Irgendwo in Nirgendwo

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Irgendwo in Nirgendwo
Irgendwo
in
Nirgendwo
Asphaltwort
Ich hoffe es beflügelt
Ihren Geist und läßt
Sie in die Bläue gehen
ich bin tief wie ein Rabe gereist
und habe das Neue
wieder sterben sehen
Oliver Droste
1
Irgendwo in Nirgendwo
und schrieb es nieder
bevor es verschwand
wie ein Geist von
Sternenhand gestrichen
ist es mir entwichen
vor meinem Auge verblichen
nun halten sie es
in Ihrer Hand
und ich verliere
den Verstand
denn das Grauen
hat
sich
ausgeflügelt
Oliver Droste
2
Irgendwo in Nirgendwo
Inhalt
Asphaltwort...............................................................1
Inhalt .........................................................................3
Vorwort .....................................................................5
Intro...........................................................................6
Von Augenduft und Marcels Verwandlung ..............7
Vom Erwachen, einer Zahnbürste und Sonnenschein
................................................................................11
Vom cholerischen Polizisten und dem Motorrad,
oder wie eine Situation eskalieren kann .................19
Vom Schläfer im Baum ..........................................32
Vom „desolaten“ Wesen unserer Jugend ................36
Von einer grünen Ampel und roten Ballettänzern ..43
Von telepatischer Kommunikation oder wie die
Nornen spinnen .......................................................49
Eskalation im Café ..................................................57
Der Faden schließt sich ...........................................72
Von Flucht, Tabletten und einem Bodybuilder ......81
In der Wohnung von Emira und Bea ......................89
Von Rechnungen, der Kunst zu Streiten und einer
Wendung des Schicksals.......................................107
Vom Wolfsgesicht und Seelenuntiefen ................117
Die Irrenanstalt und zwei Hände ..........................131
Von Mondstaub und schwebendem Tanz .............138
Eine Fahrt zur Burgruine ......................................156
Die Burgruine und der Waldalp ............................161
Wie Emira Engelsflügel erhält ..............................176
Wie Marcel eine Scheibe einschlägt und nach Berlin
kommt ...................................................................189
Vom Drachen und verfliegendem Lichtlachen .....196
Die Flucht nach Nirgendwo, oder wie das Netz
Oliver Droste
3
Irgendwo in Nirgendwo
gesponnen ist ........................................................207
Der Nebelgesang ...................................................225
Oliver Droste
4
Irgendwo in Nirgendwo
Vorwort
Dieses ist die Geschichte von Marcel und Emira, die
aus anderen Welten kamen, von einer Burg, von
Kriegspsychosen, Gewalt und was sie Menschen
angetan haben, von atmender Leichtigkeit des Seins
und der sich spiegelnden Ausweglosigkeit einer
„generation
X“,
von
Trinkgelagen
und
Dichterlesungen,
von
Eskalation
der
Mißverständnisse, den Drang danach, Spaß zu
haben, von Poesie, Seelenverwandtschaft und
verlorener Hoffnung, irgendwo in nirgendwo.
Diese Geschichte soll lyrisch und expressiv in
poetischen Bildern durch eine brutale und makabere
Wirklichkeit, zu mehr Verständnis für Menschen,
die anders sind, führen.
Oliver Droste
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Irgendwo in Nirgendwo
Intro
Irgendwo in Nirgendwo in irgendeine Stadt, an
namenloser Straßenecke
gibt Marcel auf
irgendetwas acht. Irgendwas aus Nirgendwas, hat
ihn dort vergessen; er steht nun dort und erwartet
etwas, Jahr für Jahr am selben Ort.
Seine Jeans ist in Witterung zerrissen, flatternd
weht der Stoff wie eine Elfenschar. Grün schimmert
sein Ostgesicht; es ist schon Moos, ein Jahr
verstrich. Und er wartet noch, als würde die Zeit
nicht existieren.
Im Haar nisten sich Vögel ein, die herbstzeitlos
erfrieren. Und irgendwann in Nirgendwo,
da
zerbricht das Gesicht, so daß ein Lächeln ihm
entweicht. Wie Efeu ranken seine Arme empor; im
Sommer rauschen sie im Wind an namenloser
Straßenecke, umwuchern eine Menschenhülle und
geben auf irgendetwas acht. Und hundert Jahre
weiter sieht man das Gesicht der Stadt. Sie wird
grüner sein als irgendwas, irgendwo in nirgendeiner
Stadt.
Oliver Droste
6
Irgendwo in Nirgendwo
I
Von Augenduft und Marcels Verwandlung
Hallo! Ich entführe Dich in meine Welt. Sieh aus
dem Fenster, dort stehe ich irgendwo. Laß mich
Dich auf diese Reise mitnehmen, Du brauchst nur
etwas Phantasie einpacken und mir folgen. Wir
fliegen zusammen über den Dächern der Häuser
wellenförmig und schwerelos, dann steigen wir
hinauf in die Wolkenschlösser, erhöhen die
Geschwindigkeit und sausen in die Schwere des
Seins hinab.
Laß uns unseren Sturz verlangsamen, dort unten ist
meine Stadt. Wir gleiten hinunter,
die
Fußgängerzone zu besuchen, denn dort sitzt Marcel
und spielt auf der Gitarre. Hörst du das Lied: "All
the lovely people where do they all come from ... "
(Elenor rigby: Beatles). Seine Augen träumen zum
Himmel, als würde er uns kommen sehen; er hört
nichts weiter, als nur sein Lied.
Ein Geruch zieht ihn zurück, etwas Fremdes,
vielleicht orientalisches. Nein, kein Knoblauch, auch
nichts süßliches, kein Blumenduft sondern etwas wie
Flügelschlag und Sonnenkitzeln nach warmem
Sommerregen - ein Parfüm. Er sieht sich um und
hört auf zu singen. Viele Augen warten auf das
nächste Lied. Fordernde Augen einer geklonten
unterhaltungssüchtigen Masse. Kinder werden
unruhig und ziehen an den großen, bestimmenden
Händen ihrer Eltern.
Oliver Droste
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Irgendwo in Nirgendwo
Ein kurzer Blick, ein vorbeistreichender Lidschlag
eines Augenpaares erschlägt ihn wie der Blick einer
Sphinx. Lähmung beschleicht seinen Körper, als die
Augen sich von ihm abwenden und in der breiten
Masse untertauchen. Marcel sitzt da und sieht mit
diesem empfangenen Augenpaar in das ozeanische
Blau seiner Phantasie.
Um seine Beine rankt sich Efeu und schlängelt sich
langsam um seinen Körper. Wolken fliegen gejagdt
von Monden über den Himmel, werden von
fliegenden Sonnen ausgedunstet, ein paar
Rabenkrähen fliegen auf, der Mond verdrängt den
Tag und es fängt an zu regnen. Marcel steht auf und
geht.
Durch die starke Beengtheit der Straßen einer
bürgerlichen Stadt, zwängt er sich, geleitet vom
Nebelstern einer Vision. „Vielleicht sollte ich einen
Freund aufsuchen, der gute Musik zuhause hat, um
ihr zu lauschen und das Traumbild zu jagen“, denkt
er.
Nie brannten sich Augen so in seiner Erinnerung
fest. Was war an ihnen so besonders? War es mit
dem vorangegangenen Duft zu verbinden? Nein, sie
hoben sich einfach vom Massenauge ab, sie
forderten nicht, sie bewegten eher zum freiwilligen
Geben. War eine solche Leere in ihnen, die man
einfach ausfüllen möchte? Es war keine stumpfe
Weite der Übersättigung, sondern eine tiefe,
mystische Unendlichkeit, in die er so gerne getaucht
wäre, ihre Geheimnisse zu lüften, wie die
Entdeckung eines neuen Kontinents mit fremden
Oliver Droste
8
Irgendwo in Nirgendwo
Völkern; nicht um ihnen den Wohlstand unserer
Zivilisation zu bringen, sondern um zu entfliehen
und von der neuen Welt zu lernen, was ursprünglich
ist und eindrucksvoller wäre. Welches Wesen
verbergen sie, welches Schicksal, welchen Geist?
Um ihn herum entsteht ein Treiben der
Kneipengänger, wie das Treiben vor einem
Bienenstock, wenn die Arbeiterinnen mit ihrem
Tanz die Richtung zum nächsten ergiebigen
Blumenblütenmeer weisen. Glasige Augen, lautes
alkoholisiertes Rufen und folgendes Gelächter
bringen Marcel zurück in seine Realität. Türkische
Proletenaugen unter verkehrtherum getragenen
Kappies gieren zwei vorbeistolzierenden Frauen
hinterher auf das hormonkatalysierende Sitzfleisch
mit der Würde von Jungsteinzeitlern, die ihre Braut
mit einem Keulenschlag freien wollen. Ihm fährt ein
Wort ins Hirn.
Ein schreckliches Sirenengeheul ertönt, durchdringt
alles, was Ohren hat, läßt den Boden beben, ein
schwarzuniformierter Polizist springt irre schreiend
umher,
„Gedankenpolizei,
Gedankenpolizei,
‚Karmapolice‘, was sie da denken ist faschistoiden
Ursprungs, sie sind jetzt vorbelastet“, schreit heiser,
„Gedankenpolizei, Gedankenpolizei, ‚Karmapolice‘,
Faschistoid, Tod den Worten, Gedankenpolizei,
aaarrr“.
Die
Straße
hinunter
kommen
konfirmationsanzugtragende, herabblickende Augen
Oliver Droste
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Irgendwo in Nirgendwo
fünf Burschenschaftler, die bestrebt sind jedem
Blick standzuhalten. Die Häupter uniformiert
bedeckt mit akkurat gerade, forsch schief oder fast
im Nacken getragenen Mützen, die ihre Farben zur
Schau tragen.
Würde nur jeder so einfach seiner Gesinnung Farbe
bekennen, wie gläsern wäre der Mensch, denkt
Marcel im Vorbeigehen, oder wie langweilig wäre
das Leben. Das wäre nichts für ihn. Interessant ist
doch der Mensch, der ein Geheimnis zu haben
scheint, der aus der Konformität herausfällt, der
komplizierter gestrickt ist, als diese, denen die
Gesinnung ins Gesicht geschrieben steht. Jedenfalls
gibt das Geheimnisvolle Gesprächsstoff für den
nachbarlichen Klatsch. Das ist auch nicht immer
schön, billanziert er.
So in Gedanken gehüllt, kommt Marcel endlich in
einer schlecht beleuchteten Nebenstraße morschen
Beins an seine Haustür. Die Häuserblöcke treten
dicht an den Bürgersteig mit gebeugtem Haupt der
Nacht beschirmt, an Straßenbäume gelehnt. Der
Schweiß regnet ihnen von den Dächern und Rinnen,
unfreundlich, heimisch.
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Irgendwo in Nirgendwo
II
Vom Erwachen,
Sonnenschein
einer
Zahnbürste
und
Marcel öffnet die abgeblätterte Tür und geht durch
den schluckenden Hausflur, tastet nach dem
Lichtschalter und knipst die Beleuchtung im
Treppenhaus an. Er geht die gewellten, vom vielen
Getreten-werden ächzend, verhöhnend, nach
weichem Schuhwerk oder blanken Kinderfüßen
lechzenden Stufen dieses Altbaus aus der
Jugendstilzeit, als Phantasie noch nicht zu teuer war,
hinauf, bemüht, leise zu sein. An der Haustür kramt
er in seinen Hosentaschen nach dem Schlüssel.
‚Verdammt, wo habe ich‘n denn nur hingesteckt?‘
Nun macht er sich an den Jackentaschen zu schaffen.
Er stellt den Gitarrenkoffer ab und geht nochmal alle
Taschen durch. Sichtlich ratlos steht er vor der Tür
und hebt den Finger zur Klingel. ‚Roland wird mich
umbringen, wenn ich ihn wieder wecke.‘
Ein Geistesblitz erleuchtet ihn, das Licht geht jedoch
aus und Marcel steht im Dunkeln. Diese so kurz
gestellte Zeitschaltuhr in der Hausflurbeleuchtung
begeistert ihn so viel wie Fußpilz. Ärgerlich tastet er
nun wieder nach dem Lichtschalter, bis das Licht
wieder das tut, zu dem es da ist und brennt. Marcel
dreht sich um und hört im Treppenhaus Schritte.
Zwei Frauen und ein Mann kommen die Treppe laut
lachend hinauf. Als sie Marcel dort stehen sehen,
fragt die blonde Frau Marcel, „hast’e wieder mal
Oliver Droste 11
Irgendwo in Nirgendwo
deinen Haustürschlüssel vergessen?“ „Ne, der muß
wohl in meinem Koffer sein, glaub‘ ich.“ Die drei
gehen weiter und wünschem ihm noch viel Glück
und daß er nicht wieder im Flur nächtigen müsse,
sondern hochkommen könne. Marcel bedankt sich
etwas schmunzelnd ärgernd, beugt sich zum Koffer
und öffnet ihn. Unter seiner lackzerkratzten Gitarre
findet er neben den Noten den Schlüsselbund und
öffnet die Haustür.
Marcel geht in die Küche, um sich Kaffee zu
machen und stellt das Radio leise an. Er kramt in
einem alten massiven Küchenschrank, dem eine
logische, den häuslichen Zwecken angepasste
Ordnung fehlt, greift eine Tüte Kaffe, geht zur
Kaffeemaschine, die auf der selbstgebauten
Arbeitsplatte hinter einem Berg von Geschirr steht.
Aus dem Wandregal nimmt er einen Filter und
steckt diesen in den dazu benötigten Trichter, dem
ein modriger Moccaduft entweicht. Er bemerkt
etwas gelangweilt, daß die Kaffeekanne fehlt. In der
Spüle wird er fündig und wäscht diese mit
schwarzen Kafferändern, die den unterschiedlichen
Flüssigkeitsstand bekunden, kurz aus, füllt sie mit
Wasser und dieses wiederum in die Maschine. Er
nimmt nun die Packung Kaffee, öffnet sie schüttet
den rasselnden Inhalt in den Filter. „Verdammt,
Roland und sein Nostalgiesplin!“ Ärgerlich geht er
zum Schrank und sucht nach der Kaffeemühle aus
Omas Zeiten, nimmt den Kaffeefilter heraus und
schüttet die ungemahlenen Kaffeebohnen in die
Mühle. Fünf Minuten ist er mit stumpfen
Oliver Droste 12
Irgendwo in Nirgendwo
Gesichtsausdruck, an die Arbeitsplatte gelehnt, mit
dem Mahlen beschäftigt. Die Rolling Stones singen
ihr „Hey you, get off of my Cloud“. Einige Male
klemmt diese Erungenschaft, so daß Marcel mit
etwas Schwung und einem Rucken wieder in den
verlorenen Rhythmus findet und anfängt, in der
Küche mit der Kaffeemühle zu twisten und zu
beaten.
Draußen ist es bereits hell geworden und
Sonnenstrahlen bepinseln die grauen Häuser mit
warmer Farbe, um ihnen ein Gesicht zu geben.
Marcel wäscht in der Spüle einer Kaffeetasse den
Pegelstand heraus, nimmt den Kaffee und geht damit
in sein Zimmer. Dort setzt er sich in ein altes
Ostfriesensofa, legt die Füße auf einen Ratantisch,
macht mit der Fernbediehnung seine Anlage an und
trinkt
genüsslich
rauchend
das
schwarze
Lebenselexier.
Im Nebenzimmer hört Marcel den Wecker seines
Mitbewohners Roland piepen. Sie wohnen ca. zwei
Jahre
zusammen
in
dieser
kleinen
Wohngemeinschaft, versuchen sich zusammen
durchzuschlagen und sind immer auf der Suche nach
Gelegenheitsjobs. Nach einigen Minuten hört man
Poltern im Nebenzimmer und die Träume der Nacht
mit dem werdenden Tag ringen, um dann auf die
andere Seite des Morgens zu verschwinden. Türen
knarren und fallen wieder zu, Roland geht ins Bad,
die Zähne zu putzen.
Auf dem Sofa streicht sich Marcel den ersten
Sonnenstrahl ins Gesicht, um seine Lebensgeister zu
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Irgendwo in Nirgendwo
mobilisieren. Leben ist Wärme, Energie und
Bewegung, die ihn hochjagd und fröhlich ins Bad
stürmen läßt, Roland rufend. Dieser reißt,
erschrocken von Halbschlaf geplagt, den Kopf zur
Seite, wobei die Zahnbürste am Hals abbricht.
Roland nuschelt schäumend "Scheiße" und sieht im
Spiegel Marcel reinstürmen, der ihm freudig auf den
Rücken schlägt, wodurch sich Roland verschluckt
und den Zahnpasterschaum an die Wand hustet.
Er spuckt mit Tränen in den Augen, die der Reflex
auslöste, ein „bist Du verückt?“ in das
Waschbecken. Mit einem Würgen versucht er
vergeblich,
den
Zahnbürstenkopf
wieder
herauszubekommen, spült den Mund aus und trinkt
mit verzerrtem Gesicht Wasser hinterher. So früh am
Morgen hat er noch nicht den nötigen Humor, der
für solche überfallartigen Begrüßungen nötig wäre.
Marcel klopft ihm nun freundschaftlich auf den
Rücken, um ihn von seinem Hustenreiz zu befreien.
„Ich habe mich verliebt; ich habe die schönste Frau
gesehen.“
Roland hält die abgebrochene Zahnbürste in der
Hand, um genervt zu fragen, „na und, wie heißt sie,
wo kommt sie her, was macht sie, wie alt ist sie, hast
du mit ihr geschlafen, wann heiratet ihr, soll ich euer
Trauzeuge sein?“ und wischt sich das Gesicht
trocken, überlegend, ob der Zahnbürstenkopf beim
verlassen des Körpers wohl kratzen wird.
„Oh, ich hab' sie nur gesehen, nicht gesprochen, wo
sie wohnt weiß ich nicht. Aber ich muß sie
wiedersehen.“ Roland schiebt Marcel zur Seite. „Na,
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dann hast Du ja super Chancen, gratuliere dir“ und
geht sichtlich desinteressiert in die Küche. Marcels
Träumereien kennt er zur Genüge, um nicht allzuviel
darauf zu geben. Er könnte sie zu den anderen an die
Wand hängen, so daß die kleine Wohnung bunter
würde; er weiß aber genau, daß er diesen Traum
erstmal mit Marcel Sterbehilfe leisten muß als
Freundschaftsdienst. Das hat er schon oft getan, hat
also etwas Übung darin. Nur früh morgens geht ihm
das noch etwas zu weit. Bevor er seinen Kaffee nicht
hat, ist er das was man einen Morgenmuffel nennt.
Marcel holt die Kaffeekanne aus seinem Zimmer
und folgt ihm in die Küche. „Du hättest sie sehen
müssen, sie hatte Augen, ein Gesicht, oh wow. Ich
muß sie wiederfinden.“ Roland spült sich einen
Becher aus und schenkt sich mit schläferigen Blick
Kaffee ein. Konversation zur scheidenden Nacht,
wirft Schwärze auf Rolands Gemüt und läßt ihn
dann schnell aggressiv werden. „Sag mal, du
Träumer, was ist denn aus den letzten beiden
geworden, die hast du doch bis heute nicht
wiedergesehen.“ Er kramt aus dem Schrank ein
Brettchen heraus und wäscht sich ein Messer ab.
„Ja, das stimmt, aber diesmal, diesmal ist es
Schicksal, das habe ich gefühlt.“ Marcels
Gletscheraugen sehen zwischen seinen strohigen
Haarsträhnen freudig und unternehmungslustig in
die
Sonnenstrahlen,
die
zwischen
den
Häuserblöcken
kleine
Wege,
geometrisch
umgehend, suchen.
