitmenschliche Empathie verloren:
301
Die traumatische Realität zerstört den empathischen Schutzschild, den das
verinnerlichte Primärobjekt bildet, und destruiert das Vertrauen auf die
kontinuierliche Präsenz guter Objekte und die Erwartbarkeit mitmenschlicher
Empathie, nämlich dass andere die grundlegenden Bedürfnisse anerkennen und
auf sie eingehen. Im Trauma verstummt das innere gute Objekt als empathischer
Vermittler zwischen Selbst und Umwelt (…). Hoppe (...) hat diesen Sachverhalt
als eine Zerstörung des Urvertrauens gekennzeichnet.770
Im Resultat bewirkt diese Zerstörung, dass das Trauma nicht wiedergegeben werden
kann. Je nach Grad der Zerstörung lassen sich Traumatisierungen unterschiedlich
typisieren und führen im Extremfall „zu einer völligen Durchtrennung der
Verbindung zwischen Selbst und Objekt (...). Der Verlust des empathischen inneren
Anderen zerstört die Fähigkeit, das Trauma zu erzählen. Es kann nicht in ein Narrativ
eingebunden werden.“771
Die Unintegrierbarkeit des Traumas äußert sich etwa darin, dass der Traumatisierte
keine sachlichen Zusammenhänge herzustellen vermag: Durch extreme
Traumatisierung kann „die integrative Funktion des Verstandes beeinträchtigt sein.
Dies hat potentiell weitreichende Konsequenzen für die Fähigkeit, traumatische
Erfahrungen zu integrieren, Verluste zu betrauern“.772 Wie bereits gesehen, erlaubt ein
eingeschränkter Sichtradius eine nur begrenzte Verarbeitung von Informationen:
„Mecht mal bloß wissen, was sich dieser Russki jedacht hat, als er Befehl jab, die drai
Dinger direktemang auf ons loszuschicken…“.(11) Hier steht nicht eine politisch
denkende Tulla im Fokus, die als Betroffene historische Schuld und Gegenschuld
abzuwägen oder sachlich zu ergründen sucht. Hier rückt allein der traumatisierte
Mensch in den Mittelpunkt, der im engen Gesichtsfeld seines Traumas lebt. „Die
Fähigkeit, (…) Bezüge herzustellen, ist im traumatischen Zustand stark eingeschränkt,
die Aufmerksamkeit ist ähnlich der hypnotischen Trance äußerst begrenzt.“773
Bohleber, “Trauma“, S. 821.
Ebd.
772
Sven Varrin, `Die gegenwärtige Vergangenheit. Extreme Traumatisierung und Psychotherapie´, S. 895-930 in
Bohleber, „Trauma“, S. 895.
773
Henry Krystal, `Psychische Widerständigkeit bei Holocaust-Überlebenden´, S. 840-859 in Bohleber,
„Trauma“, S. 847.
770
771
302
Somit wird Pauls Vorgehen, das Trauma, dessen Ursache (Rückblick in die Zeit vor
dem Untergang) und dessen Wirkung (z.B. Tullas und Konnys Leben nach dem
Trauma) in ein Narrativ einzubinden zum Versuch der Traumabearbeitung. Allerdings
misslingt dieser Versuch, worin sich die Unmöglichkeit, das eigene Trauma selbst zu
bearbeiten, offenbart. Das Trauma Paul scheitert als Erzähler, der die offenen Enden
der Narration nicht miteinander zu verbinden vermag, da seine Geschichte kein
wirkliches Ende hat, lediglich aufhört, ohne wirklich aufzuhören.
Die Empathielosigkeit als Symptom des Traumas verhindert, das der Erzähler Paul
Tullas Trauma erfassen kann. Bereits auf der ersten Seite impliziert das Trauma Paul,
dass es sich nicht „selber abwickeln“ (7) kann. Es ist demnach die Funktion als
Trauma, die die Funktion als Erzähler scheitern lässt. Der Kern dieses Scheiterns liegt
in der Unfähigkeit die tiefen, unartikulierbaren Erinnerungen Tullas zu vermitteln.
Anstatt die inneren Empfindungen Tullas zu übermitteln, versucht sich Paul als
sachlicher Erzähler eines Berichts: „Das Ausschließen bestimmter Informationen
führt (...) dazu, dass diese Informationen pathogene Wirkung haben können. Diese
negativen Gefühle, die an der Entstehung von inneren und äußeren Konflikten
beteiligt sind, werden aus dem Bewusstsein ausgeschlossen.“774 Allerdings ist die
Präsenz dieser „negativen Gefühle“ im Krebsgang deutlich sichtbar: „Dafür, Mutter,
und weil Du mich geboren hast, als das Schiff sank, hasse ich Dich. Auch dass ich
überlebte, ist mir in Schüben hassenswert geblieben“. (70) Durch seinen
„emotionslosen“ Bericht scheint Paul diese Emotionen auszuschließen, da sie ihn
sonst überfluten würden. Somit stehen unverarbeitete - „ausgeschlossene“ - innere
Emotionen aus dem Trauma einer äußeren Sachlichkeit unvereinbar gegenüber.
Doch indem der Erzähler nicht erzählen kann, kann er den eigenen
Vergangenheitshorizont als Zeitzeuge nicht „überliefern“ (Gadamer). Indem er den
Vergangenheitshorizont nicht übermitteln kann, lässt sich dieser nicht mit dem
Gegenwartshorizont zu einer Erweiterung verschmelzen. Die „pathogene Wirkung“
774
Anna Buchheim, `Bindungsnarrative und psychoanalytische Interpretation eines Erstinterviews´, S. 35-50 in
Bohleber, „Vergangenes“, S. 37.
303
der ausgeschlossenen „Informationen“ äußert sich in der Wiederholung der
Katastrophe, dem Mord Wolfgangs alias Davids durch Tullas Enkel Konny.
Die Unüberwindbarkeit des eigenen Traumas eröffnet die Perspektive auf eine
mögliche Wirkungskette: das „(eigene) Leiden wahrzunehmen und zu trauern,
bedeutet auch, das Leiden des anderen wahrzunehmen, mitzutrauern. Es macht
deutlich, dass eine Aufteilung des Leidens zu einer bewussten Blockierung von
Mitgefühl führt und der Chance des Mitempfindens dadurch verspielt wird.“775 Mit
Blick auf die Erfassung des Vergangenheitshorizonts ergibt sich daraus: das selbst
erlittene Trauma zerstört die Empathie, ohne Empathie kein Mitleiden, ohne
Mitleiden kein Schuldempfinden, ohne Schuldempfinden keine Trauer, ohne Trauer
keine Vergebung.
Eine Untermauerung dieser Wirkungskette findet sich im Krebsgang in dem Indiz,
dass Tulla die Anerkennung ihrer (Mit-)Schuld verweigert. In Katz und Maus taucht
Mahlke am Ende nicht mehr von seinem untergegangenen Schiff auf. Tulla trägt
daran eine gewisse Mitschuld. In Grass‘ zweitem Opus ist sie fasziniert „vom toten
Mariner“776, einem ertrunkenen Matrosen im Minensuchboot. Sie stachelt die
Jungenschar um sie herum an: „Wer mir den hochbringt, der darf mal.“777 Tulla wird
so für „die Jungen Danzigs zur femme fatale, zu einer faszinierend-dämonisierten
Gestalt, die Liebe verspricht und den Tod verheißt.“778 Vor allem Joachim Mahlke
taucht immer wieder in den Kahn hinab „ohne es uns einzugestehen, nach einem
halbaufgelösten polnischen Matrosen (suchend); nicht etwa um das unfertige Ding
(Tulla) zu stoßen, sondern so, einfach so.“779 Mahlke, der sich zunächst nicht viel aus
Tulla macht, „wenn sie auch später mit ihm zu tun bekommen haben soll“780, rückt
Tulla „als Kontrastfigur an die Stelle der angebeteten Jungfrau Maria. Ihren Namen
775
Peter Steinbach zitiert in: Neumann, S. 57.
Grass, Katz und Maus, S. 36.
777
Ebd.
778
Pasche, S. 49.
779
Grass, Katz und Maus, S. 36.
780
Ebd.
776
304
nennt er als Motiv für seine Desertion.“781 Tulla wird schuldig, indem sie ihn „in die
Unterwelt“ zieht, in die Mahlke abtaucht, „um nie wieder zu erscheinen.“782
Im Krebsgang holt sie Joachim Mahlke immer wieder ein. Erwähnt wird ein
Oberschüler Joachim, der „aber Jochen gerufen wurde“ (56) und den Tulla als
Halbwüchsige kannte (56). Ihm folgen etwa zehn Jahr später ein „Jochen zwo“ (56)
und weitere drei Jahre später ein Jochen „Nummer drai“ (56). Die jeweiligen Berufe
der beiden Jochens unterstreichen Tullas Mitschuld. Jochen „zwo“ ist Maurerpolier
und assoziiert damit den Jochen, der mörtelähnlichen weißen Mövendreck vom
Schiffsboden abkratzt, die an die bloße „Fressgier“ der Vögel erinnert.783 Jochen
„drai“ bringt Colgate Zahnpasta mit, die im trockenen Zustand die gleiche Konsistenz
besitzt. Er ist Polizist und damit ein Mahner von Recht und Ordnung. Dieser Jochen
will sie heiraten, aber Tulla kann keine Verbindung zu ihrer schuldbeladenen
Vergangenheit herstellen und setzt schließlich beide Jochen vor die Tür. Noch
fünfzehn Jahre und damit eine Menschengeneration später ist ihr das Trauma „Paul“
genug: „Du raichts miä grade“ (57), mehr kann sie nicht ertragen.
Für den Trauerprozess ist damit eine Schlüsselszene hergestellt: Tulla kann ihre
indirekte Mitschuld am Tod Jochens nicht konfrontieren, weil sie mit dem eigenen
Trauma leben muss. Daraus ergibt sich: Niemand kann ihr diese Bürde abnehmen,
aber niemand kann sie andererseits zwingen, sich eine weitere Bürde aufzuladen. Das
eigene Trauma durchdringt ihr gesamtes Leben, für weitere Traumata ist kein Platz.
Dennoch macht Tulla Versuche, zu trauern. Diese Versuche scheitern jedoch am
Ende, weil der öffentliche Raum fehlt: Tulla kann ihre innere Trauer nicht nach außen
bringen.
781
Pasche, S. 50.
Ebd.
783
Pasche, S. 77.
782
305
Das zerstörte Mahnmal als Ursache für Tullas gescheiterte Trauer
Die Berichtsform des Ich-Erzählers Paul und das dichte Geflecht historischer Fakten
in der Narration, lassen stellenweise vergessen, dass es Pauls Sicht ist, aus der die
Geschichte um die Gustloff, um Tulla und Konny erzählt wird. Geboren in der Stunde
des traumatischen Untergangs und aufgewachsen mit Tullas fragmentarischen
Erinnerungsstücken, scheint der Sohn Paul die Außen- und Innenperspektive
(Ereignis und Trauma) des Geschehens zu kennen wie sonst niemand. Dies autorisiert
ihn als (all)wissenden und zugleich als authentischen Erzähler. Untermauert wird
diese Authentizität durch die Stellung Pauls als genealogisches Bindeglied zwischen
Mutter Tulla und Sohn Konny. Paul scheint demnach eigentlich prädestiniert, das
Geschehen in seinem Gesamtkontext wahrhaftig wiederzugeben. Wie oben dargelegt,
bricht diese Autorität des Erzählers jedoch in dem Moment, in dem er sich den
Emotionen Tullas, ihrem tiefen Inneren, das von dem Trauma durchdrungen ist,
verschließt.
Pauls Scheitern wird auf einer literarischen Ebene untermauert, indem er den
Anforderungen der Novellenform nicht gerecht wird, die verlangt, die „Ereignisse von
ihren Ursachen bis zum Abschluss der Handlung mit allen für das Verständnis
notwendigen Zügen“784 zu erzählen. Indem die Fehlleistung der subjektiven bzw.
eindimensionalen Perspektive offenbart wird, zeigt sich die Bedeutung einer
Multiperspektivität. Nur durch vielfältige Sichtweisen und die Öffnung nach außen
scheint sich der historische Horizont einer traumatischen Narration näherungsweise
erfassen zu lassen. Paul scheint sich dessen bewusst, ohne dieses Bewusstsein jedoch
für sich als Erzähler nutzen zu können: „Menschen, die immer nur auf einen Punkt
starren, bis es kokelt, qualmt, zündelt, sind mir noch nie geheuer gewesen.“ (68)
Diese These bestätigt sich auf der psychologischen Ebene, indem das Vorhandensein
öffentlicher Räume, nicht zuletzt als Lieferant von Multiperspektivität, eine
maßgebliche Bedeutung für traumatisierte Opfer hat:
784
Wilpert, `Novelle´, in Sachwörterbuch der Literatur, S. 629.
306
Die sogenannten `man made disasters´ wie Holocaust, Krieg, ethnische
Verfolgung und Folter zielen auf die Annihilation der geschichtlich-sozialen
Existenz des Menschen (…). Die traumatische Erfahrung in ein übergeordnetes
Narrativ einzubinden, kann dem Einzelnen deshalb nicht in einem rein
individuellen Akt gelingen, sondern es bedarf abgesehen von einem
empathischen Zuhörer auch eines gesellschaftlichen Diskurses über die
historische Wahrheit des traumatischen Geschehens und über dessen
Verleugnung und Abwehr. Die Opfer sind gleichzeitig Zeugen einer besonderen
geschichtlichen Realität. Die Anerkennung von Verursachung und Schuld
restituiert überhaupt erst den zwischenmenschlichen Rahmen und damit die
Möglichkeit, das Trauma angemessen zu verstehen. Nur dadurch kann sich dann
auch das erschütterte Selbst- und Weltverständnis wieder regenerieren.785
Unmittelbar nach ihrer traumatischen Erfahrung, die für sie den Namen Gustloff trägt,
sucht Tulla nach diesem öffentlichen Raum: „Als wir nach Schwerin kamen, war er,
wohin man auch guckte, namentlich anwesend. So stand am Südufer des Sees noch
unzerstört jener aus Findlingen erstellte Ehrenhain und in ihm der große Granit, der
siebenunddreißig zu Ehren des Blutzeugen aufgestellt worden war. Ich bin sicher,
dass Mutter nur deshalb mit mir in Schwerin geblieben ist.“ (157)
Allerdings wird der Ort von Tullas Trauer, auf dem neben Gustloffs Name, „die
Namen ihr unbekannter, doch offenbar verdienter Parteigenossen“ (164) standen,
zerstört: am 10. September 1949 wird der Ehrenhain abgerissen und die Leichen und
Urnen umgebettet. (167) Dabei können die „`Aschenreste des Wilhelm Gustloff´ nicht
auf dem städtischen Friedhof überführt werden“. (ebd.) Dennoch sucht Tulla auch
später in einer nächtlichen Aktion mit einer Taschenlampe jene Stelle, an der „der
große Granit zu Ehren des Blutzeugen“ (91) stand, um „Punkt zehn Uhr achtzehn“,
dem Moment des Untergangs, einen Strauß weiße Rosen abzulegen. Hierin
verbildlicht sich die innere Trauer, die auf den leeren äußeren Raum stößt.
Die Protagonistin ist dem Verdacht entzogen, eine „Ewiggestrige“ zu sein: weder
zeigt Tulla revisionistische Tendenzen, indem sie sich mit organisierten
„Heimwehfahrten“ (205) zufrieden gibt, noch begleitet sie Konny zu Versammlungen
rechtsradikaler Parteien (82). Gegenüber Paul und Jenny stellt sie klar, wem ihre
Trauer am ehemaligen Ehrenhain Gustloffs gilt: „Abä nich fier den Justloff bin ech
785
Bohleber, „Trauma“, S. 824.
307
mitte Blumen jekommen. Der war nur ain Nazi von viele, die abjemurkst wurden.
Nai, fier das Schiff ond all die Kinderchen, die draufjegangen sind damals inne
eiskalte See, hab ech (…) main Strauß weiße Rosen abjelegt. Ond jewaint hab ech
dabai noch finfondvierzig Jahr danach….“. (91)
Ihre Trauer drückt sich in einer scheinbar unauflösbaren Orientierungslosigkeit aus:
sie sagt vieles „zu laut und zur falschen Zeit“. (39) Nach Bekanntgabe von Stalins
Tod, im März 1953, hat sie „bei uns in der Küche Kerzen aufgestellt und richtig
geweint. Nie wieder habe ich sie so weinen sehen.“ (40) Honnecker tut sie als ´bloßen
Dachdecker´ ab, „(s)ie, die aufgeklärte Antifaschistin, hat dennoch über den um
fünfzig herum zertrümmerten Gedenkstein für Wilhelm Gustloff gejammert und über
die `schuftige Grabschändung´ geschimpft.“ (ebd.) Für Tulla ist „`Baadermeinhof´“
eine Person, die „im Kampf gegen den Faschismus gefallen sei. Unfassbar blieb, für
wen, gegen wen sie war.“ (40) Ihre fragmentarischen Erzählungen drehen sich stets
um die gleichen Bilder: „Wie aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle
koppunter.“ (31)
In dieser Orientierungslosigkeit der halben Sätze, der zahlreichen Leerstellen in den
Erzählungen und dem Kreisen um das ewig Gleiche beginnt der Leser, die trostlose
Landschaft des Traumas und der Trauer selbst zu durchschreiten. Das Aufschreiben
soll Orientierung bringen. Entsprechend drängt Tulla Paul: „Das musste
aufschraiben.“ (31) Indem Paul beginnt, wenn auch unter Zwang, aufzuschreiben,
versucht er sich über die „resignative Hingabe des Traumatischen als
Grundbedingung menschlicher Existenz“786 hinweg zu setzen.
Die Verbotstafel des „Alten“, die Paul untersagt in das Innere zu schauen (199),
symbolisiert auf der psychologischen Ebene jedoch eine weitere Dimension von
Blockade. Tulla vermag ihr Trauma, das an die Oberfläche drängt, nicht
durchzuarbeiten, weil sie keine Zuhörer findet, die in das Innere zu schauen gewillt
sind: „Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten
schon gar nicht.“ (31) Um zu trauern, braucht Tulla Erinnerungen. Diese
786
Mahler-Bungers, in Mauser, Pietzcker, (Hg.), Trauma, S. 30.
308
Erinnerungen sind durch die Traumatisierung fragmentiert. Sie können nicht in eine in
sich geschlossene Narration eingefügt werden, was eine Reflexion bedingen würde
und einen Erkenntnisgewinn durch Verschmelzung von Gegenwart und
Vergangenheit ermöglichte. „Um Erinnerungen zurückzurufen und in Sprache zu
fassen, brauchen wir ein Gegenüber, ein soziales Umfeld, das offen ist und wirklich
wissen will, was der andere erlitten hat.“787 Die Tabuisierung der Traumata bei den
Aggressoren des Krieges verhindert diesen Austausch und erschwert somit den daraus
zu ziehenden Erkenntnisgewinn.
Traumatische Erinnerungen, (…) dürfen sich nicht gegenseitig verdrängen, noch
lassen sie sich einfach in abstrakte `Geschichte´ auflösen. Sie machen sich in
problematischen Symptomen bemerkbar, wenn sie im Individuum
eingeschlossen bleiben und als unbewusste Erbschaft auf nachfolgende
Generationen übertragen werden. Vielmehr ist die Wahrheit dieser Erinnerungen
angewiesen auf einen öffentlichen Kommunikationsraum, um erzählbar zu
werden und in individuelle Lebensgeschichten integriert werden zu können. Eine
solche Vervielfältigung der Perspektiven widersteht der Tendenz der Engfügung
im kollektiven Gedächtnis, die eine einzige Opfergruppe auf Kosten anderer
privilegiert, und sie bewahrt vor einer vereinnehmenden Identifikation mit den
Holocaustopfern, die von der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte
befreit.788
Indem Tulla der äußere Raum zur Auflösung ihrer Orientierungslosigkeit versagt
bleibt, kann sie nicht erkennen, dass es gilt, zwischen dem Schiff - als einer Metapher
für Nazi-Deutschland – und den ertrunkenen Kindern - als einer Metapher für die
verlorene Zukunft – zu unterscheiden. Tullas Gegenwart und Zukunft bleiben so
durch die Vergangenheit weiter zerstückelt. Indem Tulla ein Erkenntnisprozess
verschlossen bleibt und sie das Trauma unbearbeitet auf ihren Enkel überträgt (vgl.
Kapitel „Wiederholung“), nimmt die Geschichte ihren fatalen Verlauf.
787
I. Özkan, A. Streek-Fischer, U. Sachsse, `Einleitung´, in ders. et al., Trauma und Gesellschaft. Vergangenheit
in der Gegenwart, Göttingen, 2002, S. 8.
788
A. Assmann, `Wie wahr sind Erinnerungen?´, in Das Soziale Gedächtnis, S. 122.
309
Der Übertrag des Traumas an Konny
Durch die Zerstörung des Ehrenhains Gustloffs bleibt Tulla kein öffentlicher Raum
für ihre Trauma- und Trauerarbeit. Wie im Kapitel „Wiederholen“ dargestellt,
übertragen sich unbearbeitete Traumata auf die nachfolgenden Generationen. Die
Wirkung dieses Übertrags von Tullas Trauma auf Konny indiziiert sich im Hinweis
auf Freuds Nachträglichkeit. Nachdem Konny das Modellschiff Gustloff, das Tulla
ihm schenkt, Paul gezeigt hat, erwiderte dieser: „`Ganz hübsch. Aber eigentlich
solltest du aus dem Alter für solche Spielerein raus sein, oder?´ Und er gab mir sogar
recht: `Weiß ich. Doch wenn du mir, als ich dreizehn oder vierzehn war, zum
Geburtstag die Gustloff geschenkt hättest, müsste ich diesen Kinderkram jetzt nicht
nachholen.“ (208) Das „Nachzuholende“ erfolgt „nachträglich“.
Laplanche und Pontalis umreißen dieses Konzept Freuds: „Erfahrungen, Eindrücke,
Erinnerungsspuren werden später aufgrund neuer Erfahrungen und mit dem Erreichen
einer anderen Entwicklungsstufe umgearbeitet. Sie erhalten somit gleichzeitig einen
neuen Sinn und eine neue psychische Wirksamkeit.“789 Hierin deutet sich der
eingangs dargestellte iterative Wechsel zwischen Verdrängung und Konfrontation bei
der Bearbeitung des Traumas an. Lacan greift die zeitliche und räumliche Bedeutung
der Nachträglichkeit mit Blick auf die sich vollziehende Veränderung auf: „Was sich
in meiner Geschichte verwirklicht, ist nicht die abgeschlossene Vergangenheit dessen,
was war, weil es nicht mehr ist, auch nicht das Perfekt dessen, der in dem gewesen ist,
was ich bin, sondern das zweite Futur (futur anterieur) dessen, was ich für das werde
gewesen sein, was zu werden ich im Begriff stehe.“790 Der Kern dieser Umschreibung
offenbart das Ziel von Lacans Konzept: „Lacan does not profess a model of desire
grounded in romantic nostalgia for the lost object, but rather in an enlightened
acceptance of loss as the condition of psychic functioning.“791 Die entscheidende
Bedeutung kommt dabei der Sprache zu: „Lacan´s insistence on the future past might
be explained by considering the retroactiv achievement of meaning that language
789
Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, 1972, S. 313.
Jean Lacan, Schriften, Berlin, 1986, S. 143.
791
Riccardi, S. 46.
790
310
performs, for only at the end of a sentence, (…) does the logic of the contigent
elements of a symbolic structure begin to appear.“792
Der Bedeutung „am Ende eines Satzes“ geht dessen Formulierung voraus, was sich in
der Psychoanalyse als dem eingangs dargestellten Konzept der Rekategorisierung
manifestiert:
The task Lacan assigns to the patient is the knowing, deliberate `recitation´ of his
or her past, not its repetition. The `full speech´ of analysis depends ultimately on
the analysand´s responsiveness to the necessity of addressing a spectator rather
than of incorporating a tragic chorus, and hence on the subject´s capacity to
allow the emergence of a simulacrum of the past, not its replica.793
Der “spectator” als Rezipient der Novelle Krebsgang wird mit Pauls Rekonstruktion,
d.h. aus der Warte des Traumas, mit den traumatischen Ereignissen in der
Vergangenheit konfrontiert: „Wieder einmal muss ich rückwärts krebsen, um
voranzukommen.“ (107) Dieses Rückwärtsgehen um voran zu kommen ist als
Kernaspekt der Geschichte um die Gustloff mit dem Titel Im Krebsgang manifestiert.
Dieser Titel umschreibt zugleich den Trauerprozess des Rückwärtsgehens um voran
zu kommen.
Lacans Konzept der „Vorzukunft“794 findet sich in Ansätzen wieder in Grass´
eingangs erwähnter „Vergegenkunft“ (Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben
aus). Was jedoch bei Lacan eine Verschmelzung der Zeithorizonte aus
Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart ist, wird bei Grass zu einer Vergangenheit,
die ihre Schatten auf Zukunft und Gegenwart wirft, indem sie „nicht aufhören (wird),
gegenwärtig zu bleiben.“795 Während Lacans Konzept eine prozesshafte Entwicklung
aus dem Amalgam der Zeitdimensionen indiziert, in der sich das Subjekt als ein
„Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Zukunft“796 denken lässt, fungiert die
„Vergegenkunft“ bei Grass als Synonym für entwicklungslose – melancholische 792
Ebd., S. 41.
Ebd.
794
Strasser, `Blick zurück in die Zukunft´, in Mauser; Pfeiffer, (Hg.), Erinnern, S. 138.
795
Grass, Schreiben nach Auschwitz, S. 9.
796
Strasser, S. 137.
793
311
„Endlosigkeit“797 durch das Verharren in der Vergangenheit. Im Krebsgang ist diese
Endlosigkeit in der transgenerationellen Weitergabe des Traumas der
Gewalterfahrung manifestiert. Aus psychologischer Sicht ist dieser Übertrag mit dem
Auftrag der Auflösung des Traumas verbunden.798 Hierin reflektiert sich Grass‘ Idee
von der Melancholie als Vorstufe zur Trauer. Allerdings bleiben die Möglichkeiten
dieser (Trauma-) Auflösung in nachfolgenden Generationen im Krebsgang durch den
äußeren Raum versagt.
Der Enkel Konny übernimmt Tullas Auftrag, ihr Schicksal in den öffentlichen Raum
einzubringen. Während der ersten Nachkriegsjahre ist „nicht nur auf Befehl der
sowjetischen Besatzungsmacht“ alles abgeräumt worden, „was die Bürger der Stadt
an den Blutzeugen hätte erinnern können.“ (37) Das, was von den „anderen“ zerstört
worden war, will Konny zurück in die Erinnerung holen. Sein Ziel ist es, am Südufer
des Schweriner Sees ein Mahnmal zu errichten (192), das den Namen des Traumas
seiner Großmutter trägt: „Ich rufe dazu auf, am Südufer des Sees, dort, wo ich auf
meine Weise des Blutzeugen gedacht habe, ein Mahnmal zu errichten, das uns und
kommenden Generationen jenen Wilhelm Gustloff in Erinnerung ruft, der vom Juden
gemeuchelt wurde.“ (192)
Ein Mahnmal ist ein Symbol der Trauer. Symbolisch könnte Konny durch das
Sichtbarmachen des Traumas der Großmutter jener Anteile, die er durch
transgenerationelle Übertragung in sich trägt, nach außen bringen. Dies impliziert eine
Loslösung im Inneren. Wie stark die traumatische Vergangenheit Tullas ihn gefangen
hält, zeigt sich in seiner Forderung nach einem Gedenkstein: „…während das
Erinnern ein `dynamischer Prozess´ ist, welcher `das Selbst (verändert) und Platz für
neue Objekte schafft´, ist das Gedenken `statisch´.“799 Hirsch versteht das Gedenken
„als eine unvorteilhafte Art der mentalen Interaktion, die darauf abzielt, `dem
797
Grass, ebd., S. 43.
Vgl. Kapitel „Wiederholen“.
799
Hirsch zitiert in: Weilnböck, S. 37.
798
312
Vergangenen als Gegenwärtiges die Treue zu (bewahren).“800 Gedenken wird so zum
„ungute(n) Gegenteil von erinnernder Loslösung“.801
Eine andere Möglichkeit der Loslösung wäre für Konny die historische Wahrheit über
das Trauma seiner Großmutter zu erfahren, indem er in den öffentlichen Raum tritt:
„Die Frage nach der Wahrheit von Erinnerungen hat nicht nur eine subjektive,
sondern auch eine soziale Dimension. Ob Erinnerungen wahr sind, hängt zu einem
gewissen Teil nicht nur davon ab, ob sie sinnlich körperlich eingeschrieben, sondern
auch davon, ob sie in einem öffentlichen Kommunikationsraum erzählbar und
akzeptabel sind.“802
Konnys „Wahrheiten“ sind für den öffentlichen Raum nicht akzeptabel: gemäß des
Auftrags Tullas tritt Konny in der Absicht an die Öffentlichkeit, dort Unterstützung
für sein Vorhaben zu gewinnen. Er will einen Vortrag über die Gustloff in seiner
Schule halten. Ein weiterer Vortrag über den Untergang der Gustloff erfolgt vor
rechtsradikalem Publikum. Anstatt jedoch Wahrheiten und Erkenntnisse in diesen
beiden polaren Räumen der Öffentlichkeit zu gewinnen, wird er wegen seines
neonazistischen Gebarens (188) respektive „Gesülze!“ (83) abgewiesen. Anstatt
Loslösung und Erkenntnis aus Tullas Trauma zu gewinnen, indem die jeweiligen
(Tullas historische und Konnys gegenwärtige) Anteile „richtig“ zugeordnet werden
können, bleibt nach dem Kontakt mit der Öffentlichkeit vordergründig das Bild
Konnys als rechtsradikaler „Neonazi“ zurück.
