Kapitel-21

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21. Kapitel
Der Odem Gottes
Am 12. Dezember – dies war ein Freitag – fünf Tage nach der Ermordung Noah Whelmsleys,
erreichte mich eine Nachricht von Dr. Gaddison - der Junge aus der Nachbarschaft, den ich
auch selber schon verschiedentlich zu Botendiensten herangezogen, brachte den Zettel. Die
erste Nachricht lautete, daß Kirby - Wayne Leonard Kirby! - mit seiner Truppe in London
eingetroffen war, schon am Tage nach Whelsmleys Ende. Dies war ein guter Bescheid. Sie
hatten sich Zeit gelassen von Cornwall, hatten geforscht und versucht, die Banditen auszufinden, hatten sie nicht überholen, verpassen wollen, hatten die Spur des Todes aufgenommen,
quer durch Cornwall, Devon, Somerset, und Wiltshire – hatten die toten Neger in den Brunnen und Scheunen und am Wegrain versorgt – viel Arbeit, grauenvolle Arbeit. Gewiß, sie
waren zu spät gekommen für die Ereignisse in London – nun gut, offen gesagt – vermutlich
hätten sie sie auch bei rechtzeitiger Anwesenheit nicht verhindern können.
Die zweite Nachricht war, daß sie in der Zwischenzeit Dr. Copeland aufgetan, und zwar, man
mochte es kaum glauben, im ‚Bethleham Royal Hospital for The Insane’. Das verblüffte mich
über die Maßen, zugegeben. Daß jemand in einem Maße wie er vom Wege der Normalität
gewichen und in einer heillosen und unbeschreiblichen Orgie der Gewalt, in einem gottlosen
Zug des Verhängnisses ein Dutzend oder mehr Menschen – Sir Enid Luciter in der Mine,
Giovanni Battista Condonniere, etliche Negersklaven, meinen Freund Sebastian – auf dem
Gewissen hatte … daß so jemand hernach einfach ans Tagwerk seines alltäglichen Berufs und
an seine reguläre Wirkungsstätte zurückkehrte, als sei buchstäblich nichts geschehen - dies
wäre das letzte gewesen, das ich erwartete, und es war mir obendrein, als es nun geschehen,
schlicht unbegreiflich. –
Wie immer dem sei, Kirby ließ mir mitteilen, schrieb Dr. Gaddison – er, Kirby, gehe davon
aus, daß ich doch vermutlich ein gerechtes Interesse hätte, dem Ende und der Unschädlichmachung dieses beispiellosen Verbrechers beizuwohnen, und wenn dem so sei, daß ich mich
bittesehr des Nachmittags um drei im Bedlam einzufinden habe. Diesen Zettel erhielt ich
morgens um zehn, es war also mehr als genug Zeit, der Aufforderung nachzukommen.
Ich zog mich zum ersten Mal seit Tagen wieder so an, daß ich unter Menschen gelitten sein
würde. Die Kleidung saß mir etwas weit, aber das ging in Ordnung. Ich sagte Mrs. Hamlet, sie
solle sich keine Sorgen machen, wann auch immer, ich käme zurück. Ich ging in das Wirtshaus, in dem ich vor fünf Wochen schon einmal gewesen, an dem Tage, als ich Franklin Stifel
in der Frith Street aufgesucht und bevor ich nach ‚Morass Manor eingedrungen war, und
nahm eine Mahlzeit voller Köstlichkeiten zu mir, Krebse wie in Mousehole und einen Stew,
wie Jane Pinnick ihn bereitet. Hinterher machte ich mir etwas Sorgen, daß ich das Mahl übertrieben haben könnte, aber mein Magen ließ mich nicht im Stich. Ich sparte das Geld für einen
Wagen, sondern schlenderte zu Fuß den ganzen Weg nach Southwark hinüber, verweilte eine
Stunde auf der Brücke und schaute auf das Treiben im Fluß - trotzdem war ich noch gut vor
der Zeit.
Ich fand das Bedlam unverändert, das große, rote, quergestreckte Gebäude mit den Pegasussen auf dem Dach und der Gloriette davor, der Park, die Schranke und der Wärter unten am
Eingang, sogar das Wetter war annähernd das nämliche, ein hoher lichter Himmel und bei
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weitem nicht mehr so kalt wie in der fürchterlichen Nacht vor acht Tagen, wo ich auf der Isle
of Dogs gewesen.
Ich ging gemächlichen Schrittes hinein, klomm über die Stufen der Gloriette, trat vor bis zur
bronzenen Eingangstüre, wo die zwei nettgekleideten Wächter in Schürzen warteten und jeden musterten, der hinein- und hinausging. Es war um diese Tageszeit deutlich weniger Verkehr als seinerzeit an dem Abend, da ich das erste Mal hiergewesen. Als sie mich fragten, was
ich wolle, sagte ich wahrheitsgemäß, daß ich hier mit Wayne Leonard Kirby und seinen Leuten verabredet sei. Sie konnten mit dem Namen sichtlich nichts anfangen, ließen mich jedoch
ohne zu zögern hindurch, mit dem Hinweis, mich drinnen am besten an die Aufseherin zu
wenden, die gegenüber an einem Katheder unter der großen Uhr sitze.
„Jaja“, sagte ich, denn das wußte ich ja alles.
Ich ging hinein und sah die große Halle wieder, die mich an die einer Bank gemahnte, gewahrte das Katheder mit der Aufseherin wieder, es schien mir fast dieselbe wie damals, die
gestandene Dame, die mich von ferne an Mrs. Hamlet erinnerte, und oben darüber die Uhr mit
ihren römischen Ziffern. Ich schaute mich in der weiten Halle um, sah mir die wenigen Menschen an, die da waren, die dort standen oder auf den Bänken linkerhand hockten, wo ich damals mit Ambroise Tardieux im Gespräch gesessen. Ich konnte mit Sicherheit ausschließen,
daß Kirby oder irgendeiner seiner Leute hier war, sie hätten mir in ihrer schwarzen Lederkleidung unzweifelhaft auffallen müssen. Ich musterte die Halle eingehend genug, um beschwören zu können, daß ich selbst jemanden wie Bo Swensson entdeckt hätte, wenn er denn dagewesen wäre – aber es war niemand von ihnen anwesend.
Ich war zu früh, ich hatte es ja gewußt. Ich beschloß wieder hinauszugehen und setzte dies
sofort in die Tat um. Als die Wächter am Eingang mich prüfend anblickten, zuckte ich die
Schultern. Ich schlenderte in den Park hinein, gab mir keine sonderliche Mühe, einen bestimmten Weg zu finden und fand mich dennoch mit einem Male der nämlichen Bank gegenüber, auf der ich vor anderthalb Monaten schon einmal gesessen. Fast muß ich wohl gelächelt
haben, als ich dort hinüberging und mich auf ihr niederließ wie zuvor. Ich schaute in den
Himmel und dachte wohl im Grunde nichts – so ist auch nichts darüber zu berichten. Zeit
verstrich, ich weiß nicht wie viel, dann sah ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Jemand
kam langsam, an einem Stock gehend, den Weg herauf.
Ich drehte den Kopf und sah zu meiner Überraschung, daß es der nämliche alte Mann war,
den ich auch damals auf dieser Bank getroffen - das ebenmäßige, schmale, in sich ruhende,
fast heitere Gesicht, das schüttere, weiße Haar, die Erscheinung, die mich gemahnte, daß so
heute mein Vater wohl hätte aussehen können, wäre er nicht vor langen Jahren mit seinem
Schiffe untergegangen. Er wirkte indessen, anders als der Vater, recht wohlhabend, es mußten
ein guter Schneider, ein erster Schumacher, ein exzellenter Handschuhmacher sein, die ihn
eingekleidet, Beinkleider und Schuhe waren kostspielig ausgesucht, der Stock mit goldenem
Knauf versehen, Halstuch, Handschuhe und Pelerine aus feinstem Gewebe. Ganz recht, es
war die nämliche Erscheinung, und ohne Hut, wie damals – und dies – das wurde mir nun klar
– war seine Bank, deshalb kam er hierher.
Und ich entsann mich Wort für Wort jener Unterredung, die wir hier gehabt: wie er mich hatte
trösten wollen, wie er mir, als ich geweint, sein Taschentuch geliehen, jenes mit den Initialen
B.R.H., die ich zuerst seinem vermeintlich hohen Namen zugeordnet und von denen ich erst
mit Verzögerung begriffen, daß sie nur ‚Bethleham Royal Hospital’ bedeuteten – das Taschentuch, das noch am gleichen Abend das Blut von Rosetta Manderlay benetzt hatte und
das ich immer noch besaß, heute aber natürlich nicht bei mir führte. Ich entsann mich wie wir
etwas aneinandergeraten, der alte Mann und ich, ob der Beurteilung Dr. Copelands – nun, im
Nachhinein, dachte ich bitter, hatte sich die meine doch wohl als die richtigere erwiesen! Wie er mir seinen Namen nicht hatte nennen mögen mit Rücksicht auf seine Familie – wie er
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mich davor gewarnt, weiter nach dem Mädchen zu suchen, wie er am Schluß unserer Konversation schrecklich geweissagt, daß ich das Mädchen, von dem ich damals noch nicht gewußt, daß sie Auberge hieß, am Ende der Geschichte töten würde – oh, gräßlicher Moment –
und mich fröstelte. Jetzt war Auberge tot … und wieweit war ich es wirklich, der sie getötet?
Der alte Mann ging an mir vorbei und musterte mich, dann setzte er sich aufseufzend an das
andere Ende der Bank und stützte seine Hände wie damals auf den goldenen Knauf seines
Stockes.
„Jaja“, sagte er und nickte mir zu. „So sehen wir uns wieder, junger Mann.“
Ich war zu Tode überrascht, entsann ich mich doch auch noch dessen sehr genau, wie er, als
ich während meines Gesprächs mit Ambroise Tardieu, also eine herzlich kurze Zeit, nachdem
er mir das Taschentuch geliehen, es ihm hatte zurückgeben wollen und behufs dessen in der
Halle auf ihn zugetreten war, als er hereingekommen, wie er sich bereits nach so kurzer Zeit
meiner gar nicht mehr entsonnen und nur noch lautere Rätselhaftigkeit und Unverständliches
von sich gegeben, von Mädchen, die aus dem Sumpf gekrochen kämen, von Flüssen, die man
durchwaten müsse und wer am Ende den Fährmann bezahlen solle. Ich bekam jetzt noch eine
Gänsehaut, wenn ich nur daran dachte.
„Darf ich Sie willkommen heißen, Sir – hier in den Gärten der Zeit, den Gefilden der Zukunft,
auf der Sandbank des Todes. Denken Sie, wie schön es ist - ein Sonnenuntergang am lauen,
leeren Meere, still und verlassen und allein, fernes Rauschen, wo in leeren Becken der Sand
verrinnt, an leeren Häusern der Efeu blüht. Gehen Sie nur die stillen Pfade, Sir. Doch hüten
Sie sich vor dem blauen Mond, der über den Abgrund steigt, sobald nur das Einhorn verschwindet. Schließen Sie das Fenster, summen Sie die Melodie und bergen Sie sich vor dem
gährenden Schatten, der bei Nacht aus Ihren eigenen Zähnen kriecht. Das ist alles, was ich
Ihnen raten kann.“
So etwa hatte das gelautet, was er gesagt, und erneut fröstelte es mich, denn auf irgendeine
verrätselte Art bekam dies im Nachhinein alles halbwegs einen Sinn, nicht nur die Erwähnung
des Einhorns, sondern das Meer, die Melodie am Fenster, die Schatten der Nacht … Sonderbar …
„Sie wundern sich, daß ich mich erinnere“, sprach der alte Mann. „Ich muß daraus schließen,
daß wir uns zwischendurch abermals getroffen - ein Treffen dies jedoch indessen, dessen ich
mich leider nicht entsinne …?“ Er lächelte. „Verstehen Sie, das ist das Problem. Es hat nichts
mit dem Alter zu tun. Es trat bereits auf, als ich ein junger Mensch war.“ Er machte eine vage,
traumverlorene Bewegung mit der Hand. „Gott hat mir nur die eine Hälfte meines Lebens geschenkt, verstehen Sie, junger Mann“, sagte er leise. „Mein Geist kommt und geht wie die
Ebbe und die Flut. Zwischendurch gibt es Zeiten der Leere, da verrinnt alles, was ich bin, im
Sand. Da erinnere ich mich an nichts, nicht einmal an mich selbst. - Inzwischen bin ich alt, ja,
das ist wahr, und ich habe niemanden mehr um mich, den dies stört – deshalb bin ich seit so
vielen Jahren hier – aber zu Zeiten, als ich ein junger Mensch gewesen wie Sie, mein Freund,
war dies eine bittere, eine über die Maßen schauerliche Erfahrung: Einzutauchen, wegzutauchen, nicht mehr zu existieren, fort zu sein ohne eine Erinnerung an ein geliebtes und liebendes Weib, an bezaubernde Kinder … Zeit verloren zu haben an ein schreckliches großes
Nichts, an einen unheimlichen Schlauch oder Trichter ins graue Nirgendwo – keine Erinnerung zu haben an das Verflossene, wenn ich wiederkehrte.“
„Aber Sie können nicht sagen“, erhob ich Einspruch, „daß sie niemanden hätten. Im Gegenteil: Sie wollten mir damals Ihren Namen nicht nennen, mit Rücksicht auf Ihre Familie, die
das nicht so gerne sähe, wenn Sie ihn herumträtschten – so gagten Sie. Also haben Sie jemanden: Ihre Familie …“
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„Sagte ich so?“ erkundigte er sich, leise, erstaunt und milde lächelnd. „Nun, das sind Phasen
… Manches Mal erinnere ich mich an dieses … manchmal an jenes … das wechselt, mein
Freund, ich bedaure sehr.“
Er saß am, anderen Ende der Bank, ein alter und irgendwie weiser Mann, dessen Auge in
Trauer und gleoichzeitig Erlösung zu leuchten schien, edel gekleidet, ein Mensch von Reichtum und Umgang.
Er lächelte mich an. „Vor Zeiten“, sagte er, „hatte ich meinen Sitz wie alle anderen meines
Ranges – und von Geburt - im Oberhaus als ordentlicher Peer, als Lord. Sie, junger Mann,
hätten mich ansprechen müssen mit ‚The Right Honourable’. Mein Name ist, nun, vielleicht
besser: mein Name war … Bernard Richard Hanson, ehemaliger Earl of Chichester in Sussex.“
Einen Augenblick, einen kleinen Augenblick lang … wollte ich es einfach seiner Geisteskrankheit zuschreiben, wovon er mir hier sprach – es gab so viele, die sich für den Lordprotektor hielten oder ein illegitimes Kind des spanischen Königshauses -, bevor mir glühend
klar wurde, daß es wohl nur die pure Wahrheit sein mußte, die er hier sprach. Bernard Richard
Hanson … BRH … war es wohl wahrscheinlich, daß das Bethleham Royal Hospital for The
Insane seine Insassen mit Taschentüchern mit eingestickten Monogrammen ausstattete?! „Ich sehe, daß Sie grübeln, junger Mann“, sprach er und lächelte milde. „Daß Sie sich fragen,
ob der alte Mann eine Geschichte erfindet oder sie sich am Ende mit seinem kranken Geist
sogar wirklich einbildet, die gleichwohl von der Wahrheit so viel hat wie ein Herbsttag von
der Pastellpracht des Fühlings …“
„Warum sind Sie hier und nicht auf Ihren Ländereien unten an der Küste?“ erkundigte ich
mich, „ganz gleich, wie Ihr Zustand sein mag? Sie sind ein reicher Mann – Sie haben
Rechte!“
„Welchen Ländereien?“ fragte er zurück. Und als ich nicht antwortete, hob er die Hand vom
Knauf seines Stockes, hielt sie sich mit der Fläche nach oben ausgebreitet dicht unter das
Kinn und blies einmal sanft darüber hinweg.
„Wenn ich immer dagewesen wäre in meinem Leben“ sagte er, „immer bei mir und mir bewußt gewesen, hätte ich vielleicht etwas dagegen unternommen, als man sie mir wegnahm.