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Irgendwo in Nirgendwo
Roland kratzt sich am Kopf, so daß das ungekämmte
Haar im Raum steht, als wäre es ebenfalls erwacht.
„Ja, ja, das kenne ich schon, kommt mir irgendwie
bekannt vor.“ Dann erinnert er sich an den Grund für
Marcels abendlichen Ausgang und fragt, „wieviel
hast Du eigendlich in der Fußgängerzone
eingenommen?“
Marcel lächelt etwas Sonnenregen, so daß die Küche
heller aufleuchtet. „Oh, weiß nicht. Da saß so'n
armer Penner, dem hab' ich es gegeben.“ Roland
sieht ihn ärgerlich an. „Sag mal, schnappst Du jetzt
ganz über. Unsere Haushaltskasse hat totale Ebbe.
Wir können bald unsere Schuhe fressen - wie Charly
Chaplin.“ „Etwas Spaghettifertigsoße habe ich
noch“ entgegnet Marcel sichtlich erfreut über den
langsam aufkommenden Sarkassmus, „ich nehme
die Schnürsenkel“.
„Und 'ne Mahnung von der Krankenkasse ist auch
noch gekommen. - Für dich übrigens“, versucht er
Marcels Humor auszukontern, um dann resignierend
festzustellen, „meine kam letzte Woche. Übrigens
haben sie den Beitrag wieder erhöht.“ „Verdammt,
von nichts und niemand noch mehr zu nehmen, als
gar nicht da ist, ist nicht nett.“ Sie setzen sich an den
Küchentisch, der noch mit dem Geschirr des letzten
Tages belegt ist. Beide schieben sich ihren Platz frei
und sehen sich genervt an. Roland streckt die Arme
fragend aus, „vielleicht sollten wir mal einen Plan
für den Abwasch machen“. „Ich dachte, jeder räumt
seinen Kram selber weg und wäscht ihn ab.“ Doch
Oliver Droste 16
Irgendwo in Nirgendwo
das Chaos schüttelt verneinend den Kopf und pilzt
sich wieder stinkig nieder.
Roland hat ihren Charakter schon lange durchschaut
und weiß, daß das nicht funktioniert hat. Die nötige
Disziplin haben sie beide nicht erlernt, da sie ja nicht
gedieht haben, sondern bedient wurden und befinden
sich noch in einer Phase, in der sie ihre Freiheit
vollends auskosten wollen. Jedoch ist Roland bereits
am Ende dieser Phase und liebäugelt mit der noch
fehlenden Ordnung.
„Daß das nicht funktioniert siehst du doch.“ In eine
Schutzbehauptung fliehend entgegnet Marcel, „dein
Scheiß steht hier aber auch rum und letztes Mal hab‘
ich den Abwasch gemacht. Außerdem war ich Geld
verdienen“. „Was nützt dein Geldverdienen, wenn
du es gleich wieder weggibst? Du solltest dir mal
wieder einen vernünftigen Job suchen.“ „Jeder Job
ist vernünftig, wenn man Geld verdient.“ „Ein Job
ist nur vernünftig, wenn der Stundenlohn stimmt.“
„Ach, hör doch auf; hauptsache es macht spaß. Was
hast de denn vor?“
Roland sieht ihn an und schüttelt den Kopf, um sein
unverständnis loszuwerden. „Las uns einen
Abwaschplan machen, eine Woche bin ich dran, eine
Woche du.“ „Oder wer kocht braucht nicht
abwaschen.“ „Na, das hättest du wohl gerne. Ich bin
doch der Einzige, der was vernünftiges kocht. Du
und deine Pizza. Wenn’s hochkommt sind mal
Spaghetti drin.“ „Und dein Eintopf ist aufwendiger,
was?“ „Der ist jedenfalls gesund und man kann’n
Oliver Droste 17
Irgendwo in Nirgendwo
paar Tage davon essen.“ „Und ich soll dann
abwaschen. Das mach mal alleine.“
Beide sitzen schweigend und kaffeetrinkend
voreinander. Es wird wieder auf Resignation vor
dem Chaos hinauslaufen, nachdem sich der
Putzfimmel in einer Sauberkeitsorgie gelegt hat. Der
Sonnenschein mit seiner Reinheit hat das Bedürfnis
noch verstärkt. Roland disponiert kurzerhand seinen
Tagesplan um, da seine Prioritätenliste das häusliche
Wohlbefinden nun an die erste Stelle gesetzt hat.
Marcel macht notgedrungen, aber mit den Gedanken
bei seinen Träumen, mit. Die Musik wird bis zur
nachbarlichen Tolleranzgrenze aufgedreht, der
Geschirrspültuchtwist und der Wischmopptanz
aufgeführt, um der lästigen Arbeit die nötige Freude
abzugewinnen. So vergeht der Tag, lehnt sich aus
dem Fenster, fällt hinunter auf die Straße, so daß die
Schatten von ihm immer länger werden und in die
Dämmerung fließen.
Oliver Droste 18
Irgendwo in Nirgendwo
III
Vom cholerischen Polizisten und dem Motorrad,
oder wie eine Situation eskallieren kann
Marcel, Roland, Nachbar, zwei Polizisten, Leitstelle
Mit dem Abend kommen auch die Sehnsüchte der
letzten Nacht zurück, die der Realität und der
Ordnung weichen mußten. Marcel sitzt in seinem
Zimmer auf dem Sofa und hört Musik. Seine Augen
sehen durch die Decke in eine andere Welt, die
seiner Phantasie entspricht. Es ist seine
Traumrealität, in die seine Gedanken schweifen
können. Aus ihrem Schweif fällt Sternenstaub in
Marcels Augen und läßt sie leuchten. Er sieht die
Augen aus der Fußgängerzone wieder vor sich,
versucht den Rest der Gestalt zu erkennen, kann sie
jedoch nicht verkörperlichen. Es entsteht eine
Fehngestalt, die mehrere Metamorphosen durchläuft,
bis einfach nur noch die Augen bleiben, die einzige
Realität die geblieben ist, die ihn wieder zurück
bringt, auf sein Sofa. Die Augen verschwinden und
Marcel durchzuckt es, als habe ihn der Geist der
Sehnsucht verlassen. Er springt auf, um nach diesem
zu greifen und greift seine Motorradjacke, nimmt
den Helm und geht in den Flur, um an Rolands Tür
zu klopfen. „Ich muß in die Stadt, vielleicht sehe ich
sie nochmal wieder.“
Roland öffnet, sieht Marcel verständnislos an. „Sag
mal, was meinst du, wie groß die Chance ist, sie in
Oliver Droste 19
Irgendwo in Nirgendwo
dieser Stadt wiederzufinden?“ Marcel überlegt, sieht
Roland an. Mit dieser Frage hat er sich gar nicht
auseinandergesetzt; es war nicht einmal Gegenstand
seiner spontanen Planung. „Keine Ahnung, vielleicht
1:1.000?“ Roland schüttelt den Kopf. „Na, vielleicht
1:10.000?“ „Wohl eher 1:130.000.“ „Ja siehst’e, ich
wußte es, da ist noch eine Chance“, lächelt und geht
zur Tür. Roland begreift den Unverstand seines
Mitbewohners und Freundes nicht. Besonders regt
ihn seine Sorglosigkeit auf, seine Blauäugigkeit, mit
der er durch das Leben schlendert. Irgendwie haben
sie sich immer durchschlagen können, aber zu mehr
Verständnis hat es bei Roland nicht geführt, so daß
er ihn auf den Boden der Realität zurückrufen
möchte. „Eh, Mann, woher nimmst du denn das
Geld zum tanken, wir sind pleite?“ „Letzte Nacht
habe ich beim Nachbarn an seiner Harley Benzin
abgesaugt, der fährt doch eh nur bei schönem
Wetter.“ Marcel geht fröhlich zur Haustür hinaus,
froh darüber, über seine Chancen aufgeklärt worden
zu sein und die Probleme umgangen zu sein.
Roland geht in die Küche, um sich eine Pizza zu
machen. ‚Und gegessen hat der Idiot auch noch
nicht.‘ An der Tür klingelt es und Roland geht hin,
öffnet sie. Ohne überrascht zu sein, sieht er Marcel
dort stehen.
„Hast'e Deinen Schlüssel wieder vergessen,“
bemerkt er mehr feststellend, als fragend. „Ich hatte
ihn doch in der Jacke gelassen.“ Marcel geht in sein
Zimmer, Roland sieht ihm hinterher und bleibt an
der Tür stehen, es poltert. „Verdammt, wo ist der
Oliver Droste 20
Irgendwo in Nirgendwo
blöde Schlüssel nur.“ „Wahrscheinlich wieder in
deiner Hosentasche.“
Marcel kommt aus seinem Zimmer und geht wieder.
„Da hätte ich auch von selbst drauf kommen
können.“
Unten auf der Straße angekommen steht sein
Nachbar am Motorrad und versucht es anzutreten. Er
ist der typische Schönwetterfahrer, Mitte vierzig,
Wohlstandsbauch,
ein
dichter
Schnäuzer,
Markenlederkluft mit Protektoren, Halstuch und
einem teueren, sicheren Vollschalenhelm, erlebt er
gerade seine zweite Jugend.
Marcel grinst innerlich. „Na, will se nicht so
richtig?“ „Ja ich weiß auch nicht, muß wohl wieder
was an der Elektrik haben.“ „Aber dafür ist es 'ne
Harley.“ Mit Stolz erfüllt, jedoch vom Defekt seines
Motorrads etwas gedämpft antwortet er, „das ist
richtig. Willst Du noch eine kleine Spritztour
machen?“ „Jou, 'ne Runde durch die Stadt. Na denn
noch viel Erfolg.“ „Ja, danke. Vielleicht sehe ich mir
den Vergaser mal an.“ „Mach das, bis die Tage.“
Marcel steigt auf sein Motorrad, tritt es an und fährt
ab. Der Nachbar sieht ihm nach und überlegt, daß
Marcels
Motorrad
wohl
nicht
der
Straßenverkehrsordnung entspricht. Der Auspuff ist
aufgrund fehlender Schalldämpfer zu laut. Seine
Harley darf das, da der Rahmen aus den fünfziger
Jahren stammt. Das ist die schöne Lücke in der
Gesetzgebung, die die Lärmbelästigung seines
Motorrads in den Bereich der Legalität führt. Dann
fährt dieser Marcel auch noch so rasant, daß es ein
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Irgendwo in Nirgendwo
schlechtes Bild auf alle ordentlich fahrenden Biker
wirft. Der Ärger über den Defekt seines Zweirades
fällt in einen Ärger über diese Verkehrsrowdies, wie
Marcel einer ist, ohne zu wissen, daß er da gar nicht
so weit von der Wahrheit entfernt ist.
Marcel fährt durch die leuchtende Stadt, seiner
Freiheit fröhnend. Die Geschwindigkeitsbegrenzung
ist dabei die Spaßbremse, die diese eingrenzen will.
Eingegrenzte Freiheit ist aber keine und so läßt
Marcel ihr den freien Raum, den sie braucht, um
sich voll zu entfalten. Nur wird diese Freiheit
wiederum von der Gefahr durch Unfalltod auf der
anderen Seite begrenzt. Eigendlich gibt es keine
Freiheit, höchstens für einen Augenblick. Der
Augenblick ist im Jetzt. Vergißt man die
Vergangenheit und die Zukunft und lebt einfach in
den Tag, kann man vielleicht etwas davon kosten.
Das ist Marcels Lebensphillosophie. Lichter fliegen
an ihm vorbei.
An einer Ampel steht ein Wagen neben ihm. Marcel
gibt ein paarmal Gas, daß es laut knallt und sieht
grinsend zum Wagen hinüber. Ein schnauzbärtiger
und ein junger Mann sehen ihn an. ‚Na, da sitzten ja
zwei Spießer drin‘, denkt er, ‚die sollen mal
jemanden sehen, der nicht in ihre spießige Welt
paßt‘. Als es gelb wird läßt Marcel den Reifen
durchdrehen und fährt los. Der Wagen hat etwas
weniger Beschleunigung, doch holt bald auf.
‚OK, ihr wollt ein Rennen, könnt ihr haben.‘ Marcel
beschleunigt und überholt ein Auto rechts, fährt
dann zwischen zwei nebeneinander fahrenden Autos
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Irgendwo in Nirgendwo
hindurch, die den Weg auf der zweispurigen Straße
nicht freigeben wollen. Ein Mann regt sich in seinem
Fahrzeug vor sich hinschimpfend auf, da er sich an
die Geschwindigkeitsbegrenzung exakt gehalten hat
und
meint,
er
müsse
alle
anderen
Verkehrsteilnehmer zu selbigem anhalten. So
blendet er auf und hupt.
Das verfolgende Auto holt jedoch wieder auf.
Marcel muß abbremsen, da die nächste Ampel rot
ist. Der Wagen kommt angerast, die Ampel schaltet
um, doch da ist er schon an Marcel vorbei, da er
wieder beschleunigt hat. Das Fenster wird
heruntergekurbelt und eine rote Kelle erscheint.
Marcel flucht, fährt rechts rann und stellt den Motor
ab. Die beiden Polizisten steigen aus „Ihre Papiere
bitte.“ Marcel gibt sie ihm und der ältere geht damit
zum Wagen. Der zuvor hupende Autofahrer
verlangsamt sein Tempo und fährt selbstzufrieden,
wieder an den Rechtsstaat glaubend an Marcel
vorbei und grinst ihn an. Dieser kratzt sich, ihn
grüßend, mit dem Mittelfinger an der Stirn, was
jenem seinen Triumpf in erneuten Ärger über diese
Werteverachtende Jugend wandelt.
Der jüngere Polizist klärt Marcel auf. „Sie sind
etwas zu schnell gewesen, wissen sie das?“ Dieser
versucht es mit der naiven, über sein Vergehen
erstaunten Strategie, das Wohlwollen des
Ordnungshüter zu erreichen. „Ach, wirklich? Ich
habe gerade nicht auf die Geschwindigkeit
geachtet.“ Das scheint den Polizisten wenig zu
beeindrucken. „Machen sie mal das Licht an! Jetzt
Oliver Droste 23
Irgendwo in Nirgendwo
blinken, links, rechts. Gut. TÜV ist bald fällig.
Machen sie doch mal das Motorrad an.“
Marcel wird es etwas unwohl und warm, was sich
auch an seiner Gesichtsfarbe bemerkbar machen
würde, wenn es nicht zu dunkel wäre. Er tritt den
Kickstarter und der Motor gibt eine laute
Fehlzündung, worauf der ältere Polizist, an einen
Schuß erinnert und die letzte Reportage über einen,
bei einer Verkehrskontrolle erschossenen Polizisten
vor Augen, sich am Auto duckt und mit der Hand
nach seiner Waffe greift. Der junge Beamte sieht zu
seinem älteren Kollegen herüber. Marcel versucht es
nocheinmal und das Motorrad läuft.
„Ganz schön laut ihre Maschine.“
Marcel überlegt, wie er der um seinen Hals sich
legenden Schlinge, die ihm langsam die Luft
abschnürt, entrinnen kann. Er versucht, hoffend, der
Polizeibeamte kenne sich nicht so gut mit den
verschiedenen Motoradmarken aus, zu erläutern,
„das ist eine Kawa Vulcan, 1500 Kubik, die sind so
laut eingetragen, können sie in den Papieren
nachsehen.“
Wenig beeindruckt versucht der Polizist von
fehlender Fachkompetenz abzulenken und besinnt
sich auf ein Prüfzeichen, „hat ihr Helm die nötige
CE-Zulassung?“ „Das will ich meinen, hat 'ne
Menge Geld gekostet.“ „Es muß am Helm stehen,
zeigen sie doch mal her.“ Nun besieht sich dieser
den Helm, findet jedoch nicht das Gewünschte. Der
ältere Polizist kommt etwas entäuscht vom Wagen
zurück. „Die Papiere sind in Ordnung.“
Oliver Droste 24
Irgendwo in Nirgendwo
Der jüngere Beamte gibt Marcel seinen Helm
zurück. „Na gut, nächstes Mal fahren sie etwas
langsamer, hier ist sechzig.“ „Natürlich, ich hab
nicht aufgepasst.“„Einen schönen Abend noch.“
„Werd' ich haben.“Beide Polizisten gehen zu ihrem
Wagen und steigen ein. Marcel fällt ein Stein von
seinem wieder begrenzten Herzen. Er setzt sich, mit
noch etwas vor Nervousität zitternden Händen, den
Helm auf, macht den Verschluß zu und zieht die
Handschuhe wieder an. Grinsend steigt er auf seine
immernoch laufende Maschine und gibt mehrmals
Gas. Eine Fehlzündung erhebt Marcel wieder in
Traumwelten. Er hält die Vorderradbremse fest, läßt
die Kupplung kommen, so daß der Hinterreifen
durchdreht und es qualmt; dann läßt er die Bremse
los, so daß das Motorrad vorne hochsteigt und er
losfährt. „Wuhhu!“
Die Polizisten sitzen mit großen Augen im Wagen
und starren hinterher.
Der ältere sagt: „Das hast du nun von deiner
Gutmütigkeit. Ich hätte dem das Motorrad
auseinandergenommen, bis ich was gefunden hätte.“
„Du hättest ihn doch fast erschossen, als die
Fehlzündung kam.“ „Ach sei doch ruhig, Du kennst
doch die Geschichte, wo ein Kollege bei der
Verkehrskontrolle erschossen wurde“, sagt der
Ältere sich rechtfertigend und etwas cholerisch, „ist
doch gar nicht so lange her. Hast Du diesen
Verkehrsrowdi wenigstens ermahnt?“ Der jüngere
Kollege, der den Clint Eastwood-Stil des älteren
nicht ausstehen kann, versucht ihn auf seine
Oliver Droste 25
Irgendwo in Nirgendwo
Polizistenvorstellung zu korrigieren. „Und was ist
mit dem Spruch, Polizei, Dein Freund und Helfer?“
Der Alte, sichtlich nach Fassung ringend, erwidert:
„Was soll denn der Spruch, beim nächsten
Verbrecher, der eine Waffe zieht, steckst Du ihm
noch ein Blümchen in den Lauf“ und macht eine
Etepetetebewegung beim imaginären Blume-in-denLauf-stecken. „Nun übertreib es aber nicht.“ „Willst
du hier noch lange rumstehen, fahr schon los,
nächste Ampel links, da gibt es eine Abkürzung, den
Kerl kriegen wir noch.“ So fahren sie los, das heißt,
der junge Kollege fährt nach den angespannten,
wenn nicht sogar überspannten, Anweisungen seines
älteren, jedoch ranggleichen Kollegen. Als sie ein
paar Straßen weiter an einer Kreuzung bei rot
stehen, kommt Marcel auf einem Reifen über die
Kreuzung gefahren.
Dem älteren bleibt der Mund offen stehen. „Ich
glaub es nicht.“ Sein Kollege reagiert mit etwas
mehr, kaum zu unterdrückendem Erstaunen, fast
schon Begeisterung, für das akrobatische Talent des
Motorradfahrers. „Wow, der kann aber fahren.“ Der
alte Polizist sieht seine so krass verachtete Autorität
angefahren im Straßengraben liegen und schreit,
„jetzt reicht es! Setz das Blaulicht auf's Dach!“ und
sie nehmen die Verfolgung auf. „Hast du denn
wenigstens die Nummer aufgeschrieben, Bruno?“
Dem jungen Polizisten wird etwas unwohl, da er
eine Nachlässigkeit begangen hat und dies von der
cholerischen Laune seines Kollegen sicherlich in
höchster Erregung enden wird. „Mist, tut mir leid,
Oliver Droste 26
Irgendwo in Nirgendwo
hab' ich vergessen.“ „Arschloch!“ entfährt es
diesem, auf die Verfolgung und Ratschläge zum
besseren und schnelleren fahren gebend, was einen
„guten Beifahrer“ ausmacht, konzentriert.