Tatsächlich verwischt sich dieses Bild jedoch bereits bei der äußeren Betrachtung der
Figur Konny:
Ich versuche mir meinen Sohn vorzustellen, wie er sich, dünn und
hochaufgeschlossen, mit Brille und lockenköpfig in seinem Norwegerpullover
zwischen den Kahlköpfen bewegt. Er, der Safttrinker, umgeben von
Fleischbergen, die mit Bierflaschen bewaffnet sind. (…) Nein, er hat sich nicht
800
Ebd.
Ebd.
802
A. Assmann in Das soziale Gedächtnis, S. 117.
801
313
angepasst, blieb ein Fremdkörper inmitten der, üblicherweise, alles Fremde
abstoßenden Szene. (82)
Der „Fremdkörper“ kann hier als Synonym für das übertragene Trauma gelesen
werden.803 Konnys Äußeres reflektiert das Innere: „Haß auf Türken, die
Freizeitbeschäftigung Negerklatschen und die pauschale Beschimpfung von Kanaken
waren ihm nicht abzufordern.“ (82) Konny bedient sich zwar antisemitischer
Klischees. Diese sind jedoch dem Repertoire seines historischen Rollenspiels als
Wilhelm Gustloff entnommen (durch das er versucht, das Trauma Tullas
„ungeschehen“ zu machen804) und nicht der zeitgenössischen Haltung rechtsextremer
Jugendlicher zuzuordnen, denn er „sprach (…) zwar (…) von mutmaßlichen
Hintermännern des Mörders, vom `Weltjudentum´ und von der `jüdisch versippten
Plutokratie´, aber Beschimpfungen wie `Schweinejuden´ oder der Ruf `Juda
verrecke!´ standen nicht in seinem Redemanuskript.“ (82)
Die „Glatzen“ sind an Konnys detaillierten Ausführungen über „Das Schicksal des
KdF-Schiffs Wilhelm Gustloff von der Kiellegung bis zum Untergang“ nicht
interessiert. (183) Anders als Konny suchen die rechtsradikalen Jugendlichen nicht
nach Ursachen, Verlauf und Ende („Kiellegung bis zum Untergang“) der Geschichte.
Spätestens das rechtsstaatliche Agieren Konnys verwässert das Bild des
rechtsradikalen „Neonazis“: „Selbst die Forderung nach der Wiederaufstellung eines
Gedenksteines am Südufer des Schweriner Sees, `genau dort, wo seit 1937 der
hochragende Granit zu Ehren des Blutzeugen gestanden hat´, war gesittet in Form
eines Antrages gestellt, der die üblichen demokratischen Gepflogenheiten bemühte.“
(82f)
Konny bewegt sich an zwei Orten, die sich als deutsche Brennpunkte für
Rechtsextremismus eingeprägt haben. Die Stadt Mölln, in der Konny die ersten
fünfzehn Jahre seines Lebens verbringt, assoziiert die Ereignisse der rechtsradikal
motivierten Mordtaten im November 1992. Als Landeshauptstadt von Mecklenburg-
803
804
Vgl. Abschnitt „Trauma“.
Vgl. Kapitel „Wiederholen“.
314
Vorpommern symbolisiert Schwerin einen Ort, an dem ein besonders starker Zulauf
zur Nationalen Partei Deutschlands (NPD) zu verzeichnen ist.805
Als Grass der Gustloff seine Novelle widmete, „geschah dies in der erklärten Absicht,
die Teilnahme am Leid deutscher Opfer des zweiten Weltkrieges nicht `den
Rechtsradikalen´ zu überlassen. Es sollte möglich sein, von deutschen Leiden ohne
Aufrechnung oder revanchistische Zungenschläge zu sprechen.“806 Dem
Protagonisten Konny bleibt dieses versagt: er wird zum “Opfer“ von Rechtsradikalität
(198): es ist dieser Übergriff, der die Wiederholung der Geschichte – die
entwicklungslose Melancholie – bewirkt. Nach dem Übergriff durch Rechtsradikale
gibt Tulla ihm die Mordwaffe, die sie auf dem „Russenmarkt“ (198) gekauft hat.
Selbst nachdem die Katastrophe geschehen ist, bleibt Konny die Gelegenheit zur
Reflexion des Traumas seiner Großmutter im öffentlichen Raum versagt: „Da
Verhandlungen vor Jugendstrafkammern nicht öffentlich sind, fehlte für
publikumswirksame Vorträge der Hallraum.“ (189)
Konny ermordet Wolfgang alias David, nachdem dieser „dreimal auf das vermoste
Fundament gespuckt, also den Ort des Gedenkens, wie mein Sohn später aussagte,
`entweiht´“ hat. (174) Während seines Prozesses appelliert er:
Doch bitte ich das Hohe Gericht, die von mir vollzogene Hinrichtung als etwas
zu bewerten, das nur in größerem Zusammenhang zu begreifen ist. (…) Die
Landeshauptstadt Schwerin muss endlich ihren großen Sohn namentlich ehren.
Ich rufe dazu auf, am Südufer des Sees, dort wo ich auf meine Weise des
Blutzeugen gedacht habe, ein Mahnmal zu errichten, das uns und kommenden
Generationen jenen Wilhelm Gustloff in Erinnerung ruft, der vom Juden
gemeuchelt wurde. (192)
Auch in dieser scheinbar eindeutigen Sequenz entzieht sich der Protagonist dem
Verdacht, ein Rechtsextremer zu sein: „Ich scheue mich nicht, anzuerkennen, dass es
Vgl. Mathias Brodkorb, Thomas Schmidt, „Gibt es einen modernen Rechtsextremismus? Das Fallbeispiel
Mecklenburg-Vorpommern“, Friedrich Ebert Stiftung, Oktober 2001, http://library.fes.de/pdffiles/bueros/schwerin/01185-tb.pdf.
806
Joachim Güntner, `Untergangsunterhaltung´, „Neue Züricher Zeitung“, 05.03.2008, http: neue.züricherzeitung.ch/nachrichten/kultur/aktuell/untergangsunterhaltung_1.683403.html.
805
315
auf jüdischer Seite gleichfalls Gründe gibt, entweder in Israel, wo David Frankfurter
zweiundachtzig gestorben ist, oder in Davos mit einer Skulptur jenen
Medizinstudenten zu ehren, der seinem Volk mit vier gezielten Schüssen ein Zeichen
gegeben hat.“ (192f)
Deutlich offensichtlich wird aus der Begriffsumschreibung des italienischen
Faschismusforschers Emilo Gentile, dass Konnys Handeln nicht ideologisch getrieben
ist:
(Die Faschisten) sehen sich als Vollstrecker einer Mission der nationalen
Erneuerung; im Kriegszustand mit den politischen Gegnern; sie wollen das
Monopol der politischen Macht und setzen Terrormaßnahmen, parlamentarische
Taktik und Kompromisse mit den führenden Schichten ein, um eine neue
Ordnung zu errichten, welche die parlamentarische Demokratie zerstört. (…)
eine Ideologie von antiideologischem und pragmatischem Charakter, die sich als
antimaterialistisch, antiindividualistisch, antiliberal, antidemokratisch,
antimarxistisch proklamiert, tendenziell populistisch und antikapitalistisch, eher
ästhetisch als theoretisch formuliert mit den Mitteln eines neuen politischen Stils
und den Mythen, Riten und Symbolen einer Laienreligion, die dazu dient, die
Massen kulturell-sozial zu einer geschlossenen Glaubensgemeinschaft zu
formen, deren Ziel die Schaffung eines `neuen Menschen´ ist.807
Der Distanzierung des Protagonisten Konnys von dem Bild des rechtsextremen
Neonazis schließt sich der Hinweis auf den wirklichen Auslöser der Mordtat an
Wolfgang alias David an: „Bin wiederholt dort (am Tatort) gewesen. Zuletzt vor
wenigen Wochen, als wäre ich der Täter, als müsste ich immer wieder an den Tatort
zurück, als liefe der Vater dem Sohn nach.“ (160) Das unbearbeitete Trauma Tullas
wird somit zum eigentlichen Täter des Mordes an Wolfgang alias David.
807
Gentile, S. 98.
316
Diskrepanzen zwischen öffentlicher und privater Erinnerungskultur
Zwar agiert der transgenerationell traumatisierte Konny auf mehreren exponierten
Plattformen, dennoch bleibt ihm eine Orientierung von außen versagt. Er alleine
vermag seine innere Vermengung von Tullas Vergangenheit und seiner eigenen
Gegenwart nicht aufzulösen. Für die Außenwelt erscheint er als ein rechtsradikaler
Neonazi. In den Protagonisten der Novelle – neben Tulla und Konny auch die
während des Prozesses anwesenden Richter, Pädagogen, Eltern etc. - spiegelt sich
eine Hilflosigkeit im Umgang mit der Vergangenheit, die Grass für die „Deutschen“
(und für sich selbst) diagnostiziert hat:
Sobald sich die Deutschen – Täter wie Opfer, Ankläger und Beschuldigte, die
Schuldigen und die nachgeborenen Unschuldigen – in ihre Vergangenheit
verbeißen, nehmen sie eingefleischte Positionen ein, wollen sie Recht behalten,
Recht bekommen. Blindlings – im Irrtum noch – machen sie deutsche
Vergangenheit gegenwärtig, ist wieder die Wunde offen und wird die Zeit, die
verstrichene, die glättende Zeit aufgehoben. Ich nehme mich nicht aus.808
Tulla ist überzeugt, dass das Schicksal ihres Enkels geschehen konnte, „weil immerzu
nur von andre schlimme Sachen, von Auschwitz und so was jeredet (wird).“ (50) Als
Journalist kann Paul Tullas Auftrag, aufzuschreiben, lange nicht erfüllen. Weder bei
Springer noch bei der „taz“ findet er ein hierfür geeignetes Umfeld.809 Er versucht
sich alternativen Themen – als ein Indiz für die Umgehung des „eigentlichen“
Themas - zu nähern und schreibt „Artikel für Naturzeitschriften, etwa über den
biodynamischen Gemüseanbau und Umweltschäden im deutschen Wald…“ (32).
Dennoch bricht die unbearbeitete Vergangenheit immer wieder an die Oberfläche:
„auch Bekenntnishaftes zum Thema `Nie wieder Auschwitz´“ (32) liefert Paul. Er
schafft es dabei „die Umstände (s)einer Geburt auszusparen.“ (32) Hierin deutet sich
die Verdrängung des von Tulla erlittenen Traumas im öffentlichen Raum (bei „taz“
und Springer) als Folge der Schuld und Schande („Bekenntnishaftes“) gegenüber dem
„Trauma Auschwitz“ an.
808
809
Grass, `Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus´, S. 139-270 in Neuhaus WA, Bd. 6, S. 151.
Vgl. Abschnitt „Verdrängung“.
317
Diese Verdrängung im öffentlichen Raum steht diametral zur Verdrängung im
privaten Bereich, worin sich die eingangs ausgeführte Diskrepanz in der deutschen
Erinnerungskultur spiegelt. In Mein Jahrhundert sind im Jahr 1964 die Frankfurter
Auschwitzprozesse thematisiert:
`Davon haben wir nichts mitgekriegt. Wann soll das gewesen sein?
Dreiundvierzig? Da gab´s bei uns nur noch Rückzug…´ Und Onkel Kurt sagte:
`Als wir die Krim räumen mussten und ich endlich auf Urlaub kam, da waren
wir ausgebombt hier. Aber über all den Terror, den die Amis und der Engländer
mit uns angestellt haben, redet niemand. Klar, weil die gesiegt haben und
schuldig nur immer die anderen sind. Hör endlich auf damit, Heidi!´.810
Der „Alte“ (99) hat die „Stoffmasse“, den Untergang der Gustloff, die ihm gleich
„nach Erscheinen des Wälzers `Hundejahre´ auferlegt worden sei, nicht erfasst“. (77)
Der „Alte“ ist „jemand, der nicht Günter Grass ist, aufgrund von biographischen
Bezügen und intertextuellen Anspielungen aber stark an den LiteraturNobelpreisträger gleichen Namens erinnert.“811 Er gesteht ein: „Sein Versäumnis,
bedauerlich, mehr noch: sein Versagen.“ (77) Der Zusatz „Er - wer sonst? - hätte sie
abtragen müssen, Schicht für Schicht. Denn an Hinweisen auf das Schicksal der
Pokriefkes, Tulla voran, habe es nicht gefehlt“ (77) offenbart die Ambivalenz des
Wissens um die Geschehnisse von Flucht, Vertreibung, Bombardements einerseits
und der Unfähigkeit dieses Wissen nach außen in den öffentlichen Raum zu bringen.
Die Begründung für sein Schweigen ist, dass „er gegen Mitte der sechziger Jahre die
Vergangenheit sattgehabt812, ihn die gefräßige, immerfort jetztjetztjetzt sagende
Gegenwart gehindert habe, rechtzeitig auf etwa zweihundert Blatt Papier….Nun sei es
zu spät für ihn.“ (77) Im Krebsgang „gesteht“ der „Alte“ ein, dass das Verschmelzen
von Vergangenheit und Gegenwart nicht möglich war, weil „die eigene Schuld
übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen“ (99) sei.
Die Konsequenz, die sich daraus ergibt: man hat „das gemiedene Thema den
Rechtsgestrickten überlassen“, für den „Alten“ ein „bodenloses Versäumnis“ (99).
810
Grass, Mein Jahrhundert, Göttingen, 1999, S. 231.
Dieter Stolz, `Im Krebsgang oder Das vergessene Gesicht der Geschichte´, S. 233-244 in Honsza;
Swiatlowska, (Hg.), Günter Grass. Bürger und Schriftsteller, Dresden, 2008, S. 239.
812
Anmerkung: Frankfurter Auschwitz-Prozesse
811
318
Nach „langer Sucherei auf den Listen der Überlebenden“ (78) hat der „Alte“
schließlich Paul „wie eine Fundsache“ (78) entdeckt, nachdem er selbst sich
„müdegeschrieben“ (99) hat. Dieser Paul ist als Fundsache nicht neu, sondern war
schon immer vorhanden, jedoch „ übersehen“ bzw. verdrängt. Mit dem Erzähler Paul,
der anders als er selbst “prädestiniert“ sei, weil „geboren, als das Schiff sank“ (78)
verbleibt Grass zugleich in der Tradition der „Danziger Trilogie“ - zu der die Novelle
Im Krebsgang zahlreiche Bezüge hat. Er bedient sich fiktiver Erzählerfiguren, „durch
deren Perspektive dem Leser der Gegenstand des Erzählens nahegebracht wird.“813
Vor dem Hintergrund, „dass die literarisch konstruierte Perspektive der fiktiven
Erzählerfiguren in engem Zusammenhang mit der Perspektive des Autors, seinen
historischen, sozialen und politischen Vorstellungen steht, ja ohne sie gar nicht
denkbar wäre“814, eröffnet sich eine kontextualisierte Herangehensweise, die die
(traumatische) Verdrängung aufzubrechen vermag.
Als eine Vorbedingung für das Verschmelzen von Historie und Gegenwart
unternimmt der Erzähler Paul den Versuch, Tullas Schicksal in einen historischen
Kontext zu setzen. Allerdings brechen die Versuche der Kontextualisierung immer
wieder durch die Erinnerung an das Trauma. So beginnt Paul etwa den Anschlag auf
den Pariser Diplomaten Ernst vom Rath aufzurollen, dessen Folge die
Reichskristallnacht war (31). Doch bevor er die Hintergründe und Bedeutung dieses
Ereignisses darlegen kann - das ein entscheidender Testfall für die Unterstützung der
Bevölkerung für die nationalsozialistische „Judenpolitik“ war - ist er „wieder auf
Spur“ - zurück bei der Katastrophe um das „Schiff“ (ebd.). Es ist nicht „weil mir der
Alte im Nacken sitzt, eher weil Mutter niemals lockergelassen hat.“ (ebd.)
Paul ist zwischen die traumatisierte Tulla, die „niemals“ lockerlässt (31), und den
„Alten“ geraten, der Paul durch eine „Verbotstafel die von Beginn an stand“815 enge
Grenzen setzt (199). Das Verbot, nach Innen zu schauen (ebd.), verhindert das
Susanne Schröder, Erzählfiguren und Erzählperspektiven in Günter Grass´ “Danziger Trilogie“, Frankfurt,
1986, S. 1.
814
Ebd., S. 2.
815
Anmerkung: Grass Bezeichnung für Adornos Diktum, keine Gedichte nach Auschwitz zu schreiben, vgl.
Einführung.
813
319
Durchdringen und Erfassen des Traumas. Das (innere) Trauma steht somit
unbeweglich vor der (äußeren) Verbotstafel des „Alten“ als ein „Torwächter“816, der
nicht zu überwinden ist. Unter diesen Umständen gelangt Paul schließlich zu der
Überzeugung: „Es stocke, sagte ich ihm, lohne den Aufwand nicht.“ (30) Doch wird
in dieser Sequenz sogleich ein Wandel sichtbar: „Nun aber hat er mich doch aus der
Versenkung geholt: das Herkommen meiner verkorksten Existenz sei ein einmaliges
Ereignis, exemplarisch und deshalb erzählenswert.“ (ebd.) Das Trauma gelangt in der
Gegenwart der Jahrhundertwende schließlich doch an die Oberfläche.
Für Grass selbst hat sich Adornos Diktum, nach Auschwitz sei kein Gedicht mehr zu
schreiben, zum Gebot erhoben:
Eines dieser Gewichte, das auch dann noch lastete, wenn man es als Gepäck
ausschlug, war Theodor W. Adornos Gebot. Seiner Gesetzestafel entlehne ich
meine Vorschrift. Und diese Vorschrift verlangte Verzicht auf reine Farbe; sie
schrieb das Grau und dessen unendliche Abstufungen vor. Es galt, den absoluten
Größen, dem ideologischen Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben
Platzverweis zu erteilen und nur noch auf Zweifel zu setzen, der alles und selbst
den Regenbogen graustichig werden ließ.817
Georg Steiner, der dafür plädiert, „Auschwitz ins Schweigen zu verbannen, um nicht
die menschliche Sprache zu verunreinigen“818, sehnte sich nach einer Sprache,
„welche vielleicht unsere einzig sinnvolle Assoziation zu `Auschwitz´ ist: niemals den
Abgrund an Unmenschlichkeit zu vergessen, dessen der Mensch fähig ist.“819
In den traumatischen Sequenzen seiner Novelle Im Krebsgang wird Grass dieser
Aufforderung gerecht. Er formt Bilder, die den Blick in jene Abgründe eröffnen, zu
dem der Mensch fähig ist: die Kacheln des Schwimmbeckens, die der „zweite
Torpedo“ in „Geschosse“ aus „Mosaikscherben“ verwandelt (60), die „T34-Panzer“,
die Flüchtende einholen und zermalmen, die „(e)rschossenen Kinder“ in den
Straßengräben (101). Diese Bilder von Flucht und Bombardierung werden mit
Vgl. A. Assmann, „Einführung“.
Grass, `Schreiben nach Auschwitz´, S. 203f.
818
George Steiner zitiert in: Schlant, S. 21.
819
Ebd.
816
817
320
assoziativen Bildern des Holocaust verknüpft, wodurch auf „reine Farbe“ verzichtet
wird: „Später sprachen sie von Gasgeruch und von Mädchen, die durch die Splitter
des zerbrostenen Glasmosaiks (…) in Stücke gerissen wurden.“ (132); „Von der
Brücke her kamen nun Befehle, alle Nachdrängenden in das verglaste Untere
Promenadendeck zu lenken, dessen Türen zu verschließen und bewaffnet zu
bewachen in der Hoffnung auf rettende Schiffe. (…) Erst ganz zum Schluß (…) sind
(…) die Panzerglasscheiben zerborsten.“ (135f) – als Assoziation von Menschen in
den Gaskammern der Konzentrationslager; „Mutters für alles Unbeschreibliche
stehender Satz `Da hab ech kaine Töne fier….“ – als Hinweis auf das Diktum der
Nicht-Repräsentierbarkeit des Holocaust.
Schließlich wird die Hauptprotagonistin Tulla als Opfer von Flucht und Vertreibung
selbst zum assoziativen Bild für den Holocaust: „Man hat Mutter, als die Pokriefkes
unregistriert an Bord kamen, von ihren Eltern getrennt. Das entschied eine
Krankenschwester.“ (107) – assoziiert die Ankunft auf den Rampen der
Konzentrationslager; die Aufforderung an ihr eigenes Trauma, aufzuschreiben - „Ech
leb nur noch dafier, dass main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen“ (19) – gibt
die Überlebensstrategie vieler Holocaustopfer wieder während das Trauma anhielt.
Die unmittelbaren und assoziativen Bilder menschlicher Abgründigkeit rücken die
Unüberwindbarkeit extremer Traumatisierungen als deren Folge in den Mittelpunkt.
Die Grenzen zwischen den einzelnen menschlichen Schicksalen werden somit
verwischt – sie erscheinen ausschließlich im „graustichigen“ Licht der Gewalt. Durch
dieses Verwischen einzelner Schicksale und der Konzentration auf das unüberwindbar
Traumatische gerät die Frage nach den Ursprüngen dieser Abgründigkeit für die
Nachgeborenen umso dringlicher an die Oberfläche. Dem entlarvenden Verdacht des
Vergleichs zwischen den einzelnen (traumatischen) Schicksalen der Opfer und
„Opfertäter“ kommt das Sichtbarmachen der Schuld in der Person Tullas zuvor:
„Mutter roch nach Knochenleim“ (54). Hierdurch wird die Tischlerin Tulla mit dem
„Barackenausbau“ (66) in den Konzentrationslagern in Verbindung gesetzt und so als
Mittäterin entblößt. Der Begriff „Knochenleim“, der wiederholte Male als Tullas
Geruch benannt wird, assoziiert dabei eine der unsäglichsten Abgründigkeiten des
321
Holocaust: dem Herstellen von Ge- und Verbrauchsprodukten aus menschlichen
Überresten.
Dem Trauma Paul bringt Tulla die Überreste aus ihrer „Tätigkeit“ zum Spielen mit
nach Hause: „Na schön, Hobelspäne und Holzklötze, die sie mir aus der Werkstatt
mitbrachte, hab ich langgelockt und getürmt einstürzend vor Augen. Ich spielte mit
Spänen und Klötzen.“ (54) Hobelspäne und Holzklötze bleiben beim Bau von
Baracken übrig. Im übertragenden Sinn spielt das Trauma Paul mit für ihn
unkenntlichen Überresten des Holocaust.
Aus der Beobachtung des kindlichen Spiels zog Walter Benjamin die ewige
Wiederkehr des Gleichen: „In der Tat: jedwede tiefste Erfahrung will unersättlich,
will bis ans Ende aller Dinge Wiederholung und Wiederkehr, Wiederherstellung einer
Ursituation, von der sie den Ausgang nahm.“820 Benjamin sieht den Grund für die
Wiederholung in der Einübung in fremde, feindliche Rhythmen, vor allem in der
Überwindung von Fremdheit und Feindlichkeit „um durch Verwandlung der
erschütterndsten Erfahrung in Gewohnheit sie dem Ich ein für allemal
einzuprägen.“821 Im übertragenen Sinn lässt sich somit im Spielen nach Benjamin der
Prozess des traumatisch bedingten Wiederholungszwangs erkennen: immer wieder
versucht Paul die Holzklötze aufzubauen, zu einem Gebilde zusammen zu stellen,
aber sie stürzen ein, ohne ein Ganzes ergeben zu haben, worin sich die NichtRepräsentierbarkeit des Traumas Holocaust reflektiert. Die Erschütterung darüber
offenbart sich an dessen Sprachlosigkeit: „Da gibt´s nichts zu erinnern. (…) Ich
spielte mit Spänen und Klötzen.“ (54) Das „Torwächtersyndrom“ des Traumas, worin
dessen Unüberwindbarkeit symbolisiert ist, verhindert Erinnerungen.
Entsprechend regredieren die Erinnerungen an den Holocaust in der Gegenwart der
Jahrhundertwende im Krebsgang zur Quizfrage in einer Fernsehshow, in der es Geld
zu gewinnen gibt. Auf die Frage nach den Architekten des Holocaust – Himmler und
Walter Benjamin zitiert in: Winfried Happ, Nietzsches „Zarathustra“ als moderne Tragödie, Frankfurt, 1984,
S. 141.
821
Ebd.
820
322
Eichmann – würde teils mit „ratloser Geschichtsferne“ reagiert werden, vermutet
Paul, „und schon gäbe es für den alerten Quizmaster Anlaß, den Schwund von
soundsoviel tausend Mark mit kleinem Lächeln zu quittieren.“ (39) Indem das
einzubehaltende Geld die Perspektive der Schuldfrage im Diskurs um das Trauma
Holocaust symbolisiert, gerät dessen „Ursituation, von der sie den Ausgang nahm“822
– versinnbildlicht in den Architekten des Holocaust Himmler und Eichmann – als
Metapher für die Entstehung des Zivilisationsbruches in Vergessenheit.
Tullas Trauma Paul kann die Holzklötze nicht zu einer „Ganzheitlichkeit“
verarbeiten, „denn die `erlösende´ Erzählung, die dem Holocaust einen (…) `Sinn´
unterlegt, dient der Verdrängung seiner traumatischen Realität und leistet ebenso wie
die resignative Theorie einer grundsätzlich traumatischen Geschichte dem
Wiederholungszwang bzw. der Wiederkehr des Verdrängten in Geschichtsverläufen
Vorschub.“823 Dieser Wiederholungszwang des Traumatischen formuliert sich im
Krebsgang mit Blick auf die gesamte abgründige Geschichte des 20. Jahrhunderts:
„Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo.
Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch. Zum Beispiel dieser
vermaledeite Dreißigste. Wie er mir anhängt, mich stempelt.“ (116) In der
Assoziation zu Paul Celan, dem sein Datum („20. Jänner“) nicht „eingestempelt“ aber
„eingeschrieben ist“824, erscheint erneut die Unüberwindbarkeit des Traumas
Holocaust hinter der Schablone des Traumas Untergang der Gustloff.
Aleida Assmann verweist auf eine im Zeitablauf sich wandelnde Perspektive als die
der Schuldfrage auf den Holocaust, an deren Ende eine Öffnung steht:
Sobald es nicht mehr um die Konkurrenz von Ansprüchen geht und die Praxis
gegenseitiger Verdrängung in einem erweiterten kulturellen Gedächtnis
überwunden ist, könnte es auch zu einer öffentlichen Anerkennung anderer
Formen von Traumatisierungen kommen, die neben dem Holocaust mit dem
Zweiten Weltkrieg verbunden sind, wie die Bombardierung deutscher Städte
oder die Erfahrung der Vertreibung im Osten Europas. Solche Erinnerungen
822
Vgl. Benjamin.
Annegret Mahler-Bungers, in Mauser; Pietzcker, (Hg.), Trauma, S. 30.
824
Vgl. Abschnitt „Holocaust“.
823
323
zuzulassen und in einem öffentlichen Kommunikationsraum zur Sprache zu
bringen, bedeutet in keiner Weise, die Traumatisierungen der Holocaustopfer zu
relativeren.825
Im Krebsgang ist diese Öffnung abwesend. Diese Abwesenheit bedingt ein Ende
„dicker als befürchtet.“ (216)
825
A. Assmann in Das soziale Gedächtnis, S. 121.
324
Das unheilverkündende Ende der Novelle Im Krebsgang
Für den „Alten“ erscheint es „(z)wecklos, die Hirnschale abzuheben.“ (199) Bereits
im nächsten Halbsatz offenbart sich die Folge daraus, es „spricht keiner aus, was er
denkt. Und wer es versucht, lügt mit dem ersten Halbsatz.“ (ebd.) Auch bei Paul
mutiert das Verbot nach innen zu schauen in Unheilvolles: „Wie gut, dass er nicht
ahnt, welche Gedanken ganz gegen meinen Willen aus linken und rechten
Gehirnwindungen kriechen, entsetzlich Sinn machen, ängstlich gehütete Geheimnisse
preisgeben, mich bloßstellen, so dass ich erschrocken bin und schnell versuche,
anderes zu denken.“ (200)
Die Folgen der Übertragung einer „unbewussten“ Vergangenheit (Trauma) aus der ein
„verzerrter“ Horizont in der Gegenwart erwächst, schildert Paul: „Was tun, wenn der
Sohn des Vaters verbotene, seit Jahren unter Hausarrest leidende Gedanken liest, auf
einen Schlag in Besitz nimmt und sogar in die Tat umsetzt.“ (210) Dabei war Vater
Paul bemüht „politisch richtig zu liegen“, „nichts Falsches zu sagen“, „nach außen hin
korrekt zu erscheinen“ (210). Im nachfolgenden Satz offenbart der Erzähler, was sich
wirklich hinter diesem „richtigen Verhalten“ verbirgt: „Den Haß zu Schaum schlagen,
zynisch die Kurve kriegen, zwei Tätigkeiten, die mir wechselweise leichtfielen.“
(210)
Dennoch hat es für einen Moment den Anschein, als habe sich Konny von den
Fesseln der Vergangenheit seiner Großmutter befreit: er zerstört das Modellschiff
Wilhelm Gustloff, und „verniedlicht“ das Trauma Tullas: „mein Sohn, der unverhofft
`Vati´ zu mir gesagt hatte“. (213) Tatsächlich ist diese vermeintliche Loslösung
Konnys lediglich der erste Schritt in eine fatale Richtung. Aus der Verschmelzung
eines „unbewussten“ Vergangenheitshorizonts (das Trauma ist Tulla nicht bewusst826)
und eines „verzerrten“ Gegenwartshorizonts (das Trauma Paul) erwächst eine
(traumatisch bedingte) Wiederholung in der Zukunft. Konny, das Opfer von
Rechtsradikalität und dem transgenerationell übertragenen Trauma mutiert als
Einzelgänger (67) zum „Wiederkehrer“ Hitlers, der eine neue „Kameradschaft“ (216)
um sich formiert: „Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer
826
Vgl. Abschnitt „Trauma“.