Vielleicht hätte ich auch nichts dagegen unternehmen wollen, wer weiß. Jetzt habe ich noch
ein Legat, das genügt, und das wird von einem Notar verwaltet.“
Er blickte in den hellen Himmel des sinkenden Nachmittags.
„Ich kann Ihnen mit Sicherheit sagen, ich habe keine Familie mehr, mein Freund. Ich hatte
einst ein Weib, ein köstliches herrliches Weib, das ich liebte … und zwei Kinder, zwei Töchter, Zwillinge, aber diese habe ich nie gekannt, weil ich sie fortgegeben. Ich hatte einst ein
Weib. Aber was würden Sie mit einem Manne machen, was würden Sie mit seinen Ländereien machen, was würden Sie mit ihm machen, was soll er mit sich selbst machen … was
würden Sie machen, wenn dieser Mann seine Frau, die er abgöttisch liebt, ermordet … und er
weiß hinterher nicht einmal warum und kann sich obendrein der Tat nicht im mindesten erinnern … Welche Konsequenzen würden Sie ziehen, wenn Sie Bernard Richard Hanson, der
Earl of Chichester wären?“
„Sie …“ fragte ich stockend, „ … Sie meinen, Sie hätten Ihre Frau ermordet?“
„Vor vielen Jahren“, sagte er.
„Aber … wenn Sie sich gar nicht erinnern … könnte es nicht sein, daß jemand anders … nur
Ihre Lage ausgenutzt und selber …“
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„Es gibt Dienstboten“, erklärte er sanft, „die ihr Teil gesehen … gute Menschen, denen nicht
daran gelegen ist, Ihnen eines auszuwischen, mein Freund, Menschen, denen die Tränen des
Schreckens über das Gesicht laufen und die dennoch einen Eid schwören auf die Wahrheit,
deren sie mit eigenen Augen Zeuge wurden. - Traurig, aber wahr, mein Freund: Ich kann Ihnen den Grund nicht nennen, warum ich es tat – es gab keinen, denn ich liebte sie – aber so
sicher, wie jeden Morgen die Sonne aufgeht, so sicher bin ich dafür verantwortlich, daß mein
geliebtes Weib unter meinen Händen zu Tode kam, kaum daß die Mädchen geboren waren ...
So ist dies geschehen, vor vielen Jahren, fern unserer heimischen Küste.“
„Fern unserer heimischen Küste?“ fragte ich, und mir war, als ob mich eine unsichtbare, kalte,
ferne Hand anrühre.
„Sie werden es nicht kennen“, sagte er. „La Roche Guyon in Frankreich …“
„Am Unterlauf der Seine“, stieß ich hervor.
„Oh!“ – er war verwundert.
„Nein, ich kenne es nicht“, beieilte ich mich zu erklären, „ich kenne es nur aus Erzählungen.
Ich weiß, daß es ein Schloß dort gibt … und Zinnminen …“
„Das Schloß der La Rochefoucaults“, nickte er versonnen. „Dort waren wir zu Gast, sie hatten
uns eingeladen – und es war eine köstliche Zeit, solange, bis es geschah … bis es geschah …“
„Was geschah mit ihren Kindern nach der Tat, mit den Säuglingen, meine ich, mit den beiden
Töchtern?“ fragte ich drängend.
Er musterte mich traurig und weise. „Sie sind ein liebender Ehemann und Vater, mein
Freund“, sagte er. „Und soeben haben Sie Ihre Frau getötet. Jetzt erhebt sich die Frage, was
mit den hilflosen Säuglingen passieren soll. Würden Sie sie weiteren Gefahren … von Ihrer
Seite aussetzen?“
„Sie haben Sie weggegeben“, murmelte ich.
„Ich gab sie im Wirtshaus des Ortes ab beziehungsweise ich ließ sie vom Personal dorthin
bringen. Das war grausam, unmenschlich, das war schrecklich – den Schmerz in meiner Seele
mögen Sie sich ausmalen. Aber es war sicherlich besser, sie auf diese Weise auszusetzen als
sie weiter der Verantwortung dieses Menschen … dieses Vaters zu überlassen, dessen Geist
kam und ging, dessen Geist kommt und geht wie der Tag und die Nacht …“ Er sann einen
Augenblick nach. „Ein reicher Landsmann“, sagte er, „nahm sich ihrer an, hörte ich – ich
hatte meine Spione - dessen Namen ich indessen niemals wissen wollte - und den ich nie erfuhr. … Und Sie?“ fragte er. „Haben Sie das Mädchen, das Sie damals suchten, gefunden?“
Ich saß dort und konnte zunächst nicht antworten. Was war dies für eine Geschichte?! Ich war
damals hier aufgetaucht und hatte ihn unschuldig nach Auberge gefragt, von der ich seinerzeit
nicht einmal gewußt, daß sie Auberge genannt wurde, ich war hier hereingetreten, hatte zufällig seine Bekanntschaft auf dieser Bank im Park gemacht und hatte ihn nach ihr gefragt ausgerechnet ihn, den leiblichen Vater, - und weder er noch ich hatten dies gewußt. - Und
noch etwas, das erschreckend war oder sonderbar oder – im Grunde weiß ich nicht, was es
war. Da hatten damals, zu Zeiten, über eine kleine Weile oder eine längere … Vater und
Tochter eine gemeinsame Zeit hier in dieser Anstalt zugebracht, ohne voneinander zu wissen
– waren sie sich über den Weg gelaufen? – hätten sie sich kennen können? Ich wußte es nicht
zu beantworten.
„Haben Sie das Mädchen gefunden?“ wiederholte er leise seine Frage.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich genauso leise. „Ja und nein, Sir … ich kann es im Grunde
nicht sagen.“
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Ich mochte ihm nicht wehtun, indem ich ihm sagte, daß sie tot war …
Ich starrte auf die Wege, das kahle Buschwerk, den hellen Himmel, und ich sann, was dies für
ein Kuriosum war.
Zwei Mädchen, dachte ich. Zwei Töchter … Sir Enid hatte im Sterben von seinen Töchtern
gesprochen. Warum hatte Auberge nie von ihrer Schwester gewußt, und was war aus ihr geworden?
Und dann, mit einem Male, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich … daß ich
das zuvor nicht gesehen?! – Und ich sah sie wieder vor mir fortlaufen, die drei schwarz umrissenen Silhouetten-Gestalten, vor den Fackeln, die am ‚White Hart’ brannten, wie sie im
Rennen vor mir davonhüpften, Auberge flankiert von Dr. Copeland und dem Quaestor, der
kaum größer war als meine Angebetete und von zarter Figur wie jene … der glatzköpfige
Quaestor, der sich jederzeit eine Perücke überstülpen und dann als junger Mann mit falscher
Brille und mit Handschuhen, als mörderisches Milchgesicht, mit dem als Kutscher verkleideten Dr. Copeland auf dem Bock, der ihr Geliebter gewesen, hier hinter dem Bedlam Kisten
mit toten Mädchen verladen und an mich absenden lassen konnte … - jetzt endlich wußte ich,
warum man diese Frau, die der Quaestor gewesen, gemeinsam mit Auberge ermordet, sie nebeneinander aufgebahrt hatte: Auberge und sie waren Schwestern, Zwillinge – beide zusammen geboren … und beide gestorben auf einen Streich …
War da eine Familienähnlichkeit, die Ähnlichkeit von Zwillingen gewesen? Ich hatte den
Quaestor und Auberge in dieser schrecklichen Zurschaustellung nebeneinander liegen gesehen. Ein einziges Mal hatte ich sie beieinander und von vorne gesehen. Warum war mir die
Ähnlichkeit nicht ins Auge gesprungen? Schwer zu sagen.
Zum einen sicher, weil man in einer solchen Situation auf ganz anderes achtet als auf die
Ähnlichkeit zweier Physiognomien - solange der Kopf mit der Wahrnehmung all des anderen
Ungeheuerlichen belastet ist. – Die ganze grauenvolle Atmosphäre; da liegen drei Tote, darunter der beste Freund, darunter die einzige, unsterbliche Liebe meines Lebens, die Art ihrer
Ermordung, das ganze Blut, die verschiedenen Kopf- und Brustwunden, das schauerliche Arrangement, die Kerzen, die Präparationsgläser mit den schwimmenden Herzen - überdies die
überraschende Entdeckung, daß ein glatzköpfiger junger Mann trotz der Glatze eine Frau ist –
nein, da achtet man nicht darauf, ob diese Person vielleicht obendrein jener ähnlich sieht oder
nicht - zumal es keinen Grund gab, dergleichen zu vermuten – und zumal ich nicht etwa nähergetreten war, um mir die scheußlichen Details aus der Nähe zu besehen – der Eindruck von
der Wirtshaustür aus hatte mir, wie man zweifellos verstehen wird, vollauf genügt ...
Selbst jetzt, hinterher, indem ich mir die Szenerie vor das geistige Auge zurückrief, fiel es mir
schwer, eine gültige Aussage zu treffen. Wahrscheinlich sahen sie sich ähnlich, ja, denn beide
Gesichter waren von ausnehmender Zartheit gewesen. Aber allein dadurch, ob ein Kopf eine
Frisur besitzt oder keine, findet man ihn, nein, auch ein Gesicht, stark verändert.
Und am Ende – nicht einmal Auberge hatte gewußt, daß der Quaestor ihre Schwester war! Und wodurch war das erklärlich? Hier blieb ich auf Vermutungen angewiesen, aber es lag
eine Reihe von Möglichkeiten durchaus nahe. War möglicherweise die eine im Säuglingsalter
erkrankt und hatte man sie von der anderen getrennt, um die Krankheit nicht übergreifen zu
lassen, oder gab es einen anderen Grund, gleichviel – man hatte sie getrennt … und die eine
wuchs auf als Tochter des Hauses, wurde gebildet und konnte reisen, und die andere als junger Mann und späterer Sekretär, die letztere war folglich eingeweiht in die Machenschaften
des Vaters, die andere nicht - und noch später, als die Zeit der wirklichen Kerker-Gefangenschaft Auberges im Hause ihres Vaters angefangen hatte, zu der ihre Schwester schmählich
ihre Hand geliehen, war die Sache dem Alten, der sich mit Sicherheit dagegen gewandt hätte,
längst entglitten gewesen, war die Führung lange aus seiner Hand. Ich hatte doch das Possen493
spiel aus nächster Nähe miterlebt, wie Dr. Copeland Sir Enid weisgemacht, Auberge und der
Quaestor seien noch unterwegs auf der Reise – zu dem Zeitpunkt hatte Auberge längst im
Keller geschmachtet – ich kam ja gerade von dort! Wo der Quaestor zu der Sekunde gewesen
sein mochte, wußte der Teufel, jedenfalls war er nicht da, nicht sichtbar gewesen, und
höchstwahrscheinlich hatte er allein deshalb versteckt bleiben müssen, um Dr. Copelands
lächerliche Geschichte, die beiden befänden sich noch zusammen in der Ferne unterwegs, zu
stützen …
Auberge und der Quaestor – Zwillinge. Und dennoch blieb die Frage: Hätte Auberge in zwanzig Jahren nicht die Ähnlichkeit zwischen sich und ihrer Schwester und damit ihre Verwandtschaft auffallen müssen? – ich ging davon aus, daß der Quaestor sowieso von der Identität
wußte. Und abermals konnte die Antwort nur lauten: Nein, warum? Warum sollte die Tochter
des Hauses überhaupt vermuten, mit einem Angestellten des Hauses verwandt zu sein? Zudem: Die Glatze verminderte die Ähnlichkeit. Und es kam noch mehreres dazu. Es pflegt sowieso so zu sein, daß nur Außenstehende die Ähnlichkeit von Familienmitgliedern untereinander erkennen – ich selber sehe die Verwandtschaft nicht zu meiner Mutter, ich nehme nicht
wahr, daß ich meinem Großvater aus dem Gesicht geschnitten bin, ich erkenne die Ähnlichkeit nicht zwischen mir und meinem Bruder. Und wenn ich mich sehe, sehe ich mich im
Spiegel, ich sehe mich spiegelbildlich und gewöhne mich an diesen Anblick: So sehe ich aus,
das bin ich. Jeder andere aber sieht mich wie ich bin und deshalb verändert.
Ich kehrte aus meinen Gedanken zurück und sah, wie der alte Mann mich beobachtete.
„Ich habe an etwas gerührt, nicht wahr, als ich nach jenem Mädchen fragte?“ erkundigte er
sich teilnahmsvoll.
„Ja“, gab ich zu und versuchte zu lächeln, „das haben Sie wohl …“ Ich betrachtete ihn sinnend. „Sagen Sie“, bat ich, „diese beiden Mädchen, Ihre Kinder, die Säuglinge - haben sie das
Sakrament der Taufe empfangen?“
„Das haben sie“, sprach er einfach, „noch am Tag der Geburt, im Schloß, durch einen Geistlichen, den wir rufen ließen. Meine wunderbare Frau war dabei, sie hielt eines im Arm, und ich
das andere ….“
„Und auf welche Namen?“ fragte ich bebend …
Er antwortete nicht sofort, sondern lächelte nur, mit stiller Freunde und Güte und Nachsicht,
wie es seine Art war.
„Es gibt den Brauch in unserem Geschlecht, die Kinder immer auf die gleichen Initiale zu
benennen“, sagte er dann, „seit alters her. – Die ältere heißt Bernice Ricarda … nach mir …
und die Zweitgeborene Bernadette Rose …“
Unglaublich … dachte ich und starrte in den hellen Himmel … meine Io … meine Auberge
… hatte am Ende doch einen Namen bekommen … oder einen von zweien zumindest, ich
würde es nicht erfahren … Bernice Ricarda Hanson oder Bernadette Rose Hanson … beides
sehr gefällig, beides sehr hübsch … aber eine davon war meine Auberge gewesen und die
andere eine gewissenlose Mörderin …
„Es kommt jemand“, sagte Bernard Richard Hanson, „man will etwas von Ihnen“, und er wies
mit dem Kinn.
Ich drehte mich um, und richtig, da kam Bo Swensson, blasser und unscheinbarer denn je, den
Weg herunter. Er hob die Hand zum Gruß.
„Ich muß gehen“, sagte ich zu dem alten Mann. „Vielleicht sehen wir uns wieder.“
„Ja“, entgegnete dieser lächelnd, „ … das mag sein … vielleicht, junger Mann, möglicherweise … oder vielleicht … wenigstens ... sehen Sie mich wieder …“
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Bo Swensson langte bei uns an und grüßte uns durch Ziehen seines Zylinders und zweimalige
knappe Verbeugung in unsere beiden Richtungen.
Ich erhob mich und verneigte mich tief gegen Bernard Richard Hanson. „Es hat mir sehr viel
gegeben, mich mit Ihnen unterhalten zu dürfen, ich danke Ihnen“ –, ich beugte mich nieder
und küßte seine Hand: “Leben Sie wohl, The Right Honourable.“
Er lächelte, amüsiert, weise und nachsichtig, wie es seine Art war. „Es war eine gänzlich andere Zeit“, murmelte er. „… Auf die Wiederkehr des Guten ...“
Als ich mit Bo Swensson den Weg hinunterging, fragte dieser: „Was war denn das? Hält er
sich für Lord Buckingham?“
„Er ist … der Earl von Chichester – aber das ist eine lange Geschichte“, sagte ich vage. „Wo
haben Sie gesteckt, Sie und die anderen?“
„Na, Sie haben Nerven“, gab er mit einem schrägen Seitenblick zurück. „Wo sollen wir wohl
sein? Drinnen bereits, bei dem Morddoktor – es ist schon alles mehr oder minder abgeschlossen. Kirby meinte, es solle jemand rausgehen und Sie suchen - drei Uhr hatten wir vereinbart.“
„Ist mir bekannt“, gab ich zu und errötete. „Ich war auch schon rechtzeitig hier, habe nach
Ihnen Ausschau gehalten, aber Sie nicht gefunden. Und jetzt, wie spät ist es denn? – ich besitze keine Uhr.“
„Drinnen ist eine, die ist wahrlich groß genug, haben Sie gesehen?“, meinte er. „Vielleicht
hätten Sie sich ja unter diese setzen sollen.“ Er lachte, sein blasses, farbloses Gesicht dabei
kaum verzogen.