Marcel hat das Blaulicht weit hinter sich gesehen
und ahnt schon, daß ihm diese Aufmerksamkeit
zuteil wird, biegt zweimal ab, beschleunigt und fährt
eine Hauseinfahrt hinauf. Fast im Reflex schaltet er
das Licht aus. Herzklopfend wartet er. ‚Verdammt
die sind heute aber ganz schön scharf. Na gut, etwas
übertrieben hab‘ ich es wohl auch.‘ Als der
Polizeiwagen vorbeifährt grinst Marcel „hä, hä“,
biegt zur anderen Seite ab und fährt nach hause, da
ihm das Klima in der Stadt nicht mehr zusagt.
Dort angekommen steht er vor der Tür und kramt in
den Taschen. Eine Prozedur, die Marcels Wesen
aufschlüsselt. „Ach nö, ich hab‘ doch nicht nur
meinen Motorradschlüssel mitgenommen und den
Haustürschlüssel wieder liegen gelassen.“
Er muß sich seinen desulaten Gedächtniszustand
eingestehen und klingelt resigniert. „Hoffentlich ist
Roland noch da“ und klingelt wieder. „Mist, Mist,
so'n Dreck.“ Marcel geht einige Schritte zurück und
sieht oben im zweiten Stock ein Fenster auf kipp
stehen, direkt neben der Regenrinne. Die
Kombination von Möglichkeiten des ohne Schlüssel
in die Wohnung zu gelagen, läßt nur eine Varriante
zu. Er legt den Helm und die Lederjacke vor die Tür
und klettert langsam das Rohr hinauf. Auf halber
Höhe kracht das Rohr kurz. Marcel hält den Atem
an, nichts passiert. Er klettert vorsichtig weiter bis
Oliver Droste 27
Irgendwo in Nirgendwo
zum Fenster. Das Rohr knackt wieder. Marcel tastet
sich vorsichtig mit einer Hand zum Fenster. In
diesem Augenblick kommt der Polizeiwagen mit
Blaulicht vorbeigefahren. Marcel dreht seinen Kopf
erschrocken und schaut zum vorbeifahrenden
Polizeiwagen. Der Polizist sieht in diesem
Augenblick aus dem Fenster und Marcel an der
Häuserfront haften. Beiden entfährt gleichzeitig der
Ausdruck, der die Szenerie am besten beschreibt: „
Scheiße!“
Das Rohr bricht oben ab, Marcel faßt die Ecke des
halb offenen Fensters, das dabei zuklappt. Er schreit
kurz auf. Mit einer eingeklemmten Hand hängt er
dort und tastet mit der anderen nervös nach einem
Halt.
Der älterer Polizist fragt seinen Kollegen, was denn
sei. „Da hing gerade jemand an einem Abflußrohr
am Haus.“ „Was? Heute ist ja was los“ und greift
das Funkgerät. „Leitstelle von Florian 21/41,
kommen.“ „Hier die Leitstelle, kommen.“ „Haben
verdächtige Person bei Hauseinbruch gesehen,
brechen Suche ab und sehen mal, was da los ist.“
„Leitstelle verstanden, kommt gleich mal mit Lage.“
„Machen wir, Ende.“
Sie wenden mit dem Streifenwagen und halten vor
dem Haus. Marcel schwitzt und kann seine Hand
nicht befreien. Die Polizisten steigen aus und laufen
zum Eingang. Der ältere, der als erster im
Dienstübereifer dort ankommt ruft „kommen sie
sofort da runter, aber langsam!“ zu Marcel hinauf.
„Ich schätzte, wenn ich runterkomme wird es mit
Oliver Droste 28
Irgendwo in Nirgendwo
dem langsam wohl nichts.“ „Reden sie nicht herum
und kommen sie runter!“ „Das geht nicht, ich habe
meine Hand eingeklemmt.“
Der junge Kollege fragt, „was machen sie eigendlich
da oben?“ Marcel dreht sein Gesicht zur Wand, da er
den Polizist erkannt hat. Es ist nur eine Frage der
Zeit, bis ihn die Polizisten erkennen, so fügt sich
Marcel widerwillig seinem nicht abzuwendendem
Schicksal, in der Hoffnung, bald aus dieser miseren
Lage befreit zu werden. „Ich wohne hier und habe
meinen Schlüssel vergessen.“
Der Alte, von geringer Gedult beseelt, wird nun
etwas bestimmender. „Nun kommen sie endlich
runter!“ Marcel, nun ebenfalls von der Konversation
etwas aufgebracht ruft, „es geht nicht, ich sitze fest,
Mann, ruft die Feuerwehr, ich quetsche mir gleich
die Finger ab.“
Der jüngere Polizist bemerkt die etwas eingefahrene
Situation und fragt seine Kollegen, „so was, was
machen wir nun?“ Den alten überkommt der
Sarkasmus und antwortet auf diese für ihn
überflüssige Frage: „Na, vielleicht den Schlachter
rufen? Sag in der Leitstelle bescheid, die sollen die
Feuerwehr schicken!“ „Ist ja schon gut“ und kann
sich im weggehen den „Choleriker!“ nicht
verkneifen.
Der Alte sieht den Helm und die Jacke vor der
Haustür liegen und hebt sie auf, um den Ausweis zu
suchen. Im Portemonaie wird er fündig, „mit wem
haben wir es denn zu tun?“ - „Aha, Marcel, da sitzt
Oliver Droste 29
Irgendwo in Nirgendwo
Du aber in der Patsche. Warte mal,“ sieht noch mal
in die Papiere, „Oh, unser Motorradrowdi.“
Marcel bekommt mit den Füßen nun endlich Halt
auf der Fensterbank und klettert darauf, halb
hockend und mit der freien Hand nach einem
sicheren Griff suchend. Die letzte Äußerung des
Polizisten, die sehr triumphierend klang veranlaßt
Marcel zum Fluchen. „Verdammt. Ok, ihr habt
gewonnen; ich hab es übertrieben.“
„Die Einsicht kommt zu spät, Junge. Jetzt hast Du
ein Problem. Dich loch‘ ich ein. Du kommst die
nächsten 48 Stunden nicht raus, das versprech ich
dir.“ Der jüngere Beamte entgegnet beschwichtigend
dem älteren, „besser eine Einsicht zu spät, als gar
keine“. „Deine Softiesprüche kannst du dir an den
Hut stecken,“ wobei er dem jüngeren „Schnösel!“
auf den Dienstmützenlosen Kopf schaut und seinen
schüttelt.
Die ersten Nachbarn kommen, von Voyeurismus
getrieben, auf die Straße gelaufen. Eine kurze Zeit
später trifft die Feuerwehr mit Blaulicht und
Martinshorn ein. Marcel wird nun sichtlich
nervöuser und schwitzt auch deutlich mehr. „So eine
Scheiße, heute ist nicht mein Tag, verdammt ich
kann mich nicht mehr lange halten.“
Im Haus wird eine Tür geöffnet, so daß das Fenster
an welchem Marcel hängt, aufbebt. Marcel sieht
fragend durch das Milchglas ins Bad und versucht
jemanden zu erkennen. Im dritten Stock geht das
Licht an und ein Fenster wird geöffnet. Eine junge
Frau sieht hinunter, sieht den Polizeiwagen dort
Oliver Droste 30
Irgendwo in Nirgendwo
stehen und die Feuerwehrmänner bei emsiger Arbeit,
eine Leiter auszufahren. Die Frau sieht nach unten
und Marcel dort hocken, „Marcel, sag bloß, du hast
deinen Schlüssel wieder vergessen“ und lacht. Er
sieht zu ihr hoch, antwortet mit einem aggressiven
„ha, ha, lach nur, ist gar nicht mehr komisch“. Er
sieht jetzt einen Schatten an sein Fenster kommen,
„Roland? Du bist ja doch da."
Dieser wundert sich nicht unerheblich über die
außergewöhnliche
Einstiegsvarriante
seines
Mitbewohners. „Marcel, bist Du das? Was machst
Du denn da? Warte ich laß Dich rein.“ „Nein, faß
das Fenster nicht an“, entfährt es diesem, als ihn die
Höhenangst bespringt. Roland zieht am Fenster und
öffnet es einen Spalt, worauf Marcels Hand sich lößt
und dieser hektisch beim Gleichgewicht verlieren
nach einem Halt grabscht. Er greift im Fallen nach
einem Ast eines nahe stehenden Baumes, der sich
immer weiter biegt. Alle schauen nach oben. Marcel
versucht, mit der anderen Hand nach den Ast zu
fassen, worauf dieser bricht. Er fällt in die stinkend
aufplatzenden Müllsäcke, mit dem faulendem Inhalt
der letzten zwei Wochen, die Marcel noch selbst an
die Straße gestellt hat und nun nach dem Geruch zu
urteilen, eher etwas für die Biotonne sind. Das
abgebrochene Ende hält er dabei in der Hand, wobei
das dickere dem aufschreienden, alten Polizisten auf
den Fuß schlägt.
48 Stunden später kommt Marcel von der
Polizeiwache nach hause, der Polizist hat sein
Versprechen gehalten.
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Irgendwo in Nirgendwo
IV
Vom Schläfer im Baum
Die Nacht brach herein, Marcel sich kein Bein; er
hatte Glück gehabt, daß er in die Müllsäcke fiel.
Reichlich ernüchtert kommt er aus der
Polizeistation, nachdem er von dem älteren sich in
Genugtuung badenden Polizeibeamten seine
persönlichen Sachen aushändigen ließ, der akribisch
genau seiner ihn so begeisternden Bürokratie
fröhnte.
Im Laternenschein geht er durch die Stadt, eine
Straße hinauf, soweit, bis es nach einer Stunde
grüner und verwachsener wird. Dort bleibt er stehen
und hört in die Stille. Ein entferntes Singen, nein
keine Nachtigall, schwebt zu ihm herüber und zieht
ihn durch die Gebüsche und an Bäumen vorbei.
Der Gesang wird immer deutlicher, das Licht immer
spärlicher und eine alte, mit Efeu verwachsene
Mauer eines großbäuerlichen Gehöfts aus den guten,
alten Zeiten, als es einigen Landwirten noch sehr gut
ging, verschließt dem Wald den Eintritt. Vor einem
Baum bleibt er stehen, eine alte Lärche mit
Säbelwuchs in der Krone. Marcel klettert ihn hinauf
bis zu der gebogenen Krone, die sich so gabelt, daß
er sich dort hineinlegen kann. Die Nadeln sind
weich; er liegt dort in den Armen des Baumes und
läßt sich vom Wind wiegen, vom Mond das Gesicht
bleichen.
Oliver Droste 32
Irgendwo in Nirgendwo
Ein Traum fällt von der Sternenrebe und ruht sich
auf seiner Stirn aus. Ein Traum von einem Schläfer
im Wald. Schlafend liegt er im Wald auf laubigen
Boden gebettet, der ihn versteinert, so kalt ist er; ein
warmer Wind hat ihn gerettet. Eine Waldschnepfe
trinkt aus seinem Mund; das Regenwasser bringt
Leben in trockenen Waldgrund. Der Sommer hat die
Farben ausgebleicht. Der Herbst schwebt leicht zu
ihm zu Boden, duftend modriger Odem. Ein Hauch
stimmt die Saiten der mächtigen Waldharve,
Faulgase durchschreiten ihn, wo er liegt im Schlafe.
Um seinen Kopf trägt er einen Kranz aus roten
Rosen. Das Mondlicht bricht sich in den
Gletscherseen toter Augen.
Das Singen schwebt wie ein weißer Nebelschleier zu
seinen Ohren und verfängt sich dort, so daß er
wieder in die Gegenwart zurückkehrt. Der Wind
weht eine Sommernacht dahin.
Marcel blickt zur Seite in das beleuchtete Fenster
eines Hauses und sieht ein Mädchen auf der Gitarre
spielen und hört sie singen. Ihm fallen die etwas
längeren Haare ins Gesicht, so daß er sie sich
herausstreichen muß. Er versucht sie zu erkennen,
doch ihre dunklken Haare verdecken ihr Gesicht
ebenfalls, da sie den Kopf gesenkt hält. ‚Wie sieht
sie wohl aus‘, denkt Marcel, ‚ihrer Stimme nach
muß sie wunderschön sein‘, ihre Worte zerbrechen
die Nacht.
„Sometimes, I need the quiet night, sometimes I
need noise. Sometimes, I need to cry like a bird and
sometimes to laugh (love) like a dog.“ Die traurige
Oliver Droste 33
Irgendwo in Nirgendwo
Stimme hebt an zum Refrain. „But who needs a crying bird, who a laughing dog, I don’t know, I don’t
know. – Sometimes, I need to fly like a bird, out of
the prison of myself, sometimes I need to run like a
dog, dreaming like a blind man. But who needs a
flying jailbird, who a running blind dog, I don’t
know, I don’t know.“
Der Gesang hört auf, die Gitarre spielt eine traurige
Melodie und schweigt. Das Mädchen steht auf ,
löscht das Licht im Zimmer und schließt das Fenster.
Marcel dreht sich wieder auf den Rücken und sieht
zur Mondfrau hinauf. Er versucht das Bild dieser
Frau einzuordnen. Irgendetwas kommt ihm vertraut
vor, er weiß nur nicht, was es ist. Ein Traumbild, ein
Wunschdenken, oder eine Traumzeit, die
vorbeischleicht. Er hört sie schon trapsen. Nach
einiger Zeit vernimmt er ein anderes Geräusch, das
ihn wieder ins Jetzt versetzt; er sieht zum dunklen
Fenster herüber. Dort öffnet es das Mädchen, setzt
sich auf die Fensterbank und schaut zum Mond.
Marcel sieht ihre Augen; sie werden immer
deutlicher. Der Mond kommt aus seinem Schleier
hervor und strahlt noch heller. Ihre Augen werden
seine Augen und seine Augen werden zu ihren,
Marcel verschmilzt mit ihnen, er taucht in ihre Tiefe.
Wir wollen uns nun nicht zu tief in diese Seele
hinablassen, zu verworren ist sie, zu viele dunkle
Gänge schlengeln sich durch ungepflegte, englische
Gärten, verwachsen und verkrautet, jedoch in wilder
Schönheit. Nur einige Trampelpfade schleichen
sternlinks in sonnenbewachsene Blumenwiesen. Wer
Oliver Droste 34
Irgendwo in Nirgendwo
hat die schönste gepflückt, sie in der Hand
mannshoch welken lassen? Wo ist unser
Schattenjäger, der Fährtensucher? Wir wollen
Handreihen bilden und den Pfad ins Meinlose
hineinschleichen, in den farblosen Nachtgarten
wilder Orchideen unter dem wölfischen Tierschrei,
der aus vergangenen Äonen hallt.
Diese Nacht hat viele Gesichter, Traumgewalten.
Hier nebeln dunkle Gewitterwolken tief durch’s
Geäst, versuchen den ungewollten Besucher zu
erdrücken, mit Blitzen zu jagen, vielleicht zu
erschlagen. Ein reiner Geist leitet die Elektrizität
weiter. Ein Schmetterlingslächeln läßt am Horizont
Morgenfarbe stehen, wir sind auf dem richtigen Weg
und werden Emira bald sehen, kehren aber nun
zurück.
Nun erkennt Marcel das Gesicht wieder, ‚das ist ja
das Mädchen aus der Fußgängerzone‘, denkt er, ‚das
Schicksal ist Fügung‘. So verharren sie. Das
Mädchen schaut zum Mond und Marcel zu ihr.
Fledermäuse jagen in der Dunkelheit Insekten und
führen Kunststücke vor. Der werdende Tag beißt die
Nacht, daß der Himmel blutet. Die Schatten springen
unter die Büsche und Bäume, um sich vor den
Lichtstrahlen zu retten, bis sie unsichtbar irgendwo
in den Löchern verschwinden. So verbrachte Marcel
die Sonnennächte in seinem Baum.
Oliver Droste 35
Irgendwo in Nirgendwo
V
Vom „desolaten“ Wesen unserer Jugend
Marcel, Roland, Sabine, vier Betrunkene.
Die Nacht schleicht irgendwo über die Erde,
dämmert schon, Flugzeit flattert trübe dunstend in
die Frühe, schräg schlagend, grelle, Schock; es wird
wieder helle.
Der Wecker weckt den Schlafefest. Marcel dreht
sich im Bett, tastet die Bettkanten ab, um sich zu
orientieren, tastet am Bücherregal nach dem Wecker
und knipst ihn aus, dreht sich auf den Rücken und
macht die Augen auf. Trolle zippen an der Wimper,
will
nicht
recht
–
Elfenkuß,
Synapsenlichttransmitter. Kraftstrom strömt in
Butterweich, vertikal will horizontal nicht richtig
aufrichten und bleibt liegen, Schlafefest hält ihn im
Würgegriff.
Er kann das Traumland noch nicht hinter sich lassen.
Was ist Realität, was ist Traum? Was hat er erlebt,
was gefühlt, was geschaut. Die Traumfee schleicht
durch das Zimmer, schwebt an die Decke. Marcel
wälzt sich im Bett, kämpft mit der Nachthexe, die
ihn nicht in den Tag gehen lassen will. ‚Augen
auflassen, sonst pennst du wieder ein.‘ Seine Augen
fallen langsam zu. Marcel reißt sie wieder auf. „Los
Augen auf, Du mußt aufstehen. Aber es ist so schön
warm und mollig im Bett“, sagt er zu sich, grinst
Oliver Droste 36
Irgendwo in Nirgendwo
und umarmt sein Kopfkissen. Die Augen schließen
sich wieder langsam, so daß er wegdöst.
Marcel jagt einen schwarzen Engel von seiner
Traumwolke und ruft, ‚hau ab, sie gehört mir!‘ Dort
der Nebelgeist auf seinem Regenbogen. ‚Scher dich
raus aus meinem Paradies! Ich räume auf.‘ Ein böser
Blick verstreicht ein schönes Wesen. ‚Hau ab, mein
Nirgendwo ist friedlich! Peace and love and all the
other bullshit.‘ Dort im Tal steht eine krumme
Gestalt. Marcel richtet sie auf mit seiner
Königsgewalt. Sie soll die Gipfel bewohnen, über
alle Geraden thronen.
Er schwärzt den weißen Vorhang, hängt ihn in die
Nacht, daß seine Konturen verschwimmen.
Übermäßiges Leben schank er mit Unbedacht,
entgegen warnender Stimmen in das irdene
Traumwesen, so daß es erwacht. Er jagt die bösen
Tiere aus diesem Land hinaus, bläßt den Staub des
Argwohns heraus. Die Traumfee ruft er an. ‚Las die
Erkenntnissterne aufleuchten, laß mich den Himmel
mit meinem Bruch anfeuchten, daß es Tränen regnet,
die Kruste des Steinseins aufweicht, die Schwinge
das Gesicht zart streicht, bis ein Lächeln entweicht.‘
Die Traumfee flüstert ihm im Verschwinden zu,
‚Hier irgendwo ist Nirgendwo vorbeigeträumt, einen
Schlaf hast du versäumt, er war zu leicht‘ und
verschwindet.
Plötzlich schreckt er hoch und sieht zum Wecker.