325
Sprache eine Website vor, die als `www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de´ für
jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das
verhaßt System eingekerkert habe. `Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir
folgen Dir…´.“ (216)
Die Bedeutung der Kameradschaft in einer rechtsextremen Formation liegt in ihrem
identitätsstiftendem Element als
eine Massenbewegung mit klassenüberschreitenden Ausmaßen, wo sowohl in
den Führungspositionen wie in der Masse der Anhängerschaft hauptsächlich
junge Männer des Mittelstandes eine Rolle spielen, die vorher größtenteils nicht
politisch engagiert waren, sich nun aber in der neuen, bisher unbekannten Gestalt
der `Parteimiliz´ organisieren und ihre Identität nicht über die gesellschaftliche
Hierarchie oder die Klassenherkunft bestimmen, sondern durch das Gefühl der
Kameradschaft.827
Im nationalsozialistischen System umfasst der Begriff „Kameradschaft“ zwei
Bedeutungsebenen: zum einen die kalte, abgründige Kameradschaft, die die
„unwürdigen Anderen“ ausschließt; zum anderen die erhebende und wahrhaftige
Kameradschaft im „heldenhaften“ Kampf gegen einen „ebenbürtigen Feind“. Diese
Ambivalenz reflektiert ein Spannungsverhältnis, dem der Mensch in dieser Ideologie
ausgesetzt ist. Die raumgreifende Dynamik, die dieses Spannungsverhältnis
entwickeln kann, manifestiert sich im Krebsgang in der lingualen Weite der deutschen
und (universalen) englischen Sprache der Website der „Kameradschaft-KonradPokriefke“.
Konny, der noch im „verrotteten Kasten“ (214) sitzt, wird zum „Führer“ dieser neuen
– universalen - „Kameradschaft-Konrad-Pokriefke“. Der Wiederholungszwang
offenbart sich durch das Bild Hitlers in der Festungshaft Landsberg (1923-24), der
dort den größten Teil von Mein Kampf verfasst. In Konnys
„vergangenheitsbezogene(m)“ (67) Denken und Interesse für „technische
Neuerungen“ (ebd.) reflektiert sich Hitlers wahnwitziges Streben nach
mittelalterlicher Reichsgroßmacht (Hl. Römisches Reich Deutscher Nationen), die er
827
Gentile, S. 98.
326
durch moderne Waffentechnik zu verwirklichen suchte. Der Norwegerpulli, den
Konny beim Eintritt seines Vaters in die Zelle trägt, versinnbildlicht in diesem
Kontext die Vision des germanisch-nordischen und antichristlichen Flügels innerhalb
des NS-Regimes (vor allem vertreten durch Himmler) mit einer Wiedervereinigung
der rassisch verwandten Völker – der Deutschen, Skandinavier, Holländer etc. – in
einem Großreich sowie einer umfassenden Kolonisierung der Gebiete im Osten.828
Auch das anscheinend asexuelle Verhältnis Konnys zu seiner Freundin Rosi (181,
188) offenbart Parallelen: „As for his sexuality, about which there have long been
speculations on the basis of circumstantial or tainted evidence, he may have had none.
Hitler hated. He did not love.“829
Konnys Eltern, das „Trauma“ Paul und die Pädagogin Gabi, gestehen am Ende ihr
Versagen ein: „Nichts spricht uns frei. Man kann nicht alles auf Mutter oder die
bornierte Paukermoral schieben. Und während der Prozess lief, haben meine
Ehemalige und ich (…) unser beider Versagen eingestehen müssen.“ (184) Nicht
alleine der traumatisierte Vergangenheitshorizont Tullas, sondern auch der daraus
erwachsene „verzerrte“ Gegenwartshorizont (Paul und Gabi; letztere als „Mutter“ und
„Pauker“) bewirken die Katastrophe, in die Konny hineingerät. Aus dieser
Perpetuierung über die Generationen hinweg erschließt sich den Protagonisten
lediglich ein Ausweg: „Ach, wäre ich, der Vaterlose, doch nie Vater geworden!“
(184) Auch Mutter Gabi flüchtet sich nach dem Bruch mit Konny zu einem
„warmherzigen“ „Hausfreund“ (213). Als Gefangene ihrer eigenen Geschichte
vermögen die Protagonisten im Krebsgang nicht, neue Wege zu beschreiten, sondern
flüchten in vermeintlich bessere Welten („Hausfreund“) oder sogar in die Negierung
der Existenz („nie Vater geworden“).
Flucht und Negierung der Existenz deuten auf eine Lücke, die im narrativen Leben
der Protagonisten klafft: die Figuren im Krebsgang teilen keine Fürsorglichkeit
miteinander. Die Beziehung zwischen Paul und Konny ist lieblos (201), die Trennung
zwischen Konny und Gabi „`einvernehmlich´“ (117), Paul empfindet Hass gegenüber
828
829
Burrin, S. 71.
Ferguson, S. 233.
327
Tulla (70), Tulla scheint Konny ausschließlich für ihre Zwecke als „ihre große
Hoffnung“ (44) zu missbrauchen, Paul und Gabi trennen sich nach wenigen Jahren
der Ehe. Im ersten „Brief an die Korinther“ schreibt der Apostel Paulus: „Wenn ich in
den Sprachen der Menschen und Engel redete, aber die Liebe nicht hätte, wäre ich
tönendes Blech oder lärmendes Schlagzeug.“830 Im Neuen Testament liegt der
Stellenwert der Liebe über jener der Erkenntnis: „Die Liebe hört niemals auf.
Prophetisches Reden hat ein Ende, verzückte Rede verstummt, Erkenntnis vergeht.“831
Nach Paulus ist das, was bleibt, Glaube, Hoffnung – und allen voran Liebe.832
Während die Liebe Vereinigung mit anderen und somit Selbstaufopferung in sich
birgt und Leben (er)schafft, indem sie ihm einen Sinn verleiht, ist im Umkehrschluss
das Ergebnis von Hass die Zerstörung. Letzteres manifestiert sich in den Höhepunkten
der Narration: in dem Mord Wilhelm Gustloffs durch Frankfurter, dem Beschuss der
Gustloff durch Marinesko und dem Mord Wolfgangs durch Konny. Die Abwesenheit
von „Liebe“ im Krebsgang erscheint in der Lebenstristesse der Protagnisten:
As human beings we are (…) aware of our radical incompleteness, of being
terrifyingly alone, of the need for action as well as contemplation, and of
possessing a finite will that seeks to realize an infinite meaning. (…) `Love´ (…)
is the sole necessity in a meaningful universe….without love we would still
know good and evil but we would not care.833
Ohne die Liebe gleitet im Angesicht der Sterblichkeit das eigene Dasein in die
Bedeutungslosigkeit ab. Die Abwesenheit von Liebe in bzw. zwischen Individuen
zieht sich hinein bis in kollektive Ebenen: „Killing and being killed also lie at the
heart of the nation state. The wars we fight tell us who we are. A willingness for selfsacrifice may appear senseless to those who observe only the suffering, but without
such willingness there can be no love, and without love there can be no meaning to
our communal identity.”834
830
Paulinische Briefe, 1 Kor, 13.
Ebd., 8.
832
Ebd., 13.
833
John Habgood, `Bad as we are´, Rezension zu Paul W. Kahn, Out of Eden, “Times Literary Supplement”,
09.05.08, S. 25.
834
Ebd.
831
328
Dieser Gedanke stellt die Liebe als das zentrale Element für die Identifikation eines
Individuums zu einem Kollektiv dar, etwa der Familie, des Dorfes, des Landes. Vor
dem (realen) historischen Hintergrund, insbesondere der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts als Handlungsspektrum und „Vergangenheitshorizont“ der Novelle Im
Krebsgang gestellt, wird die Entstehung dieser Liebe aufgrund der Erfahrung
unmöglich, dass die Bereitschaft zur Selbstaufopferung in massenhafte Zerstörung
und gattungsfremde Unmenschlichkeit pervertiert ist. In der Narration der Novelle Im
Krebsgang sind die Folgen aus der Abwesenheit von Liebe kein statischer Zustand,
der über Zeit sein Ende findet. Vielmehr sind sie als dynamischer Prozess
ausgewiesen, der sich über die Generationen weiterträgt. Der Mord an Wolfgang
durch Konny indiziert, dass ohne die Liebe Zerstörung und Unmenschlichkeit – hier
in Form von Gewalt - unendlich perpetuiert werden.
329
Perpetuierende Gewalt und Gegengewalt als Resultat nicht gewonnener
Erkenntnis
In der Darstellung des 20. Jahrhundert im Krebsgang scheint der Zweite Weltkrieg
eine vorrangige Stellung zu besetzen.835 Das Ausmaß an Brutalität - von der
nationalsozialistischen Verfolgungspolitik mit dem Höhepunkt Holocaust, den
alliierten Städtebombardements und den Atombomben über Hiroshima und Nagasaki
(assoziiert in der Figur Vater Stremplin)836 - hat vieles von dem überschattet, was
davor lag. Dieser unerfassbaren Gewaltdimension gegen Mitte des 20. Jahrhunderts
zeitlich vorgelagert ist eine weitere Dimension: die historische Gewalterfahrung des
Ersten Weltkrieges, der ersten Begegnung der Menschheit mit modernen Waffen. 837
Aus psychologischer Perspektive kann die Nicht-Verarbeitung massenhafter
Gewalterfahrung zu Wiederholung führen: „(Es) besteht die Gefahr, dass sich
Grausamkeiten mit verheerenden Konsequenzen für die soziale Realität wiederholen
können, wenn sie nicht sowohl im therapeutischen Behandlungszimmer als auch in
der Gesellschaft insgesamt durchgearbeitet werden.“838
Vor allem über die Nebenfigur Wilhelm Gustloff entsteht eine Verbindung zum
Ersten Weltkrieg. Mit ihm beginn die Suche nach dem Ausgangspunkt des Traumas
der Hauptprotagnonistin Tulla: „Zuerst ist jemand dran, dessen Grabstein zertrümmert
wurde.“ (9) Diese assoziativ antisemitische Gewalttat bezieht sich nicht auf den Juden
David Frankfurter, sondern auf den Nationalsozialisten Wilhelm Gustloff (vgl. ebd.).
Eine Lesart für diese umgekehrten Vorzeichen der Gewalt erhebt in einem Wechsel
der Perspektive die Frage nach dem Mechanismus von Gewalt und Gegengewalt.
Gustloffs Geburt im Jahr 1895 wird narrativ unmittelbar mit dem Ersten Weltkrieg
und Hans Castrop verknüpft, der „auf Geheiß seines Erfinders den Zauberberg
verlassen musste, um auf Seite 994 des gleichnamigen Romans in Flandern als
Kriegsfreiwilliger zu fallen“. (9)
Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“
Vgl. Kapitel „Wiederholen“
837
Vgl. „Nationalsozialismus“
838
Varrin in Bohleber, „Trauma“, S. 926.
835
836
330
Flandern liegt im nördlichen Teil Belgiens, dessen Grenze Anfang August 1914
deutsche Truppen überschritten. Das Ziel war ein Angriff auf den „Erbfeind“
Frankreich, bevor dieser seine Truppen nach Norden verlagern konnte. Der Vorstoß
auf das neutrale Belgien wird zu einem der Ausgangspunkte für den Ersten
Weltkrieg.839
Die literarische Figur Wilhelm Gustloff deckt sich weitgehend mit der historischen
Figur Wilhelm Gustloff und gewinnt somit die konkrete Repräsentanz für einen
Nationalsozialisten. Hervorgehoben wird der historische Kontext zwischen dessen
Geburt und Tod.840 Gustloff repräsentiert die Generation der so genannten „1918er“,
der auch Hitler (1889), Göring (1893), Goebbels (1897) und Himmler (1900)
angehörten841. Diese Generation erlebte als Jugendliche die Gewalt und schließlich
die Niederlage des Ersten Weltkriegs und die daraus entstehende politische und
wirtschaftliche Desorientierung, was in einer Ablehnung der demokratischen
Weimarer Republik kulminierte. Die „1918er“ sind die NS-Gründungsgeneration.
Bestimmte charakterliche Attribute, die SS-Chef Heinrich Himmler zugeordnet
werden, unterstreichen die Rolle des Protagonisten Gustloff als Repräsentant für die
NS-Gründungsgeneration. Über Gustloff und dessen Frau heißt es im Krebsgang:
„Bis hierhin ergeben die Fakten das Bild eines bürgerlich gefestigten Ehepaares, das
aber, wie sich zeigen wird, eine dem schweizerischen Erwerbssinn angepasste
Lebensart nur vortäuschte; (…) lange geduldet vom Arbeitgeber - nutzte der
Observatoriumssekretär erfolgreich sein angeborenes Organisationstalent“. (10) Auch
Himmler verfügte „über ein enormes Organisationstalent und war stets darum
bemüht, sich jeder Gelegenheit anzupassen.“842
Dennoch ist die vordergründige Position Gustloffs im Krebsgang die des Opfers einer
Gewalttat: der Jude David Frankfurter erschießt den Nationalsozialisten Gustloff. Die
Gewalttat an Gustloff gesehen aus der Wechselwirkung von Gewalt und Gegengewalt
839
http://www.wdr.de/themen/kultur/stichtag/2009/08/04.jhtml.
Vgl. Abschnitt: „Nationalsozialismus“.
841
Vgl. Zinnacker.
842
Rainer Blasius, `Heinrich der Unanständige´, Rezension zu Peter Longerich, Heinrich Himmler, „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“, 15.12.08, S. 8.
840
331
rückt das zweite Opfer von Gewalt in den Mittelpunkt. Die Figur des jüdischen David
Frankfurter repräsentiert eine genealogische Kette von Gewalterfahrung, die sich aus
der Geschichte seiner ethnisch-religiösen Zugehörigkeit ergibt.843 Am Beginn der
Novelle wird darauf verwiesen: der Name David assoziiert die alttestamentarische
Figur des gegen Goliath kämpfenden. „Was bei Wolfgang Diewerge `eine feige
Mordtat´ hieß, geriet dem Romanautor Emil Ludwig zum `Kampf Davids gegen
Goliath´.“ (28)
Der Protagonist David Frankfurter deckt sich, wie Gustloff, weitgehend mit der
historischen Figur. Der 1909 in Serbien geborene Rabbinersohn bekommt „den
tagtäglichen Haß auf die Juden zu spüren.“ (15) Der Antisemitismus seiner Epoche
treibt Frankfurter in die Rolle des Messias, der sein Volk erretten will. „`Ich habe
geschossen, weil ich Jude bin. Ich bin mir meiner Tat vollkommen bewusst und
bereue sie auf keinen Fall´.“ (28) Frankfurter ist gezeichnet als ein Opfer und Zeuge
von Gewalt, der zum Täter wird. Diese Konstellation zeigt sich in der Formulierung:
er habe „die Kugel von sich selbst auf ein anderes Opfer abgelenkt.“ (17) Darüber
hinaus entsteht eine assoziative Verbindung zur Gewalt des frühen 20. Jahrhunderts,
der Gegenwartsepoche Frankfurters: geboren in Serbien als dem ursprünglichen
Ausgangsort für den Ersten Weltkrieg (Mord an dem österreichischen Thronfolger
Erzherzog Franz Ferdinand); die symbolische Nähe zu Hans Castorp durch den
„vermeintlich sicheren Ort“ Schweiz, in den sich der „Kettenraucher“ Frankfurter
flüchtet (16).844 Über Hans Castorp wird so eine Verbindung zwischen Gustloff und
Frankfurter hergestellt in der Konstellation des Opfers, das zum Täter wird.
Die dritte Figur im Krebsgang, der diese Opfer-Täter-Konstellation zufällt, ist
Alexander Marinesko. Er ist das Kind eines im rumänischen Heimatland zum Tode
verurteilten Vaters und einer ukrainisch-jüdischen Mutter (13). Der Ort Odessa, an
dem Marinesko aufwächst, und die jüdisch-rumänische Abstammung assoziieren das
Bild von Gewalt: „Romanian troops were (…) responsible for some of the worst anti-
843
844
Vgl. Abschnitt „Antisemitismus“.
Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“.
332
Semitic violence after the invation of the Soviet Union, notably in Odessa.“845 Bereits
lange zuvor ist Odessa einer der Brennpunkte in der Geschichte des osteuropäischen
Antisemitismus. Dieser hat Russland erst relativ spät erreicht, nachdem die
Feindseligkeit gegenüber Juden von Europa zunehmend ostwärts strömte.846 Odessa
war Ort der ersten großen antisemitischen Ausschreitungen in Russland: „The earliest
recorded pogroms in Russian territory (were) in Odessa in 1821, 1849, 1859 and
1871.”847
Als Siebenjähriger wird Marinesko Zeuge der Säuberungen der Roten Brigaden. (13f)
An dieser Stelle entsteht narrativ eine Verbindung zwischen Marinesko und Joachim
Mahlke, dem Protagonisten aus Katz und Maus, der in der Ostsee „nach Münzen, die
von schöngekleideten Passagieren ins Brackwasser geworfen wurden, mit Ausdauer
und bald mit Geschick getaucht haben“ soll. (14) Die Erfahrung von Gewalt und
Gegengewalt der Generationen am Beginn und in der Mitte der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts wird hierdurch explizit hervorgehoben:
The hundred years after 1900 were without question the bloodiest century in
modern history, far more violent in relative as well as absolute terms than any
previous era. Significantly larger percentages of the world´s population were
killed in the two world wars that dominated the century than had been killed in
any previous conflict of comparable geopolitical magnitude.848
Die Gewaltdimension in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschränkte sich nicht
auf eine physische Erfahrung. Die zeitliche Verbindung zwischen dem tauchenden
Mahlke (Mitte des 20. Jahrhunderts) und dem tauchenden Marinesko (Anfang des 20.
Jahrhunderts) deutet zugleich auf die Orientierungslosigkeit infolge massiver
politischer Umwälzungen, wie den untergehenden Monarchien zu neuartigen
ideologischen Ordnungssystemen und den daraus erwachsenen Folgen, wie Genozid,
Flucht und Vertreibung.849 Marinesko wächst im Hafenviertel auf, wo er auf viele
fremde Nationalitäten trifft. Seine Identität kann das Flüchtlingskind dort nicht finden,
845
Ferguson, S. 454.
Ferguson, S. 60.
847
Ebd.
848
Ferguson, S. xxxiv.
849
Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“.
846
333
was sich in seiner Sprache bemerkbar macht: „Sosehr er sich später bemühte,
Russisch zu sprechen, nie wollte es ihm ganz gelingen, sein von jiddischen
Einschiebseln durchsupptes Ukrainisch von seines Vaters rumänischen Flüchen zu
säubern.“ (13) Im Ergebnis erfährt Marinesko Demütigungen: „Als er schon Maat auf
einem Handelsschiff war, lachte man über sein Kauderwelsch.“ (ebd.) Der so
Gedemütigte reagiert darauf, und “im Verlauf der Jahre wird vielen das Lachen
vergangen sein, so komisch in späterer Zeit die Befehle des U-Bootkommandanten
geklungen haben mögen.“ (13f)
Ein sehr ähnliches Schicksal erlebt der schwächliche Mahlke, der das Gegenbild zum
arischen Herren-Menschen der faschistischen Ideologie ist850: „Er kämpft um
Integration, indem er körperliche Leistungen aufbietet, die keiner außer ihm zustande
bringt.“851 Der übergroße Adamsapfel „gibt ihn der Lächerlichkeit preis“ und lässt ihn
zum Opfer von Aggression und Aussonderung werden. Schließlich erkämpft sich
Mahlke die höchste Kriegsauszeichnung, um von seinem Adamsapfel abzulenken.852
Der übergroße Adamsapfel Mahlkes entspricht dem Sprachgemisch Marineskos.
Beide werden durch ihre Mankos zu Außenseitern. Der gedemütigte Marinesko
reagiert wie Mahlke mit überdurchschnittlichen militärischen Leistungen und wird als
U-Bootkommandant (14) Auslöser der größten Schiffskatastrophe der
Seefahrtsgeschichte. Angst wird bei Marinesko gleichfalls zum Motiv für den
Beschuss. Er fürchtet sich vor dem Kriegsgericht, das ihm nach erfolgloser Rückkehr
zu seinem Stützpunkt droht. Der Grund seiner Furcht ist nicht sein überzogener
Landurlaub, sondern „er stand unter Spionageverdacht, einer Beschuldigung, die seit
Mitte der dreißiger Jahre in der Sowjetunion bei Säuberungen Praxis gewonnen hatte
und durch nichts zu widerlegen war.“ (128f) Nur ein „unübersehbarer Erfolg“ (129)
kann Marinesko retten. Aus der erfahrenen physischen und psychischen Gewalt
entsteht Gegengewalt.
850
Pasche, S. 31.
Ebd.
852
Ebd.
851
334
Durch die Verbindung von Mahlke und Marinesko rundet sich das Bild einer jungen
Generation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab, die infolge der
zeithistorischen Umbrüche ihrer Epoche durch Orientierungslosigkeit, Angst und
Gewalterfahrung geprägt worden ist. Entsprechend wird der mutmaßende Erzähler bei
seiner Motivsuche für die Gewalttat am Ende bei den vermeintlichen
Ordnungssystemen der Epoche fündig: Das heimatlose Flüchtlingskind Marinesko
will Rache üben gegen die „Faschistenhunde“ (ebd.), und impliziert so eine
Zugehörigkeit zum ideologischen Gegenmodell, dem Kommunismus. Bereits zwei
Wochen verläuft Marineskos Suche (ebd.) erfolglos: „Wie ausgehungert wird er
gewesen sein.“ (ebd.) Tatsächlich entspricht dieses Motiv dem des wirklichen
Alexander Marinesko, der seine “militärische” Tat rechtfertigte: „I was sure that it
was packed with men who had tramped on Mother Russia and were now fleeing for
their lives.”853
Marineskos Orientierungslosigkeit zeigt sich vor allem in dem Wunsch, einer Idee,
einer Gruppierung nicht nur anzugehören. Wie Mahlke will er innerhalb dieser
Gruppierung hervorragen: Marinesko will als Held der Sowjetunion gefeiert werden.
(167) Das psychologische Motiv hinter dem Wunsch nach Heldentum liegt im
Streben nach unabhängiger Macht: „Die Grenze zur vollkommenen souveränen
Subjektivität wird durch die Figur des Helden dargestellt. Der Held steht außerhalb
der gewöhnlichen Ordnung, er gehorcht nicht Regeln, sondern setzt sie neu, er
verachtet den Tod und gewinnt dadurch Unsterblichkeit.“854 Im Umkehrschluss
entspringt der Wunsch zum Helden zu werden, dem Bedürfnis, ein fremdes (i.S.v.
neuartiges), unkontrollierbares und Angst verursachendes System durch die eigene
Überlegenheit zu beherrschen oder sich zumindest in eine Position zu bringen, die
eine Beherrschung der eigenen Person durch andere ausschließt: Im Krebsgang
reflektiert sich dieser Prozess im Werdegang des U-Boot-Kapitäns Marinesko. Der
Wunsch nach Heldentum findet sich mittelbar auch wieder in dem ehrgeizigen
Nationalsozialisten Gustloff, der „nie den Grabenkrieg“ (37) des Ersten Weltkriegs
853
Ferguson, S. 579.
Bernhard Giesen, `Das Tätertrauma der Deutschen`, S. 11-53, in ders. et al., (Hg.), Tätertrauma. Konstanz,
2004, S. 15.
854
335
erleben konnte und unmittelbar bei Frankfurter, dem „Helden von biblischem
Zuschnitt“ (28). Alle drei Protagonisten entstammen als Betroffene und Zeugen einem
Umfeld physischer und psychischer Gewalt. Die Gewalttat jedes einzelnen
Nebenprotagonisten wird von dem Wunsch getrieben, eine „bessere“ Welt durch
Gewalt- und Machtausübung zu erschaffen.
Paul stellt in seiner Erzählung die Zusammenhänge zwischen Gewalt und
Gegengewalt nicht explizit her. Als „Trauma“ kann er deren traumatisierende
Auswirkungen nicht erfassen.855 Darüber hinaus liegen die Vorkommnisse in einer für
ihn unzugänglichen Zeitdimension: „Nur soviel ist sicher: Die Natur oder genauer
gesagt die Ostsee hat zu all dem, was hier zu berichten sein wird, schon vor länger als
einem halben Jahrhundert ihr Ja und Amen gesagt.“ (9) Das Geschehen selbst, der
Untergang der Gustloff, ist nicht mehr umzukehren. „Aber noch weiß ich nicht, ob,
wie gelernt, erst das eine, dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf
abgespult werden soll oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen
muss, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend
vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“ (8f) Stückweise enthüllt Paul, wie
die Lebensläufe der drei Nebenprotagonisten Gustloff, Frankfurter und Marinesko zur
Schiffskatastrophe hin führen. Dies lässt sich als Versuch werten, die Ursachen des
Mechanismus von Gewalt und Gegengewalt zu erkennen. Indem er sie jedoch nicht
erfassen kann, kann er sie nicht durchbrechen.
Trotz seiner „seitlichen“ Annäherung über die Vergangenheit zur Gegenwart gelingt
Paul der Aufbruch der sich selbst perpetuierenden Gewalt- und
Gegengewaltformation am Ende nicht: Konny begeht den Mord an Wolfgang und
setzt somit die Kette von Gewalt und Gegengewalt fort. Die Gewalterfahrung Tullas
löst die Gewalttat Konnys aus: die auf dem „Russenmarkt“ erstandene Waffe Tullas
wird zur Mordwaffe Konnys. Im Krebsgang erscheint die Kette aneinandergereihter
Glieder von Gewalt und Gegengewalt demzufolge unmöglich für die Protagonisten zu
durchbrechen, weil sie sie nicht zu erkennen vermögen. Das als Spiegelbild
darstellbare Motiv menschlicher Gewalt und Gegengewalt symbolisiert somit im
855
Vgl. Abschnitt „Trauma“.
336
Krebsgang die Grenzen der menschlichen Einsicht: „Jetzt schauen wir in einem
Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu
Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich ganz erkennen, so
wie ich auch ganz erkannt bin.“ 856 Hierin reflektiert sich die zuvor beschriebene
Leere aus der „Lieblosigkeit“ der Hauptprotagonisten Tulla, Paul, Konny und Gabi
auch in den Nebenprotagonisten Gustloff, Frankfurter und Marinesko als (historische)
Repräsentanten ihrer Zeit: „Also bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: am
größten unter ihnen ist die Liebe.“857 Das Trugbild beim „Blick in den Spiegel“
entspricht im Krebsgang der verzerrten Wahrnehmung aus (traumatischer) Gewalt
und Gegengewalt als Gegenpole zur „Liebe“, wodurch eine „wahrhaftige“ Erkenntnis,
insbesondere über die Wirkungskette traumatisierender Erfahrungen auf die
menschliche Psyche, versagt bleibt.
Nach vollbrachter Tat wirft Konny die russische Waffe in den Schweriner See (182),
dem „amorphen“ Teil des Geburtsortes Wilhelm Gustloffs. Der Kreis im Krebsgang
schließt sich, dabei bleibt die Erkenntnis aus. Gleichwohl lässt sich der Wunsch
danach erkennen: wohl wissend, dass auch er das Geschehen in der Vergangenheit
nicht ungeschehen machen kann, zeigt Konny durch die Zerstörung der ModellGustloff den Wunsch nach Befreiung von dieser historischen Gewalterinnerung, die
nicht die seine ist (215), in der er aber dennoch verwurzelt bleibt. Am Ende scheint er
sich jedoch dem Trauma seiner Großmutter zu unterwerfen: „`Zufrieden jetzt, Vati?´“
(216) Die Geste des Zerstörens mit der bloßen Faust in seiner Gefängniszelle zeigt
seine Hilflosigkeit gegenüber der allmählich heraufziehenden Entwicklung: Die
Website wirbt für jemanden, „dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den
deshalb das verhaßte System eingekerkert habe.“ (216) Das Gefängnis als dem Ort, an
dem der Rezipient den Protagonisten Konny verlässt, unterstreicht das Anbahnen des
nächsten „Glieds“ in der Kette der Gewalt und Gegengewalt: „Durch tagtäglichen
Umgang mit Kriminellen (…).“ (197).
856
857
Paulinische Briefe, 1. Kor. 13,12-13.
Ebd.
337
Auch auf einer psychologischen Ebene reflektiert sich, dass nur die Erkenntnis, die
durch das reflektierende, „empathische“ Gegenüber gewonnen werden kann, diese
Kette aufzubrechen vermag: „Nach aller Erfahrung werden traumatisierte Menschen,
die um ihre eigenen destruktiven Persönlichkeitsanteile wissen (…), nicht zu Tätern.