Wir bogen zur Gloriette ein, stiegen über die Stufen in ihrem Inneren und näherten uns dem
Eingang.
„Wie sind Sie auf ihn gekommen?“ wollte ich wissen.
„Auf wen? Auf Copeland?“
„Ja.“
„Nun wir sind ja genug Leute, seit die Kyrbies wieder zurück sind. Wir haben einfach überall
gefragt, im Middlesex Hospital in Marylebone, in der Cord Street in Lambeth, ich meine, im
St. Joseph’s Orphanage for Women and Children, - hier, kurz, überall, wo er arbeitet beziehungsweise gearbeitet hat, - am Canonbury Square, wo seine Familie lebt, waren wir auch.
Und hier haben wir ihn dann ohne Probleme aufgetrieben.“
„Aber das ist doch verrückt!“ rief ich. „Wie haben Sie annehmen können, daß er hierher zurückkehrt, nach allem, was geschehen ist?“
„Nun, irgendwo mußten wir anfangen, Mr. Holland - und vor allem, der Erfolg hat uns ja
recht gegeben, oder nicht?“
„Ja, gewiß, schon“, gab ich zu, „aber das ändert doch nichts.“
„Sie meinen, warum wir nicht die Seehäfen überprüft haben und die kleinen Barken unten am
Fluß? Sie meinen, Leute wie Sie und ich – uns hätte man jetzt eher in Le Havre oder Antwerpen finden können?“
„Nun, Sie nicht?“
„Das ist richtig“ meinte er und neigte den Kopf. „Aber wann hätte dieser Mann je etwas
‚Normales’ getan, Mr. Holland? Welches Maß wollen Sie anlegen? – Im übrigen – Sie werden ja sehen …“
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Mit dieser rätselhaften Bemerkung brachte er mich vorerst zum Schweigen. Wir passierten
zudem gerade die Wachen am Eingang, die uns diesmal nicht nach unserem Begehr fragten.
Lag das daran, daß Bo Swenssons Bow-Street-Runner-Unauffälligkeit geradezu wie eine
Tarnkappe auch auf mich abfärbte? fragte ich mich. – Nein, kam ich eher zu dem Schluß, wir
beide, Swensson und ich, waren hier und heute jetzt bereits derart oft hinein- und hinausgerrannt, daß die beiden guten Leute an der Tür uns ganz einfach kannten.
Drinnen in der Halle – BigBen zeigte, erkannte ich schuldbewußt, auf fünfundzwanzig nach
drei – drinnen in der Halle wandte sich Swensson nach links hinten, vorbei an den Bänken für
die Besucher, wo ich mit Ambroise Tardieu gesessen, zu einer Marmortreppe, die in die Höhe
führte, aber wir nahmen diese nicht, sondern wichen ihr aus und gingen, nachdem wir einen
weiteren Wärter passiert hatten, der uns einen Augenblick teilnahmslos musterte, - obwohl ich
wußte, daß dies ein unsinniger Eindruck war, aber in Swenssons Gegenwart kam ich mir sicher und nachgerade unsichtbar vor - auf eine kleine Tür im hinteren Teil unter der Treppe zu,
und Swensson öffnete diese für mich und scheuchte mich hindurch. Dahinter lag ein düsterer,
schmaler, in beide Richtungen sich erstreckender Korridor, von dem in regelmäßigen Abständen weitere Türen abführten. Hier gab es vereinzeltes Gaslicht unter der Decke.
„Links entlang“, sagte er.
Ich wandte mich nach links. Wir liefen mit großen Schritten den Korridor hinunter.
„Bei ihm zu Hause waren Sie auch?“ fragte ich. „Wie trägt es seine Familie?“
„Fragen Sie mich nicht so etwas“, knurrte Swensson. „Eine reizende Frau, wenn Sie mich
fragen, und vier Kinder im Alter von fünf bis zwölf, zwei Jungs, zwei Mädchen, man faßt es
nicht. Die Kinder waren nicht zu sehen, da gibt es wohl ein neues Kindermädchen, nachdem
Asunción Lozano … ausgeschieden ist. Aber mit der Frau haben wir geredet. Haben ihr reinen Wein eingeschenkt, was wohl nicht zu vermeiden war. - Nun, Sie können es sich nicht
vorstellen …“
Er machte einige Schritte neben mir, schweigend.
„– doch, Sie können es sich vorstellen“, sagte er. „- Da wird eine Familie ausgelöscht, da verlieren vier Bälger den Vater, da ist die Existenz einer Familie zuende. - Und warum? – Weil
er es nicht hat anders haben wollen oder weil er jedenfalls das Risiko eingegangen ist. Man
begreift es nicht, warum solch einer nicht die Überlegung einbezieht, daß so etwas wie eine
derart gewalttätige Tour, ein derartiger Exzeß an Blutvergießen zwangsläufig irgendwann
vorbei ist, daß eines Tages alles auffliegen könnte, daß man ihn schnappen wird und ihn bestraft. Sie wissen das, er weiß es, und trotzdem. Es ist nicht zu begreifen … - Wir sind da. Hier, Sir.“
Er öffnete eine Tür zur Rechten, und er ließ mich voran eintreten in einen überraschend großen Raum. Ich hatte eine Art Zelle erwartet, aber es war eher ein düsteres Archiv oder das
Ordinationszimmer eines Arztes, mit Aktenbündeln und Papierrollen liegend, wo nur Platz
war oder auch nicht, aufgehängten medizinischen Schautafeln, einem Untersuchungsstuhl,
einer Waage und einer Pritsche rechts an der Wand - eine Reihe halbhoher und hoher
Schränke mit Glastüren zur Linken, wo man medizinische Präparate, Tabletts mit widerlichen
Haken, Messern, Skapelle, Stapel von Tüchern, Binden, ineinandergestellte Nierenschalen,
ein Mikroskop und hunderterlei anderes medizinische Gerät sehen konnte. Es war Dr. Copelands Raum, das war mir klar, wenngleich die zwei winzigen, vergitterten Fenster, die sich
gegenüber direkt unter der Decke befanden, durchaus Zelleneindruck vermittelten.
Ein Schreibtisch war in die Mitte unter die Fensterchen gerückt, ein Sessel stand dahinter, ein
sehr bequemer Sessel, ein luxuriöses Möbel aus Büffelleder oder was das sein mochte, das in
einen teuren Club gehört hätte, jedenfalls an einen behaglichen Kamin.
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In dem Sessel saß Dr. David Gideon Copeland. Die anderen waren über den Raum verteilt,
saßen, standen oder lehnten, wo sie Platz gefunden, es war ein beeindruckendes Aufgebot:
Kirby und alle seine Leute, inclusive Vincent Morris, der mir bei meinem Eintritt mit den
Augen zunickte, sie alle mit ihren finsteren Stetson-Hüten tief in der Stirn, ferner Dr. Gaddison mit blitzenden Augengläsern auf einem Stuhl, er notierte etwas in ein Heft, sowie Conrad
Cruikshank und Chase. Mit Bo Swensson und mir standen Dr. Copeland sage und schreibe
zehn Personen gegenüber. Im Raum herrschte eine eigenartig gedämpfte Atmosphäre von –
ich weiß nicht, wie ich das nennen soll - domestizierter Wildheit, von beherrschter Wut, kalter
beiderseitiger Verachtung, dabei von Lässigkeit und Ruhe, wie ich sie nicht erwartet.
Dr. Copeland saß in seinem Sessel. Ich hatte, offen gesprochen, vermutet, ihn hier in irgendeiner Form gefesselt, körperlich überwältigt vorzufinden – in einer Anstalt wie dieser, dachte
ich, sollte es doch einen ausreichenden Vorrat an Zwangsjacken haben, oder nicht? – aber er
saß da so ungeknebelt und bequem, als hätte es ihm jederzeit freigestanden, hier hinauszuspazieren, wie es ihm beliebte. Es wirkte fast, als gewähre er uns eine Audienz oder als halte er
seine Arztstunde ab, nur daß um ein weniges zu viele Patienten im Zimmer waren.
Trotz alledem: Da saß er, und es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich ihn ohne Furcht
ansehen konnte, diesen hochgewachsenen, schlanken Mann in der erlesenen Kleidung, das
eisgraue, aufrecht stehende Haar gegen die Mode kurz gehalten, - eine imponierende Gestalt,
auch im Sitzen, entspannt zurückgelehnt, die Beine übereinander geschlagen, leicht und lo ker mit dem eleganten und blitzblanken Schuh wippend. Die Verunstaltung seiner Oberlippe
konnte man fast vernachlässigen in der Gesamterscheinung, sie gehörte geradezu zu ihm - in
der Art, wie eine Perle auf einen Halsbinder gehört und ihn schmückt.
Ich sah ihn ohne Furcht an – und das Merkwürdige daran war, daß dies nicht der Anwesenheit
der anderen geschuldet war, sondern ihm selbst. Er saß dort in all seiner Überheblichkeit und
kalten Eleganz, aber auf eine unsagbar unsichtbare, geradezu magische Art spürte ich, daß
von ihm keine Gefahr mehr ausging, und zwar einzig aus dem Grund, weil er es so entschieden hatte, weil er entschieden hatte, daß es nun genug damit sei und vorbei. Das hieß allerdings nicht, daß er uns die Sache einfach machte und sich kooperativ zeigte – das hieß es
nicht.
Als ich hereintrat, ging fast etwas wie ein Lächeln oder Leuchten über sein Gesicht. Er sagte
nichts, aber er blickte mich fast strahlend an. Seine Lippen formten zwei kurze Worte, lautlos,
sehr deutlich, in meine Richtung, wie ein Geheimzeichen. Ich verstand nicht, was es hatte
bedeuten sollen, was er gesagt, es war zu schnell vorbei gewesen, war zu unvermutet gekommen - und als er mir ansah, daß ich nicht verstanden hatte – da wiederholte er die Lippenbewegung, langsamer, und deutlicher, und dieses Mal konnte ich es lesen.
„Du Ratte …“ Das war es, was er nicht gesprochen.
Mir war nicht klar, ob irgendeiner der anderen im Raume diese fatale Begrüßung mitbekommen, - möglicherweise nicht, denn bei unserem, Swenssons und meinem Eintritt, hatte man
mehr oder weniger uns entgegengeblickt und Dr. Gaddison in seine Aufzeichnungen oder
Notizen auf seinem Schoß – also hatte man mehr oder minder von ihm fortgeschaut.
„Mr. Holland“, sprach Kirby in dem Moment ohne eine Spur der Freude, des Wiedererkennens, des Vorwurfs oder irgendeiner anderen Gemütsregung mit seiner leisen Stimme, wenn
auch mit vorübergehend in meine Richtung gekehrtem Gesicht. Es war dennoch, deutlicher
betrachtet, nicht einmal ein Empfang, nur eine Feststellung - wie wenn man ein Dutzend Äpfel zählt, und siehe da, es ist komplett, und man sagt: „Zwölf.“
Er kehrte sich wieder fort von mir und murmelte: „Mr. Morris, wollen Sie Mr. Holland in
Kenntnis setzen, bezüglich dessen, was er wissen muß …“
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„Willkommen in unserer kleinen Runde, Mr. Holland“, sprach Vincent Morris gehorsam in
meine Richtung, wenngleich er sich nicht von seinem Stuhl erhob. Der Stuhl stand umgekehrt; er saß darauf wie auf einem Pferd, die Lehne zwischen den gespreizten Beinen, was
exzellent zu seiner Bekleidung paßte, nur daß der Stuhl sich nicht bewegte oder schnaubte.
Morris hatte jetzt allerdings als einziger den schwarzen, großen Stetson abgenommen und
fächelte sich damit Kühlung zu, obwohl es mir nicht übertrieben warm im Raume schien. Ich
sah ihn wieder, wie er sich gegen die Reling lehnte und auf’s weite, offene Meer hinausschaute, als ob er die Endlosigkeit der Prairie vermisse.
„Die Sache ist im großen und ganzen rekonstruiert. Trotz alledem sind Fragen offen“, sprach
Vincent Morris. „Er hat zugegeben, einen Neger im Pfortnerhäuschen erschlagen zu haben
und drei oder vier, genauer wollte er sich nicht festlegen, auf der Flucht, die hat er erschossen,
macht summa summarum vier oder fünf … in einer Woche.“
„Schwarze“, stieß Copeland zwischen den Zähnen hervor. „Wenn ich fünf Truthähne geschlachtet hätte, würden Sie sich freuen und fragen, ob Sie ein Stück abkriegen …“
„Ich verstehe nicht recht“, mischte sich Kirby ein.
„Schwarze“, wiederholte Copeland deutlicher, so als Kirby taub sei. „Fünf Schwarze, Mr.
Kirby. Neger. Farbige. Sklaven.“
„Ja, gut“, sagte Kirby unwisch, „aber ich verstehe trotzdem nicht.“
„Truthähne eben …“, machte Dr. Copeland abfällig und zuckte die Schultern.
Jetzt schien Kirby endlich zu verstehen. „Oh, da befinden Sie sich im Irrtum, Dr. Copeland“,
sprach er heiter und lächelte.
„Interessant. Inwiefern?“ fragte der und lächelte zurück.
„In England gibt es keine Sklaverei“, belehrte ihn Kirby.
Dr. Copeland schien einen winzigen Augenblick verblüfft. „Na sicher waren das welche –
wenn ich es Ihnen doch sage!“
„Und ich sage Ihnen, Sie täuschen sich“, beharrte Kirby in eigensinnigem Ton. „Und da es
keine Sklaven in England gibt, und da es Truthähne zweifellos auch nicht waren - müssen das
eindeutig Menschen gewesen sein, Sir - schwarze Menschen.“ Er wechselte Standbein und
Spielbein und lehnte sich bequemer gegen die Wand hinter sich, die Arme vor der Brust verschränkt. „Und ich sage Ihnen deshalb noch etwas, Mr. Copeland: - Allein für diese fünf werden Sie hängen.“
„Oh, werde ich das?!“ machte Gideon Copeland sorglos mit einem Gesicht, das so viel sagte
wie: Das wollen wir doch erst einmal sehen, kommt Zeit, kommt Rat.
„Ferner gibt er zu, den Maler Condonniere ermordet zu haben“, mischte sich Vincent Morris
laut in die Runde und brachte das Thema damit wieder zurück auf das Vorherige. „Rein rechnerisch Nummer sechs. Und zwar war das Motiv … welches gleich?“
Dr. Gaddison blätterte in seinen Notizen zurück. Er sah nicht auf, als er ablas: „Weil es an der
Zeit war.“
„Ganz recht. Dr. Copeland ermordete Giovanni Battista Condonniere, ‚weil es an der Zeit
war’, wie er sagt.“ Morris wandte sich an den Arzt. „Haben Sie noch einen besseren Grund?“
Zuerst sah es aus, als wolle dieser es bei einem abermaligen - ob der Frage halb erstaunten abfälligen Achselzucken belassen, dann, als Morris bereits Anstalten machte, fortzufahren,
ließ er sich doch noch zu einer Erklärung herbei: „Er war ausgesprochen störend und lästig“,
sagte er. „Es war ein permanentes Genörgel, verstehen Sie? - ständig wollte er irgendetwas, er
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wollte zu den Frauen in den Keller hinuntersteigen, er wollte einen Landsitz, er wollte Geld,
er wollte seine eigenen Sklaven haben - keine zehn Minuten, ohne daß er nicht irgendetwas
wollte. Ruhe hatte man wirklich nur, wenn er sinnlos betrunken war – aber dann störte der
pure Anblick - im ästhetischen Sinne, verstehen Sie … Mein Gott, wir hätten ihn schon Wochen vorher erledigen sollen und erledigen können, aber dann wäre vermutlich Enid dagegen
gewesen.“
„Sie töteten den Maler Condonniere gewissermaßen aus ästhetischen Gründen?“ erkundigte
sich Kirby eisig.
Dr. Copeland zuckte die Schultern und lächelte, als wolle er bedeuten: „Wenn Sie es schon
sagen.“
Einen Moment herrschte Schweigen im Raum. Ich mußte daran denken, wie Auberge erzählt
hatte, daß er den Maler vorher noch geschlagen. Und ich wußte ja überdies aus eigener Erfahrung, wie gerne er schlug. Ich sah ihn dort lässig und elegant sitzen. Mein Gott, dachte ich,
was für ein Mensch ….?!