„Mann nur nicht einschlafen! Jetzt reicht es, ich
stehe einfach auf, obwohl ich nicht will. Mmhh.“
Jammer überkommt ihn. Schlaftrunken zieht er sich
Oliver Droste 37
Irgendwo in Nirgendwo
seine Jeans an und geht mit halb geöffneten Augen
ins Bad, kommt mit Zahnbürste im Mund wieder
heraus, stellt die Kaffeemaschine an und
verschwindet wieder im Bad. Nach einiger Zeit
kommt er erneut heraus, geht in die Küche und stellt
die Anlage an. (Tocotronic: Der schönste Tag in
meinem Leben war ein Donnerstag... .)
Ein Krachen im Flur läßt Marcel von seinem Kaffee
aufschauen. Es klirrt etwas, es lacht etwas. Dann
hört man Schritte, Reden und Lachen, das Stochern
mit dem Schlüssel nach dem Schlüsselloch, dann
Klopfen und Hämmern.
Marcel geht zur Tür mit Schlafwandlergang, macht
sie im Vorbeigehen auf. Roland und ein Mädchen
fallen in den Flur und lachen. Marcel geht wieder in
die Küche und setzt sich vor den Kaffee, als sei dies
ein ganz normaler Vorgang. Roland und seine
Begleiterin kommen zu ihm herein.
Beide haben glasige, alkoholisierte Augen,
schwanken stark. Roland zieht einen Küchenstuhl
vor und läßt sich nieder, wobei er sichtlich Probleme
mit der Schwerkraft und der Motorik hat, die etwas
unkoordiniert und in ungewollte Bewegungen
endend, erscheinen. Er sieht Marcel mit kreisendem
Kopf an und fragt, „Eh, biste auch gerade
wiedergekommen. Wir wollen uns’n paar
Spiegeleier braten. Was machste son'n Gesicht,
siehst ja aus, als würtste gerade aus'n Bett kommen.“
Marcel ärgert sich ein wenig über Rolands Zustand
und seine Disziplinlosigkeit, besonders, da es am
Oliver Droste 38
Irgendwo in Nirgendwo
frühen Morgen ist. „Mann, machst Du heute wieder
blau, oder haste keinen Vorlesung?“
„Äh, Vorlesung? Ich denke das is‘ nur in der Woche,
oder was'n Tag is'n heute? Is doch Samstagmorgen
jetzt, oder Bine?“ Sie sieht ihn mit glasigen Augen
an und sagt mit einer Betonung als hätte sie
Schluckauf „Joh“, torkelt etwas und lacht.
Marcel sieht ihn an, „Quatsch, es ist Freitag!“
„Is, eh, mir doch egal, hehe, komm gib mir mal'n
Schluck Kaffee, Marcel.“
Marcel ist nun etwas verunsichert und stellt die
Anlage aus, sieht auf die Uhr, „warte, es kommen
Nachrichten, dann hören wir was heute für'n Tag
ist.“
Aus dem Radio hört er die Zeitansage, „sechs Uhr,
Nachrichten, zuerst die Schlagzeilen...“. Marcel wird
ungeduldig, „scheiße, wie spät es ist weiß ich doch,
was für'n Tag is'n heute?“ „Na, sieh doch raus, in
der Stadt ist tote Hose.“ „Mach keinen Scheiß,
Mann! Sag nicht ich hätte schlafen können.“
Roland stellt den Kaffee auf den Tisch und schwankt
zum Kühlschrank, sieht seine Begleiterin an, „Bine
setzt Dich doch, weißte was'n Tag heute is?“
Sabine schwankt zum Tisch, setzt sich und versucht
langsam, wie in Zeitlupe, aber in höchster
Konzentration die Tasse Kaffee in die Hand zu
nehmen. „Ich glaub, ich vertrag nie nichts mmmehr.
Ich glaub auch Freitach is.“
Marcel sieht zu Roland hinüber, „na siehste, glaub
ich auch, ich steh' doch nicht umsonst auf“.
Oliver Droste 39
Irgendwo in Nirgendwo
Darauf entgegnet Roland mit einem bestechenden
Argument, „Freitags is‘ immer gute Musik im
Milljöh,“ womit er eine Diskothek mit diesem
Namen meint.
„Wart ihr im Milljöh?“
Roland und Sabine antworten beide zufrieden mit
einem kurzen „Jap“. „Eh, war voll krass heute,
hehe, ey schroff Alter,“ und macht eine
Handbewegung, die einen steilen Abhang darstellen
soll, womit Roland seinen positiven Eindruck des
Abends ausdrücken will. Sabine schwankt auf dem
Stuhl und sieht Marcel an. Dieser geht in sein
Zimmer, „mist, ich mach mal den Fernseher an und
vergleiche das Programm mit der Fernsehzeitung“.
In der Küche hören sie den Fernseher angehen.
Roland und Sabine schmieren sich zwischenzeitlich
Brote.
Roland sieht seine Tischnachbarin an und meint,
„der Idiot“, er lacht kurz auf, „steht Samstag, hick,
morgen auf und will zum Dienst, ha ha“.
Sabine lallt, „hat vielleicht auch Samstag Dienst“.
„Klar,
Stupo
is‘
das.“
„Was?“
„Na,
Studentenpower.“ Sie hören Marcel von nebenan
fluchen „Scheiße! So'n Dreck verdammt.“ Sabine
und Roland sehen sich grinsend an und sagen
gleichzeitig, „Samstag“ und lachen wieder.
Marcel kommt in die Küche und setzt sich mit
finsterer Mine hin. „Mist, jetzt hab' ich schon Kaffee
getrunken. Dann kann ich nicht mehr schlafen.“
Oliver Droste 40
Irgendwo in Nirgendwo
„Tja, das ist Pech“ und sieht zu Sabine, „das macht
er öfters“. Sabine entgegnet, „also ich verpenn' eher,
als daß ich aufstehe, wo nich' is'“.
Marcel bemerkt Rolands ausgebeulte Jackentasche
und zeigt darauf. „Was habt ihr denn da?“ „Oh, ja,
Johnny Walker.“ Sabine schüttelt den Kopf und lallt,
„bäh, laß das Zeug bloß in 'ner Tasche, mir is'
schschon schlecht“. Roland interessiert es nicht,
„komm, hol'n Glas eh - zwei, bevor de nich' mehr
schlafen kannst, Marcel“.
„Mann, wär’ ich nur mitgekommen, Freitagabend,
Mist! Ich wollt mich noch mit'n paar Leuten
treffen.“
„Komm
Marcel,
wir
machen'
Whiskyfrühstück, hab' ich noch nich' gemacht.“
Marcel schweigt, hebt dann den Kopf, „OK, jetzt
hol'n wir Freitagnacht nach“.
Die Musik wird aufgedreht, Whisky eingeschenkt,
verdünnt oder pur getrunken und als Whisky im
Kaffee. An der Tür klingelt es. Marcel und Roland
sind schon fröhlich, oder noch. Sabine torkelt mit
schwerer Schlagseite zur Tür und öffnet sie. Drei
Männer und eine Frau stehen vor der Tür und
grinsen glasig. „N‘morgen, Bine (jemand summt in
belustigender Anspielung das Bine-Maja-Lied an
und lacht dann), seid ja noch auf.“ „Eh, kommt
rein.“ Darauf stolpern sie herein. „Na, seid ihr schon
am Eier braten?“ Eine Zeremonie, die sie
aufgenommen haben, um ihren Alkoholhunger zu
stillen. Dabei bevorzugen sie sehr gerne einige
Speckwürfel, wonach sich dann ein Durst einstellt,
der am besten mit einem nichtalkoholischem
Oliver Droste 41
Irgendwo in Nirgendwo
Getränk, oder einer elektrolytischen Limonade
gestillt werden sollte, da sehr schnell der rechte Weg
der Nahrungsaufnahme umzukehren droht.
Roland ruft etwas laut, „Nö, Eier ham wir nich‘,
sind am Frühstücken, wollt ihr auch noch'n
Schluck?“ Ein Pärchen tanzt zur Musik. „Was habt
ihr denn da feines?“ Marcel steht auf und antwortet,
„muß’te im Flur mal gucken, neben'm Klo, die Tür,
da steht noch Bier, hier is‘ noch Whisky“.
Und so nimmt der Morgen am Samstag seinen Lauf.
Es bleibt unerheblich die immer seichter werdende
Konversation weiter zu verfolgen, so daß wir einige
Stunden überspringen.
Oliver Droste 42
Irgendwo in Nirgendwo
V
Von einer grünen Ampel und roten Ballettänzern
Emira, Bea, Prolet, zwei Farbigen, zwei weitere
Frauen und einem Kellner
Es ist nun Zeit, Emira näher kennenzulernen; sie hat
ein Geheimnis, daß sich erst im Laufe der
Geschichte mit den Schicksalsfäden verwickelt,
verhäddert und mit Marcels zusammenführt. Sie
kommt aus Kroatien und lebt seit Beginn des
Krieges in Deutschland, wo sie sich mit Bea
angefreundet hat. Sie ist die Einzige, die ihre
Vergangenheit kennt, was geschah, was sie
verändert hat und immer wieder verändert.
Bea fährt an diesem Morgen mit einem alten
mattschwarzen, etwas rostigen Ford Capri durch
diese Stadt. Emira sitzt neben ihr und raucht. Sie
hören laute Musik aus guten alten Seatlezeiten und
singen oder schreien mit. Ihre Haare fliegen
headbangermäßig, Bea lenkt das Auto im Rhythmus
leicht hin und her, so daß sie noch mehr lachen
müssen.
Neben ihnen taucht ein tiefergelegter Golf auf. Ein
Wagen der einem alten Götterkult gewichen ist und
den dafür entsprechenden Ersatz verspricht. Er hat
hinten verdunkelte Scheiben und ist am einfachsten
mit dem ‚tiefer, breiter, lauter‘ zu beschreiben,
einem Ausdruck von höchster erotischer Erregung
bei der Beziehung zu einem Gebrauchsgegenstand.
Oliver Droste 43
Irgendwo in Nirgendwo
Ein Mann mit Schnäuzer und gelgeglätteten
zurückgekämmten Haaren schaut zu den beiden
Frauen im Ford Capri herüber und grinst seine
Dummheit an die Scheibe. Er zwinkert den Frauen
zu, die sich vor Lachen kaum halten können. Bea
fragt Emira, „was denkt der wohl von uns?“ „So
kriegt der die Frauen rum, also mich spricht das total
an“, antwortet Emira und lacht über ihren Humor.
„Los Bea, den hängst du gleich ab, warte mal.“ Sie
kommen an eine Ampel und bleiben nebeneinander
stehen.
Emira singnalisiert dem Golffahrer, das Fenster
herunterzukurbeln. Er geht natürlich sofort darauf
ein,
in
Freude
darüber,
daß
seinem
unausweichlichem Scharm die Frauen erlegen sind,
in der Vorfreude auf sexuellen Kontakt. ‚Hauptsache
die Frauen sind lustig und gut im Bett.‘ Natürlich
läßt er das Fenster elektrisch herunter. Emira winkt
ihm, das er etwas mit dem Kopf aus seinem Fenster
kommt, damit er sie besser versteht. Gespannt tut er
dieses und horcht auf die nun kommende
Verabredung oder Telefonnummer und grinst
hinüber, „hey, Mädels, ganz allein unterwegs, was
geht?“. Emira lehnt sich aus dem Ford und zeigt zur
Ampel, „ey, is‘ grün“ und Bea gibt gas, überholt den
Golf, um vor ihm in eine einspurige Baustelle
einzufahren. Der Prolet kommt so schnell nicht
hinterher, da er sich auf einen Rennstart nicht
eingerichtet hat. Schnell holt er mit großer
Beschleunigung auf, blendet auf, hupt und tobt in
seinem Wagen. Diese eindeutige Verarschung und
Oliver Droste 44
Irgendwo in Nirgendwo
die Anspielung auf sein Reaktionsvermögen sind
ihm nicht entgangen, zumindestens merkt er in
seinem Unterbewußtsein, daß sein Auto und seine
Fahrkunst beleidigt worden sind, daß seine Ehre nun
den schwarzen Flecken des Versagens trägt und er
ist doch kein Versager, was er sich jeden Tag auf’s
Neue beweist. Er fährt dicht auf, worauf Bea bremst
und langsamer weiterfährt, was die Wutausbrüche
des Hintermannes nicht gerade lindert. Bea und
Emira amüsieren sich vorzüglich und biegen an der
nächsten Kreuzung ab. Ein tiefer, breiter, lauter Golf
rauscht mit dröhnendem Bass an ihnen vorbei.
Einige Straßen weiter parken sie vor ihrem
Lieblingscafé um einen Becher des selbigen zu
trinken. Bea lacht noch über das dumme Gesicht des
Schnauzbärtigen, wie sich seine Physiognomie bei
Emiras Hinweis verlängerte und sie merkte, daß es
in seinem Kopf noch arbeitete, als sie losfuhren.
Dagegen wird Emira immer ruhiger, was nun Bea
auch auffällt. Schwarze Windungen verschlingen
das Dunkel, in das Emira dämmert. „Was ist los mit
dir Emira?“ „Ich glaub‘ es geht wieder los.“
„Komm, laß uns erst mal einen Kaffee trinken, laß
dich nicht hängen.“ Beide Frauen steigen aus dem
Wagen aus und gehen ins Café. Eine Treppe führt
dort hinauf.
Es sieht etwas ungastlich und dunkel aus, ändert sich
aber beim Eintritt in die Gastronomie. Es ist alles
etwas alternativ und nostalgisch gehalten. Am
Tresen stehen zwei Schwarze mit zwei Frauen. Die
eine trägt Rasterlocken. Sie scheinen sich sehr gut zu
Oliver Droste 45
Irgendwo in Nirgendwo
amüsieren. Ein Afrikaner scheint einen guten Humor
zu haben. Im Raum stehen einige Rundtische, in
einer Ecke steht ein Sofa, was auf dem Spermüll
gefunden zu sein scheint, jedoch hier den Zweck in
nostalgischer
Weise
erfüllt
und
äußerste
Gemütlichkeit ausstrahlt. Bea und Emira setzten sich
dort hin. Bea muß nocheinmal über das Erlebte
lachen und bestellt zwei Kaffee, schwarz.
Bea reicht Emira eine Zigarette, Marke schwarzer
Tabak, die diese mit zitternden Händen nimmt.
Emira verarbeitet das eben Geschehene etwas
anders. „Wie kannst du über diesen schmierigen
Typen denn nur so lachen, Bea, das war doch’n
großes Arschloch.“
„Was ist los, sei doch nicht immer so finster drauf,
den haben wir doch tierisch geil verarscht.“ „Das
war so’n Typ, für den wir Frauen doch nur Fickvieh
sind. Ein potenzieller Vergewaltiger.“ „Ach,
quatsch, das ist doch nur’n armes Schwein, der so’n
Auto braucht, um’ne Frau rumzukriegen. Und wenn
er eine damit rumkriegt hat sie es nicht besser
verdient. Die sind auch nicht besser.“ „Klar, der
denkt sich dann, die Frauen stehen auf solche
billigen Anmachen.“ Emira sieht Bea mit Ringen
unter ihren grünen Augen an, „ich kenne diese
Typen, das sind Verbrecher, Monster“ und ballt ihre
Hand zu einer Faust, wobei die halb aufgerauchte
Zigarette abgeknickt wird und Glut auf die
Tischdecke fällt und ein schwarzes Loch entsteht
glutumrandet, in das sie fällt. Der mit den zwei
Bechern Kaffee hinzukommende Kellner stellt diese
Oliver Droste 46
Irgendwo in Nirgendwo
auf den Tisch und ermahnt Emira zur Vorsicht.
„Brandlöcher lassen sich nicht so einfach
abwischen.“ Er drückt die Glut mit seinem großen
Portemonai aus und bittet um Zahlung der Getränke.
Nach dem Kassieren geht er wieder zurück hinter
seine Theke.
„Mensch Emira, versuch die Vergangenheit ruhen zu
lassen.“ Bea nimmt ihre Hand, da sie ihre
plötzlichen Stimmungsschwankungen kennt und
sieht ihr in die Augen. „Das Leben geht doch
weiter.“ „Ja, aber so wie es läuft ist es mir echt egal,
ob es weitergeht oder nicht.“ „Emira, du mußt dich
irgendwann mal fangen.“ Emira reißt ihre Hand weg
und
kämpft
mit
ihren
immer
wieder
hochkommenden Erinnerungen und Gefühlen. Die
Vergangenheit will sich nicht so recht von der
Gegenwart trennen lassen und wirft ein dunkles
Licht in die Zukunft, so daß ihre Schatten immer
länger und roter werden, die dann im Hintergrund
als feuerrote Ballettänzer durch den Raum fliegen;
sie drehen sich in eleganten Kreisen um ihre eigene
Achse, um dann in Luftsprüngen spagatisch
davonzuschweben.
„Laß mich doch einfach in Ruhe, verdammt. Du
sollst doch nicht immer davon anfangen.“ Ihre
Augen werden feucht und sie läßt die Haare ins
Gesicht fallen, damit man es nicht sieht. Dazu sind
ihre langen, etwas filzigen Haare sehr recht, dazu hat
sie sie wachsen lassen. „War doch nicht so gemeint.
Sag mal, hast du deine Tabletten heute schon
genommen?“ Emira sieht Bea böse an. Ihr Gesicht
Oliver Droste 47
Irgendwo in Nirgendwo
hat nicht mehr den schönen Ausdruck des
Abendlandes, sondern eher der Nacht. „Ist doch
wohl meine Sache. Die helfen doch auch nichts, die
machen nur träge und platt. Dann kann man nicht
mehr nachdenken; das will ich nicht.“ „Wenn du so
denkst, dann solltest du auch das Kiffen sein lassen.“
„Das tut aber gut und entspannt.“ „Du hast schon
Probleme mit deiner Psyche, dann ist das doch wohl
eher gefährlich.“ Emira ärgert sich über die
Vernunft, nimmt einen Schluck Kaffee zu sich und
zündet eine weitere Zigarette an. „Du bist 'ne echte
Nervensäge, Bea. Themawechsel!“
Bea ist ein Charakter der nicht so schnell aufgibt.
Das hatte ihre Freundschaft damals, als sie sich
kennenlernten ausgemacht, konnte aber auch zu
schweren Konflikten zwischen ihnen führen, die sich
dann relativ schnell durch ihre große Freundschaft
zueinander wieder legten. Bea versucht es noch
einmal. „Aber wir können doch über die Dinge
reden, die dir so schwer zu schaffen machen.“ „Halt
einfach deine Schnauze, hier red' ich nicht, du gehst
mir auf'n Kecks.“ „Deine scheiß Laune geht mir
auch auf'n Kecks, Emira.“ „Dann hau doch ab und
laß mich in Ruhe.“ „Ist ja wieder typisch, immer
weglaufen.“ „Ja, jetzt kann ich es wenigstens,
damals konnte ich es (schreit) nicht. Ich dreh' gleich
ab.“
Oliver Droste 48
Irgendwo in Nirgendwo
VI
Von telepatischer Kommunikation oder wie die
Nornen spinnen
Fortführung von IV
Als alle lustig zusammensitzten wird die Stimmung
etwas ruhiger. Jemand fragt Marcel, was die Kunst
mache. Gemeint ist damit ein monatlich,
unregelmäßig stattfindendes lyrisches Treffen von
Freunden der Dichtkunst. Diese Leute zieht es dann
an mystische Orte, wo sie im Lagerfeuer- oder
Kerzenschein ihre Poesie zum Besten geben und
feiern.