Der Kreislauf der durch die Generationen weitergegebenen Gewalt lässt sich
durchbrechen."858 Im Umkehrschluss bilden Gewalt und Gegengewalt über
Generationen hinweg eine sich selbst perpetuierende Destruktion, worauf der letzte
Satz der Novelle deutet: „Nie hört das auf.“ (216)
858
Martin Sack, `Die Behandlung Posttraumatischer Belastungsstörungen´, S. 63-113 in Lamprecht, S. 101.
338
Die Ambivalenz Konnys als Trauerprozess der nachfolgenden Generationen
In seiner Rede „Schwierigkeiten eines Vaters, seinen Kindern Auschwitz zu erklären“
vom Mai 1970 diagnostiziert Grass Geschichtsmüdigkeit in der
Nachkriegsgeneration.859 Es gelte, dieser Generation Auschwitz auf eine Weise
nahezubringen, die das Gegenständliche eben so wenig ausblende, wie die
geschichtliche Dimension dieses durch einen Ortsnamen nur unzulänglich
Bezeichnete860: „Es stimmt. Ihr seid unschuldig. Auch ich, halbwegs spät genug
geboren, gelte als unbelastet. Nur wenn ich vergessen wollte, wenn ihr nicht wissen
wolltet, wie es langsam dazu gekommen ist, können uns einsilbig Worte einholen: die
Schuld und die Scham; auch sie, zwei unentwegte Schnecken, nicht aufzuhalten.“861
Im Krebsgang ist die Vergangenheit selbst in der Dritten Generation nicht
„vergessen“. Vielmehr beschäftigt sich Konny in obsessiver Weise damit.
Er verfügt über ein weitgehend detailliertes Wissen der Zeit zwischen 1933-45862, das
er weitergibt. Indem er sich dabei des Internets bedient, der „globalen Spielwiese,
dem gepriesenen Ort letztmöglicher Kommunikation (…)“ (133) wo deutsch und
englisch gesprochen wird (134) hebt er symbolisch die „Babylonische
Sprachverwirrung“ auf. In der Theologie entspricht dies der als „Pfingstwunder“
bekannten Fähigkeit der Jünger, sämtliche Sprachen zu sprechen und zu verstehen
(und so die Bestrafung Gottes der Menschen für die Hybris des Turmbaus zu Babel
aufzuheben). Das Internet wird zur Metapher für einen Raum grenzenloser
Kommunikation, in dem sich Menschen unabhängig von ihrer Nationalität und
Ethnizität austauschen. Konny erzielt Resonanz, denn es erreicht ihn „eine Flut“ von
Kommentaren „von allen Kontinenten“ (134). Im Begriff der „Flut“ und dessen
Assoziation zur „Sintflut“ findet sich ein Hinweis auf den Ausgang dieser Sequenz.
Was passiert in dem globalen Raum unendlicher Kommunikation? „Der übliche Haß,
aber auch fromme Beschwörungen der Apokalypse füllten meinen Schirm.
859
Grass, `Schwierigkeiten eines Vaters, seinen Kindern Auschwitz zu erklären´, S. 458-461 in Neuhaus WA,
Bd. 9, S. 460.
860
Ebd.
861
Grass, `Aus dem Tagebuch einer Schnecke´, in Neuhaus WA, S. 275.
862
Vgl. „Einführung“.
339
Ausrufezeichen hinter der Schreckensbilanz. Dazwischen zum Vergleich die
Verlustzahlen anderer Schiffsuntergänge.“ (ebd.) Diese Opferstatistiken, Vergleiche
mit anderen Schiffsuntergängen und die Erinnerung an die vermeintlich größte
Schiffskatastrophe im kollektiven Gedächtnis, nämlich der Titanic, geben einen
Kampf der Erinnerungen wieder. Da es dabei um die eigene Geschichte geht, um die
Herkunft und Ursprünge von Individuen, ist dieser tatsächlich ein Kampf der
Identitäten.
Zum Verständnis über seine Herkunft ist diese Auseinandersetzung für Konny, der die
Katastrophe der Gustloff nicht erlebt hat, elementar. Allerdings „überfluten“ sich die
um Erinnerungen Konkurrierenden gegenseitig und verlieren sich dabei. Trotz der
zahlreichen Stimmen im Internet scheint der eigentliche Gegenstand unbeachtet zu
bleiben: „Doch mit dem, was am 30. Januar 1945 ab einundzwanzig Uhr sechzehn
tatsächlich auf der Wilhelm Gustloff geschah, hatten die sich im Cyberspace
übertrumpfenden Zahlen wenig zu tun.“ (135) Der Untergang der Gustloff lässt am
Ende nur eines überleben: „ein Unglück an sich, (das) einen Namen von globaler
Bedeutung trug.“ (135) Indem Konny sein Wissen nicht in der Außenwelt reflektieren
kann, sucht er in seiner Innenwelt Anhaltspunkte durch Rollenspiele zu gewinnen.
Konny hat das Bild des in seinen Augen tatsächlichen Täters in die eigene Identität
impliziert: „`Wie ich, so hat David Frankfurter vier Mal getroffen.´ Auch dessen vor
dem Kantonsgericht geäußerte Begründung der Tat, er habe geschossen, weil er Jude
sei, wurde von meinem Sohn in Parallele gesetzt, dann aber erweitert: `Ich habe
geschossen, weil ich Deutscher bin – und weil aus David der ewige Jude sprach.´“
(189). Für ihn ist Frankfurter der ursächliche Auslöser des Traumas seiner
Großmutter, das er durch den Mord an David retrospektiv ungeschehen machen
will.863
Diese Kluft zwischen innerem Trugbild und äußerer Realität wird für Konny zu einem
unauflösbaren Konflikt. Er lebt zwischen der eigenen Wirklichkeit seiner Gegenwart
in den 1990er Jahren und dem Trauma seiner Großmutter in der Vergangenheit der
1940er Jahre. Die Verwurzelung in der Vergangenheit seiner Großmutter wird
863
Vgl. Kapitel „Wiederholen“.
340
äußerlich manifestiert: er bekommt von Tulla den Namen des behinderten
Lieblingsbruders Konrad - dem Unschuldigen in schuldbeladener Zeit - und hat gleich
diesem ein „Lockenköpfchen“. (24) Im Sinne Ralph Giordanos wird er zum Opfer.864
Durch den Mord an Wolfgang wird Konny Täter. Damit verbinden sich zwei
unterschiedliche Positionen in Konny, die des Opfers und des Täters: die
Opferposition bedingt die Täterschaft Konnys. Indem Konny den Konflikt zwischen
seiner Innenwelt und der Außenwelt nicht aufzulösen vermag, ist das
Spannungsverhältnis daraus ursächlich für die Ambivalenz als „Opfertäter“.
Im so genannten „Historikerstreit“ Mitte der 1980er Jahren hatte der Philosoph Jürgen
Habermas darauf verwiesen, dass eine „Neuorientierung bei der Suche nach einer
nationalen Identität der Deutschen nur dann möglich ist, wenn eine kritische
Bestandsaufnahme des Traditionszusammenhanges stattfindet, in dem sich auch die
Nachgeborenen immer schon befinden.“865 Implizit fordert Habermas jene
Verhaltensweisen und Strukturen in der Gegenwart zu isolieren, die in der
Vergangenheit zu NS-Regime und Holocaust geführt haben. Was im Äußeren bereits
geschehen war, eine feste Etablierung des demokratischen Rechtsstaates der
Bundesrepublik Deutschland, sollte nun auch innerlich bei den nachfolgenden
Generationen vollzogen werden. Erschwert wurde diese Aufgabe durch eine
Forderung, die Karl Jaspers formulierte: „Wir müssen übernehmen die Schuld der
Väter.“866 Er plädierte dafür, dass die nationalsozialistische Zeit in Deutschland nicht
ausschließlich auf bestimmte historische Konstellationen abzuwälzen sei.867 Ein
Reflex gegen die Kontextualisierung historischer Konstellationen (in der
Zeitzeugengeneration) unterminiert jedoch die Vergegenwärtigung bestimmter
Vorgänge und Entwicklungen für die nachfolgenden Generationen. Die Gewinnung
von Erkenntnis über „jene Verhaltensweisen und Strukturen“, „die in der
Vergangenheit zu NS-Regime und Holocaust geführt haben“ (Habermas), erscheint
dadurch erschwert.
Vgl. Kapitel „Wiederholen“.
Habernas zitiert in: Kniesche, S. 172.
866
Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Zürich, 1987, S. 53.
867
Ebd.
864
865
341
Bei Habermas bricht dieser Reflex gegen Kontextualisierung indirekt auf, indem er
die Lebensform der Großeltern im Zusammenhang mit jener der Enkel sieht und
damit impliziert, dass auch die Großeltern/Zeitzeugen-Generation bestimmten
historischen Konstellationen ihrer Großeltern/Eltern „ausgeliefert“ war:
Nach wie vor gibt es die einfache Tatsache, dass auch die Nachgeborenen in
einer Lebensform aufgewachsen sind, in der das möglich war. Mit jenem
Lebenszusammenhang, in dem Auschwitz möglich war, ist unser eigenes Leben
nicht etwa durch kontingente Umstände, sondern innerlich verknüpft. Unsere
Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden
durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familiaren, örtlichen, politischen,
auch intellektuellen Überlieferungen – durch ein geschichtliches Milieu also, das
uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns
kann sich aus diesem Milieu heraus stehlen, weil mit ihm unsere Identität,
sowohl als Individuen wie als Deutsche unauflöslich verwoben ist.868
Habermas´ Gedanken reflektieren zugleich eine Rede Theodor Adornos aus dem
Jahre 1959, in der er darlegt, was Aufarbeitung der Vergangenheit aus seiner Sicht
bedeutet: „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des
Vergangenen beseitigt wären.“869
Ursachen, die nicht bewusst sind oder verschwiegen werden, können nicht beseitigt
werden: „Solange die verschwiegenen Fakten undiskutierbar sind, kann ihr Einfluss
auf unsere Handlungen und unser Verstehen möglicherweise sehr viel stärker sein als
diejenigen der gewöhnlich diskutierten Fakten.“870 Nach Ansicht von Wolfgang
Benz871 ist die psychologische Dimension des ausgebliebenen „Generationsdialogs“ –
neben der Mitschuld und Scham somit auch die unbewussten Prozesse durch
Traumatisierungen - noch weitgehend unerforscht und unbewältigt. In den 1980er
Jahren erweitert Margarete Mitscherlich die Diagnose eines „Wiederholungszwangs“,
868
Jürgen Haberrmas, `Vom öffentlichen Gebrauch der Historie. Das offizielle Selbstverständnis der
Bundesrepublik bricht auf.´ in: „Die Zeit“, 7.11.1986, S. 17.
869
Theodor Adorno, `Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit´, S. 10-28 in Adorno/Hellmut Becker,
Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt, 1971, S. 28.
870
Dan Bar-On, `Das Undiskutierbare durcharbeiten´, S. 17-69 in Sigrid Weigel, (Hg.), 50 Jahre danach. Zur
Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich, 1996, S. 18.
871
Wolfgang. Benz; u.a., (Hg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München, 1997, S. 144.
342
die auf Studien über die Zeitzeugengeneration aus den 1960er Jahren fußt872, auf die
nachfolgende Generation:
Die junge Generation, die sich unschuldig fühlt, hat nicht die Bearbeitung
unserer Vergangenheit angetreten, sondern deren Verleugnung und Verdrängung
übernommen. Wenn aber Verleugnung, Verdrängung, Derealisierung der
Vergangenheit an die Stelle der Durcharbeitung treten, ist ein
Wiederholungszwang unvermeidbar. Es wiederholt sich dabei nicht der Inhalt
eines Systems, sondern die Struktur einer Gesellschaft.873
Diese Beobachtung über die nachfolgende Generation spiegelt sich in Mutter Gabi,
der Repräsentantin der Zweiten Generation im Krebsgang. Sie wählt als Wohnort die
westdeutsche Stadt Mölln. In der Bezeichnung „(a)ltväterlich“ (43) klingt die brisante
Mischung von Rechtsradikalität und Provinzialität in der Gegenwart an, die den Geist
des Nationalsozialismus in der Vergangenheit mitgetragen hat.874 Indem sie dort lebt,
wird Gabi Teil dieser Welt, ohne dies wahrzunehmen. Die Konstellation aus
Verdrängung (sie verschließt sich den Aktionen ihres Sohnes, siehe unten) und
Berührung mit der jüngeren deutschen Geschichte, resultiert in einem merkwürdigen
Charaktermix. Ihr Glaube an „Gene“ (196), womit der Kern des Holocaust umrissen
wird, ist mit einer zur Schau getragenen Linksliberalität als das „politisch korrekte“
Gegenmodell zum Nationalsozialismus durchsetzt. All dieses ist mit einer obsessiven
Behandlung des Themas „Auschwitz“ vermengt: Gabi ist „strikt gegen jegliche
Verharmlosung der braunen Psyeudo-Ideologie“ (184). Das Resultat aus Verdrängung
und Konfrontation: Ihrem Sohn Konny geht sie mit ihrem „dauernden
Auschwitzgerede oft auf die Nerven“ (195).
In dem Mord an Wolfgang alias David scheint sich im Krebsgang die von
Mitscherlich diagnostizierte Wiederholung zu vollziehen. Auf den ersten Blick
scheint sich zugleich Grass´ Zitat über die Schuldverweigerung in nachfolgenden
Generationen aus der „Rättin“ zu erfüllen: „Söhne, biblisch oder sonst wie versorgte /
entlaufen früh. / Niemand will mehr den sterbenden Vater erleben, / den Segen
872
Vgl. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern.
Mitscherlich, Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern, Frankfurt, 1987, S. 20.
874
Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“.
873
343
abwarten, Schuld auf sich nehmen.“875 Tatsächlich ist die Mordtat keine
Wiederholung der Geschichte. Diese Wiederholung fußt nicht auf der (unbewussten)
Weitergabe nationalsozialistischer Strukturen, wie Mitscherlich u.a. implizieren.
Auslösendes Motiv für die Mordtat im Krebsgang ist die transgenerationelle
Übertragung des Traumas aus einer Gewalterfahrung in früherer Generation. Indem
dieses Trauma aus der Vergangenheit nicht aufgelöst werden kann, entsteht neue
Gewalt in scheinbar alter Struktur: David ist jedoch lediglich das Abbild des Juden
Frankfurter; Konny ist nur scheinbar ein rechtsextremistischer „Neonazi“.
Das Ergebnis einer Studie vom Mai 2008876 offenbart, dass die NS-Vergangenheit
auch für junge Menschen noch immer eine große Rolle spielt. Die Forscher messen
ihrer mangelhaften oder verklärten Aufarbeitung sogar eine `Schlüsselposition´ bei
der Entstehung rechtsextremer Tendenzen zu. Wer sich mit dem Grauen inhaltlich
und emotional auseinandergesetzt hat, so die Schlussfolgerung in der Studie, der ist
gegen rechtsextremes Denken besser gefeit.
Konny beschäftigt sich mit dem historischen Grauen, allerdings aus der Perspektive
seiner ihm emotional nahe stehenden Großmutter: „Seine Schwester jedoch (Anm. d.
Autorin: Tulla), die ihn heißinnig liebte und die sich später, viel später vor den
Schrecken des Krieges auf ein großes Schiff retten wollte, ertrank nicht, als das Schiff
voller Flüchtlinge von drei feindlichen Torpedos getroffen wurde und im eiskalten
Wasser versank…“ (73). Konny erhält keine Gelegenheit, sein inneres Wissen, seine
Gedanken und Emotionen, die er aus der Perspektive Tullas bzw. deren Traumas
gewonnen hat, nach außen zu tragen und durch Reflektion „richtig“ einzuordnen.
Konnys Lehrer aus Mölln (West) und Schwerin (Ost) sagen vor Gericht
übereinstimmend aus, dass die von Konny verfassten aber nicht gehaltenen Vorträge
„vordringlich von nationalsozialitischem Gedankengut infiziert gewesen“ seien,
was aber auf hinterhältig intelligente Weise zum Ausdruck gekommen sei, etwa
durch Propagierung einer `klassenlosen Volksgemeinschaft´, aber auch durch die
875
Grass, Die Rättin, in Neuhaus WA, Bd. 7, S. 373.
Vgl. Oliver Decker; Katharina Rothe; u.a., `Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und
demokratischer Einstellung´, i.A.v. Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, 2008.
876
344
geschickt eingefädelte Forderung nach `ideologiefreiem Denkmalschutz´ in
Hinblick auf das eliminierte Grabmal des einstigen Nazifunktionärs Gustloff,
den der Schüler Konrad Pokriefke in seinem zweiten nicht zugelassenen Vortrag
als `großen Sohn der Stadt Schwerin´ vorzustellen gedachte. Die Verbreitung
solch gefährlichen Unsinns habe man aus pädagogischer Verantwortung
verhindern müssen, zumal es – an beiden Schulen – in wachsender Zahl Schüler
und Schülerinnen mit rechtsradikaler Neigung gebe. (188)
Nach dieser Aussage ziehen sich die beiden Pädagogen im Krebsgang auf bekanntes
Terrain zurück: „Der ostdeutsche Lehrer betonte abschließend die `antifaschistische
Tradition´ seiner Schule; dem westdeutschen fiel nur die ziemlich abgenutzte Formel
`Wehret den Anfängen!´ ein.“ (ebd.)
Ein oft von Grass vorgebrachter Gedanke reflektiert sich in dieser Szene, „ihre
Vergangenheit werde für die Deutschen etwas, das sich jeder Art von Bewältigung
immer mehr entzieht und gleichzeitig etwas, das zum Sprechen gelangen will, das
eine Einsicht ermöglichen kann, eine Selbsterkenntnis, ohne die diese Volk nicht
fortbestehen könne.877 Im Kosmos der Novelle Krebsgang fehlt der öffentliche und
private Dialog, der notwendig wäre, um in der Gegenwart zwischen individueller
„Opfer-Geschichte“ von Krieg, Flucht und Vertreibung, Bombardement etc. einerseits
und kollektiver „Täter-Geschichte“ von Nationalsozialismus und Holocaust
andererseits rational und emotional unterscheiden zu lernen. Indem zwischen den
kollektiven und den individuellen Erlebnissen der Zeitzeugengeneration getrennt
wird, können auch jene Prozesse zutage treten, die Gewalt bei Individuen auslösen.878
Auf einer fiktiven Elternversammlung bemerkt das Trauma Paul: „`Warum dieses
Verbot? Wo bleibt die Toleranz!´“ (…) Womöglich hätte Konnys Vortrag mit dem
Untertitel `Die positiven Aspekte der NS-Gemeinschaft `Kraft durch Freude´ etwas
Farbe in das langweilige Unterrichtsfach Sozialkunde gebracht.“ (184) In dem Begriff
der „Farbe“ findet sich die facettenreiche Perspektivenvielfalt, die zum sinnlichen und
kognitiven Verständnis der NS-Zeit notwendig ist. Dies bedingt ein empathisches
Sich-Einlassen in die Zeit zwischen 1933-45 als Vorbedingung der Erkenntnisse, die
daraus für die Nachgeborenen zu ziehen ist.879
877
Grass, `Vom Recht auf Widerstand´, S. 836-843 in Neuhaus WA, Bd. 9, S. 837.
Vgl. „Perpetuierende Gewalt und Gegengewalt als Resultat nicht gewonnener Erkenntnis“
879
Vgl. „DIE KOLLEKTIVEN ERINNERUNGEN“
878
345
Das „Schießaisen“, das sich Tulla zu ihrem Schutz kauft (198) erhält Konny, um sich
vor rechtsextremistischen „Neonazis“ zu schützen. Im übertragenen Sinn wird die
Angst vor dem „Gespenst“ des Nationalsozialismus („Neonazis“) zur Mordwaffe und
damit zum Auslöser für den Tod Wolfgangs. Diese Angst verhindert eine
Auseinandersetzung mit der Zeit zwischen 1933 und 1945 aus der Sicht der deutschen
Opfer, die die Traumatisierungen der Zeitzeugen in den Blickpunkt rückte: „Aber vor
Jericht hat mir ja kainer jefragt, na, wo es herkommt, das Ding (Anm. d. Autorin: die
Mordwaffe vom „Russenmarkt“)…“ (198). Der Vergangenheitshorizont bleibt
blockiert, denn Opfer und Täter vermischen sich scheinbar unauflöslich:
`Durchaus verständlich, dass der Lehrer hat stopp sagen müssen. Schließlich
ging es, was dieses Datum betrifft, um Hitlers Machtergreifung und nicht um
den zufällig auf den gleichen Tag datierten Geburtstag einer Nebenfigur, über
dessen tiefere Bedeutung sich unser Sohn lang und breit hatte auslassen wollen,
insbesondere bei der Abhandlung seines Nebenthemas `Versäumter
Denkmalschutz´…. (187f)
Die Dimension der Blockade des Vergangenheitshorizonts („`Versäumter
Denkmalschutz´“) in der Gegenwart offenbart sich darin, dass Konny auf keiner der
vorhandenen Plattformen reden kann, weder in der Schule oder bei Gericht, noch in
rechtsextremitischen Kreisen: „Mein Sohn hat seinen Vortrag nicht zu Ende bringen
können. Rufe wie `Aufhören!´ und `Was soll das Gesülze!´ sowie Lärm, verursacht
durch das Auftrumpfen mit Bierflaschen, führten dazu, dass er das weitere Schicksal
des Schiffes, dessen Weg bis zum Untergang, nur verkürzt, grad noch bis zur
Torpedierung vortragen konnte.“ (83f) Selbst seine Mutter Gabi verschließt sich: „Als
ich meiner Ehemaligen gegenüber mein Sorgenpaket aufschnürte, hörte sie mir keine
Minute zu: `Ich verbiete dir, in meinem Haus derartige Reden zu führen und meinen
Sohn des Umgangs mit Rechtsradikalen zu bezichtigen…´.“ (74)
Indem Konny nicht reden kann, verbleibt Tullas Trauma auch in der Gegenwart
unkenntlich: „Absolutes Schweigen über alles, was mich betraf. Mein Sohn sparte
mich aus. Online existierte ich nicht.“ (148) Im Krebsgang resultiert die Blockade des
Vergangenheitshorizonts in der Katastrophe: „Ich behauptete, das Unglück unseres
346
Sohnes – und dessen schreckliche Folgen – sei ausgelöst worden, als man ihm
untersagt habe, seine Sicht des 30. Januar dreiundreißig vorzutragen und darüber
hinaus die soziale Bedeutung der NS-Organisation `Kraft durch Freude´ darzustellen.“
(187)
Im Ergebnis verschmelzen Gegenwarts- und Vergangenheitshorizont ohne den
Erkenntnisgewinn, die „Erweiterung“ der Protagonisten. Konny schlüpft in der realen
Welt nach der Mordtat zwar nicht mehr in die Rolle Gustloffs. Er spaltet sich nach der
fatalen Vereinigung mit Gustloffs Identität in der virtuellen Welt von diesem ab, was
im Prozess deutlich wird: „Doch vertrete ich, wie Wilhelm Gustloff, die
Überzeugung, (…)“ (196). Dennoch verbleiben aus der virtuellen Identitfizierung
nach der Abspaltung Identitätsanteile zurück: „Dem Blutzeugen verdanke ich meine
innere Haltung“ (195). Gustloff wird zum Vorbild und soll gerächt werden. (ebd.)
Doch ist es nicht der Nationalsozialist Gustloff, den Konny meint. Ihm ist jener vor
Augen, der „mehr von Gregor Strasser als vom Führer beeinflusst worden ist.“ (195)
Erst in dem Moment wird Gustloff zur Vorbildfigur für Konny, als er Strassers
Einflüsse auf diesen wahrnimmt. (ebd.) Vor dem Hintergrund, dass Strasser der
stärkste Gegenspieler Hitlers innerhalb der NSDAP und eines der ersten Opfer von
deren Säuberungsaktionen wird, distanziert sich Konny, fast unmerklich in dieser
Sequenz von der nationalsozialistischen Epoche nach 1934 (Strasser stirbt am 30. Juni
1934).
Dennoch scheint die Verwirrung Konnys aus dem blockierten
Vergangenheitshoriziont, der einen Erkenntnisgewinn unmöglich macht,
unwiderruflich, „denn das Gericht wird den in Konnys Redefluß mitschwimmenden
und in sich schlüssigen Irrsinn erkannt haben; Wahnvorstellungen, die durch
Gutachten mehr oder weniger überzeugend analysiert worden sind.“ (193) Als der
Richter schließlich während des Prozesses Konny die Möglichkeit gewährt, „das
Motiv seiner Tat zu belichten“, scheint es zu spät um Erkenntnisse zu gewinnen, denn
Konnys Ausführungen werden erneut vorzeitig abgebrochen. Allerdings deutet der
Moment der Unterbrechung durch den Richter auf weitere „Verwirrte“.
347
Der Richter versucht „den todernsten Hintergrund des Verfahrens aufzulockern,
indem er „kleine Scherze“ (189) einstreut. Empört entzieht er Konny das Wort,
nachdem dieser Gedenktafeln für David Frankfurter anerkennt. (192f) Viel eher hätte
es Anlass zur Unterbrechung von Konnys Rede gegeben, etwa als dieser vorgibt,
Gustloff habe sein Leben gegeben, um „Deutschland endlich vom Judenjoch“ (192)
zu befreien. Die Forderung nach einer Gedenktafel für Frankfurter offenbart, dass
Konny weder antisemitisch noch nationalsozialistische Motive für sein Handeln hat:
Ich scheue mich nicht, anzuerkennen, dass es auf jüdischer Seite gleichfalls
Gründe gibt, entweder in Israel, wo David Frankfurter zweiundachtzig gestorben
ist, oder in Davos mit einer Skulptur jenen Medizinstudenten zu ehren, der
seinem Volk mit vier gezielten Schüssen ein Zeichen gegeben hat. (…). Endlich
raffte sich der Vorsitzende Richter auf: `Das reicht nun aber!´ (193)
Der Richter unterbricht Konny in dem Moment, in dem deutlich wird, dass dessen
Handeln nicht antisemitisch motiviert ist. Konnys vermeintlicher Antisemitismus tritt
ausschließlich im Zusammenhang mit Tullas Trauma auf: „Ich habe geschossen, weil
ich Deutscher bin – und weil aus David der ewige Jude sprach. (…) Aus Gründen der
Fairneß müsse gesagt werden: Wie er, so habe auch Frankfurter `ganz aus innerer
Notwendigkeit´ gehandelt.“ (189)
Die Kluft, die sich durch das „Nicht-Wissen“ des Traumas formiert, jenen
unauflösbaren Konflikt zwischen innerem Trugbild und äußerer Realität wird für
Konny zum Abgrund. Die ununterscheidbar gewordene
„Gegenwartsvergangenheit“880, aus der keine Erkenntnisse zu gewinnen sind,
manifestieren sich im vermeintlichen Rechtsextremismus Konnys. Die
psychologische Diagnose des Wiederholungszwangs wird bei Grass zum ewigen
„Fluch“: „Es ist, als hinge den Deutschen der Fluch ihrer Opfer an. Alttestamentlich
bis ins dritte, vierte, ins siebte Glied: was wir auch tun, der Makel bleibt.“881 Der
Mord in der Dritten Generation steht damit auch für Destruktivität und Versagen
gegenüber der historischen Verantwortung.
880
881
In Anlehnung an Gadamers Verschmelzung.
Grass, `Geschenkte Freiheit. Rede zum 8. Mai 1945´, S. 891-906 in Neuhaus WA, Bd. 9, S. 903.
348
Die „68er“ im Spiegelbild des romantischen Nihilismus
Im Krebsgang werden als Literaten, um die „es ging“ (30) in den Höllererschen
Vorlesungen882 „Kleist, Grabbe, Büchner“ genannt, Autoren, die der Romantik und
dem Vormärz zuzuordnen sind. Begeistert im „übervollen Hörsaal“ (30) lauschen die
Studenten, Repräsentanten der Ersten Nachkriegsgeneration883, die so genannten
„68er“. Ist diese Begeisterung auf die Identitfizierung mit dem „fundamentalen
Ordnungs- und Identitätsverlust zurückzuführen“, der für „alle wichtigen Autoren der
(romantischen) Zeit (Epoche)“884, der Ära der „Identitätsphilosophie“885
kennzeichnend ist?
In seiner Schrift „Deutschland im Herbst“ hat Norbert Elias das „Problem der
nationalen Identität“ für diese erste Nachkriegsgeneration umrissen.886 Elias verwies
auf die zunehmende Entfremdung zwischen den Generationen, die sich in extremer
oder extremistischer Weise in der Abspaltung einer Reihe von terroristischen Gruppen
von der Gesellschaft und der unerbittlichen Verfolgung dieser Gruppen durch die
politischen und wirtschaftlichen Eliten dieser Gesellschaft manifestierte. Die
„schleichende Identitätskrise“, könne nur überwunden werden, wenn die auseinander
driftenden Gruppen in einer öffentlichen Diskussion des gemeinsamen Erbes des
Nationalsozialismus zusammenfinden. Vor allem ging es Elias dabei um den „Makel
und (die) Schuldgefühle, die der Nationalsozialismus den nachfolgenden
Generationen Deutschlands hinterlassen hat.“887
Der Kanzler der Großen Koalition,888 Kurt Georg Kiesinger, „der im Dritten Reich als
NSDAP Mitglied eine kleine Karriere beim Rundfunk hatte machen können“,889 galt
der neuen Linken, die sich aus den Studentenbewegungen formiert hatte, als Skandal
882
Anmerkung: ab 1959 bis 1987 lehrte Walter Höllerer als Professor für Literaturwissenschaft an der
Technischen Universität Berlin.