Dr. Copeland lachte plötzlich laut auf. „Wir fanden es witzig, einen Maler in einem Gemälde
enden zu lassen, deshalb arrangierten wir das Henry-Fuseli-Bild, nachdem Fiona de Cato
schon einmal tot war. Es war die Idee von Rose, offen gesprochen, sie hatte immer solche
phantastischen Ideen.“
Der Name Rose fuhr mir wie ein Blitz ins Hirn. Bernadette Rose Hanson … Bernice Ricarda
und Bernadette Rose … also war Bernice Ricarda meine Io, Auberge. –
Am Ende nun doch, was ich wirklich nicht mehr erwartet … ein Name … ein Name zu dem
Wesen meiner Träume … Bernice Ricarda … - wenigstens ein sicherer Name, an den ich für
den Rest meines Lebens denken konnte, jetzt, wo sie in der Ewigkeit weilte … oh. meine Io …
oh, süße Auberge … oh, unbekannte Bernice … Bernice Ricarda Hanson, das Mädchen mit
dem magischen Gesicht, die ich geliebt und die mich geküßt …
Und Bernadette Rose Hanson: das Monster, das schlußendlich doch geschlachtet worden war,
auf der Isle of Dogs … von ihrem Geliebten, Dr. Gideon Copeland … Bernadette Rose Hanson, der Quaestor …
„Witzig?!“ erkundigte sich Kirby pikiert und ging damit auf das ein, was der Arzt zuletzt gesagt. „Sie fanden es witzig, den Maler Condonniere umzubringen? – Nun, was glauben Sie,
Copeland, wie wir uns erst alle biegen werden vor Lachen, wenn Sie am Tyburn strampeln
…!“
„Vorher, all die Mädchen“, berichtete Vicent Morris und kam damit weiter seiner Aufgabe
nach, mir Bericht zu erstatten, „Asunción Lozano, Eusebia Purcell, Rosetta Manderlay, Stella
„Gossamer“ Floyd, schließlich Fiona de Cato und vor einer Woche dieses Mädchen, das Auberge genannt wurde, sechs von den sogenannten ‚Geliebten des Zeus’ mithin, gehen seiner
Aussage nach allesamt auf das Konto dieses sonderbaren Zwitters, welches ‚der Quaestor’ genannt wurde.“
„’Der Zwitter’“, spuckte Dr. Copeland mit zitternder, geteilter Oberlippe in die Diskussion,
„sehen Sie sich vor, was Sie sagen …!“
„’Der Zwitter’“, wiederholte ich grob, „Bernadette Rose Hanson, glatzköpfiger Sekretär im
Hause Enids, Ziehtochter von Luciter, wie ihre Zwillingschwester, Bernice Ricarda Hanson,
das Mädchen, das ‚Auberge’ genannt wurde …“
Ich sah, wie Kirbys Gesicht sich langsam zu mir herumdrehte.
„Woher wissen Sie …?“ fragte Conrad Cruikshank …
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„Das Nähere für Sie alle, wenn er nicht dabei ist“, sagte ich und spürte, wie sich vor Haß auf
dieses Monster mein Mund zu einem harten Gewebe von Muskeln verspannte.
„Gratulation, du Ratte“, sagte Dr. Copeland leise, mit einem vorgetäuschten Rest aus Gleichmut und - ja, ich muß es sagen - fast mit Bewunderung, „… wo immer du es her hast …“
„Wir sollten, wenn wir sie meinen, vom ‚Quaestor’ reden“, schlug ich vor und versuchte, einen möglichst kaltblütigen Eindruck zu machen. „Wir alle wissen, wen wir meinen …“
Dr. Copeland saß matt in seinem Sessel und grinste.
„Gerne“, nahm Vincent Morris den Faden auf, „der Quaestor hat all die Mädels auf dem Gewissen, macht ebenfalls sechs Opfer, was, da wir eine sportliche Nation sind, zwischen dem
Doktor und dem Quaestor gewissermaßen auf einen Gleichstand von sechs zu sechs herausläuft – so weit jedenfalls, wie wir mit der Rechnung bislang sind. Der Doktor, überdies, läßt
sich herab einzugestehen, daß er verschiedentlich mit dem Skalpell Hilfestellung geleistet
habe bei der chirurgischen Entfernung der Herzen, jeweils, nachdem das Opfer tot war. – Definitiv: Er habe bei den Morden selbst nicht Hand angelegt, nur nach dem Eintritt des Todes
ein wenig beim Zerstückeln geholfen …“
Er blickte in die Runde. „Wie haben wir uns das also vorzustellen? Nun, sagt der Doktor, wir
haben uns das auf alle Fälle so vorzustellen, daß der Quaestor allein den Plan gemacht habe einen Plan, bei dem es darum ging, die ‚sieben Geliebten des Zeus’ in eine bessere Welt zu
befördern und ihnen das Herz zu entfernen - jene Sieben, die Modell gesessen zu dem vertrackten Gemälde, wir verstehen uns.“
Er kratzte sich am Kopf, wie als ob ihm das, was er zu sagen habe, Schwierigkeiten bereite.
„Und das – dieser Plan, meine ich“, sagte Vincent Morris, „- wurde alsdann … Frau für Frau
Mädchen für Mädchen … brav vom Quaestor umgesetzt - und ohne Rücksicht darauf, daß
zum Beispiel die eigene Schwester unter den Opfern war. -- Bis zur Nummer sechs sind wir
solcherart auch glücklich gediehen, eine letzte, siebente, lebt noch: Virginia Sykes, ausgerechnet eine Prostituierte - und unterdessen, wie wir vernehmen, traurigerweise nicht einmal
mehr das – sie hat den Verstand verloren – ein weiterer Mensch de facto vernichtet, meine
Herren. Das ist die Geschichte.“
„Ich hätte es nicht besser darstellen können …“ äußerte sich Dr. Copeland mit Wärme und
Wohlwollen in der Stimme.
Wir alle starrten ihn an.
Da saß er, ungefesselt, ungeknebelt, ungebunden – und ich fragte mich die ganze Zeit: War
dies richtig? Richtig war, es schien keine reale Gefahr mehr von ihm auszugehen, in dem
Sinne, daß unerwartet und plötzlich irgendjemandes rotes, warmes Blut geflossen wäre - weil
er beschlossen hatte, daß die Mordserie zuende war, gewiß - aber trotzdem: Bestand nicht
dennoch die Gefahr, daß er plötzlich aufspringen, uns überlisten und hinauslaufen konnte –
irgendwie? Daß er eine Fallklappe hinter seinem Schreibtisch öffnete und durch einen feuchtglitschigen, geheimen Untergrund entkam? Uns einen medizinischen Nebel in die Augen
sprühte und uns erblindet hinter uns ließ, wenn er hinausrannte? Ich hatte – hole mich der
Teufel - ein unbestimmt ungutes Gefühl, indem wir ihn einfach so sorglos frei dort hinter seinem Schreibtisch sitzen ließen.
„Kommen wir zu Sir Enid“, ordnete Kirby rauh an. „Bitte, Mr. Morris …“
„Sir Enid“, sprach Vincent Morris und konzentrierte sich, mit dem schwarzen Stetson vor der
Stuhllehne wedelnd, während Dr. Gaddison hastig einige Seiten in seinen Aufzeichnungen
zurückblätterte und dort nachlas. „Gleichstand Dr. Copeland und der Quaestor bis zu diesem
Punkt, das gilt es festzuhalten. Sechs zu sechs Leichen für je beide. Nun, Gleichstand aber
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auch nachher, denn Dr. Copeland behauptet, mit dem Tode Sir Enids hätten weder er noch der
Quaestor etwas zu tun.“
„Was?!“ schrie ich, „aber das ist lächerlich! - Ich war in der Mine! Ich war unmittelbar dabei!
Ich habe es gesehen! Ich war Zeuge!“
Wayne Leonard Kirby kehrte den Kopf zu mir herum. „Was haben Sie gesehen, Mr. Holland?“ erkundigte er sich sanft.
„Ich habe gesehen, wie er herunterstürzte und sich seinen Körper zerschlug“, rief ich aufgebracht. „Und die beiden … die beiden Schweine kamen von oben heruntergesprungen, über
die Etagen der Man Machine, und dann habe ich gesehen, mit meinen eigenen Augen gesehen, wie der Quaestor Sir Enid mit einem Dolch ins Auge stach.“
„Er war tot!“ bellte in dem Moment Dr. Copeland verächtlich. - Es war, als sei ihm, auf diese
meine letzte Bemerkung hin, doch endlich der Faden der langen Geduld gerissen. Mochte ich
dieses, mochte ich jenes frech behaupten – nun endlich war doch wohl einmal das Ende seines
Wohlwollens erreicht. „Enid war zu dem Zeitpunkt tot, verdammt noch mal“, wiederholte er,
laut und deutlich, um die Sache geradezurücken. „Es war so, verflucht, als hätte Rose in einen
Topfkuchen gestochen!“
Ich war betreten, verwirrt, denn er sprach, streng betrachtet, die Wahrheit. Es entsprach meiner eigenen Beobachtung, was er sagte, daß Bernadette Rose Hanson den Leichnam Sir Enids
geschändet hatte – nicht den lebenden Mann getötet.
„Wenn Sie hier darauf bestehen, Mord und Totschlag zu verhandeln, Herrgott, dann bleiben
Sie zum Teufel bei der Sache!“ sagte Dr. Copeland ärgerlich. „Daß Enid Luciter zu Tode
kam, dafür kann der Kaiser von Abessinien mehr als ich oder das Mädchen …!“
Ich blickte erstarrt und ohne Verständnis.
Kirby drehte den Kopf zu mir und sagte nachsichtig: „Dr. Copeland meinte bereits vorhin,
bevor Sie anwesend waren, Mr. Holland, daß er und das Mädchen nichts mit dem Tode Sir
Enids zu tun hätten, weil jener freiwillig herabgesprungen sei …“
„Was?!!“ rief ich fassungslos – und konnte es nicht hindern, daß sich mir die Stimme überschlug.
„Selbstmord“, flüsterte Kirby erklärend trocken. „Sir Enid Luciter hat sich das Leben genommen.“
„Was?!“ schrie ich ein weiteres Mal ungläubig. „Das ist recht! Wahrscheinlich hat sich Julius
Caesar auch das Leben genommen. Aber das ist lächerlich! Das ist grotesk! Ich war in der
Mine, ich sah ihn von oben herunterstürzen.“
„Sie haben gar nichts gesehen“, schnarrte Gideon Copeland dazwischen. „Sie haben ihn vielleicht unten ankommen sehen, Holland, aber Sie haben den Anfang der Reise nicht miterlebt,
Kreuztürken! Glauben Sie doch, was Sie mögen, behaupten Sie, was Sie wollen! – Ich gebe
Ihnen gerne zu, daß ich etliche Neger ausgelöscht habe und Condonniere und diesen Vogel
und jenen obendrein, wenn es Ihnen unbedingt beliebt, aber ich habe mit dem Tod Sir Enids
nichts zu tun, und dasselbe betrifft das Mädchen. - Enid ist, verdammt noch mal, freiwillig
gesprungen! Er wollte ein Ende machen! – Ich sage die Wahrheit!“
„Und wieso?“ brüllte ich. „Sie waren oben, er stürzte herunter. Warum?“
Dr. Copeland änderte die Sitzhaltung, er grinste lässig, was seine Hasenscharte in die Breite
zog. „Finden Sie es heraus“, meinte er nonchalant.
In der Sekunde wäre ich wohl gerne auf ihn zugestürzt und hätte seine äußerliche Ordnung,
seine elegante Keidung, den akkuraten Schnitt seiner Weste ein wenig auseinandergenom501
men, aber Wayne Leonard Kirby hielt mich zurück, indem er kühl einwarf: „Es gibt noch
weitere Todesfälle zu verhandeln … bitte, Mr. Morris.“
Ich holte tief Atem. Sir Enid … Selbstmord … lächerlich! Warum behauptete er nicht gleich,
er habe lediglich einmal versucht zu fliegen wie ein Vogel, und es sei ihm mißglückt?
„Sebastian Frideric-Horne, ein vielversprechender junger Anwalt – Bow Street Runner nebenbei und in dieser wertvollen Funktion in unseren Diensten“, sagte Vincent Morris, „ferner
das Mädchen Auberge - Bernice Ricarda Hanson, wie Mr. Holland sagt - und last not least
unser guter Freund Noah Whelmsley, drei kostbare Tote, die uns besonders wütend machen,
Mr. Copeland, wenn wir das so sagen dürfen - das macht rein rechnerisch Nummer dreizehn,
Nummer vierzehn und Nummer fünfzehn auf der Liste. Das mag übrigens jeder von uns individuell anders sehen – nicht wahr, Mr. Holland, Nummer dreizehn und Nummer vierzehn
stören Sie besonders – was mich betrifft, Copeland, ich würde Ihnen besonders gerne die Eingeweide herausreißen wegen unseres Freundes Noah Whelmsley.“
„Die Morde an allen diesen drei Personen hat Dr. Copeland bereits eingestanden“, warf Dr.
Gaddison ein und konsultierte seine Notizen, „so heißt das, er gibt insgesamt neun Morde zu.
Demgegenüber stehen als weitere Taten des sogenannten Quaestors auch noch die drei anderen ermorderten Diener im Pförtnerhaus, o’Haney, James Crucible und der letzte Schwarze,
so daß dies ebenfalls neun Tote sind, die auf dessen Konto gehen. Abermaliger Gleichstand.“
Dr. Gaddison kratzte sich mit seinem Stift in den Haaren über dem Ohr. Seine Brille funkelte.
Dann zeigte er mit dem Stift auf den Arzt im Ledersessel.
„Diese beiden Monster haben seit zwei Monaten“, sprach er leise, „- seit Montag, dem 13.
Oktober, um genau zu sein, als der Quaestor das Mädchen Asunción Lozano ermordete und
der Arzt ihr an der Leiche das chirurgische Herausoperieren von Herzen beibrachte - nicht
weniger als unglaubliche achtzehn Menschen auf dem Gewissen. Wissen Sie“, wandte er sich
an den Arzt direkt, „was man mit Ihnen machen sollte?“
„Ich weiß nicht“, entgegnete dieser lächelnd, „Sie werden’s mir gleich sagen …?“
Man hätte ihn in sein grinsendes Gesicht schlagen können. Jedoch: - Achtzehn Tote …,
dachte ich und fühlte mich vage irritiert. - Was war mit dem Quaestor, der notwendigerweise
auf Dr. Copelands Kappe ging …?!
„Meine Frau war unter den bedauernswerten Opfern“, sprach in diesem Moment Bo Swensson tonlos an meiner Seite. „Es hieß, mehrere Frauen und Männer seien an der Ermordung
beteiligt gewesen … die Kinder sprachen von mehreren Frauen und Männern, die herreingekommen seien – also … Sie und der Questor … - und wer noch?“
„Keine Ahnung“, meinte Dr. Copeland nachlässig.
„Es war in Bethnal Green, Sir“, fuhr Bo Swensson weiter in dieser sonderbar tonlos toten
Stimme fort, „Beulah Lane … bitte geben Sie sich Mühe und entsinnen Sie sich.“
Dr. Copeland faßte ihn das erste Mal genauer ins Auge.
„Ich entsinne mich ja“, sagte er leicht gereizt. „- Keine Ahnung, wer da noch mit war – zwei,
drei von den Negerdienern, falls es Schwierigkeiten mit Zeugen gegeben hätte, aber es waren
ja nur die Kinder da, und ich hab sie gleich oben eingeschlossen. Keine Ahnung, was die gesehen haben wollen. - Das Messer geführt hat Rose, da dürfen Sie sicher sein …“
„Sie haben vier kleinen Kindern und einem wenige Tage alten Säugling die Mutter genommen“, flüsterte Bo Swensson wie zuvor.