Roland ruft, „der will der neue Goethe werden.“
Marcel erinnert sich an eine Deutschstunde, in der
sein Lehrer über den Dichterfürsten sprach und
fragt, „wißt ihr, daß Goethe faule Äpfel in seinem
Schreibtisch hatte, um sich besser konzentrieren zu
können.“ Roland erwidert, „faule Äpfel in Gärung
verbreiten Alkoholduft, durch die -äh Gärung, die
alkoholische“ und hebt in diesem Sinne sein Glas,
was ihm die Anwesenden gleichtun, zu einem Tost.
Sabine ruft etwas unkontrolliert schwankend dazu
„klar, Marcel, laß dich inspirieren von Lady Maria
Kron und Sir Johnny Walker“, schenkt ihm ein Glas
Whisky ein und gibt es ihm.
Roland siniert über die Äpfel und meint „Goethe
muß Faust wohl auf einer Obstplantage geschrieben
Oliver Droste 49
Irgendwo in Nirgendwo
haben“, was zu allgemeiner Erheiterung führt. „So
jetzt laß uns deine Inspiration hören, Marcel.“
„Ha, ha, ihr seid ja alles Kulturbanausen, na gut. Ihr
habt es so gewollt. Ich muß nun wohl etwas
pädagogisch mit euch umgehen. Etwas schwarzen
Humor fällig.“ Er springt auf, zerzaust sich das
Haar, sieht mit weit aufgerissenen Augen irre in die
Runde, worauf ein Raunen durch die kleine
Gesellschaft geht und gibt ein sonderbares Stück von
sich, das im Folgenden zitiert werden soll.
„Jack the ripper:
Er hat den Frosch von der Straße geholt
Und ihn im Ofen gekohlt
Anschließend mit Rattenschwänzen serviert
Und mit Krötenschleim beschmiert
Er fraß es auf mit Hochgenuß
Und gab der Kröte einen Kuß
Bevor er ihr den Kopf abgebissen hat
Aber er war doch noch nicht satt
Nein, er geht jetzt in die Städte
Und sucht lebendes Fleisch auf jeder Fete
Er tanzt mit den Mädchen liebevoll im Arm
Und erzählt verzückt: "Du bist mein einziger
Schwarm"
Dabei schaut er ihnen tief in die Augen
Und denkt daran sie des Lebens zu berauben
"Mann, wie schön es doch wär'
Mache ihnen die Angst die Blase leer."
Oliver Droste 50
Irgendwo in Nirgendwo
(Marcel springt auf einen Tisch)
Ich würde abends von der lustigen Fete gehen
Und ihnen ein wenig das Genick verdrehen
So würde der Urin die Beine runterflutschen
Und ich würde sie zärtlich sauberlutschen.
Ich beugte mich über den Leichnam
(er faßt in eine Schüssel Chips und stopft sie in den
Mund)
Und riß ihr die Brust auf voller Gram
Ich steckte meinen Kopf bis zur Schulter rein
Und schmuste im Trog der Innerein.
Das Fleisch hatte im Gegrunze gebebt
Doch nun liegt er da, die Haare vom Blut verklebt
Seine Augen quellen groß und blutig hervor
Da er seinen Atem im Rausche verlor
Ein Stück des Herzens saß ihm im Rachen fest
Das sei euch eine Lehre, daß ihr nicht so gierig eßt!“
Alle lachen und klatschen Beifall, erfreut über das
dramaturgische Talent ihres Gastgebers, das zur
Erheiterung dieser Gesellschaft beitrug, als die
Stimmung an einem Tiefpunkt angelangt zu seien
schien. Nur Sabine, die dadurch in ihrem
Wohlbefinden erheblich gestört wurde, steht blaß
auf und geht schweigend zur Toilette. Jemand fragt,
was sich alle fragten, „was ist denn mit Bine los?“
Sie hören die Toilettentür zuschlagen und ein
Schweigen tritt ein. Da hört man ein Geräusch, als
Oliver Droste 51
Irgendwo in Nirgendwo
rufe jemand „Jörg“, das dann zu einem gequälten,
ausgedehnten „Jööörrrg“ wird, so daß alle über
Sabines Unterhaltung mit der Kloschüssel lachen
müssen. Nach einigen Minuten erscheint sie dann
wieder in der Küche und meint, „das war fies. Du
kannst doch viel schönere Gedichte von dir geben.“
Roland ruft dazwischen, „los Marcel, jetzt mal 'n
Liebesgedicht für Bine“.
Marcel überlegt, „OK, hab' ich doch auch, das ist
aber dann das letzte“, was durch unmütiges Raunen
bedauert wird.
„An meine ferne Liebe
Salzige Unterseestadt
Sende Rabenvögel aus
Kommen schwarzer Schwinge matt
Zu dir geflogen ins Haus
Lasse Seegras schwimmen als Gruß
Frankiert mit bleichem Meeresschaum
Gehe durch Korallengarten bloßen Fuß
Schwebend schwer meiner Liebe Traum“
Schauplatzwechsel:
Oliver Droste 52
Irgendwo in Nirgendwo
Emira schaut zum Fenster hinaus und sieht schwarze
Vögel vorbeiflattern. Bea fragt sie, als sie bemerkt,
daß sich ihr Gesichtsausdruck verändert, „was ist
los“. Draußen im Hofgarten kommt ein Wind auf
und ein blauer
Tänzer springt in hundert
Windungen in flatterndem Tuch durch das Grün und
Bunt der Beete. Emira sieht Bea ganz ruhig an, ein
Windhauch nimmt ihr die Haare aus dem Gesicht
und sagt dann:
„Weht der Seewind deine müden Glieder
Vom blutigroten Himmelsband
In mein Meeresheim hernieder
Schweren Glutes Blut wie Wein
Legen wir uns feucht nieder
Und schlafen sanft umwogt ein.“
Bea versteht nicht ganz, was sich hier in diesem
Kaffee gerade ereignet hat. „Bitte, was?“ „Nix“ und
sieht wieder aus dem Fenster, doch der Tänzer ist
verschwunden.
und wieder zurück:
Marcel hat das Gedicht beendet, seine Augen sehen
zum Küchenfenster hinaus. Die Stimmung ist sehr
ruhig. Paul ist am Tisch eingeschlafen. Sabine, jetzt
etwas erholt, ist sehr angetan von seinem Vortrag
und findet es „sehr schön, für wen ist es?“ Marcel
sieht sie an; Sehnsucht hat mit ruhelosen
Oliver Droste 53
Irgendwo in Nirgendwo
Dunkelheiten der Einsamkeit die Bläue seines
Herzens verengt. ‚Auferstandene Nächte suchen ihre
weinenden Tage‘ und werden zu dieser verworrenen
Frage, die er Sabine nun preisgibt, als ihn wieder die
Muse küßt, „für die verdammte Seelenverwandte,
unbekannte Landzerteilerin, verkannte, verwandte
Traumlandimmigrante, gleiteflug federleichte, weit
Verstreichte, die so verdammt lang auf sich warten
läßt.“
Sabine ist von seiner Verzweifelung berührt, da sie
Marcel schon länger kennt und sein feines Wesen zu
schätzen gelernt hat. Sie haben schon viele Abende
durchgequatscht und diskutiert. Jeder hat vom
anderen lernen können, Dinge anders zu sehen und
auch die eigene, manchmal eingefahrene Meinung,
revidieren müssen. Für den erweiterten Horizont
sind sie sich gegenseitig dankbar. Eine Dankbarkeit,
die nur Menschen empfinden können, die ihre
Meinung nicht auf Vorurteile bauen und einen
offenen Geist haben, etwas Fremdes zu akzeptieren.
Sie gründen ihre Einstellung nicht auf
Äußerlichkeiten, sondern haben die Fähigkeit, die
Dinge auf ihren inneren Wert hin zu betrachten.
Marcel setzt sich zu Sabine und schaut in sein Glas,
„hab‘ ich dir von den Augen erzählt, die ich in der
Fußgängerzone sah und der Nacht im Baum?“
„Roland hat was erzählt, aber ich denke man sollte
immer zwei Seiten sehen; er nimmt das doch mit
mehr Humor. Du hast dir bestimmt mehr Gedanken
gemacht.“
Oliver Droste 54
Irgendwo in Nirgendwo
Mittlerweile haben sich die Leute auf die beiden
Zimmer verteilt, um entweder zu schlafen, oder
Musik zu hören und zu reden. Es liegt nur noch Paul
am Tisch und dämmert in seinen Rausch weiter, in
die Tiefe eines Alokoholstrudels, der mit der
Besinnungslosigkeit des Schlafes endet. Marcel
erklärt Sabine, was er erlebt hat und fragt Sabine mit
einer Traurigkeit, die nur Alkohol hervorrufen kann,
„ob ich noch normal bin? Roland hat es mir oft
genug gesgt, daß ich es nicht sei.“ „Du mußt das von
Roland nicht so ernst nehmen; er meint das
bestimmt nicht so.“ Marcel sieht sie traurig an und
hat seine Stimme nicht mehr so ganz in der Gewalt,
als er sagt, „Das will ich – hoffen, er ist nämlich
mein bester Freund.“ „Wer weiß Marcel, vielleicht
gibt es ja wirklich sowas wie Schicksal, oder
soetwas wie Seelenverwandtschaft. Ich glaube man
darf nicht aufgeben, darauf zu hoffen. Das
Falscheste wäre es, eine Beziehung halbherzig
einzugehen, nur weil man Angst hat, allein zu sein.“
„Ich könnte es nicht, einfach nur weil ich unbedingt
mit jemanden Sex haben muß, eine Beziehung
einzugehen. Das wäre verlogen.“ „Weißt du was
Marcel, du bist echt ein ganz Lieber. Ich hoffe du
wirst bald deine Traumlandimmigrante finden.“ „Ich
weiß nicht“ antwortet Marcel resignierend, da er
schon zu lange, zumindest nach seinem
jugendlichem Zeitgefühl beurteilt, darauf wartet.
Aber das ist das Privileg der Jugend, Träume zu
haben und seinen Sehnsüchten nachzuhängen. Die
Gefahr liegt allerdings in der Überreaktion.
Oliver Droste 55
Irgendwo in Nirgendwo
Sabine will ihn nun ablenken von diesem Thema, da
es ihr etwas langweilig wird und sie sich auch
ernsthaft für Marcels Pläne mit seiner lyrischen
Zukunft interessiert. „Was hast du mit deinen vielen
Gedichten vor, die sind wirklich schön? Ich bin ein
großer Fan, auch wenn es vorhin etwas anders
aussah.“ Marcel macht eine wegwerfende
Handbewegung, „was nützt es, wenn es euch gefällt
und es kein Verlag drucken will?“ „Hast'e immer
noch keine Antwort, Marcel?“, womit Sabine einen
lyrischen Wettbewerb in Berlin meint, bei dem sich
Marcel beteiligt hat. „Nö, weiß auch nich'. Sind
wohl tausend andere, die auch was hinschicken und
die Verleger nerven. Die machen doch keine
Experimente und drucken was von 'nem
Unbekannten.“
Paul hebt seinen Kopf, da er im Halbschlaf etwas
zugehört hat, „ Mensch, was du machst is'
wenigstens nicht so'n langweiliges Zeug. (rölpst)
Wer liest schon Romane oder Bücher? Lieber hört
man 'ne CD oder sieht sich'n Film an.“ Marcel dreht
sich zu Paul, „ja, genau Paulchen, du hast den Nagel
auf den Kopf getroffen; deshalb denke ich auch, daß
man mit Lyrik unsere Generation viel eher
ansprechen kann.“
Paul denkt sich nichts weiter und sagt mit sich
wieder schließenden Augen und den Kopf auf die
verschränkten Arme gelegt, „ach, is' doch alles
geistiges Fastfood.“ „Aber mit hohem Brennwert
und Ballaststoffen“, entgegnet Marcel.
Oliver Droste 56
Irgendwo in Nirgendwo
VI
Eskalation im Café
Zurück bei Emira und Bea.
Die Tür des Cafés geht auf und auf der von unten
kommenden Treppe steht ein Skinhead, der suchend
in den Raum blickt. Zwei schwarze Ballettänzer
winden sich an ihm vorbei und springen elegant
zwischen die roten Tänzer des Hintergrundes. Alle
Gespräche verstummen und jeder sieht den
Glatzkopf an, dem die Stumpfheit seines Geistes aus
dem Gesicht springt und sich totlachend auf dem
Boden wälzt. Es ist unerheblich, sein Aussehen zu
beschreiben, da es sich um einen Stereotypen in
immer tragender Kampfuniform handelt. Er dreht
sich um und ruft zur Treppe hinunter. „Alles voll
Zeckenschleudern und zwei Kanacken sind auch da.
Los kommt hoch, Mädels.“
Mit diesem verharmlosenden Wort aus vergangenen
Bundeswehrtagen ist leider eine verniedlichende,
stumpfe Brutalität des Körpers und des Geistes
gemeint, was Emira eher aus Intuition als aus
sprachlichem Umgang sofort erkennt. Sie springt auf
und rennt auf den Skinhead zu, wirft dabei einen
Stuhl um, worauf sich dieser wieder der
Gastronomie zuwendet, erstarrt Emira ansieht und
kurz grinst. Emira rennt im vollen Tempo auf ihn zu
und springt mit beiden Stiefeln voran und mit
flatterndem Rock in ihn hinein, wo bei sie die Beine
durchstreckt, daß er einen Satz durchs Treppenhaus
Oliver Droste 57
Irgendwo in Nirgendwo
macht und dabei zwei andere, schon nachrückende
Skinheads mitnimmt. Die beiden schwarzen
Ballettänzer gleiten wieder im Spagat zurück durch
die Tür, ebenfalls die Treppe hinunter. Man hört ein
Schreien. Im Café ist Totenstille, als sich Emira
umdreht. Alle sehen sie mit großen Augen an.
Bea schreit „Emira?“
Emira wendet sich nochmal zur Treppe und ruft
hinunter, „verpisst euch ihr Wichser!“ und geht zu
Bea. „Hab' doch gesagt, ich hab' 'ne scheiß Laune.“
„OK Emira, wenn du das das nächste Mal sagst, sag
ich kein Wort mehr.“ Der Mann von der
Thekenbedienung hebt nervöus den Telefonhörer ab
und ruft die Polizei an. Zwei Autonome ziehen ihre
Handies
und
wählen
den
Notruf
ihrer
antifaschistischen Bürgerwehr. Es wird lauter, die
Gäste drängen sich vor dem Eingang, um diesen zu
verbarrikadieren.
Im Treppenhaus kommen Rufe und Stiefelgetrampel
hoch. Ihre von einer Frau gedemütigte Männlichkeit
versucht sich vergeblich durch lautes Brüllen wieder
aufzurichten. Sie wissen, daß sie es sich und allen
anderen wieder beweisen müssen, und dafür fordern
sie Blutzoll, der sich in gierender Spur durch das
Land zieht. Wie hat Hayder so schön seine rechte
Regierung in Österreich vor Schrödres Deutschland
verteidigt: ‚In unserem Land wurde noch kein
Ausländer zu Tode geprügelt‘ und hatte recht damit.
Die Blutspur ist typisch deutsch.
Jemand ruft zu Emira, „los, hau ab, durch den
Hinterausgang, die bringen dich um.“ „Is mir auch
Oliver Droste 58
Irgendwo in Nirgendwo
egal.“ „Ich weiß nicht wie lange wir die Tür
verbarrikadieren können, sei nicht verrückt!“ Bea
wird das alles nun bunt und schreit Emira an,
„lauf!“, rennt zu ihr, greift sie, zieht sie und sie
laufen los, als auch schon die Tür anfängt zu bersten.
Ein Handgemenge entsteht, doch die Brutalität der
Skins läßt keinen Verhandlungsspielraum, so daß sie
nun mit Schlagringen und Baseballschlägern
prügelnd hineinstürzen. Sie sehen Emira und Bea
noch gerade hinter dem Tresen durch die Tür
verschwinden.
Ein Glatzkopf gröhlt, „du hast unseren Kumpel
umgebracht, du Kanackenschlampe!“ und läuft
hinterher. Als er die Tür erreicht und in die dahinter
befindliche Küche eintritt, steht ein großer Farbiger
neben ihm und schlägt ihm mit einer Dachlatte vor
den Schädel, daß ihm die Nase bricht und er
zurücktaumelt, um rücklinks zu Boden zu sinken.
Ein weiterer Faschist ruft, „haltet euch nicht so lange
auf, ich will dieses Miststück kriegen!“ So springt
die Schar über ihren Sinnesgenossen, der eigendlich
Kammerad heißen müßte und schlägt auf den rot
werdenden Schwarzen mit Baseballschlägern brutal
ein, bis dieser bewußtlos am Boden liegt. Sie
drängen nun den beiden Frauen hinterher. Die
Glatze mit der gebrochenen Nase dreht sich nochmal
um und tritt mit voller Wucht, als wolle er einen
Fußball über das Spielfeld schießen, mit seinem
stahlkappen verhärtetem Stiefel zu und läuft blutig
grinsend hinter seinen Kampfgefährten her.
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Irgendwo in Nirgendwo
Oliver Droste 60
Irgendwo in Nirgendwo
VII
Wie Nornen die Fäden verknüpfen und Murphies
law bestetigt wird
Marcel, Roland, Sabine, Oma, Opa, Kellner, Mutter
und Vater von Sabine, Skinheads und Polizisten,
SEK, Bea und Emira
Mittlerweile wich die Lebensenergie der lähmenden
alkoholischen Müdigkeit, aber nicht dem Trieb zur
Selbsterhaltung. Marcel steht vom Küchentisch auf
und geht zu Roland ins Zimmer, wo dieser auf seiner
Couch liegt und schläft, da in seinem Bett zwei
Kumpels schlafen. Marcel stößt Roland an, „eh,
wach auf, wir müssen doch noch was einkaufen
gehen, wenn heute Samstag is'“. Der sieht ihn mit
glasigen Augen an und meint resignierend, „Mann,
ich will pennen, hab' kein bock“ und dreht sich auf
die andere Seite.
Marcel ist nun Roland beim Hinsetzen behilflich,
der nicht gerade Begeisterung für Marcels
Ambitionen aufbringen kann. Marcel ünterstützt sein
Bestreben, „los Roland, ich hab' kein bock wieder
Pizza oder Spaghetti zu essen“. Roland, der noch
keinen Gedanken an feste Nahrungsaufnahe
verschwendet hat, gibt seinen Unmut Raum, „mir is‘
noch schlecht, wie kannst du jetzt schon wieder an
Essen denken?“.
Sabine steht im Flur und sieht Marcels vergebenes
Bestreben, geht zum Kühlschrank und holt einige
Oliver Droste 61
Irgendwo in Nirgendwo
Eiswürfel heraus, kommt zurück, grinst Marcel an
und steckt sie Roland in den Nacken. Der rührt sich
erst gar nicht, doch als das Eis langsam den Rücken
hinunterläuft springt er auf und schnautzt Marcel an,
„bei dir hackt's wohl, Mann“. Marcel und Sabine
nehmen Roland links und rechts unter die Arme und
ziehen ihn mit sich. Roland erkennt, daß Widerstand
zwecklos ist und fügt sich seinem Schicksal, „mit
euch macht man was mit, ihr seid zwei Freunde“.