883
Anmerkung: geboren zwischen 1937-1953, vgl. Zinnacker.
884
Bernd Kortländer, `Christian Dietrich Grabbe´, S. 451-461 in Gunter Grimm, (Hg.), Deutsche Dichter.
Romantik, Biedermeier und Vormärz, Bd. 5, Stuttgart, 1989, S. 451.
885
Günter Oesterle, `Einleitung´, S. 7-23 in ders. (Hg.), Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik,
Würzburg, 2001, S. 7.
886
Norbert Elias, `Gedanken über die Bundesrepublik´, S. 733-755 in „Merkur“, 1985, Nr.18, S. 735.
887
Ebd.
888
Anmerkung: 1966-1969.
889
Jürgen Busche, Die 68er. Biographie einer Generation, Berlin, 2005, S. 93.
349
und Bestätigung der „vielfach vermutete(n) Frontstellung Demokraten gegen
Faschisten“.890 Die Erbitterung über „die alten Nazis in der Bundesrepublik hatte
durch den Auschwitz-Prozess (…), erheblich an intellektueller Schärfe und
emotionaler Kraft hinzugewonnen.“891 Die Politik der Großen Koalition, insbesondere
die Notstandsverfassung und die Notstandsgesetze,892 ließ die neue Linke argwöhnen,
„es werde die Rückkehr zum autoritären Staat vorbereitet.“893 Man misstraute den
Trägern der Staatsgewalt, „von denen die meisten allzu einverständig Naziuniformen
getragen hatten.“894 Ärger und Frustration entluden sich in Demonstrationen und
Protestkundgebungen, die nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke
im April 1968 in gewalttätige Auseinandersetzungen und Blockaden kulminierten.
Wut und Verzweifelung durchdringen auch Grabbes Werk, der die deutschen
Zustände seiner Zeit zwischen 1815 und 1830 spiegelt. Seine literarische Reaktionen
auf diese Epoche, die von „kleinlich-reaktionäre(m) Festhalten an Privilegien und
überkommenen Herrschaftsstrukturen; rigorose Versuche zur Unterdrückung jeglicher
Kritik; (…)“895 geprägt sind, ist „Haß, Ekel und Verachtung“.896 Sein Werk ist
Ausdruck von Hoffnungslosigkeit:
Grabbe schreibt in dem Bewusstsein, dass es keinen Ausweg aus den
Verhältnissen gibt. Die Welt, die soziale Realität, ist unübersteigbarer Rahmen
menschlicher Erfahrung. Ihre Grundsubstanz bildet ein Chaos aus Gemeinem,
Niedrigem, Kleinem, Albernem, Hässlichem. Alle Versuche, dieses Chaos zu
bändigen, die Welt von Grund auf zu verändern, scheitern oder sind nur von
kurzer Dauer.897
Selbst die Literatur „`als das Jämmerlichste des Jämmerlichen´ bleibt von diesem
totalen Sinnverlust nicht verschont“.898
890
Ebd.
Ebd., S. 94.
892
Anmerkung: Neu geregelt wurden hierdurch die Einsatzmöglichkeiten von Bundeswehr und Polizei in Fällen
des inneren und äußeren Notstands und in Unglücksfällen. Die alten Regelungen hatten durch
Sicherheitsvorbehalte der Alliierten die Souveränität des jungen, noch ungefestigten Staates beschränkt. Vgl.
Busche.
893
Ebd., S. 94.
894
Ebd.
895
Kortländer in Grimm, S. 451.
896
Ebd.
897
Ebd.
898
Ebd., S. 456.
891
350
Die Unmöglichkeit der Verständigung und Isolierung wird im Bild der „lächelnden
Bestie“ symbolisiert.899 Allerdings verbleibt der Dichter scheinbar nicht dabei, „über
das Überkommene ironisch zu meditieren. Die in der Sicht Grabbes illusionistischen
überkommenen Ganzheiten und Einheiten um den Menschen her, und auch die
Ganzheit Ich, wenn sie von dieser Umgebung befangen ist, sollen zerschlagen
werden, damit sich offenbare, `was ist´.“900 Setzt man dieses „was ist“ nach einer
zerstörten Ganzheit mit dem Status Quo nach einer traumatischen Situation gleich,
blitzt zunächst ein konstruktives Element auf: die Zerstörung des Ganzen (der
Identität) birgt zugleich den Auf- bzw. Ausbau in sich. In der Erkundung des „was ist“
liegt die Chance auf eine Horizonterweiterung. „Grabbe ist in seinen
Eigeninterpretationen stets geneigt, die gesteigerte, Trümmer schaffende Dynamik als
etwas Aufbauendes zu deuten; (…).“901 Allerdings verbleibt dieser Ansatz Grabbes
stets im Angedeuteten und Programmatischen zurück, und wird schließlich beherrscht
und gelenkt von der Destruktion: „Seine Problematik lag darin, dass die ihm zum
Aufbau verfügbaren Elemente immer wieder unter seiner Hand zu zerstörenden
Mächten wurden.“902
Die Destruktion ist zugleich der Ausgangspunkt Büchners: „Für Büchner steht der
Schmerz der Kreatur im Mittelpunkt der Welt.“903. Der Zusatz, dass es sich um „lauter
Genies auf der Flucht“ (30) handele, führt zu Büchners Dantons Tod. Das Werk, das
der Dichter „in wilder Hast unter den Augen der Polizei“904 verfasst hat, „zeigt den
Sieg der pessimistisch-skeptischen Anschauung und des zynischen Nihilismus. Alles
menschliche Handeln nutzlos, alle Freiheitsversuche Illusion, aller Fortschritt sinnlos.
Es bleiben immer Gebundenheit, erbarmungslose Gewalt und Chaos. Die menschliche
Anstrengung ist stets ein lächerliches Ringen und ein Umsonst.“905 Büchners Danton
899
Walter Höllerer, `Christian Dietrich Grabbe´, S. 19-52 in ebd., Zwischen Klassik und Moderne, Köln, 2005, S.
25.
900
Ebd., S. 41.
901
Ebd., S. 42.
902
Ebd., S. 46.
903
Höllerer, `Georg Büchner´, S. 89-123, ebd. S. 120.
904
Ludwig Büttner, `Georg Büchner: Revolutionär und Pessimist (1948)´, S. 222-228 in Dietmar Goltschigg
(Hg.), Büchner im Dritten Reich, Bielefeld, 1990. S. 222.
905
Ebd.
351
verfällt schließlich „dem radikalen Pessimismus“906. Das Drama Büchners bewegt
sich nicht nur auf den Ebenen einer gescheiterten Revolution. Die politische
Enttäuschung unterstützt lediglich die tief verankerte Weltauffassung, wonach „das
Unberechenbare, Unbegreifbare und Dämonische zum Gesetz der Geschichte“907
erhoben wird. Schließlich „zerbrechen die Ideale der Menschheit. Was bleibt, ist eine
bodenlose Weltverachtung, eine grundlose Tiefe von Hoffnungslosigkeit.“908 In
Dantons Tod schreibt Büchner: „Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott“.909 Danton
verfügt zwar über einen „ungeheure(n) Lebensüberschuss“; dieser sollte jedoch nicht
für sich und ohne den tiefen lethargischen Pessimismus gedeutet werden.910 Eine
„lebensvolle Weltüberwindung“ liegt nicht vor. Es handelt sich um ein ironischzynisches Über-der-Welt-stehen, nicht um wahre Befreiung.911
In der Realität entlud sich der Schock der so genannten „68er“ über das Handeln der
Elterngeneration in einem Gefühl vergleichbar Grabbes´ Hass, Ekel und Verachtung
in Aufbegehren gegen das „faschistische Establishment“ in der bundesdeutschen
Elite. Die Situation in der sich die Elterngeneration nach 1945 befand, wurde (oder
konnte) als Ursache für deren Verschweigen nicht wahrgenommen (werden): „Nach
dem Zweiten Weltkrieg sei geblieben `ein Gefühl der Verfinsterung und
Ausweglosigkeit´ und darin eine Dumpfheit und eine Angst, die von trübem
Verantwortungsgefühl für die Zeit und für das Dasein fast erdrückt wird.“912 Eine
„lebensvolle Weltüberwindung“ blieb der Ersten Nachkriegsgeneration versagt.
Bei Walter Höllerer bricht sich der Nihilismus Büchners und gibt erste Ansatzpunkte
für eine „lebensvolle Weltüberwindung“: „Grabbes kalt lächelnde Bestie ist für
Büchner weder das Prinzip des Menschen (…), noch wird der `Tiger-Mensch´(Anm.
d. Autorin: Büchners Bild für die Bestie) ohne weiteres bejahrt und verherrlicht.“913
906
Ebd.
Ebd., S. 223.
908
Ebd.
909
Georg Büchner, Dantons Tod, Vierter Akt, fünfte Szene: Die Conciergerie
http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=258&kapitel=29&cHash=7a0603f593dantn451.
910
Büttner, ebd.
911
Ebd.
912
Alfred Weber zitiert in: Albert Kopf, Der Weg des Nihilismus von Friedrich Nietzsche bis zur Atombombe,
München, 1988, S. 27.
913
Höllerer, `Büchner´, S. 116.
907
352
Der leidende Mensch bei Büchner ist „mehr als eine nihilistische Figur“914. Der
Nihilismus wird bei Büchner als eine Sehnsucht nach dem Nichts als „Einheit,
Ordnung und Weltgott“ entlarvt und als Hoffnung schließlich „wieder fallengelassen,
weil es diese „Einheit“ nicht gibt.915 Indem Büchner den Menschen aufbricht, tritt
zwar das Bestialische hervor, doch „dicht dabei (ist) das unverstellt Menschliche, in
seiner Hilflosigkeit und in seinem Sich-Aufbäumen.“916
Die Nennung des Autors Heinrich von Kleist in der Höllerschen Vorlesung eröffnet
für das Agieren der Elterngeneration eine ambivalente Perspektive, die sich bei
Büchner aus der Perspektive Höllerers zu zeigen beginnt. Als schwer fassbarer
Dichter zeichnet sich Kleists Werk durch eine Ambivalenz aus, die unauflöslich
erscheint. Mit Blick auf die Zeitzeugin Tulla erhebt sich bei Kleists Penthesilea die
Ambivalenz einer Schuld aus dem Nichtwissen heraus.
914
Ebd., S. 105.
Ebd.
916
Ebd., S. 116.
915
353
Die „tragische“ Schuld der Protagonisten
An den Vorkommnissen, die Tullas Trauma auslösen – den Bombenangriff auf die
Gustloff sowie die Flucht und Vertreibung - ist sie als Individuum nicht direkt
beteiligt. Vordergründig ist die Hauptprotagonistin im Krebsgang als ein Opfer des
Krieges und somit ihrer Zeitgeschichte dargestellt.
Als Denunziantin beteiligt sich Tulla dennoch indirekt an dem vermeintlichen
Ordnungssystem ihrer Epoche, dem Nationalsozialismus.917 Denunziation war eine
wichtige Säule zur Stütze des NS-Regimes: „Die Denunziationen waren in kultureller
wie politischer Hinsicht zweifellos systemstützend.“918 Häufige Motive waren
Eifersucht, Groll und Rachsucht919 - nicht ideologische Überzeugungen. Indem Tulla
das System stützt, wird sie zur Mitläuferin. Indem Vater Brunies durch ihre
Denunziation zu Tode kommt, wird sie zur Mittäterin. In der totalitären DDR wird
Tulla gleichfalls zur opportunistischen Mitläuferin, die als „SED-Mitglied und
ziemlich erfolgreiche Leiterin einer Tischlereibrigade (…) zumeist überm Soll lag“
(67). Auch hierbei haben ideologische Überzeugungen keine Bewandtnis. Die
inzwischen erwachsene Tulla fühlt sich dem System innerlich nicht verbunden:
„`Raicht das nich, wenn ech miä hier fier die Schufte abrackern muß!´“ ( 67).
Bis zu ihrem jeweiligen Untergang werden beide Systeme, erst Nationalsozialismus,
dann Sozialismus, für Tulla zu den maßgeblichen Rahmenbedingungen ihres Lebens.
Indem sie sich äußerlich anpasst, bedient sie sich des einzigen Freiheitsgrades, den sie
als Individuum anscheinend unbeschadet innerhalb eines diktatorischen Regimes
nutzen kann. Die zweifache Einbettung in menschenverachtende Systeme polarer
Couleur – Nationalsozialismus und Kommunismus („DDR-Sozialismus“) – erhebt die
Frage danach, ob Tulla selbst menschenverachtend wird durch ihr Mitläufertum bzw.
die Frage nach ihrer individuellen Schuld.
917
Vgl. Vater Brunies in Hundejahre.
Reichardt, S. 23.
919
Ebd.
918
354
Der Ausgangspunkt ihrer Schuld: die Denunziation eines Kindes führt zum Tod des
verhassten Lehrers. Brunies wird Tullas Opfer, weil dieser den Schülern vorbehaltene
Süßigkeiten gegessen hat.920 Auf den ersten Blick erscheint die Schlussfolgerung
naheliegend, dass die Schuld denjenigen zuzuordnen ist, die ein System erschaffen
und tragen, in dem diese unmenschliche Tat möglich ist. Allerdings verwischt sich
diese Zuordnung bei näherer Betrachtung.
„Will man Grass´ Schuldbegriff (…) charakterisieren, so lässt sich feststellen, dass
vieles auf die von Jaspers unterschiedenen Kategorien der moralischen und
metaphysischen Schuld verweist.“921 In dem Versuch, sich gegen den Vorwurf der
Kollektivschuld zu verwehren, teilte Karl Jaspers 1946 in seiner Schrift „Die
Schuldfrage“ den Begriff der Schuld in vier Kategorien. Er grenzte eine kriminelle
von einer politischen, einer moralischen und einer metaphysischen Schuld ab.
Ausschließlich die kriminelle Schuld kann als eindeutiger Verstoß gegen Gesetze
juristisch geahndet werden. Die politische Schuld trägt jeder Staatsbürger, der für die
Taten des von ihm mitgetragenen Staates einstehen muss. Die moralische und
metaphysische Schuld sind individuell geltende Schuldbegriffe. Die moralische
Schuld liegt auf dem individuellen Handeln und kann nicht umgangen werden etwa
durch Befehlsnotstand. Die metaphysische Schuld betrifft vor allem das
Nichthandeln, das Dabeistehen, das menschliche Versagen, das menschlich schuldig
macht.922
Tulla ist fünf Jahre alt als das NS-Regime seine Herrschaft antritt. Sie wächst auf in
einer Dekade des Enthusiasmus über den Anbruch der „neuen Zeit“923: ihr Vater, der
Hilfsarbeiter Pokriefke, dessen Resignation sich darin äußert, dass er seinen Glauben
an alles verloren hatte, „der hädd auf Kaadeäff schweeren jekonnt, weil er mit maine
Mama zu ersten Mal in sein janzes Leben hat verraisen jedurft….“ (39). Aus dieser
Begeisterung für die „neue“ Idee, die in der Katastrophe endet, lässt sich eine
920
Bernhardt, S. 76.
Kniesche, S. 189.
922
Vgl. Karl Jaspers, `Die Schuldfrage´, in ders., Was ist der Mensch?, München, 2003, S. 337ff.
923
Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“.
921
355
Parallele zwischen Grass´ Krebsgang und Georg Büchners924 Dantons Tod herstellen.
Büchners Drama über die Französische Revolution „atmet nicht den Geist des
politischen Täters und des gläubigen Revolutionärs. Es bedeutet geradezu die
Lähmung des politischen Handelns und revolutionären Kampfes.“925 Auch im
Krebsgang zeigt sich die Lähmung der Protagonisten in der Wiederholung des
Immergleichen („Nie hört das auf“), dem „grässlichen Fatalismus der Geschichte“926.
Beide Autoren, Grass und Büchner, ziehen Schlüsse aus ihrer jeweiligen Warte, die
zeitlich nah am historischen Geschehen liegt. Nationalsozialismus und Kommunismus
als Gesellschaftsexperimente der Moderne gesehen, teilen mit der Französischen
Revolution das Ziel einer völligen Umgestaltung der bestehenden Ordnung durch
Terror und Gewalt. Zwar in völlig verschiedenen Dimensionen endeten sowohl 1789
als auch die Ideologien des frühen 20. Jahrhunderts in Destruktivität.
Die Frage, die sich daraus stellen lässt, ist, ob die Lähmung der Protagonisten (i.S.v.
„Mitläufer“) bei Büchner und Grass auf den historisch „gescheiterten“ politischen
Kampf zurückzuführen ist, dem nihilistischen Fatalismus aus der
„Unausweichlichkeit jenes geschichtlichen Mechanismus“927 aus dem sich ein Verrat
an der menschlichen Moral ergibt. Oder, ob der Ursprung der Bewegungslosigkeit in
dem Hass und in der Unbarmherzigkeit der beteiligten Personen liegt, die im Terror
gefangen sind. Anders gefragt: wird die Lähmung aus einer inhumanen Historie
bedingt, der nicht zu entkommen ist oder ist sie das Resultat einer Gegenwart, aus der
keine Erkenntnisse für die Weiterentwicklung der Humanität gewonnen werden
können, weil die Vergangenheit nicht zu bewältigen ist – etwa in Abwesenheit einer
„Weltüberwindung“ im Sinne einer „Selbstüberwindung“.
Diese Fragestellung findet sich auch bei Heinrich von Kleist: „Die für das Verständnis
jeder Dichtung Kleists zentrale Frage drängt sich auf, ob wir die Gründe im Menschen
selbst suchen sollen oder außerhalb, ob es etwa das Schicksal ist, das ihn in solche
924
Anmerkung: Büchner erwähnt im Krebsgang, S. 30
Büttner, S. 222.
926
Georg Büchners so genannter „Fatalismus-Brief“ an seine Verlobte Minna Jaeglè im Januar 1834 in: Georg
Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden“, Henri Poschmann, (Hg.), Band 2, Frankfurt,
1999, S. 377f.
927
Markus Fischer, Dantons Tod, in: Harenberg Literaturlexikon, Dortmund, 1997, S. 235.
925
356
Versehen hineinlockt und zu verderben droht“.928 Kleists Figuren sind nicht völlig
unbeteiligt an dem, was ihnen widerfährt: „Das Leid, das die Figuren Kleists erfahren,
ist zutiefst und immer wieder ein Leid von innen her.“929
Wie groß ist der Schuldanteil der Protagonisten im Krebsgang? Im Ergebnis führt
diese Frage zu einer ambivalenten Einordnung. Die Ambivalenz hinter der
Schuldfrage zeigt sich deutlich in dem Mord Konnys an Wolfgang alias David.
Konny ist durch seine Großmutter transgenerationell traumatisiert.930 Dennoch ist es
Konny, der den Mord kaltblütig plant und ausführt. Diese Form der Ambivalenz als
„Opfertäter“ zieht sich durch die gesamte Narration931: der russische U-Boot Kapitän
Alexander Marinesko ist Sohn eines Flüchtlings und bereits als Kind Zeuge von
Gewalt; David Frankfurter trägt eine über Jahrtausende transgenerationell übertragene
Erfahrung von Gewalt und Verfolgung mit sich; Wilhelm Gustloff hat zwar nicht am
Ersten Weltkrieg teilgenommen, aber aus dem Umfeld der zuhause Gebliebenen932
erwächst in dieser Generation vielfach der Wunsch, durch besonderes Engagement als
Nationalsozialist das Manko wettzumachen.
Kleists Figuren sind, „(a)ufgefordert zum rechten Gefühl zu finden, (…) nicht völlig
schuldlos, wenn sie sich dabei `versehen´. (…) es (geht) daher in der Erkennung der
in Frage stehenden Versehen immer zugleich um die Probleme der Schuld.“933 Auch
das Trauma Paul sucht nach der Schuld und dem Schuldigen, indem er narrativ in die
Ursprünge des Traumas versucht vorzudringen. Dort kommt er jedoch niemals an,
weil er sich „versieht“. Indem er als Erzähler die äußerlich sichtbare Vergangenheit
sachlich und nüchtern wie einen juristischen Streitfall aufzurollen sucht, gelangt er
niemals zum Kern des Traumas und damit zur „inneren“ Wahrheit: er dreht sich stets
im Kreis seiner eigenen Empathielosigkeit als Symptom des Traumas, das sich nicht
selbst abzuwickeln vermag. Seine Empathielosigkeit verhindert, Tullas Trauma zu
928
Walter Müller-Seidel, Verstehen und Erkennen. Eine Studie über Heinrich von Kleist, Köln, 1961, S. 194.
Ebd.
930
Vgl. Kapitel „Wiederholen“.
931
Vgl. „Mechanismen von Gewalt und Gegengewalt“.
932
Vgl. „Abschnitt „Nationalsozialismus“.
933
Müller-Seidel, ebd.
929
357
erkennen und somit kann er ihre Person nicht als Ganzes „sehen“ (Kleist) und
verstehen.
Pauls Herangehensweise an Tullas Geschichte legt nahe, dass er nach einer Art
„juristischer Schuld“934 sucht, die sich dadurch hervorhebt, dass sie durch sachliche
Gesetze und Urteile relativ klar umrissen ist. Indem er die Eindeutigkeit sucht,
scheitert Paul. Er öffnet sich nicht für die andere Art der Schuld, die „tragische
Schuld“: Einer tragischen Schuld liegt kein Schematismus zugrunde, sondern sie
ermangelt jeder Eindeutigkeit.935 Das Tor zur Erkenntnis, das sich Paul durch seine
Suche nach dem Schuldigen öffnet, schließt sich in dem Moment, in dem er die
Mordtat seines Sohnes Konny an Wolfgang alias David nicht durch eine gewonnene
Erkenntnis, durch „Einsicht“ verhindern kann.
Vor dem Hintergrund, dass die beiden Jugendlichen Konny und Wolfgang alias David
ein ausgelassenes freundschaftliches Verhältnis zueinander haben und kein von Hass
geprägtes, wird die Tragik der Schuld deutlich sichtbar. Indem Konny seiner
Großmutter die Treue hält und ihren Auftrag auszuführen meint, belädt er sich mit
einer „tragischen Schuld“. Da er von Vater Paul und Großmutter Tulla die Fähigkeit
zur Empathie nicht erlernt, bleiben die seelischen Prozesse für ihn hermetisch: ohne
die Fähigkeit der Empathie wird Konny zum kaltblütigen Mörder. Auch Paul hat auf
der narrativen Ebene als Sohn der traumatisierten Tulla nicht lernen können, sich auf
ihr Leid, ihren Schmerz und ihre Angst einzulassen. Er verfügt deshalb nicht über die
Gabe, menschliche Verbindungen herzustellen – auch nicht zu seinem Sohn Konny.
Paul kann deshalb weder seine eigene Isolation, noch die seiner Mutter oder die seines
Sohnes überwinden. Ihm ist die Erkennung bis zur Unmöglichkeit erschwert. Daraus
ergibt sich, dass eine inhumane Vergangenheit (Tulla) in der Gegenwart nicht
verarbeitet werden kann. Im Resultat verhindert die Unfähigkeit des Durcharbeitens
einer traumatischen Vergangenheit ein empathisches Miteinander (vgl. oben). Erneut
kann so Gewalt und damit Schuld entstehen. Dieses Ergebnis führt zurück zum
Ausgangspunkt, zu Tulla als der „ursprünglichen“ Trägerin der „tragischen Schuld“.
934
935
Vgl. Jaspers.
Müller-Seidel, S. 195.
358
Wie Grass bei Kriegsende selbst, ist Tulla siebzehn Jahre alt, als die Gustloff sinkt.
„Grass gehört, wie er selber immer wieder aufs Neue betont, einer Generation an, die
zu jung war, um schuldig zu werden und zu alt, um unschuldig zu sein. Er spricht aus
einer Position zwischen den Generationen der Schuldigen und der Unschuldigen und
bleibt dieser Position verhaftet.“936 Als Mitläuferin repräsentiert Tulla den Großteil
der deutschen Bevölkerung. Ihre tragische Schuld liegt darin begründet, dass sie
unfähig ist, das eigene Trauma aufzuarbeiten. Wie bereits ausgeführt, sind Menschen,
die traumatisierenden Gewalterfahrungen ausgesetzt waren, nicht in der Lage, sich
dem Schmerz der Traumatisierung erneut auszusetzen. Sie laufen Gefahr,
„retraumatisiert“ zu werden.937 Diese (unbewusste) Angst vor einer Retraumatisierung zeigt sich in der Weitergabe ihres Traumas an ihre Nachkommen, was
ein Abschieben, ein Verdrängen anstatt eines Konfrontierens impliziert.
Die Weitergabe des Traumas, symbolisiert in Tullas Aufforderung gegenüber Sohn
und Enkel, ihre Geschichte aufzuschreiben, impliziert die Unmöglichkeit der
Verarbeitung in den nächsten Generationen. Nicht nur das Trauma wird
weitergegeben, sondern auch die Unfähigkeit der Bearbeitung.938 Tulla fordert
implizit und unbewusst, dass nur ihre Version der Erlebnisse aufgeschrieben wird.
Ihre aus dem Trauma entstandene Orientierungslosigkeit verstellt ihr den Blick auf
die Zusammenhänge.
Neben der Gefahr einer Re-traumatisierung ist Tulla im Dialog der Trauerarbeit mit
einer weiteren Herausforderung konfrontiert: der des Identitätsverlustes als Opfer.939
Durch die Trauerarbeit bricht diese Identität auf, weil eigene Anteile von
Unmenschlichkeit konfrontiert und angenommen werden müssen. Als einzige erkennt
Tulla den „Knochenberg“, auf dem symbolisch auch „ihr Opfer“ Brunies liegt. Da sie
diesen Anblick nicht in eine kausale Verbindung mit ihrem eigenen Trauma setzen
kann – NS-Regime, Holocaust, Krieg, Flucht und Vertreibung - bleibt nichts als ein
936
Kniesche, S. 187.
Vgl. Abschnitt „Trauma“.
938
Vgl. Kapitel „Wiederholen“.
939
Vgl. „Tullas Hausaltar als Symbol der Unüberwindbarkeit des Traumas“.
937
359
abstraktes Bild zurück.940 Die Anteile der eigenen „Täterschaft“ würden sich in dem
Moment auftun, in dem Tulla den Untergang der Gustloff in einen historischen
Kontext zu setzen vermag. Durch die Verschmelzung ihres historischen und
gegenwärtigen Horizonts würde die eigene Identität eine Erweiterung um diese
„Täteranteile“, die im Bild des „Knochenbergs“ symbolisiert sind, erfahren. Nur das
Bewusstmachen dieser Anteile und deren Wissen um sie erlauben den bewussten und
wissentlichen Umgang mit ihnen. Tulla verschließt sich dieser schmerzhaften
Erweiterung.
Der Schmerz dieser Erweiterung entspringt dem Tod der eindeutigen Identität als
Opfer und der Geburt der ambivalenten Identität als „Opfertäter“. Anders als Tulla
agiert Kleists „Penthesilea“:
Was sie getan, ist ihr zunächst noch verborgen. (…) Gleichwohl macht ihr Ende
deutlich, dass sie nicht unter den Priesterinnen und Amazonen ihres Staates die
einzig Schuldigen sucht. Sie bezieht sich ein. Sie meint ihre `Schuld´ in erster
Linie. Das bezeugt ihr Tod. Er ist zuletzt ein Akt des Bewusstseins, eine Form
ihrer Selbsterkenntnis. Indem sie des Widerspruchs inne wird, (…) begibt sie
sich des Scheins. Sie kehrt in die Wahrheit des Menschlichen zurück und erst
jetzt in die Wahrheit des unverwirrten Gefühls.941
Das innere Trugbild wird aufgelöst, indem die alte Identität stirbt, um einer neuen,
„wahrhaftigen“ Raum zu gewähren.
Die Anerkennung der Schuld lässt die Frage nach deren Ursprung dennoch unberührt.
Kleist gibt Hinweise auf diesen Ursprung in seiner Penthesilea: „Die Schuld liegt im
Nichtwissen. Alle Gräuel, Schrecken und Rätsel sind nur die Folgen des
Nichtwissens. Insofern werden alle unbewusst und unwillkürlich schuldig. Die
furchtbare Tat enthüllt nur, was verborgen war.“942 Daraus ergibt sich: „Das
Bewusstsein wird erst durch diese Schuld (Penthesilea) möglich. Bewusstsein,
Erkennen und Schuld werden identisch.“943
Vgl. „Tulla will keine Verbindung zu ihrer Mitschuld“.
Müller-Seidel, S. 203.
942
Ebd.
943
Ebd.
940
941
360
Doch wie kann der Pfad des Nicht-wissens verlassen werden und der Weg zu
Bewusstsein, Erkennen und Schuld(anerkennung) führen? Am Ende von Pauls
Versuch nach „juristischer Schuld“ zu suchen, verweist der Satz „Nie hört das auf!“
auf den „vollkommenen Nihilisten“ Friedrich Nietzsche, für den „die Vollendung des
Nihilismus alles (…) (ist), was wir erwarten und hoffen dürfen.“944 Diese
„vollkommen“ anmutende Destruktion ist jedoch nicht der Endpunkt. Auf einer
symbolischen Ebene im Krebsgang ist sie der Beginn einer Weiterentwicklung. In der
Figur Tulla deutet sich ein möglicher Ausweg an, auch wenn dieser nur als
schemenhafte Vorlage verbleibt und von den Protagonisten nicht beschritten wird: die
Wandlung Tullas durch die „drei Stufen des Geistes“ aus Nietzsches Also sprach
Zarathustra (nachfolgend auch Zarathustra genannt)945.