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Ich entsann mich des trächtigen Leibes der Leto, die aus gischtender Brandung auf den
schwarzen Felsen von Delos stieg ... Nichts mehr war da von alledem, nicht Mrs. Purcell …
nicht einmal dieses Bild …
Dr. Copeland saß in seinem Sessel und lächelte fein. Er wirkte nicht, als empfinde er bezüglich irgendetwas Reue oder Mitgefühl. „Abermals, Mr. Wie-auch-immer“, entwortete er
freundlich. „Ehre, wem Ehre gebührt. Mein Wort darauf, das Mädchen hat dies allein getan,
nicht ich – ich habe nur nach Eintritt des Todes bei der Operation assistiert.“
„Sie beide haben mir mir meine Frau genommen“, flüsterte Bo Swensson und zitterte.
Der Arzt zuckte die Achseln: „Von Erde sind wir genommen, Sir“, sagte er und blickte gelangweilt fort, „zu Erde müssen wir werden …“
In dieser Sekunde hätte ich mit Sicherheit damit gerechnet, daß Bo Swensson mit einem unermeßlichen Wutschrei vorspringen und über dieses Ungetüm in Menschengestalt herfallen
würde, aber es entrang sich nur ein trockener, schluchzender Laut seiner Kehle, und er blieb
ansonsten unbeweglich wie zuvor neben mir stehen. Ich bewunderte ihn dafür.
„Sie haben bei der Operation an Eusibia Purcell assistiert“, sagte Kirby leise. „Sie haben bei
all diesen Operationen assistiert.“
„Nein.“
„Nicht?“ Kirby zog die Augenbraue hoch.
Dr. Copeland verzog sein Gesicht zu gespielter Geduld. „Ich sagte es Ihnen bereits: Ich habe
ihr das bei der ersten gezeigt, dann, bei Eusebia und diesem Mädchen Rosetta habe ich assistiert, und von Stella Floyd an hat sie es alleine besorgt, Rose ist anstellig, kräftig genug, willig und äußerst geschickt, das habe ich gleich zu Beginn bemerkt …“
Stella Floyd … dachte ich … da hatte ich unmittelbar in der Nebenzelle in Besinnungslosigkeit gelegen, und Virginia Sykes besinnungslos neben Gossamer … da war dieses unheimliche Mädchen also allein hereingetreten und hatte Gossamer getötet und anschließend operiert
… Sie alleine war das gewesen, ohne den Arzt …
„Warum überhaupt … diese Operationen bei allen Mädchen?“ fragte ich in die Runde.
Dr. Copeland lachte laut auf, danach trat Stille ein. Das war und blieb zunächst seine einzige
Antwort auf die Frage.
„Das hat er uns vorhin schon gesagt“, knurrte Kirby düster, erklärend an mich gewendet, „das
heißt, wenn man mit solch einem Unfug irgendetwas anfangen kann und falls man das als
Antwort akzeptieren will.“
„Was hat er denn gesagt?“ wollte ich wissen.
Dr. Gaddison tippte mit dem Stift auf seine Unterlagen. „Richard Löwenherz“, sagte er.
Ich beugte mich vor. „Was?“ fragte ich irritiert.
Dr. Gaddison wiegte zweimal bedeutsam den Kopf. „Nun, das war es, was er gesagt hat, Mr.
Holland. Als wir ihn fragten, warum den Mädchen die Herzen herausgeschnitten worden
seien, lachte er, gerade so wie eben, und warf uns nur zwei Worte an den Kopf, nämlich ‚Richard … Löwenherz’ …“ Dr. Gaddison schlug mit einer endgültigen Bewegung seine Notizen
zu und strich sich angelegentlich ein Stäubchen von seinem Knie.
Ich war verwirrt – was sollte das? – Was hatte das Herz dieser Mädchen mit Richard Löwenherz zu tun?
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„Bildung, meine Herren“, sprach Dr. Copeland in die entstehende Pause hinein indigniert,
„ein paar grundsätzliche Kenntnisse in Theologie und Historie - und Sie nennen sich Public
Informer und Wissenschaftler … nein danke! – Richard Lionheart, Kreuzfahrer und König
von England“, wiederholte er abschließend und mit Betonung, und es war zu hören, daß er
nicht gewillt war, zu dem Thema noch weiteres zu äußern.
Wayne Leonard Kirby ließ ein trockenes Lachen hören, das fast wie Husten klang.
„Nun, Mr. Copeland“, sagte er, „das ist bedauerlich, daß wir Ihren intellektuellen Ansprüchen
nicht Genüge tun. – Auf die Frage, warum jungen Frauen und Noah Whelmsley derart barbarisch das Herz herausgerissen werden mußte, findet sich also nichts als die erschöpfende
Antwort: ‚Richard Lionheart’.“
Er sah sich – für seine Verhältnisse, der er nie lachte, fast amüsiert – in unserem Kreise um,
den schwarzen Hut tief in die Stirn gedrückt. „Nun, Sir, vielleicht können Sie dennoch etwas
dazu sagen, warum es überhaupt sein mußte. Wir begreifen zum Beispiel nicht so recht, wie
Sie damit davonkommen wollten – da Sie Ihre Morderei – wenn ich so sagen darf – derart
öffentlich betrieben, verstehen Sie? Sie beide haben sich ja kaum Mühe gegeben, irgendetwas
zu verbergen. Und wie die Dinge liegen, hinsichtlich der Strafe bei Mord, zumal mehrfachem,
kennt das Gesetz des Königsreich keine große Variabilität an Alternativen. Wir sprachen zuvor darüber, sie erinnern sich?“
„Ja, ich erinnere mich“, sagte Dr. Copeland biestig und schüttelte unwillig den Kopf. „Daß
keinem von uns daran lag, am Ende ‚davonzukommen’, wie Sie das so widerwärtig nennen –
auf den Gedanken sind Sie nicht gekommen?“ erkundigte er sich gehässig.
„Das heißt, Sie planten ein, am Schluß zu sterben?“ fragte ich fassungslos. „Sie planten ein,
sich erwischen zu lassen, die Sache freiwillig zu beenden? Haben Sie deshalb den Quaestor
getötet, mit seinem … ihrem Einverständnis?“
Ich beobachtete aus dem Augenwinkel, wie alle Köpfe sich langsam zu mir herumdrehten.
„Eine Geschichte dauert, so lange sie dauert“, sagte Dr. Copeland mit eisiger Stimme. „Sie
hat einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß – jeder weiß das. Was verwundert Sie daran? –
Ja, wenn die Sache abgetan und beendet ist, werden wir sterben, jeder für sich in seiner Rolle
und jeder für sich an seinem Platz. Und das war von Anfang an so vorgesehen, ja. - Mit Ihnen
über diese Dinge zu reden“, setzte er abfällig hinzu, „das ist, als wolle man mit einem Trüffelschwein die Vorzüge der provençalischen Küche diskutieren …“
„Oh bitte, lassen Sie uns ein wenig Trüffelschwein spielen“, bat Dr. Gaddison ruhig. „Sie
haben einen Plan. Wer hat ihn? Sie? Das Mädchen? - Einerlei, da ist dieses Mädchen. - Das
ist alles, was Sie haben werden, alles, die ganze Welt für ein halbes Jahr - an der Seite dieses
Wesens, das sich als glatzköpfiger Sekretär verkleidet hat, richtig? - Ein Leben, nein, alles
was man in einem Leben überhaupt haben kann, werden Sie haben, so kostbar, so intensiv,
kondensiert in ein einziges halbes Jahr, kurz, ewig, vergänglich, aber am Ende genug für die
Unendlichkeit. Liebe. Die heimliche Verbindung, die pure Wollust zuerst, die heimlichen
Treffen und Vereinigungen in den stillen Winkeln der Anwesen Sir Enid Luciters - man mag
sich das vorstellen, die Begierde, die Wollust, die dann nicht mehr reicht, für das ganz Besondere, das Außergewöhnliche, als das Sie beide sich sehen, zwei Götter auf Erden in der Umarmung - wenn nicht der Kitzel des gänzlich Verbotenen hinzutritt. Und so … Stück für
Stück, immer weiter, immer Ausgefalleneres, immer Schlimmeres, wie eine Epedemie, die
sich ausbreitet, wie ein Damm, der bricht, erst eine kleine Lücke, dann ein Sturzbach, am
Schluß der Rausch der Vernichtung. Alles ganz bewußt, das unstillbare Glück mit ihr, teilen
mit ihr, alles mit ihr teilen, Dinge, die niemand sonst mit irgendwem teilt in der Welt, sogar
Gewalt, gemeinsame Gewalt, gemeinsame Herrschaft über Leben und Tod – grauenvolle
Morde, orgiastisches Wälzen in Blut, Herzen herausreißen, Exzesse in Leibern. Sie: Pygma504
lion, der Lehrer,- und dieses Wesen, der Quaestor, Bernadette Rose Hanson: das Ding von
Ihrer Hand und ihre höllische und himmlische Geliebte – oder war es umgekehrt? Wer hat
wen gemacht, Doktor, und wer machte den Plan? Und gleich noch eine weitere Frage: Wie
macht sich das Trüffelschwein?“
Dr. Copeland saß tief, wie es schien, in Gedanken versunken. Dr. Gaddisaon staubte sich ein
weiteres Mal das Knie ab.
„Sie machte den Plan“, sagte Dr. Copeland, „was kein Herausreden aus der Verantwortung
meinerseits sein soll. Sie und ich, wir sind gleich schuldig.“
„Falls man von Schuld überhaupt sprechen kann, meinen Sie“, sagte Dr. Gaddison. „Sofern es
nicht eher um die Frage geht, wer hat wen zuerst geliebt?“
Dr. Copeland sah auf, halb überrascht. - Nach einem Moment lächelte er Dr. Gaddison an –
quasi von Kollege zu Kollege - und sagte freundlich: „Sehen Sie?“ – so wie man feststellt:
‚Quod erat demonstrandum, was habe ich immer gesagt?!’
Er wirkte einen Augenblick zerstreut, sah sich nervös auf seiner Schreibtischplatte um und
zog rechts eine Schublade auf, als suche er etwas.
„Können wir Ihnen helfen?“ fragte Kirby scharf.
Copeland konzentrierte sich, schaute Kirby an, winkte ab, hatte sich schon beruhigt, schob die
Schublade zu, kramte jedoch weiter auf dem Tisch. Er schob ein paar Papiere beiseite, dort
lag eine leere Spritze. Dr. Copeland lehnte sich entspannt zurück und faltete die Hände vor
dem Bauch, schaute Kirby an, die Aufforderung im Blick: ‚Machen Sie weiter’.
„Wer von Ihnen hat wen zuerst geliebt?“ wiederholte Dr. Gaddison traumverloren.
Dr. Copelands Kopf wanderte von Kirby zu Gaddison. „Ist das wichtig?“
„Nein“, sagte Dr. Gaddison und lächelte. „Natürlich nicht … aber interessant zu wissen.“
Die beiden Ärzte schauten sich einen Augenblick lang sonderbar an.
„Jedenfalls vermisse ich sie, Sir“, murmelte Dr. Copeland dann, „und bedaure, daß sie nicht
hier ist.“
„Noah Whelmsley“, schaltete sich in dem Moment Kirby hart ein. „Wieso, verdammt, der
nach allem auch noch?“
Dr. Copeland mußte sich sichtlich konzentrieren, um auf die Frage zu antworten. „Er störte
unsere Kreise“, erklärte er dann einfach und offen, an Kirby gewandt. „Er hatte uns in dem
verfallenen Wirtshaus auf der Isle of Dogs bei der Arbeit gesehen.“
Wieder war diese vage Irritation in mir. ‚Uns’, - wieso ‚uns’? - Zu dem Zeitpunkt war der
Quaestor bereits tot gewesen, wenn ich mich nicht täuschte – und was hieß: bei der Arbeit
zugesehen. Copeland war längst weggewesen, als ich aufgetaucht, und Noah Whelmsley war
nach mir gekommen … Von welcher Arbeit wurde hier gesprochen?
„Wir haben Noah Whelmsley noch in der gleichen Nacht getötet“, erläuterte Dr. Copeland
leidenschaftslos. „Rose verwickelte ihn in ein Gespräch – auf der Isle of Dogs, unten am
Wasser. Als er das Wirtshaus verließ, rannten wir ihm hinterher; wir kriegten ihn, sprachen
mit ihm, überzeugten ihn – jedenfalls für den Moment; Rose schaffte es irgendwann, er ließ
sie aus seinem Seehundszahn trinken und bei der Gelegenheit tat sie etwas hinein. Später, als
er selber wieder trank, passierte es. Er lief weg, aber er kam nicht weit. Als er besinnungslos
lag, taten wir es.“
„Kann mir jemand sagen“, peitschte meine Stimme ungeduldig durch den Raum, „was das
ganze Theater soll?! - Was soll der Kram mit Rose? Rose war tot; Dr. Copeland hat sie getö505
tet, ihr das Herz entfernt. - Was soll Noah Whelmsley gesehen haben, das er nicht sehen
durfte? – Weshalb mußte er sterben?! - Ich war schließlich vor ihm da, und ich habe auch
nichts gesehen! Ich war da, genau wie Noah Whelmsley, und niemand hat versucht, mich zu
ermorden!“
„Nein“, stimmte Dr. Copeland bei und grinste sardonisch, „Mr. Holland hat in der Tat nichts
gesehen. - Was hätte Mr. Holland je gesehen?! - Und deshalb trachtete Mr. Holland auch
niemand mehr nach dem Leben, - nachdem er erst einmal in der Mine nicht umgekommen
war. Und ihn, diesen unerträglichen Störenfried, damals in Cornwall endlich aus dem Weg zu
räumen, das war wohl am ehesten Sir Enids Idee gewesen, nicht unsere.“
„Isle of Dogs“, fragte Wayne Leonard Kirby mich mit Schärfe. „Was, verflucht, Mr. Holland,
haben Sie da nicht gesehen?!“
„Ich weiß nicht, was ich da nicht gesehen habe, Sir!“, rief ich aufgebracht und fixierte den
Höllendoktor dabei mit mordlustigen Augen. „Was ich gesehen habe, waren drei Leichen: Die
meines Freundes Sebastian Frideric-Horne, die des Mädchens Auberge und die des Quaestors.“
„Das ist interessant“, sagte Wayne Leonard Kirby mit knirschender Stimme. „Drei Leichen. –
Als wir dort hinkamen, haben wir nur zwei gefunden: Ihren Freund und Ihre Freundin … und drei Tage später die von Noah Whelmsley, aber nicht die des Quaestors.“
Ich war sprachlos.
„Machen Sie sich eines klar: Der Quaestor ist irgendwo unterwegs“, sagte Wayne Leonard
Kirby, „mit den traurigen Überresten der letzten der ‚Geliebten des Zeus’ in seiner Begleitung, Virginia Sykes, Sie erinnern sich … und wir müssen davon ausgehen, daß der Plan bis
zur Letzten und bis zur Siebenten fortgeführt wird …“
Ich war sprachlos – aber ich hatte diese Leichen, alle diese Leichen doch dort liegen gesehen,
in jenem Wirtshaus auf der Isle of Dogs …
In diesem Moment hatte Dr. Gideon Copeland nach der Spritze gegriffen, die vor ihm auf
dem Schreibtische lag. Er hatte einen Moment lang sie angesehen und verträumt gelächelt.
Dann hatte er sie genommen und mit einer ausholenden Bewegung sie sich in seine Brust, in
sein eigenes Herz gejagt und zugedrückt, hatte blitzschnell die leere Kanüle in sein Herz geleert.
Kirby sprang auf, alle anderen setzten herzu, aber keiner von uns war schnell genug gewesen.
Dr. Copeland war in dem bequemen Büffelledersessel hinter seinem Schreibtisch jäh zusammengesunken, sah klein und kindlich blaß aus und hilflos.
Kirby war als erstes bei ihm, er packte ihn am Kragen.
„Ich vermisse sie“, wisperte der Arzt mit kleiner Stimme. „ich würde sie gern bei mir haben.
Ich werde sie sehen …“ Er litt schreckliche Schmerzen, das konnte jeder von uns erkennen.
„Was war in der Spritze?!“ keuchte Wayne Kirby erzürnt.
Dr. Copeland lächelte. „… zu spät zum Hängen, Kirby …“
„Was war in der Spritze?!“ wiederholte Kirby brüllend.
„Nichts …“, lächelte Dr. Copeland.