Sie torkeln, alle noch ziemlich angeschlagen und
Roland morgenmuffelnd, durch die Tür und durch
das Treppenhaus. Draußen am Tageslicht angelangt,
setzt sich Roland seine Sonnenbrille auf und sagt
ärgerlich „Mann, ist das hell, nicht zum aushalten,
dreht doch mal den Dimmer runter“. Alle blinzeln
über die Rige unter ihren Augen. Es kommt ein
Fußgänger, den Roland ebenfalls auffordert, „Mann,
dreh doch mal das scheiß Licht runter“. Marcel sieht
Sabine peinlich betroffen an und rüttelt Roland am
Arm, „hey, hör auf, mach keinen Ärger“ und dreht
sich zu dem seinen Schritt beschleunigenden
Passanten um, „'Tschuldigung, der is' noch total
blau“. Roland grinst, sich dieser Tatsache bewußt
werdend, „richtig“.
So schlendern die drei in die Fußgängerzone, bzw.
schlingeln und schlängeln sich, mit den Problemen
der Schwerkraft und des Gleichgewichts beschäftigt
durch die einkaufswütige Menge. Die frische Luft
hat ihnen nicht gerade gutgetan, da sie ihren
Restalkohol zu katalysieren scheint. Plötzlich schaut
Sabine mit schreckerweiterten Augen hoch, „oh,
Oliver Droste 62
Irgendwo in Nirgendwo
scheiße, da sind meine Eltern“. Ihre Blicke treffen
sich bei diesen Worten und sie bahnen sich einen
Weg durch die Menge. Ihr Mutter ruft, „hallo
Binchen, wo warst du denn?“
Sabine sieht zu Roland und Marcel, die die Situation
nicht recht einschätzen können oder wollen, um sie
zu ermahnen, „reist euch jetzt bloß zusammen und
tut so, als seid ihr nüchtern, das würden die nicht
verstehen!“ Roland stellt sich gerade hin und rückt
sich die Sonnenbrille zurecht, schwankt dabei hin
und her, lacht plötzlich kurz auf und ist gleich
wieder ernst. Marcel guckt auch mit glasigen Augen
ernst, was als ungewollte Komik eher zu akzeptieren
wäre.
Sabines Vater, mit patriarchischem Bart, der an den
Enden von den Mundwinkeln her gezwirbelt ist, ist
eine Erscheinung in Sacko mit Jacket, die von
Disziplin zeugt, sie zumindest nach außen zu tragen
sucht. Er sieht sich die drei an, so daß man die
Schubladen knarren und zuschlagen hören könnte
und fragt vorwurfsvoll, „wo warst du die ganze
Nacht, hast du es nicht mehr nötig, bescheid zu
sagen, wenn du wegbleiben willst; wir haben uns
doch Sorgen gemacht“.
Sabine ist etwas errötet und antwortet
beschwichtigend, „wir haben ein bißchen gefeiert,
ist ein wenig später geworden“, wobei sie versucht
die Worte genau auszusprechen, was aber eher zu
übertriebener Betonung geführt hat und wenig
geeignet war, von dem Tatbestand des Rausches
Oliver Droste 63
Irgendwo in Nirgendwo
abzulenken. Roland grinst dreht sich zu Marcel und
sagt leise, „gesoffen“.
Das Gesicht des Vaters versteinert sich etwas, als er
die Situation durchschaut hat, „sag mal, es stinkt
hier ja wie in einer Schnapsfabrik“. Roland hält die
Einstellung ihrer Eltern für spießig und fühlt sich
langsam genervt, als er meint, „echt helle dein
Alter“. Darauf stößt Marcel ihm mit dem Ellenbogen
in die Seite. Sabines Mutter muß die Feststellung
ihres Mannes nocheinmal unterstreichen, indem sie
sagt, „ihr riecht ja gegen den Wind nach Alkohol“
und rümpft die Nase.
Marcel versucht die Situation zu retten, indem er
Roland als Vorwand benutzt, der sich durch seine
Respektlosigkeit gerade selbst deplaziert hat, sein
Verhalten damit zu entschuldigen und Sabine zu
entlasten, indem er hinzufügt, „ne, das ist Roland,
den wollen wir nach Hause bringen“. Nur ist
Rolands Geist noch zu benebelt, als daß er die Finte
verstanden hätte und wehrt sich, ungerecht behandelt
und verraten gefühlt, sich von Marcel losreißend,
„was soll'n der Scheiß, ich denke einkaufen müssen
wir. Hättest mich ja liegen lassen können!“, wobei er
zu schwanken beginnt, mit den Armen nach
Gleichgewicht rudert und neben einen Tisch einer
Sitzgruppe vor einem Eiscafé fällt, an dem ein altes
Ehepaar sitzt.
Die ältere Dame in hoch zugeknöpften
Trachtenkleid, zu warm für diese Jahreszeit
angezogen, wie es alte Leute gerne tun, deren
Kreislauf altersbedingt heruntergefahren ist, dreht
Oliver Droste 64
Irgendwo in Nirgendwo
sich erschrocken zu Roland, „jungerr Mann, sie
sollten iihren Rausch ausschlafen!“. Roland
entgleitet zunehmend die Herrschaft über die
Situation und auch über seine körperliche sowie
geistige Motorik, so daß er flappsig antwortet,
„Omma; dat wollt ich auch“.
Ihr älterer Begleiter mit zerfurchtem strengen Blick
und altdeutsch zurückgekämmten weißem Haar, das
im Nacken ausrasiert ist, reagiert aufgebracht über
die Respektlosigkeit der Jugend, die Roland, vor ihm
liegend, stellvertretend verkörpert und schnauzt,
„das ist nicht ihrre Omma, benehmen sie sich mal.
Das ist eine Schande, am hellichten Tach
betrrrunken. Die Jugend verkommt, die müßten harrt
arrbeiten, dann könnten sie nicht auf so dumme
Jedanken kommen“.
Sabines Eltern stehen entsetz da und verfolgen das
Schauspiel, das ihnen wie eine groteske Tragödie
erscheint. Der Mutter entfährt ein „oh Gott, was für
einen Umgang hat unsere Tochter, haben wir ihr
nicht alles gegeben?“. Oma bemerkt, wie sich ihr
Mann weiter aufregt und versucht ihn, um Rücksicht
auf seinen Blutdruck zu nehmen, zu beschwichtigen,
„is‘ doch jut Herrfrried, du jehst Sonntachmorjens ja
auch zum Frriehschopp‘n“. Das seine Frau nun
diesen desolaten Zustand der Disziplinlosigkeit mit
seinen
kulturellen
Geflogenheiten
seiner
Stammtischsitten vergleicht, erzeugt nun eher
Gegenteiliges, als die alte Frau bezwecken wollte;
„dat ies doch wohl was janz and‘rres“ ist seine
Schutzbehauptung.
Oliver Droste 65
Irgendwo in Nirgendwo
Roland will sich nun hochziehen, um sich aus dieser
unangenehmen Situation zu befreien, greift nach der
Tischdecke und zieht alles darauf Befindliche
hinunter. Oma und Opa schimpfen darauf, Sabine
wird noch roter und ihre Eltern nehmen dieselbe
Farbe an, so daß sich die Familie zu erkennen gibt.
Ihr Vater weiß nicht, wie er mit der immer weiter
eskalierenden Situation, die sein Ordnungsbild
immer weiter in Schräglage versetzt, verfahren soll;
„das glaub ich nicht“ entfährt es ihm nach Fassung
ringend, um ihr dann doch zu unterliegen. Seine
Frau will es nicht noch weiter verschlimmern und
am liebsten weglaufen, „beruhige dich bitte, mach
hier kein Aufsehen, Friedhelm!“.
Der Versuch ist natürlich mißlungen; dafür ist es zu
spät. Sabines Vater versucht seine Würde, oder die
der Familie zu retten, „kein Aufsehen, wie soll ich
jetzt bitte kein Aufsehen machen, es sieht doch
schon jeder her. Ist das peinlich“, dreht sich zu
seiner Tochter, „und du schämst dich wohl gar
nicht“.
Der Kellner kommt angelaufen, als Marcel Roland
wieder auf die Beine helfen will. Marcel wird es nun
auch langsam peinlich und er schnauzt Roland
wütend an „reiß dich zusammen, Mann!“ und reicht
ihm seine Hand, daß er endlich aufstehen kann,
wobei Geschirr und Torte zu Boden fallen. Rolands
Sonnenbrille sitzt schief, er hat Torte im Haar und
versucht sich gerade hinzustellen, als wäre nichts
geschehen. Er sieht Marcel an und kann sich sein
Grinsen angesichts der ernsten Blicke nicht
Oliver Droste 66
Irgendwo in Nirgendwo
verkneifen. Sabine bekommt Angst vor dem in
Anflug befindlichem Lachen, „untersteh' dich, jetzt
zu lachen, Roland!“
Menschen und Gaffer glotzen schon, endlich mal
was aus dem Leben zu sehen, was zur Unterhaltung
beiträgt und am nächsten Tag den Kollegen bei der
Arbeit, oder den Nachbarn erzählt werden kann; das
Leben ist doch aufregend. Roland bekommt einen
roten Kopf, da er merkt, wie zwecklos das SichZusammenreißen ist, so daß ihm etwas Schweiß auf
der Stirn steht. Sabine sieht ihn ärgerlich an,
„Untersteh' dich!“.
Der Vater sieht zum hinzukommenden Kellner, dem
ein „oh madre mia“ entfährt und versucht ihn zu
beruhigen, „oh, ein kleines Mißgeschick“. Der
Kellner geht an ihm vorbei zu dem alten Paar, „ist
ihnen etwas passiert?“. Der alte Herr macht seinem
Ärger platz, „dieserr Rrowdy belästigt meine Frrau“.
Der Kellner sieht zu Roland, „ich rufe gleich die
Polizei, Bürschchen“. Sabine entschuldigt ihn, um
die Wahrheit darzustellen, „er ist nur gestolpert“.
Daraufhin versucht sich Opa zu rechtfertigen, „derr
Mann hat mene Frrau beledicht“. Sabine reagiert mit
ausgeprägtem Rechtsempfinden beseelt, „nun hören
sie aber auf, das ist doch gar nicht wahr“. Opa wird
nun, durch dieses Besserwisserhafte eines jungen
Menschen, der ihn zurechtweisen will, unfreundlich
und unsachlich, und blafft Sabine mit gestauten
Halsvenen an, „wat wollen sie Flittchen denn?“.
Sabines Mutter, für die dieser Ausdruck noch das
extrem Anrüchige durch selbst erlebtes aus
Oliver Droste 67
Irgendwo in Nirgendwo
vergangenen Zeiten an sich hat, sieht ihren Mann an,
„Flittchen?“ Sabines Vater macht eine abwinkende
Handbewegung zu seiner Frau und versucht nun
geschäftsmännisch
aus
dieser
Situation
herauszukommen, „wir können das doch ohne
Aufsehen regeln“.
Roland sieht finster zum Opa, „wat soll'n dat heißen,
Flittchen, meinste etwa meine Freundin hier?“
Daraufhin scheint für die Mutter eine Welt
zusammenzustürzen, als sie die Verhältnisse erkennt
und sieht erschrocken zu Sabine, „das ist dein
Freund? Jetzt weiß ich auch warum du ihn nicht mit
nach Hause gebracht hast“. Opa sieht Roland
ebenfalls mit noch weniger Wohlwollen in die
Augen, „ein bießchen mehr Rrespekt vor dem Alterr
biete“
und
versucht
seine
Überlegenheit
auszuspielen, als er entdeckt, wo Roland
empfindlich ist, „so Leute wie iehrr jehörrt in‘ne
Anstalt“. Roland wird daraufhin aggressiv, „bist
doch schon Scheintod, Opa“. Marcel guckt
erschrocken zu Roland, der nicht mehr begreift, wie
sich diese Situation immer weiter hochschaukeln
kann. Opa springt auf, sein Alter vergessend, seine
Jugendraufereien erinnernd, „mit dierr nehme ich es
noch lange auf!“ und ballt dabei seine Hand zu einer
Faust. Marcel ruft dazwischen gehend, „jetzt hör‘
endlich auf, Roland!“.
Nun gerät alles durcheinander. Ein von einem
Passanten über Handy gerufener Streifenwagen
kommt angefahren und der junge und der alte
Polizist springen heraus, was Marcel erschreckt
Oliver Droste 68
Irgendwo in Nirgendwo
feststellt. ‚Diese Stadt ist ein Kaff, die Welt ein
Dorf‘, denkt er.
Der junge Polizist versucht sich einen Überblick
über die Situation zu verschaffen, „was ist hier denn
los?“ und sieht zu Marcel, „oh sie schon wieder?“
Der ältere Kollege erkennt ihn ebenfalls und geht am
jungen vorbei, direkt auf Marcel zu, greift seinen
Arm und dreht ihn auf den Rücken, wobei er
triumphierend entgegnet, „Augenblick, das haben
wir gleich“. Opa, nun sichtlich auf der
Gewinnerseite, sich in seiner Meinung endlich
bestätigt sehend, ruft in dem Durcheinander, „die
haben uns ieberfallen, die sind jemeinjefährrlich“.
Sabines Vater, dem gerade der Wind aus den Segeln
genommen wird und seinen Mut im Angesicht der
Ordnungshüter verliert, versucht zu klären, „moment
mal, das ist aber nicht so gewesen“. Sabine verliert
nun die Fassung über die unvorhersehbare Wendung
des Geschehens und fordert den Polizisten auf,
„lassen sie Marcel los!“ und greift nach dessen Arm,
„der hat am allerwenigsten damit zu tun“. Verblüfft
über einen Angriff auf seine Autorität seitens einer
jungen Frau, sieht er sie an und weiß nicht recht, wie
er reagieren soll.
Der alte Herr sieht nur noch Verbrecher in den mit
ihm involvierten Leuten und ruft, „die jehörrt auch
mit dabei!“. Nun wird es seiner Frau aber in
anbetracht der schwindenden Objektivität ihres
Mannes zu unsachlich, so daß sie ihn zur Resson zu
bringen sucht, „Herfrried, jetzt hör aber ouf“.
Oliver Droste 69
Irgendwo in Nirgendwo
„Wielst Du diese Halluncken noch in Schutz
nehmen, Wielma?“
Murphies Gesetz wird wieder einmal bestätigt. Das
alte Paar streitet sich. Der junge Polizist zieht Sabine
grob vom alten, was Roland nicht so sehr gefällt und
zu diesem geht, jedoch wieder stolpert, gegen den
jungen fällt, so daß dieser erschrocken zu Boden
stürzt. Opa ist in solcher Erregung und zeigt, seine
Worte zu bestätigen, auf das sich ereignende, „na, de
sehjen sie es selbst, die sind jemenjefährlich, dat
hätte es frrieher nicht jejeben!“.
Der alte Polizist, ebenfalls über den Verlauf des
Einsatzes erschrocken, ruft über Handfunkgerät
Verstärkung. Der junge Kollege dreht Roland, in
einer sich schnell befreienden Bewegung, auf den
Bauch und zieht dessen Hand ebenfalls auf den
Rücken. Marcel sieht den jüngeren Wachmann an,
„jetzt übertreibt ihr aber“.
Sabine ruft hilflos, dem Durcheinander ausgeliefert,
„was soll denn der Mist, ihr spinnt wohl“. Der Alte
dreht sich um, „wie bitte, wir spinnen, das ist
Beamtenbeleidigung!“ „Ist mir doch scheißegal“,
erwidert sie in Wut geraten, keine Konsequenzen
mehr fürchtend, „laßt sie los, das ist alles, alles, Scheiße!“ Ihr Vater, dem die Resolutheit seiner
Tochter zu weit geht und das Schlimmste von ihr
abhalten will, geht dazwischen, zieht Sabine weg
und beschwichtigt den älteren Polizisten, „das hat
sie nicht so gemeint, Herr Wachtmeister“. Sabine
reagiert erhitzt, „laß mich los, ich hab's so gemeint
und wiederhol‘ es noch mal: Ihr seid...“ Doch da
Oliver Droste 70
Irgendwo in Nirgendwo
springt ihre Mutter entsetzt dazu und hält ihrer
Tochter den Mund zu, „Mensch, Kind, du redest
dich um Kopf und Kragen, sei jetzt bloß ruhig, du
kommst jetzt mit!“
Ihr Vater versucht eine Erklärung für sich und das
Verhalten seiner Tochter zu finden und ruft, „die,
die ist von den beiden betrunken gemacht worden,
sowas macht unsere Tochter normalerweise nicht“.
Der wieder, im Angesicht der schützende
Staatsmacht sich heraustrauende Kellner fragt nun
erregt
mit
ausgebreiteten
Händen
die
Zuschauermenge von Passanten, „wer bezahlt mir
jetzt den Schaden?“.
Sabine ruft zu ihrem Vater ärgerlich, „laß mich los“
und löst sich aus seinem Griff. Der Vater fast sie am
Arm und ohrfeigt sie, sieht sich dann etwas peinlich
berührt um, da er beobachtet wird, „du blamierst uns
ja“. Die Mutter sieht ihren Mann an, ärgerlich über
die Ohrfeige, die in der Erregung hart getroffen hat
und sagt, „hör mal, jetzt reicht es aber.“
Ein Durcheinander entsteht und verschlimmert sich,
was die beiden Polizisten kaum noch unter Kontrolle
haben. Der junge Polizist ermahnt den Vater von
Sabine, hier niemanden zu schlagen, wobei er
Roland wieder losläßt. Sabine blutet aus der Nase
und ist leicht benommen. Der alte Polzist diskutiert
mit dem Kellner und den alten Leuten.
Roland sieht den neben sich sitzenden Marcel an,
der das Treiben um sich herum betrachtet, es aber
nicht mehr einzuordnen weiß und stößt ihn an den
Arm, worauf ihn Marcel ansieht und fordert diesen
Oliver Droste 71
Irgendwo in Nirgendwo
auf, „los, wir hauen ab!“. „Das können wir doch
nicht machen, Roland.“ „Und ob“, springt auf, „los,
komm!“. Man hört Polizeisirenen und zwei weitere
Streifenwagen kommen und Marcel bekommt es nun
langsam auch mit der Angst zu tun, wie es nur so
eskallieren konnte, „Oh, scheiße. Und das alles nur,
weil ich Pizza nicht mehr sehen kann“.
Beide laufen los, um den sich nun anbahnendem
Ereignissen zu entfliehen; allerdings erreichen sie
Gegenteiliges dadurch; seinem Schicksal kann
niemand entrinnen, man rennt ihm nur in die Arme,
beschleunigt es , strampelt sich tiefer in den Sumpf
des Dunkelspinngeschehens.
Der Alte wird von ‚umsichtigen‘ Passanten sofort
darauf aufmerksam gemacht und rennt hinterher,
ruft seinen Kollegen zu. Zwei weitere
dazugekommene Polizisten laufen ebenfalls
hinterher.
Der Faden schließt sich
Emira und Bea kommen auf die Straße gerannt und
laufen um die nächste Ecke, der Fußgängerzone
entgegen, wo sie hoffen, in der Menge untertauchen
zu können. Drei Skinheads springen durch die Tür
hinterher und laufen mit knallenden Springerstiefeln
hinterher. Weitere Glatzköpfe folgen mit grimmigen
Gesichtern, wie sie nur der Entsetzen hervorrufende
Tod haben kann, aber von seinen Häschern gerne
Oliver Droste 72
Irgendwo in Nirgendwo
getragen wird, wie ein Pesthauch in die Straßen der
Stadt fließt.
Emira, die noch mechanisch sowie geistig
paralysiert gelaufen ist, läuft nun schneller, den
Pesthauch im Nacken spürend, den fauligen Atem
riechend, an den Fußgängern vorbei, rempelt den
einen und anderen an, springt an ihnen vorbei,
weicht ihnen aus und sieht sich ängstlich nach ihren
Verfolgern um. Sie sieht die Uniformierten, ihre
glühenden Augen leuchten aus tiefstem Schwarz,
konturenlos. Ein Skinhead rennt ein Mädchen um.