In dem Moment, in dem Tulla Trauerarbeit leisten würde, wäre sie erneut mit den
traumatischen Erlebnissen konfrontiert. Doch nur indem sie ihr Trauma bewältigt,
wäre sie in der Lage, die Ursachen zu erkennen und Erkenntnis zu gewinnen. Sie
muss zuerst sich selbst überwinden, erneut durch die Hölle der traumatischen
Erlebnisses gehen, bevor sie durch Erkenntnisgewinn Freiheit von ihrem Trauma und
den damit verbundenen Ängsten gewinnt.
Das zentrale Motiv der befreienden Selbstüberwindung in Nietzsches Werk946 findet
sich in Zarathustra: „`Siehe´, sprach es (das Leben), `ich bin das, was sich immer
selber überwinden muss´.“947 Doch wie ist dieses Überwinden zu bewältigen und
welche Anstrengung ist damit verbunden? Nietzsche schreibt: „Die höchste Liebe
zum Ich, wenn sie als Heroismus sich äußert, hat Lust zum Selbst-Untergange neben
sich, also Grausamkeit, Selbst-Vergewaltigung.“948 Daraus lässt sich die
Schlussfolgerung ziehen: „Mithin erfordert Selbstüberwindung die Überwindung der
944
Margot Fleischer, Nietzsche. Eine kurze Einführung, Berlin, 2006, CD, Titel 05.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, S. 545-778 in Ivo Frenzel,
Friedrich Nietzsche. Werke in zwei Bänden, München, 1973 (nachfolgend Zarathustra).
946
Rüdiger Görner, `Wie ich Nietzsche überwand. Zu einem Motiv der Nietzsche-Rezeption bei Rilke, Döblin
und Hugo Ball´, S. 193-203 in ders., (Hg.), Ecce Opus: Nietzsche Revisionen im 20. Jahrhundert, Göttingen,
2003, S. 194.
947
Zarathustra, S. 623.
948
Nietzsche zitiert in: Görner, S. 194.
945
361
Selbstliebe (…).“949 Demnach müsste Tulla gleich einem Zarathustra eine
„übermenschliche“ Leistung vollbringen und sich dem Trauma ihres Lebens „sehend“
nähern, um in der Folge die Täteranteile ihres Selbst annehmen zu können.
Aus der Einsiedelei zurückgekehrt will Nietzsches Zarathustra den Menschen die
Lehre des Übermenschen bringen.950 Der Übermensch ist die Überwindung des
Menschen und der „Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ Die diesseitige
Welt ist die einzige Welt, die es gibt, denn „Gott starb“. Damit wird der „Übermensch
(…) der Sinn der Erde“. Der Mensch ist ein „Seil, geknüpft zwischen Tier und
Übermensch“. Stehenbleiben, schaudern zurückblicken werden lebensgefährlich. Der
Mensch ist ein Übergang vom Mensch zum Übermenschen, und zwar ein
gefährlicher. Das Seil, oder besser der Seiltänzer muss alles hinter sich zurücklassen,
sonst fällt er in den Abgrund, der unter ihm gähnt, jener Abgrund des Nihilismus, in
den abzustürzen ihn vernichten würde.951 Gelingt es ihm jedoch die andere Seite des
Seils zu erreichen, dann ist er zum Übermenschen übergegangen, der höchsten Form
von Lebewesen.
In Zarathustras Gleichnis werden drei für das Ziel des Übermenschen notwendige
Verwandlungen vorgestellt952: die zum Kamel, die des Kamels zum Löwen und die
des Löwen zum Kind. Es handelt sich dabei um drei Stufen des Geistes. Das Kamel
versinnbildlicht, dass es „vieles Schwere“ dem tragsamen Geist gibt, „dem Ehrfurcht
innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.“ („Dem
Kamele gleich kniet er nieder und lässt sich gut aufladen.“) Ein Geist ist erfordert, der
Ehrfurcht hat vor den überkommenden Werten. (…) Das Kamel, das lastbare Tier, das
entsagt und ehrfürchtig ist, verwandelt sich zum Löwen, wenn der Übergang
vollzogen wird von dem Entsagen zum machtvollen Ergreifen von Freiheit.
Tullas rötlich blondes Haar, das sie als junges Mädchen trägt (55) kann als die
äußerliche Metapher für Nietzsches Gleichnis der ersten Stufe des Geistes als
949
Görner, ebd.
Gesamter Absatz ist eine Zusammenfassung aus Zarathustra, `Vorrede´, S. 549-551.
951
Ebd., S. 554.
952
Gesamter Absatz ist eine Zusammenfassung aus Zarathustra, `Von den drei Verwandlungen´, Ebd., S. 554f.
950
362
„Kamel“ gewertet werden. Sie verliert diese Haarfarbe im Moment des Untergangs.
Ihr Haar nimmt eine Nicht-Farbe („schlohweiß“, 55) an im Übergang von der Gustloff
auf das Rettungsboot „Löwe“ (ebd.). „Als Löwe widersetzt sich der Geist seinem
früheren Herrn. Er erobert sich sein eigenes Herrsein in der Zurückweisung alles
Sollens.“953 („Bessere Raubtiere sollen sie also werden, feinere, klügere,
menschähnlichere.“954) Tatsächlich erobert sich Tulla in ihrer neuen, gleichfalls
totalitären Heimat ein gewisses Maß an Freiheit, indem sie sich nicht organisieren
lässt.
Neue Werte vermag auch der Löwe noch nicht zu schaffen, aber sich Freiheit
verschaffen zu neuem Schaffen, das vermag die Macht des Löwen.955 Um neue Werte
schaffen zu können, muss der Geist vom Löwen zum Kind werden. „Unschuld ist das
Kind und Vergessen, ein Neubeginn, (…), ein heiliges Ja-Jasagen.“956 Tulla geht mit
ihrem „Wickelkind, das Paul heißt“ von Bord des Torpedobootes Löwe an Land am
Tag nach dem Angriff auf die Gustloff (153). „Euer Kinder Land sollt ihr lieben: diese
Liebe sei euer neuer Adel – das unentdeckte, im fernsten Meere! Nach ihm heiße ich
eure Segel suchen und suchen! (…) Alles Vergangene sollt ihr so erlösen!“957 Tullas
Gebärde versinnbildlicht diesen nächsten Schritt des Geistes hin zu Nietzsches
Übermensch. Pauls Name „ (…) jenau wie der Käpten vonne Leewe“ (147) impliziert,
dass die dritte Stufe die voran gegangene Stufe enthält. Sie fordert dieses Kind auf,
das Vergessene hervorzuholen, indem es die Geschehnisse aufschreibt. Indem das
Vergessene, das „Vergangene“ an die Oberfläche geholt wird, um es zu „er-lösen“
(Nietzsche), können neue Werte durch die veränderten, weiterentwickelten Parameter
des Geistes geschaffen werden. Hierin läßt sich die Traumabearbeitung als
Vorbedingung der „Erweiterung“ erkennen.
Zarathustra zögert nicht, dem Menschen als „Übermenschen“ Größe zuzusprechen:
„Darum, o meine Brüder, bedarf es eines neuen Adels, der allem Pöbel und allem
953
Ebd.
Ebd., S. 692.
955
Ebd., S. 560.
956
Ebd.
957
Ebd., S. 686.
954
363
Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt `edel´.
Vieler Edlen nämlich bedarf es und vielerlei Edlem, dass es Adel gebe! Oder, wie ich
einst im Gleichnis sprach: `Das eben ist Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott
gibt!“958 Doch Zarathustra muss erfahren, dass die Menschen aus seiner Lehre des
Übermenschen nicht gelernt haben: „Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund
für diese Ohren.“959 Schließlich scheitert er mit seinem Bemühen, das Volk für den
Übermenschen zu gewinnen. Auch Paul scheitert an seiner Aufgabe, das Vergangene
zu „er-lösen“ und neue Werte zu schaffen. Indem diese Aufgabe unmöglich ist, weil
sich das Trauma Paul nicht selbst überwinden kann, offenbart sich erneut der Weg der
zu begehen ist: die Bearbeitung des Traumas.
Zarathustras Erkenntnis bringt ihn zur Einsicht, dass er Gefährten braucht, die ihm
folgen, weil sie sich selber folgen wollen: „Gefährten brauche ich, und lebendige –
nicht tote Gefährten und Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will. Sondern
lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen –
und dorthin, wohin ich will.“960 Für Zarathustra erfordert es für sein Ziel die
Umwertung von Werten, die Zerstörung der alten und Schaffung der neuen. Jene, die
von den alten Werten nicht lassen wollen, sind Verächter der Moral. Die anderen sind
die, die Neues schaffen, die bejahend sind: es sind die Schaffenden, die Erntenden.
Denen wendet Zarathustra sich zu und beginnt seine Reden:
O meine Brüder, verstandet ihr auch dies Wort? Und was ich einst sagte vom
`letzten Menschen´? – Bei welchen liegt die größte Gefahr aller Menschen
Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? Zerbrecht, zerbrecht mir die
Guten und Gerechten! O meine Brüder, verstandet ihr auch dies Wort? (…) Die
Guten nämlich – die können nicht schaffen: die sind immer der Anfang vom
Ende: - sie kreuzigen den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern
sich die Zukunft – sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft! Die Guten – die waren
immer der Anfang vom Ende.961
Stalin als der Thronende auf Tullas Altar verweist darauf, dass in Tullas
Wahrnehmung das Böse im Vordergrund, das Gute – in Gestalt Marias als
958
Ebd.
Ebd., S. 553.
960
Ebd., S. 557.
961
Ebd., S. 694.
959
364
„Verkörperung des erlösten Menschen“962– im rückwärtigen Teil steht. Hierin deutet
sich Tullas Vergangenheitshorizont als eine Ambivalenz aus „Gut“ und „Böse“ an.
Die symbolische Verbindung zwischen Marienbildchen und weißer Lilie rückt die
unbefleckte Empfängnis in den Blickpunkt.963 Auf Tullas Altar symbolisieren das
Marienbild und Stalins Bild die Geburt des Bösen aus dem Guten heraus.
Die Verführung des Menschen zur Sünde entspringt dem Dualismus von Gut
und Böse, der alttestamentarisch auf Gott selbst zurückgeht. Der Gott des Alten
Testaments initiiert neben dem Guten auch das Böse oder lässt es durch seine
Boten, vor allem den `Verderber´ initiieren. Der gemeinsame Ursprung von Gut
und Böse erlaubt, das im Teufel verkörperte Böse lediglich als einen Aspekt des
Guten zu verstehen.964
Dem Menschen bleibt somit nicht die Wahl zwischen Gut und Böse, sondern er kann
lediglich reagieren: gegen das „Böse“ indem er das „Gute“ wählt. „`Der Mensch ist
böse´ - so sprachen mir zum Troste alle Weisesten. Ach, wenn es heute nur noch wahr
ist! Denn das Böse ist des Menschen beste Kraft. `Der Mensch muss besser und böser
werden´ - so lehre ich. Das Böseste ist nötig zu dem Übermenschen Bestem.“965
Eine „gute“ Reaktion bedingt jedoch das „Sichtbarmachen, Bestrafen und Korrigieren
menschlichen Fehlverhaltens.“966 Das „Böse“ muss als solches erkannt werden, um
sich von ihm lösen zu können. Jenny hat verstanden: „Das ist das Böse, das rauswill.
Meine Jugendfreundin Tulla, deine liebe Mutter kennt das Problem. Oje, wie oft habe
ich als Kind unter ihren Ausbrüchen leiden müssen. Und auch mein Adoptivvater
(…). Doch am Ende ist fast alles gut geworden. (…) Tulla hat an sich selbst erfahren,
wie gründlich ein Mensch sich wandeln kann…“. (211)
Tulla scheint auf die Erfüllung dieser Loslösung zu hoffen. Indem die Lilie aus Plastik
ist, wird sie lediglich zum Abbild einer Lilie. Die Interpretationsmöglichkeiten ihrer
Gestaltung rücken dadurch in den Vordergrund. Bei dem Mystiker und Philosophen
962
Lurker, Wörterbuch der Symbolik, S. 463.
Ebd., S. 435.
964
Porrmann, S. 390.
965
Zarathustra, S. 747f.
966
Ebd.
963
365
Jakob Böhme (1575-1624) „steht die Lilie im Zusammenhang mit der
Wiedergeburt.“967 Die Wiedergeburt als Wiederholung kann als auf das Trauma
gerichtet gedeutet werden. Die Anwesenheit des (Traumas) Paul in der erzählten
Szene unterstützt diese Deutung. Die Wiedergeburt als Erneuerung deutet aber auch
auf die Hoffnung. Das Bild Marias als „symbolische Gestalt für alle Gläubigen,
Hoffenden und Gehorchenden“968unterstreicht diese Hoffnung auf Erneuerung.
Tullas Hoffnungen erfüllen sich nicht. Sie bekommt nach außen keine Gelegenheit,
das selbst erlebte „Böse“ sichtbar und so auch ihr eigenes menschliches Fehlverhalten
für sich erkennbar zu machen. Als Konsequenz daraus wird das Konstruktive
(Erkenntnis) durch das Destruktive (Mord an Wolfgang) ersetzt: „Ohnehin stand für
sie fest, dass so was nur passieren konnte, weil man jahrzehntelang `ieber die Justloff
nicht reden jedurft hat´“. (50) Die abstrakte äußere Konfrontation mit Auschwitz „immerzu nur von andre schlimme Sachen, von Auschwitz und so was jeredet.“ (ebd.)
- steigert das überwältigend Böse des eigenen inneren Erlebens in ein Unermessliches
und Unerfaßbares, an dessen Ende Destruktion und Nihilismus steht: „Nie hört das
auf.“ (216)
Im Umkehrschluss: hätte Tulla das Trauma durch Sprache und Reflektion im äußeren
Raum überwinden können, wäre der innere Raum frei geworden zur Erkenntnis.
Tullas Erkenntnis jedoch bleibt in den „Kinderschuhen“ stecken ohne jemals darüber
hinaus zu wachsen: Als Jenny ihr zu verzeihen scheint, „wirkte sie schüchtern und
gab sich als kleines Mädchen, das ihr kürzlich noch einen üblen Streich gespielt
hatte.“ (207) Tulla will „den Schaden wiedergutmachen“ (ebd.) weil sie Jenny liebt.
Die reinste Form der Humanität des Menschen gebärt den Wunsch nach Erkenntnis.
967
968
Lurker, S. 436.
Lurker, S. 463.
366
Die biblische Wirkungsgeschichte des Apostel Paulus als Horizonterweiterung zu
den Opferanteilen der Protagonisten
Die Überwindung des Bösen (als „Anfang“) wird zur Vorbedingung für die
Entwicklung hin zum Guten (als „Ende“). Entsprechend wird die Bearbeitung des
Traumas zur Vorbedingung für die Gewinnung der Erkenntnis, die in die Zukunft
führt: „Was Vaterland! Dorthin will unser Steuer, wo unser Kinder-Land ist!
Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre große Sehnsucht!“969 Vor diesem
Hintergrund erschließt sich für das Trauma Paul eine weitere Funktion als Metapher
für den Apostel Paulus, der die „Heilsbotschaft“ verkündet: „(…) wo jedoch die
Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden. Denn wie die Sünde
herrschte und zum Tod führte, so soll auch die Gnade herrschen und durch
Gerechtigkeit zu ewigem Leben führen.“970
In der Blechtrommel gibt es „keinen Paulus, der Mann hieß Saulus und war ein Saulus
und erzählte als Saulus den Leuten aus Korinth etwas von ungeheuer preiswerten
Würsten, die er Glaube, Hoffnung und Liebe nannte, als leicht verdaulich pries, die er
heute noch in immer wechselnder Saulusgestalt an den Mann bringt.“971 Diese
Schilderung ist eingebetet in die Beschreibung der Pogromnacht vom 9. November
1938, die als Ausgangspunkt des Holocaust zu verstehen ist972: „Er kommt! Er
kommt! Das Christkindchen, der Heiland? Oder kam der himmlische Gasmann mit
der Gasuhr unter dem Arm, die immer ticktick macht? (…) Und er ließ mit sich reden,
bot einen günstigen Tarif an, drehte die frischgeputzten Gashähnchen auf und ließ
ausströmen den Heiligen Geist, damit man die Taube kochen konnte.“973
Das Trauma des Zivilisationsbruches Holocaust findet sich in der Negierung des
christlichen Glaubens als der Grundlage abendländischer Kultur wieder. Deutlich
wird diese Negierung in der Farce auf den ersten Korintherbrief, auf den in der
Blechtrommel explizit hingewiesen ist.974 Dieser Brief enthält mit dem „Hohelied auf
969
Zarathustra, S. 694.
Paulinische Briefe: Röm 5, 20-21.
971
Grass, Die Blechtrommel, S. 192.
972
Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“.
973
Die Blechtrommel, S. 190.
974
Ebd.
970
367
die Liebe“ ein Kernelement der christlichen Lehre, die sich vor allem in der
Bergpredigt reflektiert, die Nächstenliebe: „Also bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe,
diese drei; am größten unter ihnen ist die Liebe.“975
Das (pathologische) Trauma des Zivilisationsbruchs scheint im Krebsgang eine neue
Entwicklungsphase erreicht zu haben:„(E)s gibt keinen Paulus, der Mann hieß
Saulus“, sagt Oskar in der Blechtrommel.976 Im Neuen Testament wird Saulus, als der
unbarmherzige Verfolger der Anhänger Jesus, zu Paulus als dem Verkünder der
christlichen „Heilslehre.“977 Indem der Autor Grass seinem Erzähler im Krebsgang
den Namen Paul gibt, und ihm den Auftrag erteilen lässt, das Trauma Tullas
aufzuschreiben (99), ist Saulus zu Paulus mutiert. Die Bedeutung als Metapher eines
vergessenen Traumas gibt Paul sich selbst, wenn er sich als „Überlebender eines von
aller Welt vergessenen Unglücks“ (41) bezeichnet. Das Trauma Paul soll als
Sprachrohr für den „Alten“ fungieren, der ihn wie eine Fundsache aufgespürt hat
(gleich Paulus, der auserwählt und beauftragt wird). Indem sich das Trauma nicht
selbst abwickeln kann, wird der Ansatz von Pauls „Heilsbotschaft“ offenbart: würde
das (selbst erlittene) Trauma der „Opfertäterin“ Tulla „geheilt“ werden, könnte die
Erinnerung an den „Knochenberg“ aus der Abstraktion („`Das issen Knochenberj!´“
100) in ein deutliches Bild überführt werden: als einzige hat Tulla „inmitten
willentlich Blinder (…) eine weißlich gehäufe Masse als menschliches Gebein
erkannt (…).“ (100)
Mehr als vierzig Jahre liegen zwischen Blechtrommel und Krebsgang, doch scheint
sich bereits in ersterer diese Erkenntnis anzukündigen, „denn die Liebe kennt keine
Tageszeiten, und die Hoffnung ist ohne Ende, und der Glaube kennt keine Grenzen,
nur das Wissen und das Nichtwissen sind an Zeiten und Grenzen gebunden.“978 Das
Wissen und Nichtwissen um das Trauma als Inhalte der „Heilsbotschaft“ des
Protagonisten Pauls lässt sich auf die kurze, bereits dargestellte Formel bringen: die
Sprachlosigkeit infolge des (pathologischen) Traumas gilt es aufzubrechen, um Raum
975
Paulinische Briefe: 1 Kor 13, 13.
Die Blechtrommel, S. 192.
977
Apostelgeschichte, 9.
978
Die Blechtrommel, S. 191.
976
368
für Empathie zu schaffen. Durch Empathie kann ein wahrhaftiges Gefühl von Schuld
und Scham bei den Zeitzeugen und die historische Verantwortung in den
nachfolgenden Generationen geschaffen werden. Im Werk des zwischen den
Generationen stehenden Autors Grass kann dieser Prozess auch nach der Dauer von
vierzig Jahren nicht vollständig vollzogen werden, denn das Trauma erscheint
grenzenlos und somit unüberwindbar.
Grass hat sich in seinen früheren Werken der deutschen Geschichte des 20.
Jahrhunderts aus der Perspektive der „Täter“ und der „Schuld“ genähert. Im
Krebsgang nimmt er erstmals die Perspektive der „Opfertäter“ ein. Die
Verschmelzung des „wahren“, im Sinne von einem vollständigen
Vergangenheitshorizont als Opfer von Krieg, Städtebombardements, Flucht und
Vertreibung einerseits und als Täter im Nationalsozialismus und Holocaust
andererseits mit der Gegenwart, d.h. der Traumabearbeitung in der Dritten
Generation, öffnet dennoch den Weg für eine Erweiterung, der sich in den beiden
Nebenprotagonisten Jenny und Heinz Schön andeutet.
369
Jennys Vergebung gegenüber Tulla
Die Erzählstränge der Novelle gelangen nicht zum Abschluß und bleiben so stets
präsent. „Das hört nicht auf. Nie hört das auf“ (216), scheint die eigentliche Botschaft,
das eigentliche (offene) Trauerangebot an den Rezipienten zu sein. Die düstere
Zukunft, die das Ende der Narration verheißt, scheint zu anderen, als den im
Krebsgang beschrittenen Wegen aufzufordern. Durch die Offenlegung der
zerstörerischen Kraft der Sprachlosigkeit fordert die Novelle implizit zum Sprechen
auf, um das Konstruktive zu erlangen. Indem sie zum Sprechen auffordert, bedingt sie
die Konfrontation mit dem Traumatischen und Beschwiegenen. Diese Konfrontation
hat das Potential mit dem Unbegriffenen zu brechen und zur Erkenntnis zu führen.
Pogany-Wnendt verweist darauf, dass eine echte Auseinandersetzung mit dem
Trauma und damit eine wirkliche Trauer nur im Dialog möglich ist.979 Dem Dialog
kommt bei dem Versuch, das Trauma in ein Narrativ einzubinden, eine besondere
Bedeutung zu: „Erst in Gegenwart eines empathischen Zuhörers können die
Fragmente zu einem Narrativ zusammenwachsen und die Geschichte bezeugt werden.
Durch die Erzählung wird Distanz geschaffen. Das traumatische Ereignis und Erleben
wird zum Zeugnis, und damit ein Stück weit reexternalisiert.“980 Ein Dialog bedingt
die Nutzung von Sprache. Die Bedeutung der Sprache in der Psychoanalyse und
damit auch für die Trauer hat ursprünglich Lacan erkannt. Wie bereits oben dargelegt,
sieht Lacan durch das Sprechen die entscheidende Entwicklung vollzogen: „The task
Lacan assigns to the patient is the knowing, deliberate `recitation´ of his or her past,
not its repetition.“981 Lacans Theorie, die sich im Begriff der „Re-kategorisierung“982
wiederfindet, veranschaulicht: die Erkenntnis bedingt das Wort.
Die implizit gestellte Anforderung an den Rezipienten, die „offenen Enden“ im
Dialog (durch Sprache) zusammen zu fügen, ergibt sich indirekt aus einem
Gattungsmerkmal der Novelle: „Die Herkunft der Novelle aus dem Gespräch
besiegelt ihre Sozialität, so dass ihre Form – rückwirkend – den normativen Bestand
979
Vgl. Pogany-Wnendt, S. 7-9.
Laub zitiert in Bohleber: „Trauma“, S. 821.
981
Riccardi, S. 41.
982
Vgl. Strasser, Kettner: Abschnitt „Trauma“.
980
370
einer Gemeinschaft anzeigt bzw. konstituiert.“983 Daraus ergibt sich eine mögliche
Wechselwirkung mit dem Rezipienten: „Indem das Erzählen dem Gespräch
entspringt, bewahrt es selbst in seiner ausschließlichen Monologhaftigkeit Spuren der
Wechselrede; d.h. die Frage nach dem produktiven Anteil des Publikums ist
grundsätzlich berechtigt, und zwar unabhängig von der Konturenschärfe der
jeweiligen (Erzähl-)Gesellschaftsdarstellung.“984
Als Angehörige der Minderheit der „Zigeuner“ (211) repräsentiert die Figur Jenny
eine Opfergruppe des Holocaust. Im Roman Hundejahre wird sie von Studienrat
Brunies adoptiert. Ihre „liebe Freundin Tulla“ (31), die in Hundejahre als „hart, starr
und böse“985 bezeichnet und als „boshaft und absonderlich“986 beschrieben wird, hat
Vater Brunies denunziert (211). Er wird in das KZ-Stutthof gebracht und stirbt im
November 1943.987 Der Hinweis Pauls: „Bei ihr konnte man abladen. Das war sie
gewohnt, vermutlich von Jugend an.“ (ebd.) kann als Jennys Erfahrung mit
Diskriminierung gelesen werden, die sie in Hundejahre durch Tulla erleben musste
(Tulla baut eine Art Fluch über Jenny auf und spuckt dreimal in Jennys leeren
Kinderwagen988).
Jenny wird Tänzerin und glänzt „gertenschlank“ auf den Bühnen Berlins.989 Im
Krebsgang verliert sie bei einem alliierten Bombenangriff die Zehen beider Füße und
kann ihren Beruf nicht mehr ausüben. Wie Mahlke in Katz und Maus ist Jenny in der
erzählten Gegenwart der Novelle Krebsgang von den Zeugnissen ihres früheren
Lebens umringt: Ballettfigürchen aus Porzellan, Fotos als Ballerina. Niemals
verändert sich ihre Umgebung, was als Anzeichen für ihr inneres (traumabedingtes)
Erstarren gewertet werden kann. Allerdings anders als bei Mahlke, der schließlich
untergeht, scheinen bei Jenny die äußeren Zeichen für eine innere Erstarrung zu
täuschen.
983
Aust, Novelle, S. 3.
Ebd.
985
Bernhardt, S. 40.
986
Ebd.
987
Ebd., S. 76.
988
Ebd., S. 40.
989
Ebd., S. 76.
984
371
Metaphorisch mag es an der Vogelperspektive liegen, die ihr die Einsamkeit ihrer
Dachwohnung gewährt, in der sie auf engstem Raum mit den Zeugnissen ihrer
Verluste täglich konfrontiert ist: Jenny scheint den Verlust des Vaters (metaphorisch
auch Vaterland und Heimat) und den ihrer Profession (metaphorisch auch Identität)
betrauert zu haben. Bereits in den 1960er Jahren ist Jenny bereit, das Trauma Paul –
im übertragenen Sinne - bei ihr zur Untermiete zuzulassen. Diese Geste deutet auf die
Gemeinsamkeit zwischen Jenny und Tulla: beide haben infolge feindlicher Angriffe
schwere körperliche bzw. seelische Schäden erlitten.
Jennys Einsamkeit – nur von Paul und Tulla wird sie besucht – deuten zunächst an,
dass sie als Einzige zu vergeben vermag. Explizit betont das Trauma Paul, dass er bei
den Zusammenkünften zwischen Jenny und Tulla nach dem Mauerfall Zeuge war
(207), wie es eine Versöhnung zwischen beiden gab: „Tante Jenny hingegen schien
alles, was vor vielen Jahren an Schlimmem geschehen war, verziehen zu haben. Ich
sah, wie sie Mutter im Vorbeihumpeln gestreichelt hat. Dabei lispelte sie: `Ist ja gut,
Tulla, ist ja gut.´ Dann schwiegen beide.“ (ebd.) Die Anstrengung und der Schmerz,
der diese Vergebung mit sich bringt, zeigt sich in der Überwindung, immer wieder
heiße Zitrone zu trinken, die jedoch bewirkt, die ständig frierende Jenny vor
Erkältung zu schützen als Metapher vor seelischer Erstarrung.
Diese idyllisch anmutende Szene der Vergebung könnte der Schlusspunkt einer
Schreckensphase und ein Neuanfang zugleich sein. Jenny weiß, wie sehr sich
Menschen ändern können: „Tulla hat an sich selber erfahren, wie gründlich ein
Mensch sich wandeln kann.“ (211) Doch erscheint die Idylle wie ein potemkinsches
Dorf. Das Opfer Jenny ist alleine. Im Kosmos der Novelle sind Tulla und Paul ihre
einzigen Besucher. Es scheint ihr keine andere Wahl zu bleiben, als sich mit dem
Vorhandenen zu arrangieren.
Tulla hingegen erscheint durch die Vergebung entlastet. Sie fühlt sich Jenny genauso
nah wie ihrem ertrunkenen Bruder, um den sie als Mädchen eine Woche in einer
Hundehütte getrauert hat. (207) Nach der Vergebung schrumpft die Gustloff für sie zu
372
einem Modell. Bei einem ihrer Besuche bei Jenny kauft sie einen Modellbausatz der
Gustloff: „Nichts Militärisches hat sie ausgewählt; dem Passagierschiff Wilhelm
Gustloff galt ihre Vorliebe.“ (208) Doch rächt sich diese behagliche Entlastung. Zwar
zerstört Konny am Ende den Ort der Traumatisierung Tullas, nachdem er ihn in
naturgetreuer Miniaturform gesehen hat, aber der Keim für die nächste Katastrophe ist
gelegt: Anstatt eines „passenden Schlusswortes“ (216) findet sich die
unheilverkündende Website „www.kammeradschaft-konrad-pokriefke.de“ (ebd.).
Offen bleibt in dieser Schluss-Szene zwischen Jenny und Tulla, wieso das Verzeihen
des Opfers gegenüber dem Täter nicht überzeugt.