„Und Ihre Familie?“ fragte Dr. Gaddison den Sterbenden. „Ihre Frau … Ihre Kinder …? Was
wird aus denen?“
506
„Menschen kommen … Menschen gehen … das Universum … die Unendlichkeit … ich
werde Rose wiedersehen … auf sie warten … sie trägt mein Kind …“
Wayne Leonard Kirby schüttelte grob den Davongehenden. „Was war in der Spritze?“ fragte
er zum dritten Mal, diesmal flüsternd.
Dr. Davis Gideon Copeland sah ihm direkt in die Augen. „Nichts …“, flüsterte er. „-… Dunst
… Äther … Zephir … der Odem Gottes …“
Sein Kopf sackte zurück, rutschte an dem Büffelleder des Sessels ein Stück weit ab, seine
Augen sahen grau aus und erloschen.
„Zur Hölle mit diesem Unflat!“ fluchte Wayne Leonard Kirby, ließ den Leichnam los, stand
auf und wischte sich angeekelt seine Hände an seiner Kleidung ab. Auch alle anderen im
Raum waren näher herangetreten.
Und gerade da hatte ich eine halbe Bewegung wahrgenommen, aus dem Augenwinkel. Ich
hatte blitzschnell reagiert und hingeschaut, wahrscheinlich noch vor jedem anderen im Raum,
ich hatte geschrien, hatte hellauf geschrien, weil die Zeit nicht gereicht hatte, vernünftig eine
Botschaft für die anderen zu formulieren. Ich hatte geschrien und gesehen - und es war mir
mit der Schärfe einer tödlichen Säure ins Gehirn gefahren.
Dort oben, am rechten der beiden kleinen, winzigen Zellenfenster, direkt unter der Decke des
Ordinationsraumes von Dr. Copeland, hatte ich eine gebückte, gebeugte Gestalt gesehen, ein
Gesicht, das sich eine Sekunde heranbeugte und weiß hereinstarrte und herniederstarrte zu
uns, und das im selben Moment schon wieder zurückgegangen, sich zurückgezogen hatte in
die Dunkelheit, die jetzt dort draußen fiel – aber Herrgott! - ich hatte es gesehen!
Die anderen, auf meinen Schrei hin, längst zu spät, hatten ebenfalls dort hinaufgestarrt, aber
da war dieses verstörte, kleine Gesicht schon wieder von dort oben verschwunden gewesen.
„Was brüllen Sie hier herum wie ein Stier?!“ erkundigte sich Wayne Kirby ungehalten.
Ich hatte mit eigenen Augen den Quaestor in dem alten Wirtshause auf der Isle of Dogs liegen
gesehen, dahingeschlachtet, mit herausgerissenem Herzen …
Jetzt wurde mir klar, daß diese Ausgeburt der Hölle lebte.
.....
Als Franklin Stifel an die Tür meiner Kammer hämmerte, war es schon gegen Abend, drei
oder vier Tage nach meinem Erlebnis im Bedlam.
„Kommen Sie“, sagte er. Er hinkte weniger als zuvor, war ordentlich gekleidet, wirkte durchaus tatendurstig, sein Beinverband – und ich war sicher, daß er noch einen trug - war unsichtbar unter seiner Kleidung versteckt.
„Wohin?“ fragte ich.
„Ich bin sicher“, sagte er.
„Bezüglich wessen“, fragte ich.
„Virginia Sykes ist in den Kellern von ‚Morass Manor’.“
„Und Sie sind sicher“, vergewisserte ich mich.
507
Ich erkundigte mich, wie er es normalerweise immer gehalten, nach ‚Morass Manor’ hinauszugelangen, wenn er an einem Tage wie diesem dort seinen Dienst anzutreten gehabt – und er
sagte mir, daß heute Montag sei – was ich wußte, Montag, der 15. Dezember – und daß er an
diesem Wochentage üblicherweise abends mit Peter Hobblit zurückreise, der ein- oder zweimal im Monat hereinkomme, um Notwendiges in London einzukaufen.
„Wo können wir ihn treffen?“
„Oxford Street, Savile Road, in einer knappen Stunde.“ Das war nicht weit von Soho, wo er
wohnte, eine Geringfügigkeit weiter von hier.
„Das haben Sie gut gemacht, Mr. Stifel“, sagte ich und lächelte.
Ich zog mich ausgehfertig an. Wir liefen zu meiner Wirtin hinunter, um ihr flüchtig Bescheid
zu sagen, ich mochte nicht recht in ihr sorgenvolles Antlitz sehen. Manchmal, gelegentlich,
kam mich selber Kummer an, wenn ich in das Gesicht von Mrs. Hamlet schaute. Was mochte,
dachte ich, heutzutage nicht Böses möglich sein in London – jetzt, wo selbst so ein Sicherheit
gebietender Mensch wie Noah Whelmsley nicht mehr unter uns weilte, um aufzupasssen?
Dann gingen Franklin Stifel und ich hinaus, liefen durch die abendlich belebten Straßen.
„Und?“ fragte ich. „Sie halten es für möglich, daß ich heute dort lebend hineingelange? –
Immerhin – Sie erinnern sich, wie wir seinerzeit in Ihrem Zimmer Pläne geschmiedet: der
äußere Zaun, die innere Mauer, das Gartentor, die Hunde, die Weinrutsche, Mrs. – wie hieß
sie gleich – Mrs. Danray?“
Franklin Stifel schnaubte vor sich hin, als wenn er lache – aber es war mitnichten amüsiert.
„Mr. Holland“, sagte er. „Heute nachmittag hat mich Steven Grains besucht, das ist jener, den
ich damals mit der Kleidung von Sir Enid zu Ihnen geschickt. Er meint, Virginia Sykes sei im
Hause, und wenn er das meint, glaube ich es unbesehen. Das Haus … nun … das Haus. Was
glauben Sie, wie es dort inzwischen aussieht? Es ist alles zusammengebrochen, Sir, Mr. Holland, seit der Herr nicht mehr lebt. Da führt niemand mehr das Regiment, auch Mrs. Danray
nicht. Die Gute hatte letzte Woche einen Zusammenbruch. Jetzt liegt sie in ihrer Kammer und
hat Schaum vor dem Mund, ißt nichts, trinkt nichts … wir denken, sie wird sterben, Sir. Die
wenigsten von uns gehen noch hin, Steven Grains und ich und ein paar andere, und wir sitzen
dort in der Küche und unterhalten uns. Wir essen die Vorräte, Sir, die es dort noch gibt“, sagte
er und errötete dabei, „und wir trinken von dem, was da ist. Einige von den Hunden sind im
Zwinger verhungert, zwei von ihnen sind erstochen worden, wir wissen nicht, von wem. Der
Rest von ihnen ist fort, Sir, mit den Hundeführern, gestohlen, wenn Sie wollen. Es ist ein trauriges Ende, Mr. Holland, ein trauriges Ende. Wir alle werden uns über kurz oder lang eine
andere Arbeit suchen, suchen müssen, denn dort passiert nichts mehr. ‚Morass Manor’, Sir,
kommt nicht mehr in Ordnung …“
Wir liefen schweigend nebeneinander.
„Was Ihre Frage betrifft, Sir“, sagte er, „ob Sie dort gefahrlos hineinkommen werden, versichere ich Sie, gefahrloser, als wenn Sie London Bridge überqueren wollten.“
„Also“, meinte ich, „spazieren wir dort hinein, holen Virginia Sykes heraus und gehen wieder,
ist das so gemeint?“
„Deshalb bin ich heute abend bei Ihnen vorstellig geworden“, stimmte Franklin Stifel mir zu.
„Steven Grains meint, Virginia Sykes sei dort – und Steven Grains ist nicht der Junge, derlei
zu behaupten, wenn es Unsinn ist, Sir. Also gehen wir davon aus, daß sie da ist – und holen
sie heraus.“
„Und der Quaestor?“ fragte ich. „Ist dieses Monster auch da?“
508
„Wenn der Quaestor da wäre, hätte ich das von Steven Grains gehört, Sir“, sagte Franklin
Stifel fest.
Jetzt, wo er die lange Strecke neben mir herschritt, konnte ich doch noch deutlicher sein Hinken wahrnehmen.
Wir trafen Peter Hobblit mit seinem Karren an der verabredeten Stelle. Es war nett, ihn wiederzusehen – schön - irgendwie fühlte ich mich zurückversetzt in eine wärmere Vergangenheit. Ich sah uns wieder lautlos den nebligen Fluß hinabtreiben, damals, im weißen Mondschein jener Nacht. Peter Hobblit hatte mich hingebracht und glücklich herausgeholt … Jetzt
fuhren wir den Weg aus der Stadt und über die Heide, die ich zuletzt, viel stürmischer, mit der
Stagecoach nach Cornwall gerollt – und in anderer Richtung … in einer warmen Septembernacht … in der Kutsche meines lieben Freundes Seb … Ich saß dort auf dem schaukelnden
Gefährt Mr. Peter Hobblits, und da ich verhältnismäßig sicher war, daß es keiner meiner Mitfahrer bemerken würde - die beiden saßen vorne, ich hinter ihnen - ließ ich für eine Weile
meinen Tränen freien Lauf.
Hier, diesen sandigen Weg entlang, war ich damals in der anderen Richtung zu Fuß gegangen.
Ich schaute nach hinten hinaus und hatte dieselbe Sicht. Es war über Halbmond, eine klare
kalte Nacht, das Licht über der weiten Heide nicht unähnlich der Situation damals, wo die
Wolkenwand hinter mir heraufgerückt …
Hatte ich nicht eine schlanke Frauengestalt, nicht ein wehendes, weißes Gewand dort im
Nachtwind erblickt? Ihr Gewand zerfloß in der Luft und glitt von ihrem Leib wie Wasser, nun
schritt sie nackt und bloß … Mir stockte der Atem und ich blieb stehen, doch im nächsten
Moment schon war die Frau, die ich vermeinte gesehen zu haben, vor meinem Auge verschwunden, und eine geisterhafte, fahle Kuh, eine Färse, stäubte lautlos wie Rauch über die
Heide, ohne den Boden zu berühren - und weit in die Ferne hinein und davon ... davon ... Ich
stand allein und erschauerte.
Ganz recht, ganz recht, dachte ich und schaukelte auf dem Karren Peter Hobblits … so war
das damals gewesen, in einer sommerlichen Herbstnacht … in einer wärmeren Vergangenheit.
.....
Peter Hobblit nahm den südlichen Weg, hinein in die Themseschleife, ich sah, wie damals in
jener so lange zurückliegenden Nacht, entfernt am Ufer die Reihe der den Fluß begleitenden
Pappeln im Mondlicht stehen.
Peter Hobblit kehrte sich über die Schulter und sagte zu mir: „Noch zehn Minuten, Sir.“
Ich dachte an das Kaminfeuer in seinem Hause und wie wir nächtens die köstliche Mahlzeit
an dem großen Tisch eingenommen, bevor wir den Fluß hinuntergetrieben.
„Grüßen Sie Ihre Frau von mir, Mr. Hobblit“, bat ich, „und Ihre Kinder, falls sie sich erinnern. Danken Sie ihnen noch einmal.“
„Das will ich sehr gerne tun, Sir“, versprach er über die Schulter.
Dann waren wir in der Tat bei ‚Morass Manor’ angekommen, auf der Straßenseite, unter den
Chauseebäumen. Dort war der Zaun, wir rollten noch ein Stück, dort war der Eingang mit den
zwei hohen Säulenpfeilern rechts uns links, wo ich mein erstes Gespräch mit Franklin Stifel
geführt und das Silberstück fallen gelassen. Da die mondfleckige Allee, wo die Kutschen und
509
die Kutscher auf die Gäste drinnen gewartet – ich entsann mich – wie ein Zigeunerlager:
Überall die kleinen Feuerchen an der Erde. Und die Fackeln seitlich im Kies stekkend im
Halbkreis an der runden Auffahrt. Heute waren keine Fackeln da und keine Menschen oder
Kutschen zu sehen, alles leer und vereinsamt im Mondlicht, das Frontgitter halb offenstehend,
der Wind über dem Grundstück, das dunkle Haus dort liegend wie vor Generationen verlassen.
Franklin Stifel und ich stiegen herunter, drückten Peter Hobblit die Hand und schauten seinem
rumpelnden, knirschenden Fuhrwerk hinterher, bis es verschwunden war.
Franklin Stifel trat auf das halboffene Tor zu und schob es noch eine Spur weiter auf, obwohl
dies nicht nötig war. Er wies auf den Pfeiler, gegen welchen er damals gelehnt. „Wissen Sie
noch …“ fragte er halblaut.
„Ja“, sagte ich, „gewiß … ich habe auch schon daran gedacht, Mr. Stifel.“
„Dann kommen Sie“, meinte er entschlossen, und wir betraten das verwilderte Grundstück.
„Keine Hunde – sehen Sie?“ sagte er.
Wir schritten um das Halbrund der kiesknirschenden Auffahrt auf das Haus zu. Hier hielt sich
Franklin Stifel rechts entlang gegen das Mäuerchen zum Gewürzgarten, das ich in jener Nacht
aus der anderen Richtung überklettert. Wir kamen an das Gatter, es war nicht verschlossen,
nur angelehnt, und er zog es auf. Der ganze Weg war frei – es war fast unheimlich: Jeder hätte
hier jederzeit hereinmarschieren können.
Wir folgten im Mondlicht den glatten Wegen zwischen den Beeten. Rechts war die Mauer,
über die ich gekommen, links am Bodenwinkel der Hauswand die jetzt geschlossene Luke zur
Rutsche in den Weinkeller, durch die ich damals hineingelangt.
„Kommen Sie“, wiederholte Franklin Stifel. Er sprach nur halblaut, gedämpft, als ob uns jeden Augenblick bei unserem verbotenen Tun jemand hätte erwischen können – dabei war dies
Unsinn, hier war niemand.
Jetzt steuerte Stifel eine großenteils aus Sprossen bestehende Tür etwa in der Mitte der mondbeschienenen Hauswand an. Aus seiner Schilderung von damals in seiner Dachkammer in der
Frith Street schloß ich, das dahinter die Küche und der Trakt für die Dienerschaft liegen
mußte.
„Kommen Sie“, sagte er abermals. Mir ging das ständige „Kommen Sie“ auf die Nerven – ich
kam ja.
Franklin Stifel drückte vorsichtig die Tür auf, die ins Haus führte, drinnen war es völlig dunkel. Er gab mir mit dem Kopf ein Zeichen, ihm zu folgen und trat voran aus dem Mondlicht.
Als ich ihm hinterher ins Finstere nachkam, sagte er: „Warten Sie.“
Ich wartete, wie ich geheißen, an der offenen Tür. Ich hörte ihn im Dunkeln herumtappen,
dann ein Licht entzünden. Das Licht flammte auf, er stellte es auf den Tisch. Es war in der Tat
eine weitläufige Küche mit Herd, Esse, Tisch, Stühlen, Borden für Töpfe und Kellen aus Kupfer.
„Nehmen Sie Platz“, sagte er und wies auf einen Stuhl. Dann ging er nach hinten, kramte
herum und kam zurück, um ein zweites Licht zu entzünden. Die Küche in doppelter Helligkeit
zu sehen war angenehm.
Ich setzte mich, wie geheißen auf einen Stuhl. „Was haben Sie?“ fragte ich.
„Ich weiß nicht“, antwortete er. So, wie er es sagte, hörte ich zum ersten Mal, daß er Angst
hatte.
„Was haben Sie?“ fragte ich erneut, dringlicher, alarmiert.
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„Ich weiß nicht“, antwortete er ebenso. „Irgendetwas stimmt nicht.“
„Was stimmt nicht?“ Meine Stimme klang schrill.
„Ich weiß nicht, Sir“, sagte er zum dritten Mal. „Irgendetwas stimmt nicht. Niemand ist da.“
Wir schauten uns über die Kerzenflammen an, eine ganze Zeit.
„Also gut“, sagte er schließlich. „warten Sie hier. Ich mache einen Rundgang durch’s Haus
und sehe nach, ob alles in Ordnung ist. Dann komme ich zurück, und wir gehen in den Keller
und holen Virginia Sykes heraus.“
„Soll ich Sie begleiten?“ fragte ich.