Emira beißen nun Traumgewalten, die ihre Realität
vertilgen wollen. Ihr schwarzes Haar flattert wie ein
Trauerschleier, immer länger, Nacht werdend. Rote
Tänzer verspringen vom gestürzten Mädchen, laufen
neben Emira zuckenden Tücheraugenblicks,
aufflackernd zwischen den Passanten. Sie will ein
schwarzer, großer Vogel werden und über die
Dächer davonschweben, mit der Leichtigkeit des
Unbefangenseins, wie wir gekommen sind.
Bea reist die etwas stockende Emira am Arm, um in
die nächste Straße in die Fußgängerzone abzubiegen.
Sie sehen sich nach ihren Verfolgern um; das
Stiefelknallen wird lauter, sie biegen nun ebenfalls
in diese Straße ein.
Marcel und Roland haben bekanntlich selbiges
Problem wie Emira und Bea, in anderer
Gefahrengewichtung. Jedoch rennen sie auch durch
Oliver Droste 73
Irgendwo in Nirgendwo
Angst
beschleunigt,
ihren
ausgelösten,
herausgelösten
und
dann
entkoppelten
Konsequenzen, zu entfliehen. Die Polizisten rufen,
der ältere schreit im Dienstübereifer oder im Jähzorn
über die Flucht, ihr „halt, stehenbleiben!“ und der
Alte dann noch „haltet sie auf!“, seine sprinterischen
Fähigkeiten erschütternd mangelhaft ausgebildet
bemerkend.
Marcel und Roland sehen sich um und bemerken
nicht, das ihnen entgegenkommende Spinnennetz
der Schicksalsweberinnen, so daß sie wie Insekten,
vom Licht angelockt, in die dahinter befindliche
Lampe fliegen wollen, sich jedoch im Netzt
verkleben, worauf die Spinne, aufgrund der
Erschütterung allamiert, aus ihrer düsteren Ecke
kommt, um ihre Opfer durch einen Giftbiß zu
lähmen, einzuwickeln und ihrem Schicksal zu
übergeben. So laufen Marcel und Roland an Emira
und Bea vorbei, sich erstaunt kurz anblickend, wobei
sich Marcel und Emira in die Augen sehen, da sie
aus der jeweiligen Fluchtrichtung des anderen
kamen und aneinander vorbeiliefen. Marcel erkennt
die Augen wieder, bleibt stehen und will etwas
sagen, doch bringt kein Wort heraus. Roland bleibt
nach einigen Metern ebenfalls stehen, da die Gruppe
der Skinheads mit Waffen in den Händen
wutschnaubend auf ihn zukommen, braucht das
geringere Übel nicht lange abzuwegen und macht
kehrt, wobei er nun Marcel stehen sieht.
Als Emira wieder nach vorne blickt ist es bereits zu
spät und sie stößt mit dem älteren Polizisten
Oliver Droste 74
Irgendwo in Nirgendwo
zusammen, wobei dieser sie festhält. Der Polizist
fragt die sich windende, „wohin so schnell? Wohl
keine Augen im Kopf“.
Emira schaut sich um und sieht Marcel an. Ihre
Blicke treffen sich kurz, kreuzen sich, stürzen in die
Tiefen und schauen dann beide auf die
wutentbrannten Skins. Der erste von ihnen sieht
Emira, wird langsamer, so daß er vor ihr zum Stehen
kommt, sieht den Polizisten kurz an und schlägt ihr
mit der Faust ins Gesicht, so daß sie hinfällt. Bea
springt nun, alle Angst vergessend, dazwischen und
schreit „Emira!“
Marcel zwischen die in immer größerer Zahl
eintreffenden Skinheads. Marcel springt auf den
Skinhead zu, der von einem zu Hilfe eilenden
Polizisten festgehalten wird und tritt dem Glatzkopf
zwischen die Beine, worauf dieser schmerzverzerrt
unter den erschöpften Augen des Polizisten zu
Boden sinkt. „Jetzt auch schon Frauen schlagen,
was?“ schreit Marcel, die Gefahr in der
Skinheadübermacht nicht sehend.
Die zwei anderen dazukommenden Polizisten
springen zwischen
die alles
entschlossen
scheinenden Skins, "macht jetzt keinen Fehler
Jungs!“. „Die Fotze hat mein' Kumpel umgebracht“,
argumentiert der eine mit juristischem Weitblick auf
Selbstjustiz gerichtet, den Blutrausch in den Augen.
Die anderen Skinheads drängeln dazwischen, sich
jedoch von der Staatsmacht aufhalten lassend. Ein
Polizist ruft errötet, „he, he, erst mal langsam, alles
in Ruhe“.
Oliver Droste 75
Irgendwo in Nirgendwo
Reifenquitschen in der nächsten Seitenstraße und
Türenknallen künden von der Ankunft eines Bullies,
aus dem einige langhaarige oder wüst friesierte
autonome Gestalten mit Dachlatten und Knüppeln
bewaffnet und mit Arrafattüchern vermummt,
nähern.
Ein Skinhead, erstarkt durch die Anwesenheit der
anderen Glatzen, entgegnet der Staatsmacht, „nix,
langsam, die machen wir platt und du Wichser
hinderst uns auch nich‘“, worauf dieser Marcel einen
harten Faustschlag ins Gesicht versetzt, der
zwischen dem Polizisten und dem Skinhead neben
Emira zu Boden fällt.
Weitere Polizisten kommen durch die sich teilende,
ängstliche, jedoch schaulustige, bzw. blutrünstige
Menge gelaufen. Jedoch rennt ihnen die vermummte
Bürgerwehr von der Seitenstraße in die Flanke.
Schützend und erschreckt heben die Autonomen ihre
Schlagwaffen vor den Körper, was die verblüfften
Polizeibeamten ihrerseits mit den Schlagstöcken
nachtun. Hektisch sehen einige der Linken, die
Rechten dort bei Marcel und Emira stehen, sie
umringen, dann die neben sich laufenden, erstaunten
Polizeibeamten. Sie bemerken nun auch, daß ihre
verhassten Feinde eingetroffen sind. Nur ist die
Polizei zahlenmäßig unterlegen und ohne eine
erkennbare Ordnung im Chaos eingetaucht, was zu
wildem Geschrei und zu Unentschlossenheit aller
Beteiligten führt. Marcel und Emira rücken in dem
Treiben dichter aneinander, von gelegentlichen
Fußtritten der Glatzen tracktiert oder zusammen
Oliver Droste 76
Irgendwo in Nirgendwo
getreten im eigendlichem Sinn des Wortes, von den
sich um die beiden schützend stellenden Polizisten
verteidigt. Eine Situation, in die der alte Polizist
gedrängt, sein Handeln von Schizophränie bespieen,
nicht mehr klar beurteilen kann, am liebsten die
Seite im Nicht-Schützen-Wollen wechseln würde, da
er kaum Ambitionen hat, nun Marcel beschützen
und helfen zu müssen.
Ein Polizist ruft über das Handfunkgerät mit
theatralischer Stimme der Not um Hilfe nach dem
SEK. Die dazukommenden Polizisten bieten ein
merkwürdiges Schauspiel von abstrakter Diversität.
In zwei Reihen gehen sie, sich gegenseitig mit den
Autonomen drängelnd auf die Kollegen, Skinheads
und den dazwischen kauernden Seelenwesen zu, sich
gegenseitig argwöhnisch beäugend. Die autonome
Bürgerwehr trennt sich angekommen von der
polizeilichen Flanke, um auf die nun die wahre
Gefahr erkennenden Skins einzudreschen, was diese
ihnen natürlich gleichtun, nur eben in umgekehrter
Weise.
Die Polizeibeamten nutzen das Chaos, um sich zu
formieren, zerren Emira und Marcel in ihrem Schutz
zur Seite. Schaufenster gehen zu bruch, Stühle und
Tische fliegen nach hooligenmanier durch die Luft.
Roland und Bea gehen in dem Durcheinander unter.
Emira richtet sich auf und sieht zu Marcel herüber.
Marcel kommt langsam wieder zu sich und richtet
sich ebenfalls auf und sieht Emira an, wobei er seine
blutende Nase berührt und das Gesicht vor Schmerz
verzieht, das eingesetzte Chaos um sich noch nicht
Oliver Droste 77
Irgendwo in Nirgendwo
registrierend. Roland verfolgt hingegen mit
erstaunten Augen die Szenerie, überlegend, ob es
noch an seinem Rausch liegt. Marcel sieht seine
blutige Hand an „aua, was für ein Tag“, sieht zu
Emira, die ebenfalls eine blutende Nase hat, sieht ihr
in die Augen und grinst. Emira versteht seine
aufkommende Heiterkeit nicht und fragt ihn, „was
gibt's da zu grinsen?“. „Deine Nase ist ganz rot, wie
bei'm Clown.“ „Na, du siehst aber besser aus, Idiot.“
Im großen Chaos springen zwei Skinheads auf
Emira im Blutrausch wild um sich prügeld los und
fangen an, auf sie einzutreten, „Du Schlampe hast
Bernie umgebracht“; ein anderer, von einem
Polizisten aufgehalten, feuert seinen Kumpanen an,
„mach die Alte fetrig!“ Roland klammert sich um
ein Bein des Angreifers und Marcel wirft sich
zwischen die Fußtritte schützend über Emira und
schreit „hört auf, seid ihr verückt“, wobei er einige
Tritte abbekommt, „ahh, ihr spinnt doch, ahrr, hört
auf, das ist doch 'ne Frau“. „Halt's Maul Wichser,
das is' ne dumme Fotze!“, schreit stumpfe
Dummheit, tritt zu und lacht. Zwei Polizisten
springen dazu, werfen einen zu Boden und legen
ihm Handschellen an. Es gibt Gerangel mit den
Skinheads.
Emiras Gesicht verkrampft sich, sie versucht
Marcel, um sich strampelnd, loszuwerden; ihre
Augen flackern, die Venen im Gesicht stauen sich,
so daß es eine andere, strenge, fast irre wirkende
Linienführung bekommt, was einen surrealen
Gesichtsausdruck zur Folge hat. Sie schreit nun wild
Oliver Droste 78
Irgendwo in Nirgendwo
werdend, durchdringend, Seele von Geist scheidend,
auf. Es dringt an Beas Ohren, die sich nach Emira
umsehend, dem Schreien nähert. Marcel weicht
erschrocken zurück und sieht die sich wälzende und
schreiende an, legt seine Hand beruhigend auf ihre
Schulter. „Was ist los mit dir, bist du verletzt? Es ist
in Ordnung, die Skinheads werden abgehalten.“ Er
sieht
sich
hilfesuchend
um,
mit
den
schweißverklebten Haaren im Gesicht. Bei der
Berührung schreit Emira um so mehr.
Bea hat sich nun durchgerungen und kommt bei
Marcel und Emira an, kniet sich zu ihr und hält sie
fest. „Emira, ich bin es Bea, hörst du, Emira! Alles
ist gut, es ist nichts passiert, die Gefahr ist weg.“
Bea reißt Emira zu sich und hält sie in ihrem Arm.
Ihr Schreien weicht einem Wimmern und ihr Körper
fällt in eine Starre des sich im Arm geborgenen
Haltens. Emiras Augen öffnen sich und starren
ausdruckslos zu Bea. „Los Emira, wir müssen hier
weg.“ Emira sieht sie mit unverändertem
Gesichtsausdruck an und antwortet nichts, als
verstehe sie nicht, was Bea sagte.
Ein weiteres Polizeifahrzeug kommt hinzu, so daß
die Staatsmacht die Überhand gewinnt und die
wilden Horden auflösen und in die Flucht schlagen
kann, wodurch sich das Geschehen nun vom
Schauplatz entfernt. Wie konnte ein dummer Sturz
zum Sturz der Ruhe und Ordnung einer Stadt, eines
Staates kommen; was mag die Presse schreiben, was
mag das Ausland denken über immer wieder
Oliver Droste 79
Irgendwo in Nirgendwo
aufkeimende rechte Gewalt, diesen multiresisten
Keim der geistigen Beschränktheit?
Das alte Ehepaar, an dessen Tisch es zu dieser
entglittenen Situation kam, sitzt noch an ihrem
Tisch, als sich das Geschehen entfernt, entsetzt, den
Zeitgeist nicht mehr verstehend; wie konnte es zu
solch ausschweifender Unordnung kommen, wie
konnte die Jugend so verkommenn? Eine Antwort
hatte Herrfried, ein paar stramme Burschen waren ja
noch mit rechter Gesinnung dabei, ja, ein kleiner
Hitler müßte noch einmal her, damals ging es uns
allen besser. Er sieht sich das zerbrochene Geschirr
auf dem Boden an, dann zu seiner noch schnell
atmenden, zur Hyperventilation neigenden Frau
hinüber und fragt sie: „und wer bezahlt uns nun die
Schwarzwälder Kirschtorte und den Kaffe?“
Oliver Droste 80
Irgendwo in Nirgendwo
VIII
Von Flucht, Tabletten und einem Boddybuilder
Mit dem wie Nebel sich auflösendem Chaos
versuchen Marcel, Emira und Bea sich ebenfalls zu
verflüchtigen, um nicht noch mehr Probleme mit
dem Recht und der Justiz zu bekommen. Emira liegt
noch in Beas Armen, die sie wie ein ängstliches
Kind hält und beruhigt. Doch Emiras Geist ist von
Nebeltrollen umschwemmt, im Wald der
Trauerweiden, Weidenkätzchen, Blütenstaub. Sie
taucht immer tifer in den Duft der morastigen
Moorluft, im Nebelland wachend. Feuerrote
Ballettänzer springen und fliegen flatternden
Tüchern gleich, zwischen den Bäumen flimmernd
umher, getragen von einem tiefen Wimmern. Die
Stimmen dringen nur aus tunnelnder Ferne zu ihr;
sie hat keine Gewalt mehr über ihr Wesen. Marcels
Stimme schleiert an ihr Ohr, „warte, ich helfe dir“.
Emira spürt die mütterliche Wärme und das
Streichen Beas Hand in ihrem Gesicht; sie öffnet die
Augen, die gerötet, geädert, etwas wirr, mit
zuckendem Augenlid, den Geisteszustand veratend,
umherblickt, bis ihr Blick auf Bea klebenbleibt, dem
festen Punkt in ihrem Nebelleben. Ein Lächeln fliegt
wie ein Schmetterling in ihr Gesicht, verweilt dort
eine Schwinge weit, „so weit bin ich schon. So weit,
- so gut. - Wo sind sie denn? Sind sie schon hinter
mir her, Bea?“ Eine Krähenschaar hebt schwatzend
auf zum Himmel, der noch düsterer erscheint.
Oliver Droste 81
Irgendwo in Nirgendwo
„Emira, es ist alles gut, bist du verletzt?“, wobei sie
ihr mit ihrem Ärmel das Blut aus dem Gesicht
wischt, „wir müssen hier weg.“ Bea versucht ihr bei
diesen Worten, auf die Beine zu helfen. Emira
schwankt wie betrunken und kann sich nicht halten.
Marcel greift sie am anderen Arm, worauf ihn Emira
erschrocken ansieht, „wer bist du, was willst du von
mir?“ „Ich bin Marcel, ich helfe dir, ich war dabei,
als die Skinheads dich verprügeln wollten, ich habe
dir geholfen, ich helfe dir.“ Emira sieht ihn
argwöhnisch an, dann fragend zu Bea, die sie
beruhigt, „das wird schon alles in Ordnung
kommen“. „Skinheads?“Marcel wischt sich das Blut von seiner Nase,
verschmiert einen roten Schleier. „Komm wir
müssen hier weg.“ Emira ist etwas unsicher auf den
Beinen, Marcel nimmt ihren Arm und legt ihn um
seinen Hals, damit sie sich etwas stützen kann. Ihm
gefällt diese Haltung, der Geruch, der in seine
schmerzende Nase schleicht und in sein
Unterbewußtsein schwebt. „Uhh, mir ist sooo
schwindelig.“ Emira torkelt wie betrunken mit
schweren Füßen schlurfend. Marcels Hände zittern
noch vor Aufregung und sind kalt. „Komm schon,
ein Stückchen müssen wir jetzt aber gehen.“
Er blickt sich um, den Schauplatz dieser Schlacht
nocheinmal zu sehen. Keine Polizei, kein Skinhead
und auch kein Autonomer ist mehr zu sehen, nur
noch ferner Lärm zu hören. Er dreht sich zu Bea und
fragt, „wo kamen denn die Skinheads her, was
wollten die von euch?“ „Emira hat einen von ihnen
Oliver Droste 82
Irgendwo in Nirgendwo
die Treppe heruntergestoßen, als der so einen
ausländerfeindlichen Spruch gemacht hat.“ Marcel
sieht Emira verblüfft an und grinst „du hast dich mit
diesen Skins angelegt, diesen Totschlägern?“, seine
Verwunderung läßt sich nicht in Worte fassen, was
Marcel jedoch versucht, „diesen Monstern?“ Emira
sieht ihn schwankend an, „jemand muß es ihnen
doch zeigen, jemand muß sich doch wehren“.
Bea ergreift in immer noch mütterlicher Weise
ermahnend das Wort, „die hätten dich umgebracht,
wäre da nicht die Polizei gewesen und der Typ hier,
wahrscheinlich.“ „Ich heiße Marcel.“ „Ja, ja. Wo
kamen eigendlich die ganzen Polizisten her?“ „Eh,
das ist auch eine komische Geschichte. Ja, die waren
wegen mir und meinen Freunden da; das heißt sie
waren hinter uns her, weil mein Kumpel einen Tisch
umgerissen hat.“ „Mit so vielen Polizisten?“ entfährt
es Bea ungläubig. „Ja, ist irgendwie alles etwas
merkwürdig gelaufen, hat sich so hochgeschaukelt.“
„Und die ganzen Gaffer“, klagt Bea bösen Blicks zu
Marcel, „niemand hat Emira und mir geholfen“.
„Und ich und Roland, wir sind wohl auch nichts.“
„Nein, nein, so war das nicht gemeint.“
Emira wird blasser und sackt in den Knien ein,
„verdammt, ich krieg Bauchschmerzen“. Bea sieht
sie sorgenvoll an, „bist doch verletzt?“ Marcel zieht
Emira wieder hoch, „sie hat einen Tritt in den Bauch
bekommen“. „Was redest'e da? Mann, ich hab'
Magenkrämpfe. Das hab ich wohl mal.“ Bea
versteht, was sie meint und fragt „hast du deine
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Irgendwo in Nirgendwo
Tabletten nicht mit?“. Emira kneift die Augen vor
Schmerzen zusammen und krümmt sich.
„Können wir nichts dagegen tun? Wir sollten zum
Arzt.“ Bei diesem Wort fährt Emira wieder hoch,
„ich brauche meine Tabletten, keinen Arzt“. Die
Ringe unter ihren Augen scheinen tiefer zu
schwellen.
Marcel bleibt stehen und sieht Emira an, „was
sagst'e? Warte, mir fällt was ein“. Sie halten vor
einem Kiosk. „Bleibt hier stehen, bin gleich wieder
da“, geht an den Kiosk, bezahlt und kommt mit einer
Flasche Wein zurück. „Hier, Wein ist für den Magen
gut, steht schon in der Bibel.“ und gibt ihr die
Flasche. Bea sieht Marcel böse an, „was soll denn
das werden, denkst du Emira ist auf Turkey, oder
was?“ Bea will Emira die Flasche abnehmen, die
wehrt sich jedoch dagegen, „wenn ich keine
Tabletten habe, hilft mir das schon mal bis nach
hause“. „Emira, du wirst nochmal schlimm enden“,
antwortet Bea resignierend.