Die Vergebung Jennys hätte als eine Harmonisierung der Narration am Ende einen
Neubeginn bewirken können. Grass bleibt jedoch seiner Richtung treu und endet mit
dem Hinweis, niemals höre das auf. Dem Scheitern kommt in Grass´ Werk eine
besondere Bedeutung zu. Seine Romane leben
von der Erfahrung fundamentaler Negativität oder Schuld, die nicht in einer
harmonischen Form aufgehoben werden (können), weshalb als Prämisse für sein
Gelingen gleichfalls ein `Scheitern´ angenommen werden muss. (…) Dem
Glücksversprechen, das jedem ästhetischen Gelingen beigegeben ist, haftet ein
negatives Moment an, das unaufhebbar ist. In dieser Weise mag das Werk dem
Leser gegenübertreten: Vergangenheitsbewältigung, wie sie mit dem Anspruch
des Gelingens versucht wird, verweist auf die Vorstellung einer negativen
Identität, wie sie im Anschluss an Adorno – mit dem Hinweis auf das `unwahre
Ganze´ - beschrieben werden kann. Wie das Werk durch sein Gelingen die
Möglichkeit einer kulturellen Identität nach Auschwitz verspricht, so besteht es
auf deren Negativität. Ohne das Offenhalten der Geschichtserfahrung von
Auschwitz – als ` bewältigte´ wäre sie abgeschlossen, und `Trost und Katharsis´
träten an die Stelle der immer noch offenen Wunde – kann Identität positiv nicht
gesetzt werden.990
Vor dem Hintergrund Lacans „Reformulierung“ zeichnet sich jedoch eine
Weiterführung ab:
Gerade das Scheitern im Versuch, die eigene Geschichte zu ordnen, könnte
nämlich für das Publikum interessant sein, da im Scheitern die Dringlichkeit der
990
Klaus von Schilling, Schuldmotoren. Ästhetisches Erzählen in Günter Grass´ Danziger Trilogie´, Bielefeld,
2002, S. 80f.
373
für jeden Menschen anstehenden Aufgabe besonders deutlich aufscheint – und
so vom Extrem des Scheiterns her gesehen auch den weniger stark Belasteten bei
der Verfassung der eigenen Lebensgeschichte hilfreich sein kann.991
Aus dieser Sichtweise wird das Scheitern zum Beginn eines Prozesses, nicht zu
dessen Endpunkt.
Tulla und Jenny reden während ihrer Zusammenkünfte über ihre gemeinsame
Kindheit. Damit ist der Raum für einen Dialog gegeben, der unabdingbar ist für echte
Vergebung: „Forgiveness is not achieved unilaterally: it is the result of a dialogue,
which may be tacit, but which involves reciprocal communication of an extended and
delicate kind.“992 Trotz dieses Dialogs als einer Voraussetzung für die Annahme von
Schuld einerseits und die Vergebung andererseits, bleibt das Bild der Vergebungszene
zwischen Tulla und Jenny unstimmig. „The one who forgives goes out to the one who
has injured him (…).“993 Die Unstimmigkeit zeigt sich somit in dem Zugehen Tullas
auf Jenny. Es scheint als suche Tulla Entlastung für ihre Sünden bei Jenny.
Problematisch ist dabei, dass sie sich die Schuld gegenüber Jenny nicht einzugestehen
vermag, sondern diese vielmehr durch Gesten vor sich selbst als Streich abtut (207):
(T)his gesture (forgiveness) involves a changed state of mind, a reorientation
towards the other, and a setting aside of resentment. Such an existential
transformation is not always or easily attained, and can only be achieved, (…)
through an effort of cooperation and sympathy, in which each person strives to
set his own interests aside and look on the other from the posture of the
`impartial spectator´.994
Die Vergebung scheitert somit an Tulla:
You don´t succeed in forgiving when you have shown no recognition of the
fault, and you don´t recognize a fault if you regard it with indifference, and
without the natural resentment with which one moral being receives the injuries
inflicted by another. The one who forgives changes his whole posture towards
the one who had injured him, and cannot do this without the other´s cooperation.
991
Fricke, Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie, Göttingen, 2004, S. 247.
Roger Scruton, `Sorry´, Rezension: Charles Griswold, Forgiveness, “Times Literary Supplement”,
14.12.2007, S. 3.
993
Ebd.
994
Ebd.
992
374
Resentment must be felt; but resentment is a moral emotion, founded in
judgement and can, in the course of rational dialogue be `set aside´.995
Diese Diagnose findet sich in der psychologischen Analyse des Verhältnisses
zwischen Täter und Opfer wieder:
Täter, die nicht bereit waren, sich der Wahrheit und der eigenen Schuld zu
stellen, gerieten in eine seelische Abhängigkeit vom Opfer. Sie versuchten die
eigene Selbstachtung, die sie durch ihre Taten verraten hatten, dadurch wieder zu
erlangen, dass sie die Pose der `Freundlichkeit´ gegenüber den Opfern
einnahmen, ohne wirkliche Einsicht in die eigene Schuld gewonnen zu haben.
Sie erwarteten von ihnen `Schuldentlastung´ durch Vergebung und Versöhnung.
Diese Erwartung traf auf den Wunsch des Opfers, vom Täter `geliebt´ und
endlich `als Mensch´ gesehen und anerkannt zu werden, seinerseits in der
Hoffnung, die `verlorene´ (…) Würde und Selbstachtung zurück zu bekommen.
Opfer und Täter wünschten sich jeweils `Erlösung´ durch den Anderen und
gerieten nach Ende des Terrors in eine emotionale Abhängigkeit voneinander.
Diese Abhängigkeit ist ein primär innerseelischer, meist unbewusster Prozeß, der
sich in den inneren Repräsentanzen der Betroffenen abspielt.996
Aus diesen inneren Repräsentanzen des Wunsches nach Schuldentlastung (Täter) und
nach Anerkennung (Opfer) kann sich im Resultat Hass entwickeln:
Sowohl der Wunsch des Täters nach Schuldentlastung durch das Opfer, wie auch
dessen Wunsch, vom Täter Anerkennung zu finden, führen zur Abspaltung einer
destruktiven, vom Hass getragenen Seite: Das Opfer muss den Hass auf den
Verfolger, für das was er ihm angetan hat, sowie die Rachegefühle abspalten,
will er von ihm anerkannt werden.997
Die Unauflösbarkeit der Schuldverstrickung zwischen Opfer Jenny und Täter(opfer)
Tulla offenbart sich in der Unmöglichkeit der Absichten Tullas: „Nun wollte sie den
Schaden wiedergutmachen. Tante Jenny hingegen schien alles, was vor vielen Jahren
an Schlimmem geschehen war, verziehen zu haben.“ (207) Tulla kann die Schuld am
Tod von Jennys Vater nicht „wiedergutmachen“; die Versöhnungsgeste ist aus der
Perspektive Tullas geschildert. Das Trauma Paul gibt die Versöhnungszene aus seiner
Sicht wieder: „Tante Jenny schien alles (…) verziehen zu haben.“ (207) Hierin wird
impliziert: es gibt keine Versöhnung, lediglich scheint es eine Versöhnung zu geben.
995
Ebd.
Pogany-Wnendt, S. 18.
997
Ebd.
996
375
Das Scheinbare der Versöhnung geht auf die Unmöglichkeit der Schuldanerkennung
von Seiten Tullas zurück998:
(D)er Täter, der keine Einsicht in seine Schuld gewonnen hat, behält seinerseits
die ursprüngliche feindselige Einstellung (…) auf das Opfer bei, muss sie aber
leugnen, will er von seiner Schuld entlastet werden. Gegenseitiger Hass und
Verachtung bleiben, häufig hinter dem Deckmantel von Vergebung und
Versöhnung (…) verborgen. (…) Weder kann das Opfer den Täter von seiner
Schuld entlasten, noch kann der Täter dem Opfer seine Würde wiedergeben.
Würde und Selbstachtung sind völlig autonome, dem Menschen aufgrund seines
Menschseins innewohnende Werte.999
Der Figur Tulla bleibt eine „reorientation towards the other“1000 unmöglich, da sie
nicht in der Lage ist, ihre „own interests asides“1001 zu setzen. Mittelpunkt ist und
bleibt für sie ihr Trauma, das sie nicht bearbeiten kann. Das Scheitern als
vermeintlicher Endpunkt wird zum Anfangspunkt durch den etwa gleichaltrigen
Protagonisten Heinz Schön. Er hat das gleiche Schicksal auf der Gustloff erlitten wie
Tulla. Im Gegensatz zu Tulla hat er als Opfer tatsächlich einen Prozess durchlaufen
und sein Trauma mithin überwunden.
Vgl. „Tulla will keine Verbindung zu ihrer Mitschuld“.
Ebd.
1000
Scruton.
1001
Ebd.
998
999
376
Die vergebende „Bewegung“ des Heinz Schön
Die Erkenntnis aus dem Verstehen heraus, sprich die „Horizonterweiterung“, bedarf
nach Gadamer der „Bewegung“:
Wie der Einzelne nie ein Einzelner ist, weil er sich immer schon mit anderen
versteht, so ist auch der geschlossene Horizont, der eine Kultur einschließen soll,
eine Abstraktion. Es macht die geschichtliche Bewegtheit des menschlichen
Daseins aus, dass es keine schlechthinnige Standortgebundenheit besitzt und
daher auch niemals einen wahrhaft geschlossenen Horizont. Der Horizont ist
vielmehr etwas, in das wir hineinwandern und das mit uns mitwandert. Dem
Beweglichen verschieben sich die Horizonte. So ist auch der
Vergangenheitshorizont, aus dem alles menschliche Leben lebt und der in der
Weise der Überlieferung da ist, immer schon in Bewegung.1002
In der Theorie Gadamers wird diese Bewegung durch ein Spannungsverhältnis
zwischen der Gegenwart und der (historischen) „Überlieferung“ ausgelöst: „Jede
Begegnung mit der Überlieferung, die mit historischem Bewusstsein vollzogen wird,
erfährt an sich das Spannungsverhältnis zwischen Text und Gegenwart. Die
hermeneutische Aufgabe besteht darin, diese Spannung nicht in naiver Angleichung
zuzudecken, sondern bewusst zu entfalten.“1003 Dabei ist das historische Bewusstsein
nicht in sich „verfestigt“ (Gadamer), sondern ist lediglich als ein „Phasenmoment im
Vollzug des Verstehens“1004 zu werten, der von „dem eigenen Verstehenshorizont der
Gegenwart eingeholt“1005 wird: „Im Vollzug des Verstehens geschieht eine wirkliche
Horizontverschmelzung, die mit dem Entwurf des historischen Horizontes zugleich
dessen Aufhebung vollbringt. Wir bezeichnen den kontrollierten Vollzug solcher
Verschmelzung als die Wachheit des wirkungsgeschichtlichen Bewussteins.“1006
Tullas Trauma, personifiziert durch Paul, bleibt im Endresultat mit sich selbst allein.
Es wird nicht von der Gemeinschaft der Überlebenden in Damp angenommen. Der
Moment der Besinnung im Gedenkgottesdienst veranlasst „es“, am „nachtdunklen
Strand (…) auf und ab“ (98) zu laufen und also ohne Ziel vor und zurück zu gehen.
1002
Gadamer, S. 309.
Ebd.
1004
Ebd.
1005
Ebd.
1006
Ebd., S. 312.
1003
377
Eine Aussicht auf Besserung dieser Situation ist nicht in Sicht: „es“ ist
„gedankenleer“ (ebd.), hat keine inneren Anknüpfungspunkte und auch die „Ostsee“
als Metapher für die Schmelztiegel der individuellen Erinnerungen zur gemeinsamen
Geschichte1007 schlägt „nur matt und nichtssagend an“ (ebd.), sodass auch aus dieser
(historischen) Ebene der Erinnerungen keine Impulse zu erwarten sind. Im
„nachtdunklen“ Himmel ist der Horizont nicht zu erkennen, sodass es keine
Erweiterung dorthin geben kann.
Der ehemalige Zahlmeisterassistent auf der Gustloff, Heinz Schön, versucht auf
andere Weise als die anderen Überlebenden und als Tulla sich dem Trauma des
Untergangs zu nähern. Im Krebsgang hält er einen Vortrag zum Thema: „Die
Versenkung der Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 aus der Sicht der Russen.“ (96f)
Diese Annäherung an das Thema aus der umgekehrten Perspektive bringt ihm den
Verlust von Freundschaften in den Reihen der Überlebenden: man schneidet Heinz
Schön nach dem Vortrag. Eine offenkundige Tatsache bleibt den Überlebenden
verborgen, denn sie sind im Trauma gefangen: „Für sie hatte der Krieg nie aufgehört.
Für sie war der Russe der Iwan, die drei Torpedos Mordwaffen.“ (97) Solange das
Trauma durch Überlebende und zeitliche Nähe omnipräsent ist, erscheint eine
„Horizonterweiterung“ unmöglich. Das Trauma verstellt den Blick auf die
„historische Überlieferung“. Im Krebsgang führt diese Blockade in ein schreckliches
Ende. Wie bereits erwähnt, ist Tulla überzeugt, dass die Mordtat Konnys an David nur
passieren konnte, „weil man jahrzehntelang `ieber die Justloff nicht reden jedurft hat.
Bai ons im Osten sowieso nich. Ond bai dir im Westen ham se, wenn ieberhaupt von
frieher, denn immerzu nur von andre schlimme Sachen, von Auschwitz und so was
jeredet.“ (50)
Heinz Schön scheint den richtigen Weg zu beschreiten, denn das Foto der
händeschüttelnden Männer Heinz Schön und des früheren Bootsmanns der S13, mit
dem Schön eine „freundschaftliche Verbindung“ (ebd.) pflegt, spricht von
Versöhnung. Sein Vortrag zeigt den Weg auf, der zu dieser Versöhnung führt: die
1007
Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“.
378
Erkenntnis durch den Perspektivwechsel - die „Bewegung“ (Gadamer) - auf die
Historie der „Gegenseite“.
Heinz Schön setzt sich seit seinem Erlebnis auf der Gustloff im Alter von achtzehn
Jahren mit dem Untergang auseinander - Paul bezeichnet ihn als „Gustloff-Forscher
(97). Anders als Tulla und die anderen Überlebenden hat Schön seine Verdrängung
aufgebrochen:
Die Ich-Psychologie hat (…) in der Aufhebung der Verdrängung und der
genetischen Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Vergangenheit die
Voraussetzung erkannt, um Erinnerungsverzerrungen durch unbewusste
Phantasien deuten zu können. (…) Geschichte muss erzählt werden (…). Die
Narrativität des Menschen ist das Mittel, durch das die menschliche Zeitlichkeit
zur Sprache gebracht wird. Erzählungen haben einen Referenzpunkt, auf den sie
sich beziehen und von dem sie erzählen, d.h. sie verweisen auf etwas außerhalb
ihrer selbst. Aber (…) (wir kommen) nie in Kontakt mit der Realität, sondern
immer nur mit deren Beschreibung durch den Patienten, d.h. wir verbleiben stets
im Feld der Subjektivität und der Bedeutung. Wahrheit ist deshalb nicht wie
etwas Verborgenes zu entdecken, sondern sie ist stets in ein Narrativ
eingebunden, das erst wahr wird, wenn es für den Patienten plausibel und
vertraut wird und unverbunden gebliebene narrative Lebensfragmente dadurch
eine kohärentere Bedeutung erlangen.1008
Schön hat diese Plausibilität für sich gefunden: durch seine intensive Konfrontation
mit der Katastrophe hat er es vermocht, das Trauma so weit zu überwinden, dass er
auf die andere Seite zugehen konnte, dort hat er eine Erkenntnis gewonnen, die ihm
das Händereichen mit dem Bootsmann der S13 ermöglicht: „Für Wladimir
Kourotschkin jedoch ist das aus seiner Sicht namenlos sinkende Schiff vollbeladen
mit Nazis gewesen, die sein Heimatland überfallen und beim Rückzug nur verbrannte
Erde hinterlassen hatten.“(97)
Das Verhältnis zwischen dem „Zahlenmeisterassistent auf der Gustloff“ (96), Heinz
Schön und dem Bootsmann der S13, Wladimir Kourotschkin (97) ist das zwischen
Opfer und Täter. Der Unterschied zu Tulla und dem „Russki“ (11) Marinesko besteht
in der „freundschaftlichen Verbindung“ (97) zwischen beiden. Wie ist es dazu
1008
Bohleber, „Vergangenes“, S. 5.
379
gekommen, obwohl Schön die gleichen traumatischen Erfahrungen wie die
gleichaltrige Tulla machen musste?
Das Foto der beiden – miteinander versöhnte Täter und Opfer – gibt Zeugnis davon,
dass keine Versöhnung ohne beidseitige Annäherung und keine Annäherung ohne
Perspektivwechsel („Bewegung“) möglich ist. Wie bereits aufgeführt, gehört es zu
den Merkmalen der Opfer von Gewalttaten sich mit dem Täter zu identifizieren, sich
zu dessen Komplizen machen.1009 Auch für Heinz Schön als Opfer kann dieser Reflex
vorausgesetzt werden. Wie Pogany-Wnendt beschrieben hat, kann sich das Opfer nur
durch einen autonomen Akt aus eigener Kraft aus dieser Komplizenschaft mit seinem
Täter befreien.1010 Dazu werde die Aufgabe der Identifikation mit dem Peiniger und
damit der Verzicht auf die Verheißung vom Täter „geliebt“ zu werden, notwendig.
Damit aber wird das Opfer auf sich selbst zurückgeworfen. Es wird erneut mit
dem Terror, mit der unliebsamen Trauer und mit seinem Schmerz konfrontiert,
ebenso wie mit seinem Hass. Die notwendig werdende Trauerarbeit lässt die
Erinnerung an die Schrecken der Verfolgung erneut lebendig werden. Nur dann
kann der Überlebende Verantwortung für sein – wenn auch nicht selbst
verschuldetes – Schicksal und für das Leid, das ihm zugefügt wurde,
übernehmen. Er definiert sich nicht mehr als Opfer und kann sich `vom
seelischen Tod, vom Haß´ retten. Dadurch gewinnt er seine Selbstachtung
wieder.1011
Am Ende des Trennungsprozesses zwischen Täter und Opfer hin zum
„freundschaftlichen Verhältnis“ steht für den Protagonisten Schön die Trennung
zwischen sich als autonomer Person und als abhängiges Opfer.
Heinz Schön hat sich mit dem „Schrecken“ konfrontiert. Als „Chronist() der Gustloff“
(71), hat er „beinahe alles gesammelt und erforscht (…), was nach dem Unglück
ausfindig zu machen war“. (96) Schöns Konfrontation mit seinem Trauma und sein
Werdegang – er war erst „achtzehn, als das Schiff sank“ (96) - ist gleich dem Pauls
„auf das Unglücksschiff fixiert“ (61) Anders als Pauls endet Schöns
Vgl. „Tullas Hausaltar“.
Vgl. Pogany-Wnendt, S. 19.
1011
Ebd.
1009
1010
380
Auseinandersetzung jedoch nicht bei einer zurückgezogenen Recherche in Büchern,
Zeitschriften und dem Internet. Vielmehr begibt er sich direkt zu dem Täter, dem
Bootsmann des U-Bootes S 13, „der die drei Torpedos auf den Weg gebracht hatte“
(97). Schön erkennt durch die Auseinandersetzung und die Annäherung die Motive
des Täters, für den das „namenlose Schiff vollbeladen mit Nazis gewesen (war), die
sein Heimatland überfallen“ (97) hatten, was in seinem Vortrag mündet. Grass lässt
seinen Protagonisten Heinz Schön erkennen, dass die Perspektive des Täters im
Moment der Tat auf eine andere gerichtet war als auf die Realität: „Erst durch Heinz
Schön erfuhr er (Kourotschkin), dass nach der Torpedierung mehr als viertausend
Kinder ertrunken, erfroren sind oder mit dem Schiff in die Tiefe gerissen wurden.“
(97) Für viele Überlebende gilt Schön bei dem Treffen in Damp „als Russenfreund“
(97). Während jener jedoch seinem Täter vergeben hat, hört für die anderen „der
Krieg nie“ (97) auf.
Die Prozesse des Durcharbeitens und der Konfrontation auf Seiten des Täters sind
ähnlich schmerzhaft. Pogany-Wnendt verweist auf einen wichtigen Aspekt nach dem
Zerfall der selbstgebauten Subjektivität des Täters1012: „Der Täter hat durch die
Unmenschlichkeit seiner Taten die eigene Würde verraten und die Selbstachtung
verloren.“1013 Um die eigene Würde wiederherzustellen, müsse der Täter die Schuld
bekennen und sich mit seinem Inneren konfrontieren. Auf die Nachricht über die
tatsächlichen Passagiere auf der Gustloff reagiert Kourotschkin mit Alpträumen (97):
Allein „mit der Schuld, mit dem Schrecken über die eigene Unmenschlichkeit, mit
dem Schmerz über das Leid, das er über andere gebracht hat, mit der Trauer über den
Verlust der Selbstachtung und mit der Angst vor der Rache und der Verurteilung“1014
sind die Voraussetzungen gegeben, um Reue, Mitgefühl und die Bereitschaft zur
Wiedergutmachung zu entwickeln.
Täter und Opfer müssen sich dem schmerzhaften Prozess der Trauer unterwerfen, um
sich voneinander lösen zu können: „Unter diesen Umständen würden Opfer und Täter
Vgl. Giessen, Abschnitt „Trauma“.
Pogany-Wnendt, S. 19.
1014
Ebd.
1012
1013
381
jeweils aus eigener Kraft die Autonomie wiedererlangen. Versöhnung und Dialog
könnten möglich werden, das Trauma hätte sein destruktives Potential verloren.“1015
Heinz Schön und Kourotschkin werden in keiner weiteren Sequenz der Novelle
erwähnt. Ihre Verabschiedung aus dem Ensemble der traumatisierten Protagonisten
mit einem Bild, in dem sich beide die Hände reichen (97) indiziert, dass sich der
Zahlmeisterassistent und der Bootsmann für den Prozess der Trauer entschieden
haben. Wie anhand Gadamers veranschaulicht, steht hinter dieser „Verschmelzung“
nicht die Unterdrückung der eigenen Subjektivität, sondern ihre Erweiterung.
Am Ende des schmerzhaften Trauerprozesses, des Durcharbeitens des Traumas und
des Schreckens über „die eigene Unmenschlichkeit“, erfolgt diese „Erweiterung“ im
Sinne Gadamers auch auf psychologischer Ebene:
Wie viele Berichte von Traumaopfern bestätigen, kann es gelingen, auch
schwerste Traumatisierungen zu bewältigen und das Geschehene in die eigene
Lebensgeschichte zu integrieren. Manchmal wird beschrieben, dass es so ist, als
ob ein innerer Frieden geschlossen werden konnte mit dem, was passiert ist.
Erfahrungsgemäß ist es ein langer Prozess, bis jemand an den Punkt gelangt,
dass die Traumatisierung nicht mehr weiter schmerzt und quält. Was es so
schwer macht, ist der notwendige Verzicht auf gerechte Wiedergutmachung und
darauf, `offene Rechnungen´ zu begleichen. Nicht selten sind die Täter auch
nicht bekannt, nicht erreichbar oder schon verstorben. Es handelt sich also um
einen innerlichen Prozess der Verabschiedung von Wünschen und Ansprüchen,
letztlich um einen Verzicht auf etwas gerechterweise dem Opfer Zustehendes.1016
Der gewonnene „innere Frieden“ führt nach dem Sturz aus der Ordnung in das Chaos
wieder zurück in die Ordnung, aber eine gereiftere Ordnung. Schwere
Traumatisierungen stellen die eigene Welt in Frage. Zunehmend wird in der
traumatologischen Forschung das Augenmerk auf das konstruktive Element aus
diesem Zusammenbruch gerichtet:
Nichts ist mehr so, wie es vorher war. Dass es auch zu positiven Veränderungen
nach Traumatisierungen kommen kann, ist wenig bekannt und wird wohl auch
häufig übersehen. Menschen, denen es gelungen ist, eine Traumatisierung zu
bewältigen, berichten nicht selten, dass sie durch diese Erfahrung an
1015
1016
Ebd.
Sack in Lamprecht, S. 105f.
382
persönlicher Reife gewonnen haben. Traumatisierungen führen zu Konfrontation
und Auseinandersetzung mit existenziellen Problemen und Sinnfragen. Durch
Traumatisierungen kommt es zu einer Revision der persönlichen
Lebensphilosophie, von Prioritäten und Zielsetzungen. Diese als
posttraumatische Reifungserfahrung bezeichneten positiven Entwicklungen
werden inzwischen auch systematisch erforscht: Verbesserung
zwischenmenschlicher Beziehungen, Besinnung auf das Wesentliche im Leben,
Verbesserung der Fähigkeiten, mit Alltagsproblemen umzugehen, Sinnfindung
und spirituelles Wachstum, tiefere Wahrnehmung der Natur und Umwelt (zählen
dazu).1017
Diese Art des Durcharbeitens erfordert ein Maß an seelischer Kraft, über die Tulla,
die „femme fatal Langfuhrs“1018, zu verfügen scheint. Die bruchstückhaften
Erzählungen ihres traumatischen Erlebnisses reflektieren in Ansätzen ein
konstruktives Weltverständnis. Streckenweise scheint Tulla selbst das Konstruktive in
der Wiedergabe ihres Traumas zu suchen: „Mutter sagte mir, dass sich bei immer
stärkerer Schlagseite eines der 3-cm-Flakgeschütze vom Achterdeck aus den
Halterungen gelöst habe, über Bord gestürzt sei und ein schon abgefiertes
Rettungsboot, das voll besetzt war, zerschmettert habe. `Das ist glaich neben ons
passiert. Son Glick ham wiä jehabt…´.“ (138f) Es scheint als erahne sie das
konstruktive Potential der Traumabearbeitung: Trotz der Erfahrung hat sie überlebt.
Entsprechend stellt Tulla das äußere Zeichen der Katastrophe, die weißen Haare
„…wie eine Trophäe zur Schau.“ (140) Allerdings bleibt Tulla die Möglichkeit des
Durcharbeitens verwehrt. Niemand in ihrem Umfeld will davon etwas wissen.
Sie zieht sich vor dem eigenen Trauma in ihren Alltag zurück, in dem sie berufliche
Erfolge erzielt. Die prägnante Stellung des Flüchtlings Tulla in ihrer neuen Heimat
nach dem Trauma ist die der „Überlebenden“ (55): „Sie werden zu Überlebenden im
Exil, so wie sie während ihrer Verfolgung Überlebende waren.“1019 Dieser Tatbestand
bringt mit sich, dass viele trotz „ungünstiger Umstände, geringer Mittel und mächtiger
psychischer Barrieren“1020 ihr Leben in einer neuen Heimat meistern. Dabei ist jedoch
die Wahrnehmung und Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse – im Krebsgang
1017
Ebd.
Vgl. Pasche, S. 49.
1019
Varrin in Bohleber, „Trauma“, S. 896.
1020
Ebd.
1018
383
symbolisiert durch die Erfahrung auf der Gustloff - öffentlich außer Acht geblieben.
„Die Gustloff und ihre verfluchte Geschichte waren jahrzehntelang tabu,
gesamtdeutsch sozusagen.“ (31) Hierin kündigt sich nicht der Tabubruch als solches
an. Vielmehr indiziert die Vergangenheitsform ein für die Zeitzeugen vorhandenes
Tabu. Dieses erweist sich als Blockade bei der Traumabearbeitung der deutschen
Opfertäter von Krieg, Städtebombardements, Flucht und Vertreibung sowie von
Nationalsozialismus und Holocaust als Weg zur Erkenntnis (Horizonterweiterung) in
der Zeitzeugengeneration bzw. der Übernahme der historischen Verantwortung in der
Dritten Generation.
384
Gewalt als Auslöser des
Traumas – eine
Schlussbetrachtung
385
…ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran,
dass er seinen bösen Weg verlässt und umkehrt und am Leben
bleibt.
Ezechiel: 33,11
Auf vielerlei Weg und Weise kam ich zu meiner Wahrheit: nicht
auf einer Leiter stieg ich zur Höhe, wo mein Auge in meine
Ferne schweift.
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra,
386
Bereits in dem 1986 erschienenen Roman Die Rättin deutet sich an, dass das
Schicksal der Wilhelm Gustloff und die damit verbundene Thematik Grass
beschäftigen. Dort lässt er Oskar Matzerath vermuten, Tulla sei im Januar 1945 mit
der Gustloff untergegangen.1021 Mehr als fünfzehn Jahre später sind Grass´ Figuren
im Krebsgang in diesem Erlebnis gefangen, indem sie dessen traumatische
Erfahrung nicht durchzuarbeiten vermögen. Über die (unbewusste)
transgenerationelle Weitergabe überträgt sich das Trauma auf die Enkelgeneration,
in der es schließlich zur Katastrophe führt. Im Krebsgang erweisen sich die
unverarbeiteten Erfahrungen von Gewalt (als Opfer) und Gegengewalt (als Täter)
in den Hauptprotagonisten Tulla, Paul und Konny und den Nebenfiguren Gustloff,
Frankfurter und Marinesko als eine Kette aneinander gereihter Glieder, die in eine
sich selbst perpetuierende Destruktion führt. Der unheilvolle Schlusssatz, wonach
es niemals aufhöre (216), erhebt im Umkehrschluss die Frage, ob und wie die
Unendlichkeit der Destruktion im Lebenslauf der Opfertäter zu durchbrechen ist.