Er überlegte, schüttelte den Kopf. „Das wäre Unsinn. Sie kennen sich hier nicht aus. Ich gehe
schauen, wie es Mrs. Danray geht. Ich werfe überall einen schnellen Blick und komme sofort
zurück.“
„Gut.“ Ich nickte.
Er nahm das Licht und ging aus der Küche, und ich blieb bei halber Beleuchtung zurück.
Nach einigen Sekunden hörte ich ihn nicht mehr. Die Angst packte mich an wie mit weichen
Tatzen.
Wieder war ich in diesem Haus. Hier hatte vor so langer Zeit im hellen Fackelschein und an
einem Sommerherbstnachmittag die Vernissage stattgefunden, in die ich mich verbotenerweise eingeschlichen. Hier hatte mich Sir Enid in dem schwülen Ampelzimmer verhört, hier
hatte er den Quaestor hinausgeschickt. Hier war ich eines Nachts eingedrungen, hatte James
Crucible kennengelernt, hatte vierundzwanzig Stunden im Keller verbracht. Stella Floyd war
neben mir ermordet worden, Virginia Sykes hatte den Verstand verloren. Ich war wieder
glücklich ausgebrochen, mit einem Teewagen durch die französischen Fenster des großen
Salons.
Und jetzt war ich wieder hier und wartete auf die Rückkehr Franklin Stifels. Die Minuten
vertickten lautlos. Es war so still, daß ich meinte, draußen das Mondlicht hinter der halboffenen Küchentüre rieseln zu hören.
Als er zurückkam, konnte ich behaupten, daß die vergangenen zehn oder fünfzehn Minuten zu
den unangenehmsten meines Lebens gehört. Er setzte sich zu mir an den Küchentisch und
stellte sein Licht ab.
„Das ist merkwürdig“, murmelte er.
„Was ist merkwürdig?“ fragte ich.
Er zuckte die Schultern.
„Niemand ist da.“
„Was heißt: Niemand ist da?“ fragte ich unwirsch.
Er zuckte die Schultern und guckte betreten. „Wie ich es Ihnen sage: Niemand ist da. Und das
ist merkwürdig.“
Ich schwieg.
„Heute nachmittag ist Steven Grains von hier fortgegangen“, erläuterte er. „Da müssen aber
noch einige dagewesen sein, denn sonst hätte er es mir gesagt: Macauley, Dennehy, Climber,
Frakes – jetzt ist niemand mehr da, sogar Mrs. Danrays Kammer ist leer, ihre Belange sind
fort. Wir sind die beiden einzigen Personen hier im Haus.“
Ich spürte, wie mich eine Gänsehaut überfuhr. „Und? … waren Sie im Keller?“ fragte ich.
„Haben Sie nach Virginia Sykes gesehen?“
511
„Nein“, antwortete er unbehaglich. „Ich dachte, das machen wir zusammen.“
„Ja sicher“, sagte ich grob. „Das machen wir zusammen. Deshalb sind wir hier.“ Ich zeigte
auf die Lichter. „Wir nehmen beide Kerzen mit.“
Wir standen auf, tappten zur Küchentüre. Franklin Stifel nahm sich alle Schlüssel vom Bord,
die er brauchte.
„Augenblick“, murmelte ich.
Ich ging zu dem anderen Küchenbord hinüber und zog mir dort ein Messer aus dem Schlitz.
Die Klinge maß mehr als eine Handspanne.
„Wollen Sie auch eines?“ fragte ich Franklin Stifel.
Er antwortete nicht, zeigte nur einen äußerst unglücklichen Gesichtsausdruck, der etwa soviel
besagte wie: Malen Sie den Teufel nicht an die Wand.
Ich zuckte die Schultern, steckte das Messer seitlich an der Hüfte in den Hosenbund und
folgte ihm zur Türe nach. Im übrigen hatte er recht: Woher wollte ich wissen, wie ich mich
anstellen würde, sollte es dazu kommen, daß ich es einsetzen mußte.
Den Korridor draußen kannte ich nicht, aber es war nur ein kurzer Weg, der mir neu war.
Dann stiegen wir eine Treppe hinunter, und unten erkannte ich den Gang, der an den Weinkellern vorbeiführte.
„Ich weiß, wo wir sind“, sagte ich.
„Ja, Sir“, murmelte Franklin Stifel.
Wir traten heran, er schloß die Türe am Ende des Korridors auf, wir traten hindurch. An dieser Stelle hatte ich James Crucible veranlaßt, mich zu verlassen, hier hatte ich ihn zum letzten
Male lebend gesehen, dort im Hintergrund war ich die Treppe hinaufgestiegen, vor den Gemächern von Sir Enid vorbei und hatte meinen berstenden Ausbruch durch die Salonfenster
unternommen, war, einmal vom Glück begünstigt, von hier entkommen.
Wir wandten uns links hinunter in Richtung auf die Zellen, unterquerten, wie ich wußte, die
ganze Länge des Hauses. Am Ende war die nächste Tür, Franklin Stifel schloß sie auf, ein
weiterer kurzer Gang, der nach links abbog, wir liefen ihn hinunter, dort die schwere Tür zu
den Verliesen, in denen ich vierundzwanzig Stunden meines Lebens verbracht. Mein Herz
schlug wie im Fieber.
Franklin Stifel stieß den Schlüssel ins Schloß, drehte zweimal herum und öffnete die Tür.
Damals hatte mich hier Virginia Sykes begrüßt, wenn man das so nennen konnte, aufgebracht
und verletztend. Jetzt herrschte hinter der Tür völlige Finsternis.
Ich drängte mich an dem Diener vorbei, hielt die Kerze hoch, warf einen Blick nach rechts
hinein in die leere Zelle, die dort gähnte, und steuerte die Räume linkerhand an. Der erste
Raum – hier war Gossamer Floyd ermordet worden, der zweite Raum, dies war meine Zelle
gewesen. Hier lag auch noch Stroh wie damals, und hier fand ich Virginia Sykes auf dem Boden. Sie starrte mit rotentzündeten Augen aus der Finsternis in das Licht, das ich brachte, die
Lippen vertrocknet und rissig, das Gesicht weiß und schuppig, kurz vor dem Verdursten.
Ich setzte die Kerze ab, zog das Messrer aus dem Hosenbund, um mich nicht zu schneiden,
ließ es ins Stroh fallen. Ich warf mich auf den Boden und griff nach dem Mädchen, schloß es
in die Arme.
„Schauen Sie, ob es hier etwas zu trinken gibt“, rief ich über die Schulter.
Ich hörte ihn herumsuchen und murmeln, dann kam er mit einem Krug Wasser herein.
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„Kommen Sie her“, befahl ich. Er kam heran und reichte mir das Gefäß. Ich tauchte den Finger hinein, netzte ihn und strich ihr damit über die Lippen. Die ganze Zeit schauten mich ihre
Augen groß und hohl und offen an – es brach mir das Herz.
Dann hörte ich, wie die Zellentüre zugeschlagen ward und wie der Schlüssel zweimal gedreht
wurde.
„Haben Sie den Schlüssel nicht abgezogen?“ fragte ich zu Tode erschreckt Franklin Stifel, der
neben mir hockte - und der mich genauso verängstigt anstarrte wie ich ihn.
„Warum?“ wisperte er. „Ich dachte, wir nehmen sie und sind in einer Minute hier wieder heraus …“
Ich entließ Virginia Sykes aus meinen Armen, bettete sie vorsichtig zurück ins Stroh, nahm
die Kerze auf und lief zurück in den übernächsten Raum. Gegenüber unserer Zugangstür blieb
ich stehen, atmete tief, probierte die Klinke. Es war abgeschlossen. Ich stand dort wie erstarrt.
Als ich dort noch verweilte, klopfte es von draußen dreimal langsam gegen das Holz, wie ein
Hohn, wie um Einlaß zu bekommen. Dann hörte ich eine Frau leise lachen.
.....
„Draußen ist der Quaestor“, sagte ich zu Franklin Stifel. Ich war zurückgekehrt in den anderen Raum, wo der Diener neben Virginia Sykes an der Erde hockte und jetzt mit der blanken
Panik im Blick zu mir aufschaute.
„Nichts gegen Ihren Steven Grains“, knurrte ich. Ich sah ihn im Geiste vor mir, den jungen,
braungelockten, sympathischen Burschen, der mir damals die Kleidung von Sir Enid gebracht. „Nichts gegen Steven Grains, Stifel“, wiederholte ich, „aber seine Informationen sind
einen feuchten Kehricht wert. ‚Wenn der Quaestor da wäre, hätte ich das von Steven Grains
gehört,’ - ich darf Sie an Ihre Worte erinnern! Verdammt, er hat uns eine Menge nicht gesagt.
Hier hat sich in den letzten Stunden einiges geändert.“
„Wir hätten uns gar nicht darauf einlassen dürfen“, stieß Franklin Stifel hervor. „Als hier
niemand war, hatte ich gleich ein sonderbares Gefühl. Als Mrs. Danrays Stube leer war, hätten wir Unrat wittern müssen, Herrgott“, er schlug sich voller Zorn mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Wir hätten aus der Küche hinauslaufen müssen, unsere Beine in die Hand
nehmen und rennen, was das Zeug hält! – Sofort! – Gütiger Himmel, wahrscheinlich ist dies
die gerechte Strafe Gottes für grenzenlose Torheit!“
Ich dachte darüber nach, was er gesagt. Vermutlich lag er nicht allzu fern von der Tatsache.
Andererseits hatten wir Virginia Sykes hier herausholen wollen - richtig oder nicht? Nun also
… indessen, dachte ich mir, wäre es vielleicht schlauer gewesen, dies nicht alleine zu versuchen, sondern stattdessen Kirby und seine Truppe hierauf anzusetzen, meinethalben die
schwarzen Prairiemänner auf dem Ausflug hierher zu begleiten. Andererseits … andererseits
war Franklin Stifel bei mir aufgetaucht, und das Ganze hatte sich mir als nicht mehr als ein
ausgedehnter Spaziergang dargeboten - ich erinnerte mich seines Vergleichs, es sei ungefähr
so gefährlich wie die London Bridge zu queren … Kreuz und Hölle, ich hätte es besser wissen
sollen …
Zwei und zwei war vier. Im Bedlam hatten wir allesamt noch darüber debattiert, daß der
Quaestor mit Virginia Sykes - immer noch mit Virginia Sykes - unterwegs war, um den Plan
513
abzuschließen: sie zu töten, ihr das Herz herauszunehmen. Deshalb, als es geheißen, Virginia
sei hier in ‚Morass Manor’ – grundgütiger Gott! – da hatte ich mir nicht ausrechnen können,
daß der Quaestor nicht fern wäre – wie immer die Aussage eines Steven Grains dagegen auch
lautete?!
Gottes gerechte Strafe für grenzenlose Torheit! Ich mußte lachen. Franklin Stifel hatte recht,
hatte absolut recht, und die grenzenlose Torheit betraf uns beide, einen wie den anderen …
„Was lachen Sie?“ fragte er mich eingeschüchtert.
„Wovor haben Sie Angst, mein Freund?“ hielt ich dagegen. „Ich sagte, draußen ist der Quaestor. Nun und? – Was will sie gegen uns machen? Wir sind zwei stattliche, junge Männer, wir
haben ein Messer hier herinnen“ – ich zeigte auf das Stroh, wo es irgendwo lag. „Und sie ist
ein Mädchen, Stifel, da mag sie mit allen Skalpellen der Welt gleichzeitig hereinkommen. Sie
hat keine Chance, verstehen Sie, keine Chance …“
„Meinen Sie, daß sie das nicht weiß?“ bellte Franklin Stifel. „Irgendwo gibt es einen Trick,
den wir nicht kennen, das muß Ihnen doch einleuchten! - Ich weiß … ich weiß“, korrigierte er
sich atemlos in der nämlichen Sekunde. „Sie braucht gar nicht hereinzukommen. – Haben Sie
hier irgendwelches Essen gesehen? - Nun also, ich auch nicht. Nur den Krug Wasser, ich weiß
nicht, wie lange der reicht für drei Personen. Mithin … sie braucht nur zu warten, bis wir hier
entkräftet liegen, dann kann sie ungefährdet hereinmarschiert kommen und uns abklatschen
wie die Fliegen.“
Ich dachte daran, wie ich in der Mine gelegen und die Wände abgeleckt. Machte er sich klar,
wie lange es dauerte, bis man verdurstete?
„Ja, gewiß, Stifel, das könnte sie“, gab ich zu, denn ich hatte soeben den Ausweg erblickt.
„Aber sie wird es nicht tun, mein Freund.“
„Und warum nicht?!“
Ich grinste ihn an. „Zwei Gründe“, setzte ich auseinander. „Es würde Tage dauern, vielleicht
Wochen, bis bei uns der schlimme Zustand eintritt, den Sie schildern. Und diese Zeit hat sie
ganz einfach nicht. Warum nicht? Erstens: irgendwann sind Kirby und seine Leute hier und
holen uns heraus. Denen ist doch klar, daß, wie wir längst bemerkt, der Quaestor mit Virginia
irgendwo unterwegs sei. – Nun gut, was glauben Sie, Stifel, wie lange es dauert, daß sie beim
Abklappern der möglichen Adressen, sprich der Anwesen Sir Enids in London, auf dieses hier
stoßen werden – nicht die Welt, mein Freund, nicht die Welt! Und deshalb hat das verdammte
Ding die Zeit nicht. Und sie hat die Zeit noch aus einem anderen Grunde nicht“, setzte ich
rachbegierig hinzu.
Er schaute mich traurig fragend an.
Ich zeigte auf das arme Mädchen, das im Stroh zwischen uns lag.
„Schauen Sie sich sie gut an“, sagte ich. „Zweiter, besserer Grund: Wollte der Quaestor darauf warten, bis wir in dem nämlichen entkräftetem Zustand hier liegen, wäre es mit Virginia
längst vorbei, richtig? - sie wäre verdurstet. – Daran aber, makaber genug, kann Bernadette
Rose Hanson jedoch nichts liegen, nicht wahr, Stifel? – da sie sie ja töten und ihr das Herz
herausholen will!“ Ich hob den Finger und winkte ihm damit vor Augen. „Nein, nein, mein
Freund“, sagte ich, „da dürfen Sie ganz sicher sein: der Quaestor kommt hier in den nächsten
Stunden herein … unbedingt und dann … zwei Männer gegen ein Mädchen … dann sind wir
am Zuge!“
Er nickte traurig, zog sich den Wasserkrug heran, hob ihn auf, nahm einen tiefen Zug daraus
und reichte ihn mir weiter.
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„Ihr Wort in Gottes Ohr“, sagte er leise. „Wir wollen das Mistding schon bedienen, wie ihr
gebührt, wenn sie denn kommt.“
„Amen“, sagte ich und trank.
Ich setzte den Krug auf den Boden, benetzte meine Finger darin und wollte mich daran machen, Virginias Lippen zu befeuchten und sie weiter zu versorgen, so gut das ging - die Zeit
nutzen, bis der Quaestor kam. Virginia lag matt, mit geschlossenen Augen, das Feuermal auf
ihrer Wange glühte im Halbdunkel.
Es geschah nicht ganz so schnell wie damals, aber immerhin schnell genug - so daß ich mich
wundern konnte. Ich fühlte etwas auf mich zukommen – eine dunkle, sternenhohe Wand, wie
nicht von dieser Welt. Ich sah undeutlich, rechts von mir, Franklin Stifel mit verdrehten Augen nach vorne zusammensinken. Da war es, da war es wieder, wie das erste Mal. Nicht im
Wein diesmal, sondern im Wasser, daher etwas verdünnt, daß man es nicht allzu sehr
schmeckte. Teufelszeug … Teufelskralle … Teufelsblut … mir tanzten die Sinne, ich versuchte mich zu halten. Wie damals, dachte ich, hier, an dieser Stelle, und in der nämlichen
Zelle – und als ich damals wieder zu mir gekommen, war Stella Gossamer Floyd ermordet
gewesen …
Ich schrie - ich schrie mir die Seele aus dem Hals, schrie wie das empörte Tier, das geschlachtet wird. Zweimal derselbe dumme Trick, dachte ich in kraftloser, haltloser Wut - bei
einem wie mir verlohnte es sich also nicht einmal, etwas Neues zu erfinden. Überflüssig …
lächerlich -- Gottes gerechte Strafe für grenzenlose Torheit! Für Hybris … für Selbstüberhebung … Gottes gerechte Strafe … Gottes gerechte Strafe …
Und dann wich endgültig alles von mir.