Entsprechend dem Bild der Kette bilden Anfangs- und Endpunkt der Novelle
Krebsgang zwei Katastrophen, wobei die erstere die letztere bedingt. Der Erzähler
beginnt seine Geschichte über den Untergang der Gustloff mit dem 1895 geborenen
Wilhelm Gustloff. Diese Eröffnung richtet den Blick zurück auf jene Generation,
die während des Ersten Weltkriegs aufwächst. Spätestens die Verbindung zu Hans
Castrop macht das Datum 1914 zum Ausgangspunkt der Erzählung. Vor diesem
Zeithorizont wird aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, der 1945 endet,
eine Art „Dreißigjähriger Krieg“, der seine Essenz in der Erfahrung von Gewalt
und Gegengewalt durch moderne Waffen hat. Die Fokussierung auf den Aspekt
von Gewalt und Gegengewalt – und das daraus entstehende Trauma - wird durch
die Verknüpfung hin zu der Erfahrung einer neuartigen Gewaltdimension während
des Dreißigjährigen Kriegs zwischen 1618 und 1648 untermauert: „Ich wollte die
Kinder lehren, dass jede Geschichte, die heute in Deutschland handelt, schon vor
Jahrhunderten begonnen hat“.1022
1021
1022
Grass, Die Rättin, S. 83.
Grass, `Wie sagen wir es unseren Kindern´, S. 164.
387
Der britische Historiker Christopher Clark beschreibt die Wirkung der
Gewalterfahrung im europäischen Macht- und Glaubenskrieg des 17. Jahrhunderts
als nachhaltig:
Gräueltaten waren das charakteristische Kennzeichen dieses Krieges. Sie
drücken etwas aus, das sich tief in das Gedächtnis der Bevölkerung eingrub:
die Aufhebung jeglicher Ordnung, die Erfahrung, dass Männer, Frauen und
Kinder der Gewalt schutzlos ausgeliefert waren, einer Gewalt, die völlig
uneingeschränkt und unkontrolliert wütete.1023
Die Erzählungen über extreme Gewalt und Grausamkeit der Soldaten gegenüber
Zivilisten im Dreißigjährigen Krieg, aus denen sich ein eigenständiges literarisches
Genre entwickelte, waren von solcher Eindringlichkeit, dass Historiker versucht
waren, sie als überzogenen Mythos des alles zerstörenden Wütens anzutun. „Der
sensationslüsterne Charakter vieler dieser Gräuelberichte sollte jedoch nicht
darüber hinwegtäuschen, dass sie zumindest indirekt auf den tatsächlichen
Erfahrungen von Menschen beruhen.“1024
Das wichtigste Werk dieses Genres ist der 1668 erschienene, autobiographisch
gefärbte Roman Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch von Hans Jakob
Christoffel von Grimmelshausen (nachfolgend Simplicissimus). Dieser
Schelmenroman, als „erzählerische Darstellung einer Lebensgeschichte“1025 über
Simplicissimus, den sein Weg durch die Wirren jenes Krieges nach einem
Schiffsuntergang auf eine einsame Insel führt, findet in der Novelle Krebsgang
Parallelen. Gleich Simplicissimus ist Tulla „unfreiwillig, vagabundierende
Außenseiterin aus niedrigem Milieu“1026, die „mit moralisch nicht unbedenklichen
(Agieren), (…) aber auch mit Zähigkeit (…) in einer feindlichen Welt
abenteuerliche Gefahren überlebt.“1027 Tulla, die Dinge oft zur falschen Zeit am
falschen Ort sagt („`So ist Tulla schon immer gewesen. Sie sagt, was andere
ungern hören wollen. Dabei übertreibt sie manchmal ein wenig´“, S. 40) erinnert
1023
Christopher Clark, Preußen, München, 2007, S. 54.
Ebd.
1025
Jan-Dirk Müller, `Schelmenroman´, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Klaus Weimar,
(Hg.), Bd. 3, Berlin, 2003, S. 371.
1026
Ebd.
1027
Ebd.
1024
388
an den närrischen Pagen Simplicissimus am Hanauer Hof, der die Anstandsregeln
nicht kennt, allen naiven Glauben schenkt und so die wahren Götter der
Weltmenschen entlarvt.1028 Aus dem „schockartigen Initiationserlebnis“ als
„(t)ypischer Bestandteil“ des Schelmenromans, „das dem Protagonisten die
moralische Fragwürdigkeit und die Bosheit seiner Mitmenschen vor Augen führt
und das dadurch zum Ausgangspunkt der pikaresken Laufbahn wird“1029, geht der
Ich-Erzähler hervor, das Trauma Paul, das untrennbar mit Tulla verbunden ist, was
sich in der Mutter-Sohn-Metapher versinnbildlicht.
In Hundejahre verbringt Tulla nach dem Tod ihres Bruders sprachlos eine Woche
in der Hütte des Hundes Harras, aus dessen Fressnapf sie isst. Der Schock um den
Verlust des behinderten Bruders im nationalsozialistischen System lässt sie selber
Züge eines Hundes annehmen. Die Bezüge im Krebsgang zum Roman Hundejahre
legen ein Grundmotiv nahe, das sich bereits bei dem englischen Philosophen
Thomas Hobbes (1588-1679) und bei Grimmelshausen findet. Durch die
historische Zuordnung des Romans in der Zeit von 1926 und 1962, insbesondere
jedoch 1933 bis 1945, steht der Titel Hundejahre für „keine Menschenjahre“1030,
für eine unmenschliche Zeit. Der Schäferhund als ein vom Menschen gezüchteter
Nachfahre des Wolfes erlangt durch Thomas Hobbes eine universelle Bedeutung:
„Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“1031
Gleiches spiegelt sich in Grimmelshausens Simplicissimus, der inmitten der Wirren
des Dreißigjährigen Krieges lebt. Er ist ein einfältiger Naturbursche, dessen Seele
noch unbeschrieben ist. Als er das Vieh auf der Weide vor den Wölfen beschützen
soll, weiß er nicht was ein Wolf ist. Für die wahren Wölfe hält er schließlich die
entmenschlichten Soldaten, die den Hof seines Vaters zerstören, die Menschen
berauben, foltern, töten und vergewaltigen.1032
Vgl. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“, Berlin,
1984, S. 53-129.
1029
Müller, ebd.
1030
Bernhardt, S. 5.
1031
Rüdiger Voigt, `Der Leviathan´: http://www.staff.uni-marburg.de/~hueningd/lesehobbes.html.
1032
Grimmelshausen, S. 10-16.
1028
389
Diese Unbeschriebenheit findet ihre Parallelität in der jungen Tulla: „Zu meiner
Zeit hatte die etwa zehnjährige Tulla Pokriefke ein Punktkommastrichgesicht“
(55). Hierdurch wird die Entwicklung des Menschen hin zur Gewalt nicht als ein
von Geburt an bestehendes Merkmal evoziert.
Mit besonderer Härte wütete der Dreißigjährige Krieg in der Mark Brandenburg.
Den chaotischen Wirren und der unmenschlichen Gewalt in dieser Region, der
etwa die Hälfte der Bevölkerung zum Opfer fiel, folgt der wegen seiner
militärischen und ordnungspolitischen Funktion in die Geschichte eingegangene
preußische Staat1033:
Das alles zerstörende Wüten des Dreißigjährigen Krieges wurde zum Mythos
– nicht in dem Sinn, dass es keine Entsprechung in der Realität gehabt hätte,
sondern in dem Sinn, dass es sich fest ins kollektive Gedächtnis eingegraben
und dadurch das Nachdenken über die Welt beeinflusst hat. So wurde das
Wüten des religiös motivierten Bürgerkrieges (…) für Thomas Hobbes der
Auslöser, im Leviathan das staatliche Gewaltmonopol als Rettungsanker der
Zivilisation zu feiern. Es sei sicher besser, so Hobbes, die Macht einem
monarchischen Staat zu übertragen, wenn im Gegenzug die Sicherheit von
Person und Eigentum garantiert wird, als mit anzusehen, wie Gerechtigkeit
und Ordnung durch gesellschaftlichen Zwist außer Kraft gesetzt werden.1034
Das Motiv einer Sehnsucht nach staatlicher Ordnungsmacht als eine Reaktion auf
extreme Gewalt und Orientierungslosigkeit lässt sich auch in der Geschichte der
1920er und frühen 1930er Jahre erkennen. Die Gewalterfahrung des Ersten
Weltkrieges, gefolgt von den ordnungspolitischen Wirren der Weimarer Republik
und der wirtschaftlichen Rezession in den 1920er Jahren als Vorgeschichte des
Nationalsozialistischen Regimes wird vor der Schablone der Historie des 17.
Jahrhunderts zur Aufforderung, die Geschichte kontextualisiert mit ihrem Vorher
und Nachher zu betrachten. Dieser Aspekt wird mit dem Titel Im Krebsgang
impliziert: „(…) nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend
vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“ (8f)
1033
C. Clark, S. 58; Anmerkung: Das schlagkräftige preußische Heer macht Brandenburg zu einem begehrten
Verbündeten der europäischen Mächte; die Entmachtung der Stände zugunsten einer absolutistischen
Zentralverwaltung wird zur Grundlage für ein effizientes Beamtentum; das „Edikt von Potsdam“ führte zur
Ansiedlung tausender vertriebener Hugenotten. Vgl. Clark.
1034
Ebd., S. 59.
390
Als Erzähler der kontextualisierten Geschichte wird das Trauma Paul von dem
„Auftraggeber“ wie eine „Fundsache“ aufgespürt. Sprachlosigkeit ist das
hervorstechende Merkmal Pauls, der im Moment der Gewalterfahrung geboren ist. In
der Blechtrommel, in Katz und Maus und in Hundejahre sind Pauls Vorgänger davon
getrieben aufzuschreiben, um offenzulegen und abzutragen. Im Krebsgang stehen
Schuld und Sühne als zentrales Motiv nicht im Vordergrund. Der Treiber, um das
Unaussprechliche aufzuschreiben ist die durch den Untergang traumatisierte Tulla.
Pauls krebsartiges Vorgehen, das Vorher und Nachher des Traumas als dessen Ursache
und Wirkung in ein Narrativ einzubinden, wird somit zum Versuch einer
Traumabearbeitung. Dieser Versuch misslingt, weil Paul die offenen Enden der
Narration nicht zum Ende zu führen vermag. Als besondere Form des Gedächtnisses
verweist das Trauma auf etwas, das dem Gedächtnis notwenig als NichtRepräsentierbar vorausgeht und sich in jeder Repräsentation zugleich mit überträgt.
Die ungeformte Fragmentierung aus Tullas traumatischem Erinnerungsmodus lassen
die Geschichte aufhören, ohne sie zu beenden. Die Empathielosigkeit als ein zentrales
Symptom des Traumas verhindert, dass Paul den (traumatischen) Kern der Geschichte
erkennt. Indem sich das Trauma selbst nicht erkennen kann, kann es sich nicht selber
abwickeln. (7)
Im Gegensatz zu dem abwesend erscheinenden Erzähler, der sich als neutrales
Medium nur selten oder überhaupt nicht in die Handlung einmischt1035, sieht der
Leser im Krebsgang ausschließlich durch die Augen des ständig anwesenden
Erzählers Paul. Während ersteres zur Lebendigkeit und Unmittelbarkeit einer
Erzählung beiträgt, äußert sich letzteres in der Starre und Unerreichbarkeit der
Figuren. Entsprechend „krebst“ Paul um den Untergang der Gustloff, dessen
historisches Vorher und dessen zeitgeschichtliches Nachher sowie den damit
verbundenen Protagonisten. Die Unfähigkeit, in das eigentliche Geschehen der
Gewalterfahrung – das Trauma – einzutauchen, macht es ihm unmöglich,
Erkenntnisse aus seiner Narration zu gewinnen.
1035
Daniel Weidner, Lebendige Erzählung, IASL Online, 01.05.2007, ISSN 1612-0442,
http://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=1653.
391
Im Falle von Traumatisierungen ist der Akt des Deutens, der sich durch das
Sprechen, Träumen, Phantasieren, Erzählen vollzieht, durch die Sprachlosigkeit
beeinträchtigt. Da nicht begriffen werden kann, solange nicht gedeutet ist, kann
sich die Spur einer künftigen Vervollständigung im Sinne eines Erkenntnisgewinns
aus der Verschmelzung von Historie und Gegenwart nicht bilden. Indem das
Trauma aus der Gewalterfahrung nicht verarbeitet werden kann, bleibt die daraus
zu gewinnende Erkenntnis aus.
Indem Tulla das unbewältigte Trauma an ihren Enkel Konny weitergibt, scheint es
sich durch den Mord an Wolfgang Stremplin alias David mit umgekehrten
Vorzeichen zu wiederholen, denn Tulla glaubt, „(i)m Grunde sei die schreckliche
Tat auch ihr schmerzhaft zugefügt worden.“ (179) Pauls Scheitern als Erzähler
manifestiert sich hierin zugleich in seinem Scheitern als Vater. Hätte Paul seinem
Sohn Konny schon früher von der Gustloff erzählt, müsste er diesen „Kinderkram“
jetzt nicht nachholen. Durch Freuds Konzept der Nachträglichkeit („nachholen“)
wird die Übertragung des unbearbeiteten Traumas auf die nachfolgende Generation
hervorgehoben.
Nach dem Treffen der Überlebenden im Damp wird Konny zu Tullas großer
Hoffnung und soll nun jenen Auftrag erfüllen, an dem (das Trauma) Paul
gescheitert ist. Konny will das traumatische Erlebnis seiner Großmutter Tulla, die
als Flüchtlingsfrau aus dem Osten den Untergang der Gustloff als einzige ihrer
Familie überlebt hat, in das Bewusstsein der Gegenwart bringen. Sein Ziel ist es,
eine Gedenktafel für Wilhelm Gustloff anbringen zu lassen – den Namensträger
der traumatischen Erfahrung. Als er mit diesem „demokratisch vorgebrachten“
Anliegen scheitert, versucht er dem Auftrag Tullas auf andere Weise gerecht zu
werden. „Das nächste Mal darfst du auf mich schießen“, ist eine Einladung
Wolfgangs alias David, der er nachkommt. Er begeht den Mord an seinem
„Freundfeind“ Wolfgang, nachdem dieser die „Gedenkstätte“ des Traumas seiner
Großmutter „entweiht“ hat. Indem er den Attentäter des Namensgebers der
Gustloff auslöscht, scheint Konny die Vorzeichen umkehren zu wollen und das
392
Geschehen retrospektiv ungeschehen zu machen. Im Rollenspiel als Wilhelm
Gustloff wird er selbst zum Mörder, der dem Mord an seiner Person zuvorkommt,
indem er den Täter tötet.
Damit nachfolgende Generationen der zivilisatorisch-evolutionären Aufgabe des
Erkenntnisgewinns aus einer gewaltsamen Geschichte gerecht werden können
(historische Verantwortung), bedarf es der Bearbeitung der Traumata aus dieser
Geschichte. Der Übertrag von Tullas unbearbeiteten Trauma an Konny reflektiert
sich in Eric Santner Schlussfolgerung: „Die (nachfolgende) Generation erbte nicht
nur die unbetrauerten Traumata ihrer Eltern, sondern auch die seelischen
Strukturen, die die Trauerarbeit der älteren Generation überhaupt erst verhindert
haben.“1036
Um ein Trauma durchzuarbeiten, bedarf es der Öffentlichkeit. Allerdings bleibt
Konny diese Öffentlichkeit als Plattform, auf der er sein Inneres im Äußeren
reflektieren könnte, verschlossen. Anders als Joachim Mahlke aus Katz und Maus,
der während seines Heimaturlaubs einen Vortrag über seine Heldentaten als
Panzerschütze an seiner Schule halten will, möchte Konny detailliert über den
Untergang der Gustloff - das traumatische Erlebnis seiner Großmutter - berichten.
Gleich Mahlke bleibt auch Konny der Auftritt in der Schule versagt, nicht wegen
des Diebstahls eines symbolträchtigen Gegenstands, sondern um sich der
vermeintlichen Anfänge zu „erwehren“. Im Krebsgang ist es der Protagonist
Konny, der bestohlen wird: Er ist beraubt um seine Gegenwart, weil ihn die
Vergangenheit seiner Großmutter fest im Griff behält und ihm die Öffentlichkeit
keine Fläche bietet, um sich dieses Erbes zu entledigen. Konnys Eltern nehmen
zwar die Schuld für sein Schicksal an, flüchten jedoch in vermeintlich bessere
Welten (Gabis neuer Hausfreund - 213) bzw. die Negierung der eigenen Existenz
(„Ach, wäre ich, der Vaterlose, doch nie Vater geworden!“ - 184)
Schließlich kommt es am Ende „dicker als befürchtet“ (216). Konnys „in sich
schlüssiger Ideologie-Wahnsinn (…) (wird) von vermeintlich Gleichgesinnten
1036
Eric Santner zitiert in: Schlant, S. 27.
393
bereits zur Ersatzreligion verklärt (…), ganz zeitgemäß, im Netz. Vorerst rein
virtuell mutiert Konny unter www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de zum
Märtyrer, Messias, Führer einer sich kämpferisch gebenden Bewegung.“1037 Nicht
nur drängen sich „Analogien zu anderen Verblendungslehren auf“.1038 Vielmehr
weist der Schluss zurück in die Anfänge des Führer-Mythos, der einst Kern des
Erfolgs der NSDAP gewesen ist.1039 Tatsächlich scheint sich nun die
unverarbeitete Geschichte zu wiederholen, gleich einem traumatisch getriebenen
Wiederholungszwang im Sinne Mitscherlichs1040.
Die Novelle Im Krebsgang offenbart die Folgen einer Übertragung der Denk- und
Handlungsmechanismen der Eltern- und Großelterngeneration auf die Dritte
Generation. Diese Mechanismen verhindern, die Geschichte der Zeitzeugen in
ihrer Ambivalenz und ihrem Kontext zu erfassen – im Falle der Traumatisierung
erfolgt die Narration fragmentiert und kreist um das ewig Gleiche. Insbesondere
die Ambivalenzen der Historie bedürfen neben einer kognitiven auch einer
sinnlichen Wahrnehmung durch die Dritte Generation. „Das Verstehen ist selbst
nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken
in ein Überliefungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart
beständig vermitteln.“1041 Im Krebsgang jedoch waren „(d)ie Gustloff und ihre
verfluchte Geschichte (…) jahrzehntelang tabu, gesamtdeutsch sozusagen.“ (31)
Die Vergangenheitsform, die ausschließlich die Zeitzeugen zu betreffen scheint,
indiziert das Aufbrechen dieses bislang blockierten “Überlieferungsschemas“ in
der Epoche der Dritten Generation.
Beide Katastrophen, der Untergang der Gustloff und der Mord an Wolfgang alias
David sind zeitlich im 20. Jahrhundert verortet. In seinem Werk Mein Jahrhundert
blickt Grass auf diesen Zeitrahmen zurück. Die “Retrospektive” verbleibt jedoch
im Fragmentarischen, worin Rüdiger Görner eine unbotmäßige Distanz erkennt:
1037
Stolz in Honsza, Swiatlowska, S. 242.
Ebd.
1039
Vgl. Abschnitt „Nationalsozialismus“.
1040
Vgl. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 82f.
1041
Gadamer, S. 295.
1038
394
„In this fragmented narrative every event becomes `gleichgültig´, that is to say it
acquires the same value as the other, and thus ceases to concern us.”1042 Im
Krebsgang blickt Grass durch die Figuren Konny und Wolfgang, die
Repräsentanten der Dritten Generation, in die Zukunft. Seine Vorausschau
verfinstert sich in dem Mord an Wolfgang alias David. Doch zugleich schimmert
in dieser Düsternis, manifestiert in dem Scheitern der Protagonisten, eine Botschaft
durch: „Gerade das Scheitern im Versuch, die eigene Geschichte zu ordnen, könnte
nämlich für das Publikum interessant sein, da im Scheitern die Dringlichkeit der
für jeden Menschen anstehenden Aufgabe besonders deutlich aufscheint – und so
vom Extrem des Scheitern her gesehen auch den weniger stark Belasteten bei der
Verfassung der eigenen Lebensgeschichte hilfreich sein kann.“1043 Hierin spiegelt
sich zugleich Lacans Aufforderung der „Reformulierung“ als Prozess des
Durcharbeitens wider.
Die erste öffentliche Plattform im wiedervereinigten Deutschland wird der
traumatisierten Tulla dreiundsechzig Jahre nach dem Untergang der Gustloff bei
dem Prozess um Konnys Mordtat gewährt. Sie soll Zeugnis ablegen. Das
„weißlodernde Haar“ der „magersüchtige(n) Diva“, die von einem „farbigen Fell“
(179) umringt ist, gibt ihr die Erscheinung eines Propheten. Sie redet wie zu einer
„Pfingstgemeinde“ (ebd.) und bedient sich dabei apostolischer Bilder: sie spricht
von einer „riesigen Faust“, die sie zerschmettert, von einem „feurigen Schwert“,
das sie zerteilt (180). Der Beginn der Apostelgeschichte lautet:
Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort
beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von
einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und
es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie vom Feuer; und er setzte sich auf
einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und
fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab
auszusprechen.1044
Görner, `Grass´s Century´, Rezension: Günter Grass, Mein Jahrhundert, “Times Literary Supplement”,
8.10.1999.
1043
Fricke, S. 247.
1044
Apostelgeschichte 2, 1-4.
1042
395
Der Ort, an dem alle „beieinander“ sind, findet sich im Prozesssaal Konnys; das
„Brausen vom Himmel“ erinnert an die von Tulla geschilderte „riesige
zerschmetternde Faust“; die „wie vom Feuer zerteilten Zungen“ finden ihre
Parallele im „feurigen Schwert“, von dem Tulla glaubt, zerteilt zu werden; und
schließlich spricht Tulla im Zeugenstand während der Verhandlung Hochdeutsch,
gleich den Predigern, die plötzlich in „anderen Sprachen“ sprechen. Der Geist, der
Tulla „gibt auszusprechen“, ist der des Traumas.
Entsprechend der griechischen Bedeutung von Pfingsten - „der fünfzigste Tag“ –
sitzen dem Prozess fünf Urteilssuchende vor, drei Richter und zwei
Jugendschöffen. Wolfgang Stremplin alias David ist mit vier Schüssen ermordet
worden. Mit dem Tod Jesus am Kreuz beginnt die Apostelgeschichte. Sie wird
durch Paulus verkündet, der die Botschaft Jesus verbreitet. In dem Erzähler (und
Trauma) Paul als Kurzform für Paulus findet sich die Parallele hierzu. Durch das
Pfingstfest wird im christlichen Glauben das von Jesus angekündigte Kommen des
Heiligen Geistes gefeiert. Im jüdischen wie im christlichen Glauben hat Pfingsten
die Bedeutung der Offenbarung und Verkündung.1045
Bereits im Alten Testament wird der Erzählprozess durch die Trauer um das
verlorene Land Juda initiiert und im Erzählen seine vergangenen – wie vor
allem zukünftig erwartete – Gegenwart beschworen. (…) Auch im Neuen
Testament setzt der Erzählprozess, der schließlich in der Konzeption der
Evangelien mündet, aus Trauer um das verlorene Objekt Jesus ein. Seine
Gegenwart wird im Erzählen erneuert und bestätigt.1046
Bei dem Treffen der Überlebenden in Damp erscheint Konny „wie eine Mischung
aus Konfirmand und Erzengel. Er trat auf, als habe er eine Mission zu bereiten, als
werde er demnächst etwas Erhabenes verkünden, als sei ihm eine Erleuchtung
zuteil geworden.“ (96) Ihm soll gelingen, was seinem Vater Paul nicht gelang. Am
dritten Tag nach der Kreuzigung holt der Erzengel Gabriel Jesu aus dessen Grab.
1045
Anmerkung: Das christliche Pfingstereignis hat nach Apg. 2, 1 am jüdischen Fest Schawout
stattgefunden. Dieses Fest feiert die Offenbarung der Tora an das Volk Israel und gehört zu den Hauptfesten
des Judentums.
1046
Heide Rohse, `Trauern – Erinnern – Erzählen, Marie Luise Kaschnitz Geschichte Adam und Eva und die
biblische Erzählung von Paradies und Vertreibung´, S. 227-240 in Mauser, Pfeiffer, (Hg.), Trauer, S. 237.
396
Die Auferstehung ist der Anfang einer neuen Religion. Konnys Mutter „Gabriele,
die von jedermann Gabi genannt wurde“ (42), ist jedoch nicht die Wegbereiterin
einer neuen Religion. Vielmehr sagt sich ihr Sohn von ihr los. (213)
Tullas zwanghafte Erinnerungen an die Gustloff kreisen um die „ertrunkenen
Kinderchen“ (140). Sie symbolisieren die Zukunft, die mit deren Tod gestorben ist.
Das Neue, das nach dem Tod des Alten kommt, manifestiert sich in der geretteten
Tulla. Allerdings kann das Neue nicht entstehen, weil die Vergangenheit jenen
Raum einnimmt, der der Gegenwart und der Zukunft gehört.
Vergangenheitshorizont und Gegenwartshorizont können nicht miteinander zu
einer Erweiterung verschmelzen.
Das Neue bleibt im Krebsgang versagt. „Traumatisierte erwarten weitere
Katastrophen und ihre Zukunftsperspektive ist in ihrer Ausdehnung eingeschränkt.
(…) Das Urvertrauen bezieht sich auch auf die Zeitperspektive, und mit seiner
Zerstörung durch das Trauma gerät für den Traumatisierten auch die Zeit aus den
Fugen.“1047 Tatsächlich hört „es“ somit niemals auf. Im Umkehrschluss daraus
ergibt sich als Botschaft Pauls die Aufforderung zur Wendung: die öffentliche
Sprachlosigkeit über das Trauma gilt es aufzubrechen, um durch Verschmelzung
des Vergangenheitshorizonts und des Gegenwartshorizonts zu einer Erweiterung
zu gelangen und so der historischen Verantwortung aus der Geschichte Folge
leisten zu können.
Vor diesem Hintergrund lässt sich der Mord an Wolfgang alias David aus einer
anderen Perspektive betrachten. Im Abschnitt des Römerbriefes über „Sterben und
Leben mit Christus“1048 heißt es:
Heißt das nun, dass wir an der Sünde festhalten sollen, damit die Gnade
mächtiger werde? Keineswegs! Wie können wir, die wir für die Sünde tot
sind, noch in ihr leben? (…) Wenn wir nämlich mit der Gestalt seines Todes
vereinigt worden sind, dann werden wir es auch mit der Gestalt seiner
1047
1048
Bohleber, „Trauma“, S. 828.
Röm 6.
397
Auferstehung sein. Das wissen wir: unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt,
damit der Leib der Sünde vernichtet wird und wir nicht Sklaven der Sünde
bleiben. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. (…)
Ebenso urteilt über euch selbst: ihr seid tot für die Sünde, aber ihr lebt für
Gott in Christus Jesus.
Zu der Konsequenz, die sich aus der „Sünde“ ergibt, heißt es:
(…) ihr seid entweder Sklaven der Sünde, die zum Tod führt. Oder des
Gehorsams, der zur Gerechtigkeit führt. Gott aber sei Dank; denn ihr wart
Sklaven der Sünde, seid jedoch von Herzen gehorsam geworden und habt
jene Lehre angenommen, an die ihr übergeben wurdet: befreit aus der Macht
der Sünde, seid ihr zu Sklaven der Gerechtigkeit geworden (…) Wie ihr eure
Glieder in den Dienst der Unreinheit und der Gesetzlosigkeit gestellt habt, so
dass ihr gesetzlos wurdet, so stellt jetzt eure Glieder in den Dienst der
Gerechtigkeit, so dass ihr heilig werdet.1049
Das Prinzip der „Sünde“, des „Bösen“ als Auslöser von „Gnade und
Gerechtigkeit“, des „Guten“, findet sich in umgekehrten Vorzeichen zugleich in
Nietzsches Spielart des „letzten Menschen“: „`Wir haben das Glück erfunden´,
sagen die letzten Menschen und blinzeln.“1050 Sie lullen sich bescheiden in ein
illusionäres Glück´- das „`grüne Weideglück der Herde´ - ein und schließen die
Augen (`blinzeln´) vor dem Licht jeglicher Erkenntnis, durch die ihre beschauliche
Ruhe gestört werden könnte. Sie haben schließlich, wie Becketts allerletzte
Menschen, nichts mehr zu tun, als auf das Ende zu warten, das Leben hat keinen
Sinn mehr.“1051
Aus Paulus Römerbrief und Zarathustras Vorrede lässt sich ein und dieselbe
Folgerung ziehen: zuerst muss das (destruktive) Falsche sterben, bevor die
(konstruktive) Erkenntnis geboren werden kann - ohne Destruktion keine
Konstruktion. Grass’ Protagonistinnen Tulla („Was in ons drinsteckt im Kopp ond
ieberall, das Beese muss raus…“ – 212) und Jenny („Das ist das Böse, das
rauswill.“ – 211) scheinen als einzige Figuren im Krebsgang das Böse als Teil des
Guten akzeptieren zu können. Sie verfügen damit über die Grundbedingung, das
1049
Ebd.
Zarathustra, S. 553.
1051
Kopf, S. 15.
1050
398
eigene Leiden als Teil des Lebens anzunehmen. Wo die Akzeptanz gegenüber dem
Leiden zur persönlichen Integrität gehört, besteht Offenheit gegenüber der
Konfrontation mit schmerzhafter Trauerarbeit. Bei der Arbeit an der Erinnerung im
Trauerprozess kann so das Verbindende anstatt das Trennende in den Vordergrund
rücken.
399
Anhang
400
Bibliographie
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