.....
Als ich zu mir kam, war ich gefesselt. Ich hätte weinen mögen vor Zorn, hauptsächlich über
mich selber. So gar nichts Neues, immer nur das Alte, immer wieder dasselbe, immer im
Kreis … immer im Kreis … Mein Mund, mein Kopf fühlten sich wie in Schlamm gebettet,
wie bitterer Essig und Schmerzen ... Teufelsblut .. Teufelsblut … Schmerzen … aber worüber
sollte ich mich erregen? – ich kannte das ja … ich kannte das ja. Ich hatte es ja nicht anders
verdient! - Irgendeine Stimme rannte durch mein Hirn, ein lächerlich kleiner Mann auf Beinen und lärmte und höhnte in einem fort: Selber schuld … selber schuld!
Ich lag in der nämlichen Zelle wie zuvor. Neben mir lag Franklin Stifel besinnungslos ausgestreckt, ebenfalls gebunden wie ich, und auf der anderen Seite des Raumes im Stroh ruhte
Virginia Sykes. Ich hob den Kopf und sah aufgestört und alarmiert zu ihr hin – ich konnte die
Vorderseite ihres Leibes nicht sehen. Lieber Gott, betete ich, laß es nicht geschehen sein
durch meine finstere Dummheit … laß es nicht geschehen sein!
Die beiden Kerzen, die wir mitgebracht, waren weit heruntergebrannt. Dort herüben standen
die Teller, auf die sie aufgetropft. Daraus konnte ich ablesen, daß wir eine erhebliche Zeit hier
gelegen. Ich schätzte, daß das eine Licht nun vielleicht noch eine Stunde halten würde, das
andere bestenfalls unwesentlich länger.
Ich stellte fest, daß die Verschnürung, die mich diesmal hielt, beileibe nicht die Raffinesse
aufwies wie jene vor einem knappen Monat in der Mine. Ich versuchte sie einfach herunterzuzerren, dann durchzureißen – nun gut, das ging nicht, ich tat mir nur an den Hand- und Fuß515
gelenken weh. Trotz alledem. Jene Fesseln damals hatte vermutlich noch Dr. Copeland selbst
besorgt gehabt oder nach seinen Anweisungen einer der Neger … und diesmal war es der
Quaestor gewesen, ohne Copelands Hilfe, weil er Gott sei Dank tot war, nur ein widerwärtiges Mädchen - das sich, fluchte ich bei mir, höllisch, verdammt, höllisch getäuscht haben
sollte.
Ich drehte mich, ich wälzte mich herum, und siehe da, es ging gar nicht schlecht. Ich drehte
mich und rollte seitlich zu Virginia Sykes hinüber, ich schob mich neben sie, rutschte an ihr
hoch – ich hörte ihren ruckenden, abbrechenden Atem, Gott sei Dank, sie lebte. Das arme
Kind, fast verdurstet, aber noch lebte sie. Ich rutschte weiter an ihr hoch. Hier, verdammt zur
Hölle, hier, dachte ich, hier hatte ich doch irgendwo das Messer ins Stroh fallen lassen. Gib,
guter Himmel, gib, daß das mörderische Mädchen es nicht gesehen, nicht gefunden, es
liegengelassen, als sie hereingekommen gewesen, um uns betäubte Trottel zu verschnüren,
gib, du verdammter Himmel, daß ich das Messer finde!
Ich fand es, ich stieß daran, als ich über Virginias Kopf hinwegrutschte. Es schnitt mir in die
Schulter und ich lachte vor Vergnügen. Da war es. Ich rutschte hin, legte mich bequem, faßte
es mit den Händen auf meinem Rücken und begann, wie schon einmal, an den Stricken, die
meine Hände banden, zu sägen.
Ich nahm wahr, daß auf der anderen Seite Franklin Stifel nach und nach zu sich kam. Ich
sägte und arbeitete unausgesetzt, so daß mir trotz der Kühle der Zelle der Schweiß das Gesicht und den Rücken herunterlief. Als er ansprechbar schien, richtete ich mich halb auf und
schaute zu ihm hinüber.
„Mein Gott“, murmelte er. „Mr. Holland, Sir, ich bin gefesselt.“
„Ich bin auch gefesselt“, sagte ich und lachte. „Aber wir wollen den Quaestor, wenn er
kommt, mit einem kleinen magischen Zauberkunststückchen überraschen. Entfesselungstricks
für Fortgeschrittene, mein Lieber – ich kenne diesen Mist inzwischen.“
Er kam mit dem Kof hoch und starrte ratlos zu mir hinüber.
„Ich bin hier beim Messer“, flüsterte ich. „Ich habe das Messer gefunden, mein Freund, und
ich denke, es kann nur noch Minuten dauern, bis ich mich befreit habe. Dann werde ich Sie
befreien. Und dann werden wir die Fesseln wieder anlegen, aber so, wie es uns gefällt, verstehen Sie. Und dann, wenn dieses Bastardstück hereinkommt, wird sie ihr blaues Wunder erleben. Dann, mein Gott, werden wir sie vernichten bei lebendigen Leibe!“
„Beeilen Sie sich“, flüsterte er kläglich. „Was tun wir, wenn sie vorher hereinkommt?“
„Geben Sie mir wenige Minuten …“, ächzte ich und sägte mit dem Messer zwischen meinen
Handgelenken. Zweimal schon war es in die Haut gefahren und ich fühlte das Blut rinnen.
Der Schweiß lief mir in die Augen und brannte.
„Nicht ich muß Ihnen wenige Minuten geben“, jammerte er, „sie muß es. - Gebe Gott, daß Sie
vorher fertig sind.“
Ich sah, wie er sich in Angst zurückfallen ließ.
„Behalten Sie die Nerven“, flüsterte ich fiebernd. „Sie haben sowieso nichts zu befürchten,
Stifel. Sie wird Ihnen und mir nichts tun. Sie will Virginia Sykes ermorden. Sie braucht uns
nur als Zeugen, glauben Sie mir …“
„Was soll das, Sie braucht uns als Zeugen?“ fragte er.
Ich sägte zwischen meinen Händen herum.
„Sie war hier drinnen bei uns“, sagte ich. „Richtig? - Sie hat Sie und mich gefesselt, und sie
hat weder Virginia Sykes noch Ihnen noch mir etwas getan, als sie hier bei uns war. Warum
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hat sie uns nichts getan, die Gelegenheit war günstig? - Ich sage Ihnen, Stifel, ich habe so
etwas ähnliches schon einmal erlebt. Ich war vor einem Monat hier in der Zelle, gerade so wie
jetzt. Auch damals war ich betäubt, von Wein, nicht von Wasser, aber das ist auch schon der
ganze Unterschied. Damals hat sie Stella Floyd ermordet. Jawohl, das hat sie getan und Virginia Sykes dabei verschont, die auch da war - weil es nicht zu ihrem Plan gepaßt hätte, sie damals schon zu ermorden. Es würde nicht passen, verstehen Sie, mehr als ein Mädchen auf
einmal zu ermorden. Es muß schwierig sein, verstehen Sie, und es folgt bestimmten Regeln.
Wie ein Spiel … Schach macht auch nur Spaß – weil es bestimmten Regeln folgt. Sie hätte
uns vor einer Stunde, als wir betäubt waren, alle drei abschlachten können, richtig? Ich
schwöre Ihnen: Jetzt wartet sie draußen, daß wir zu uns kommen, und dann kehrt sie zurück.
Ich sage Ihnen, sie braucht uns als Zeugen, Stifel. Sie braucht uns als Zeugen, weil sie irgendwen braucht, der sie dabei sehen kann, wenn sie tötet – jetzt, wo sie ihren Liebsten nicht
mehr hat …“
Ich sägte zwischen meinen Händen, und dann spürte ich, wie das Seil langsam nachgab.
„Warten Sie eine Sekunde“, keuchte ich. „Ich habe es gleich.“
.....
Wir machten es genauso wie ich vorgeschlagen. Als ich frei war, kroch ich zu Franklin Stifel
und half ihm aus seinen Fesseln.
Ich schnitt das Seil, das um seine Füße gebunden war, in zwei Stücke. Den einen Teil legte
ich hin- und hergewendet über seine Knöchel, so daß es wie vorher aussah, als ob es sieben
oder achtmal darumgebunden war. Mit dem anderen Stück Seil fixierte ich diese abenteuerliche Konstruktion locker von hinten und plazierte auf der Vorderseite noch einen eindrucksvollen, allerdings laufenden Knoten. Eine halbwegs kräftige Beinbewegung reichte, um dieses
Blendwerk von Fesselung von sich zu werfen, in nur einer Sekunde. Anschließend „fesselte“
ich meine Beine selbst in der nämlichen vorgetäuschten Art, legte mich zurück und steckte die
Hände probeweise hinter den Rücken. Ich zog sie gleich wieder hervor und empfahl Stifel das
gleiche.
„Liegen Sie möglichst bequem“, riet ich. „Oder setzen sie sich hin, ziehen Sie die Beine an,
legen Sie sich auf die Seite - tun Sie alles, was Sie nur wollen - aber tun Sie es so, daß die
Seile nicht gerade abfallen. - Es reicht, wenn Sie sich gerade hinlegen und die Hände hinter
den Rücken stecken, sobald sie hereinkommt. Jetzt müssen wir warten.“
Er setzte sich auf, zog die Knie an und begutachtete meine Konstruktion mit den Händen.
„Hören Sie, Stifel“, sagte ich.
Er blickte auf.
„Wenn sie hereinkommt, braucht es Ihre Geduld“, sagte ich.
„Was meinen Sie?“
„Ich meine“, sagte ich dringlich, „daß ich auf alle Fälle mit ihr reden will.“
„Was meinen Sie mit reden, Sir? Wollen Sie sie bitten, uns freiwillig laufen zu lassen?“
„Ach, Unsinn“, rief ich unwirsch. „Ebenso gut könnte ich sie bitten, uns zuerst eine Tasse Tee
zu servieren oder“, ich zeigte auf das liegende Mädchen, „Virginia gehen zu lassen.“
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Er wirkte verunsichert. „Aber was wollen Sie dann von ihr?“
„Hören Sie, Stifel“, sagte ich drohend. „Wenn Sie mir das verderben, bringe ich Sie um. Sie
begreifen nicht, was ich in den letzten Monaten mitgemacht habe. Das Kostbarste ist mir im
Leben genommen worden, das man mir hat nehmen können. Sie ist ermordet worden - jenes
Mädchen, das man in Mayfair zu Ihnen in die Zelle gesperrt, diejenige, um deretwillen ich vor
einem Monat hier eingedrungen, die, für die ich gelebt, Auberge, Sie kennen sie.“
Ich blickte ihn an, und er starrte zurück. Ich zählte es an den Fingern auf.
„Mein bester Freund, der Begleiter meiner Jugend, ist ebenfalls getötet worden“, sagte ich
bitter. „Ein weiteres Mädchen, das ich sehr mochte, hat man mir zerstückelt in einer Kiste vor
die Füße geschleudert, eine andere, eine geschundene und wehrlose Kranke, hat man hier in
der Zelle getötet, als ich danebenlag, weitere Frauen und diverse andere Menschen sind ermordet worden, darunter mein väterlicher Freund, Noah Whelmsley, ohne den, habe ich den
Eindruck, es weniger sicher in der Welt ist als zuvor. Ich bin eine halbe Woche in eine finstere Zinnmine gesperrt gewesen und sollte dort sterben. Ich habe monatelang Angst und
Alpträme gelitten, bin bedroht, geschlagen und verfolgt worden – begreifen Sie, Stifel, verdammt noch mal, daß dieses Monster mir eine ganze Reihe von Erklärungen schuldet! Ich
will wissen, was, wie, warum! Ich könnte anders den Rest meines Lebens nicht überstehen!“
„Sprechen Sie leiser, Sir – Sie könnte uns hören.“
„Ich spreche leiser“, sagte ich unterdrückt. „Aber es ist wichtig, daß Sie kapieren! Wenn dieses Miststück hier hereinkommt, werden wir liegen wie die Stöcke, wenn es sein muß, eine
volle Stunde, bis ich fertig bin mit ihr. Sie liegen wie eine Leiche, Stifel, haben Sie das begriffen, anderenfalls mache ich Sie hinterher zu einer …“
Er blickte mich an.
„Wir werden diese Blutbestie fertigmachen“, versprach ich, „aber ich gebe dazu das Kommando, wenn es soweit ist, ist das klar?! - Bis dahin haben Sie zu warten, und wenn Ihnen
darüber das linke Ohr abfault, haben wir uns so weit verstanden?“
Er nickte.
„Gut“, sagte ich, „dann werden wir jetzt warten. Machen Sie es sich möglichst bequem. Sobald wir hören, daß sie kommt, gehen wir auf Position.“
Er nickte abermals.
Und richtig – wir warteten. Wir sprachen nicht viel, schwiegen zumeist und lauschten. Wir
beoachteten die Kerzen, wie sie abbrannten. Ich rechnete und schätzte, daß es jetzt kurz auf
Mitternacht ging. Noch zwanzig Minuten würden wir es hell haben, vielleicht eine halbe
Stunde – danach nur noch unendliche Finsternis, Dunkelheit wie seinerzeit in der Mine. Wenn
wir Wasser brauchten, konnten wir noch eine ganze Weile aus dem Krug trinken, das war
wahr - würden uns allerdings jedesmal eine mehrstündige Besinnungslosigkeit einhandeln.
Und Virginia Sykes wäre bis dahin vermutlich tot. Ich glaubte nicht, daß ich mich getäuscht
hatte. Ich glaubte nicht, daß der Quaestor Virginia würde sterben lassen. Ich war sicher, daß
sie vorher kommen würde.
Wir lagen beziehungsweise saßen recht bequem in der Totenstille der Zelle von ‚Morass Manor’ und sahen zu, wie die Kerzen herunterbrannten.
Kurz nach Mitternacht hörten wir draußen Schlüssel und begaben uns in unsere Liegestellung.
Ich hörte, wie das Schloß in der Nachbarzelle betätigt wurde. Ich hörte die Tür gehen, sah
einen Schatten auf der Wand. Ich wußte, die letzte Stunde dieser Geschichte war angebrochen. Dann kam der Quaestor herein zu uns, brachte eine hellodernde Fackel mit, die er
wortlos in einen Ring an der Wand steckte. Sie kehrte sich zu uns, schmalkopfig und haarlos,
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sie trug einen schwarzen, langen Mantel, so wie ich ihn in Moretonhampstead bei meiner Auberge gesehen.
Sie blickte Franklin Stifel und mich prüfend an, sah, daß wir wach waren, zog aus ihrem
Mantel ein schwarzledernes Köfferchen hervor, kniete sich nieder und legte es mit einer eleganten Bewegung auf dem Boden ab. Sie manipulierte daran - es öffnete sich mit einem leisen
Klicken – ich sah ein Sortiment auf violetten Samt gebetteten schillernden Stahls, der die
Flamme der Fackel reflektierte. Sie nahm eines der Skalpelle heraus, hielt es prüfend hoch
und ließ ihren Blick seitlich wandern, zu Virginia Sykes. Jede ihrer Bewegungen hatte etwas
von einer schrecklichen Akkuratheit und Ruhe, besaß die Perfektion eines Menschen, der nur
erbarmungslos eine höllisch wichtige Arbeit so gut wie möglich erledigt.
Ich sah ihr bei dieser Arbeit zu, sah diesen schmalen, haarlosen Kopf an und das feine, ansprechende, geradezu ätherische Gesicht. Ich hatte Gelegenheit so lange wie nie zuvor im
Leben, sie bei ihrem selbstvergessenen Tun zu beobachten und zu begleiten. Und da endlich,
als ich das Antlitz lange genug betrachtet, begriff ich zu guter Letzt, wen ich hier vor mir
hatte.
Dies war nicht der Quaestor ... Dies war überhaupt alles anders, als ich es mir bislang gedacht.
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