„Na, egal“ meint Emira, schraubt die Flasche auf
und trinkt, etwas läuft daneben und sie setzt die
Flasche ab, hustet. In diesem Augenblick kommen
Sabines Eltern aus der Fußgängerzone. Marcel sieht
sie etwas erschrocken aus glasigen Augen und
unrasiert an, hebt die Schultern mit dumm fragenden
Augen, sich entschuldigend. Emira hustet und setzt
die Flsche wieder an. Marcel sieht zu ihr, stößt sie
an, um sie vom Weintrinken abzuhalten, so daß sie
sich wieder verschluckt und eine Weinwolke auf die
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Irgendwo in Nirgendwo
Straße pustet. Marcel wird etwas rot und sieht
wieder zu den Eltern.
Sabines Mutter verlangsamt ihren Schritt, so daß ihr
Mann sie unwillig ansieht, „oh, Gott! Und mit sowas
hat unsere Sabine Umgang“. Ihr Mann sieht sich um,
den Blick seiner Frau zu folgen, das Unheil zu
schauen, worauf er bestimmend herrscht „das wird
sich ändern, die soll nicht so enden“. Angewidert
haken sich die beiden noch fester ein, als könnten sie
so vor der Welt besser bestehen , wechseln die
Straßenseite und beschleunigen ihren Schritt.
Marcels Ruf, „es ist nicht so, wie es aussieht“,
verhallt nur als gesprochenes Wort und läßt sie noch
schneller gehen, der Peinlichkeit dieser Situation zu
entkommen.
Marcel steht die Ratlosigkeit im Gesicht, die dann
dem Ärger weicht, „Scheiße! Das paßt jetzt“. Emira
hat die Flasche fast geleert und sieht Marcel an,
„jetzt bin ich dir wohl peinlich, was? Passe nich' in
deine heile Welt“, worauf sie, um das Gesagte
anscheinend noch zu unterstützen, an der Hauswand
zur Seite auf den Boden rutscht. Bea schüttelt den
Kopf.
Marcel zieht Emira hoch, „komm, es reicht, du mußt
weiter“. „Aua, du kneifst mich.“ „Quatsch, kneifen,
du kannst doch gar nicht alleine stehen, geschweige
denn gehen.“ Bea greift Emira ebenfalls ärgerlich
unter den Arm, „Marcel hat recht, jetzt komm“.
Marcel legt ihren Arm um sich und trägt sie mehr,
als daß sie selber geht. Der Alkohol fängt an bei
Emira zu wirken; sie sackt mal zusammen, mal
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Irgendwo in Nirgendwo
nimmt sie den Kopf hoch, dann fällt er nach hinten
und wieder vorne über, dann lacht sie kurz auf.
Ein sonnenstudiogebräunter Bodybuilder bleibt
angewidert stehen, und zischt durch seine
Zahnlücke, „scheiß Drogenabhängige, ihr gehört aus
dem Verkehr gezogen“.
Marcel sieht ihn schweißgebadet, mit Haaren wüst
im Gesicht gefallen, an, ärgerlich über die sich
angehäuften Probleme und das I-Tüpfelchen einer
überflüssigen Anmerkung eines nach körperlicher
Perfektion strebenden Menschen, der die geistige
Perfektion für weniger erstrebenswert hält und
beschimpft ihn mit einem seiner Gedichte: „Es muß
wohl alles
in
deine DIN-Welt
passen,
Einheitszahnweiß
grinst
wurzellos
aus
klearasilgesalbten reinen Gesichtern. Ausdruckslose
Köpfe
aus
Crashtestdummieformen
mit
Trendsetterfrisuren runden die Fernsehschöpfung ab.
Silikonkunstwabbelwölbung
steigert
den
Hormonspiegel
bei
Waschbrettbauchbizepsboddybuilder-monster, grinst
aus
Wachstumshormonzahnlücke,
potenzkatalysierter Viagrasex, pornovideoinduzierte
Neutralphantasie stößt sich an Romantikkerzenlichtpretty-woman. Unförmigkeit verläßt den natürlichen
körper hin zum Körperkult, Mtv-kindermode
verstößt ein Straßenkind, flüchtet in eine feindliche
Fernsehwelt, schafft Suchtunzufriedenheit durch den
Vergleich
mit
DIN-unmensch,
schreit
Unwortgassenslang, prügelnde Ghettogang, vom
Ghettosoundblaster getrieben in TV-brutalität. Eine
Oliver Droste 86
Irgendwo in Nirgendwo
neue
kalte
Welt
verläßt
den
alten
Arierdreiviertelhalbjuden-schöpfungsversuch
in
einen globalisierten Wirtschaftshitlerdemokratiefaschismus zu gesteuerter Selbstverwirklichung, hin
zu einer neuen Einheitswelt nach DIN“. Der
muskelbepackte Mann geht, überheblich grinsend,
kantigen Schrittes, mit abgespreizten Armen, weiter,
„voll die Kaputten“; er versteht nichts.
Bea sieht Marcel verwundert an, welch Schauspiel
sich in dieser unwirlichen Welt sich ihr noch bietet.
Für Emira wird der Boden immer weicher, als würde
sie in Wackelpudding einsinken, doch Marcel zieht
sie weiter, bis sie an ihrem Ziel angekommen sind.
Emira nimmt den Kopf hoch, sieht Bea an, „mir
geht’s nicht gut“. „Kein Wunder, du hättest nicht die
ganze Flasche Wein trinken dürfen.“ „Ich brauche
die Tabletten, sind noch welche da, Bea?“, ihre
Augen flackern trübe und ihre Stimme zittert.
„Mensch, Emira, Du machst Dich noch kaputt
damit.“ Marcel wundert sich über diese
Tablettenkonversation und fragt sich, worum es sich
dabei wohl handelt.
Bea schließt die Tür auf und sie kommen in ein
Portal, das noch von verschwenderischer
Raumplanung dieses ehemaligen Mädcheninternats
zeugt. Sie stützen Emira beidseitig, die in Erwartung
ihrer baldigen Dosis an Medizine etwas zielstrebiger
die Stufen mit hinaufgeht und sich nicht mehr so
sehr stützen lassen möchte, jedoch aufgrund
fehlender
Gleichgewichtssensibilität
und
Oliver Droste 87
Irgendwo in Nirgendwo
Feinmotorik, stürzen würde, würde sie nicht
gehalten werden.
Oliver Droste 88
Irgendwo in Nirgendwo
XIV
In der Wohnung von Emira und Bea
Bea schließt die Tür zu ihrer WG auf; Emira steht,
nervöus hinter ihr, von Marcel noch eingehakt.
Marcel gefällt diese Nähe zu Emira, die ihm wie
schicksalhafte Fügung vorkommt. Er sieht zu ihr,
betrachtet durch sein wirres Haar ihre
Gesichtskonturen, ihre feinen Züge, die dunklen
Augenbrauen, die sich zu den Schläfen hin
verjüngen, ihre symetrische Nase, die kleinen
Nasenflügel und den Mund, wobei die Oberlippe die
gleiche Größe wie die Unterlippe hat, sich jedoch in
der Mitte etwas verdickt, was die geschwungene
Linie noch verstärkt. Wie gerne würde er jetzt ihre
Augen sehen, die ihn so faszinieren.
Sie treten in den Flur ein, ein gerader Gang, von
Efizienz zeugend, nicht zu sparsam, jedoch auch
nicht dem verschwenderischem Baustil des Portals
folgend. Kleider hängen an einemHolzstil, der in der
Decke mit Stricken befestigt ist. Die Decke zeigt
einen
einfach
aber
fantasivoll
gemalten
Wolkenhimmel, der von Kreativität zeugt. Die
Wände
überaschen
jedoch
durch
bunte
Regenbogenfarben, die die Ruhe des Himmels durch
Simultankontraste und Komplementärkontraste in
solche Unruhe versetzen, daß der Betrachter diesen
visuell unruhigen Bereich schnellstens zu verlassen
hofft.
Oliver Droste 89
Irgendwo in Nirgendwo
Diese Unruhe scheint sich auch auf Emira zu
übertragen; sie hakt sich bei Marcel aus, geht in den
Flur, von Farben aufgesogen, in den Regenbogen
gezogen, scheint sie von bunten Kräften mal hierhin,
mal dorthin geschoben zu werden; dreht sich zu
Emira und fragt sie: „wo sind die Tabletten, ich
hab’s vergessen?“ Sie geht immer schiefer und sackt
an die Wand, Marcel kommt ihr zu Hilfe. „Im Bad,
wo du sie das letzte mal hast liegenlassen“ bemerkt
Bea resignierend und fügt hinzu, die Tür schließend,
„es ist keine gute Idee, sie mit Alkohol zu nehmen“.
Emira lößt sich von Marcels Hand, „laß mich los,
ich komm schon alleine zurecht“ und geht ins
Badezimmer.
Bea geht an Marcel vorbei, öffnet die nächste Tür
und dreht sich zu Marcel, der immer noch hinter
Emira hersieht, „komm rein, hier in die Küche.
Siehst auch nicht gut aus“. „Emira scheint es
schlechter zu gehen.“ Bea weist Marcel Platz zu
nehmen. Die Küche zeugt von ebensoviel Phantasie
wie der Flur. Die einfache Tapete ist mit Farbe in
eine dezent bunte Arabeske aus Sonnenblumen,
Zitronen, Efeu mit Weintraubenreben verwandelt
worden. Je länger Marcel sich umsieht, desto mehr
merkwürdige Gegenstände erkennt er. Sogar ein
Regal mit verschiedenen Arbeitsgeräten ist
aufgemalt.
Er setzt sich in einen Sessel, der die Improvisation
der Einrichtung unterstreicht und, wie der Rest des
Inventars
vom
Sperrmüll
scheint.
Der
Gesellschaftsmüll ist ihr Komfort und hat noch Stil,
Oliver Droste 90
Irgendwo in Nirgendwo
bunt aber eine wilde Linie. Den kleinen Tisch bildet
eine Teekiste, die mit einem schwarzweiß
gemusterten Tuch gedeckt ist.
„Du möchtest doch sicher auch einen Kaffee,
Marcel?“ „Klar, den kann ich gebrauchen, nach
diesem Tag,“ er schüttelt den Kopf, „was für ein
verückter Tag“. Bea stellt den Wasserkocher an, holt
Instand-Pulverkaffee und Tassen, womit sie sich zu
Marcel setzt. Diesen beschäftigt eine Frage, die er
nicht länger zurückhalten will. „Wie lange hat Emira
denn schon diese Probleme, was ist mit ihr los?“
Bea sieht ihn an und überlegt, ob sie ihm diese
persönliche Auskunft geben sollte. Marcel hat Emira
von einer desolaten Seite her kennengelernt, was
einer
Revision
dieses
Eindrucks
bedarf.
"„normalerweise geht es Emira nicht so schlecht.
Diese verdammten Skinheads und diese verdammte
Begegnung mit dieser Bedrohung haben Emira wohl
einen Rückschlag versetzt.“
Das Wasser kocht und Bea steht auf, um ihnen den
Kaffee aufzugießen. Marcel weiß noch nicht so
recht, wie weit Bea ihn in das Vertrauen ziehen
möchte und in wieweit er sich hier einmischen darf,
sagt sich jedoch, ‚was soll’s, hier bin ich, wer weiß,
ob ich sie nochmal wiedersehe‘ und fragt weiter,
„um was für einen Rückschlag handelt es sich, was
meinst du damit?“. „Sie ist medikamentenabhängig
und wartet auf einen Platz, um davon
runterzukommen. Das vertägt sich nur nicht mit
Alkohol. Nur versuch ihr das mal klarzumachen.“
Oliver Droste 91
Irgendwo in Nirgendwo
Marcel kneift die Augen etwas zusammen, um
klarere Gedanken zu fassen „auf was’n für’n
Platz?“. „Auf’n Platz an der Sonne, oder was glaubst
Du?“ entgegnet Bea dieser Einfältigkeit. Marcel
ärgert sich über seine dumme Frage und weiß nicht,
wie er das Gespräch fortsetzen solol, wie das Eis
brechen. „Ist ja gut.“
Emira kommt in diesem Augenblick in die Küche.
Sie hat Beas Reaktion gehört und sieht Bea etwas
glasig an, „laß ihn Bea, der is’ in Ordnung, er hilft
mir, is’ gut“ und geht in ihr Zimmer.
Marcel sieht durch die Küchentür hinterher. Emiras
Zimmer ist schräg gegenüber, so daß erdas Treiben
beobachten kann. Emira geht an einen Schrank, reißt
die Schublade auf, kramt herum, nimmt eine Dose
heraus, öffnet sie und wobei sie aus den zitternden
Händen gleitet. Auf dem Boden liegen nun einige
bunte Pillen, die aus den einzelnen Fächern
herausgefallen sind. Emira sinkt auf die Knie und
nimmt diese wieder auf mit dem Versuch, sie dabei
zu sortieren, „Sch...scheiße!“.
Bea sieht es sich eine Zeit lang von der Küche aus
an, steht dann auf und geht zu ihr hinüber und nimmt
ihr die Dose aus der Hand. „Wo liegen die
Packungen denn, dann vergleichen wir die Tabletten
und können sie sortieren.“ Bea kniet sich zu Emira,
streicht ihr die Haare aus dem Gesicht.
Emira sieht Bea nervöus an, „ach, egal, ich muß die
sowieso nehmen, sortiert oder nicht“ und nimmt die
Hand voll in den Mund und einen Schluck aus einer
Wasserflasche. Bea sieht sie erschrocken an „du
Oliver Droste 92
Irgendwo in Nirgendwo
spinnst doch; bring dich nicht um, ich brauch dich
noch“. „Ich kann nicht anders.“ Emira nimmt Beas
Hand und sieht sie suchend an. Bea schmerzt die
Hilflosigkeit „ich weiß; es wird alles wieder in
Ordnung kommen, wir schaffen es schon zusammen.
- Es ist immer noch keine Nachricht gekommen“.
Bea geht hinaus und schließt die Tür, ruft nochmal
zurück, „willst du auch frühstücken, Emira?“. „Ja,
bitte.“
Bea stellt den Kocher wieder an und fängt an den
Tisch zu decken, dreht sich zu Marcel, „na, Emira ist
jetzt erst mal beschäftigt. Geh’ doch mal zu Emira
und paß eben auf, daß sie nicht aufhört zu atmen.
Das Zeug, was sie nimmt verträgt sich nicht allzugut
mit Alkohol und den hast du ihr ja besorgt“. Bea
findet immer wieder eine schöne Form von
Sarkasmus. Dieser Prüfung unterzieht sie gerne die
ihr fremden Personen. Wer sie jedoch kennt, lernt
damit umzugehen und zu kontern, was dann meist
der Beginn einer guten Konversation werden kann,
wenn Bea es zuläßt. Meist ist das jedoch der Beginn
der Annäherung.
Marcel macht ein ungläubiges Gesicht, „ich wußte
doch nicht, daß sie Tabletten nimmt. Verdammt, wo
bist’e hier nur reingeraten? Bea dreht sich um und
wirft ihm einen etwas verächtlichen Blick zu,
worauf Marcel sich aufgefordert sieht und ins
Zimmer geht, wo Emira auf ihrem Bett liegt, vor
dem Marcel ratlos stehenbleibt.
Bea kommt mit einem Becher Kaffee nach und
fordert Marcel mit verschmitzter Schadenfreude
Oliver Droste 93
Irgendwo in Nirgendwo
heraus, „und wenn sie erbricht, ist die stabile
Seitenlage ganz gut, damit sie nicht erstickt“. Emira
dreht sich und verssucht mit dem Kopf etwas
hochzukommen, was mislingt und fragt verwundert
„was is’...? Ich liege gut“.
Marcel sieht Bea unruhig an, nimmt den ihm
hingehaltenen Kaffe, erwidert ärgerlich „sonst geht’s
Danke, was?“ und setzt sich zu Emira auf die
Bettkante. Bea verläßt das Zimmer und schließt die
Tür, jedoch nicht ganz. Marcel sieht Emira an, „he,
schön tief durchatmen“. Emira liegt reglos da, wie
tot. „Eh, hörst’e mich?“ was er durch vorsichtiges
Rütteln an ihren Schultern unterstützt. „Hey, Emira,
mach mal die Augen auf!“ und rüttelt sie fester.
„Oh, so’n Scheiß!“, ruft lauter, „mach die
verdammten Augen auf.“
Bea, die an der Tür gelauscht hat kommt rein, sieht
Marcel etwas unsanft Emira schütteln. „Mensch, Du
brichst ihr noch das Genick“ und zieht ihn zur Seite,
beugt sich über Janin mit dem Gesicht dicht an ihre
Nase und fühlt den Atem an ihrer Wange. „Na, die
ist jetzt in einer anderen Welt, ist in Ordnung.“
Etwas warm geworden und rot im Gesicht antwortet
Marcel „OK“.
Bea steht auf und wendet sich nochmal zu Marcel
und Emira. „Wenn sie in zehn Minuten noch atmet,
ist das schlimmste vorbei.“ Marcel Worte werden
nun auch vom Sarkasmus beflügelt: „Na prima, dann
können wir ja in Ruhe frühstücken“. Bea bemerkt,
daß sie vielleicht etwas gemein mit ihm umgegangen
Oliver Droste 94
Irgendwo in Nirgendwo
ist und versucht ihn zu beruhigen, „immer mit der
Ruhe; mit der Zeit weißt du wie das läuft“ und geht.
Marcel sitzt alleine in dem abgedunkelten Zimmer
und schaut Emira lange schweigend an, sich über
seine aufkommenden Gefühle der Zuneigung zu
dieser Frau klar zu werden. Leise spricht er zu sich
„Junge, Junge, was ist nur mit Dir los? Warum ist
nur alles irgendwie so unwirklich?“ Er streicht
Emira über die Haare. „Scheiße, ich glaube ich habe
mich in’ne tablettenabhängige Verrückte verliebt;
ich glaub es nicht“. Marcel sieht auf die Uhr und hält
seine Hand vor Emiras Mund, um die Atmung
nocheinmal zu prüfen, bemerkt jedoch nichts. Er
besinnt sich an Beas Methode und hält sein Gesicht
vor ihren Mund, worauf er einen leichten, warmen
Hauch an seiner Wange bemerkt. Er dreht seinen
Kopf, so daß sein Mund über ihren schwebt.
Langsam senkt er seinen Kopf und berührt mit
seinem Mund ihre Lippen.
Bea ruft aus der Küche „das Frühstück ist fertig“.
Marcel fährt erschreckt hoch und sieht sich unsicher
um, „Äh - Emira atmet noch“ will er sich
entschuldigen, nur wofür? Vor sich selbst, dafür das
er eine Situation ausgenutzt hat? Er weiß es nicht
und verläßt das Zimmer.
Bea sieht in prüfend an und bemerkt Marcels
Zustand. „Sie ist sonst ganz normal, glaub mir. Sie
ist meine beste Freundin. Ich habe schon alles in
Bewegung gesetzt, um sie in eine Therapie zu
schicken. Wir haben es schon hier versucht, aber sie
hat es nie durchgehalten. Jetzt versuche ich, für sie
Oliver Droste 95
Irgendwo in Nirgendwo
einen Platz zu bekommen.“ „Hoffentlich klappt’s. Was machst Du denn sonst?“ „Emira und ich
studieren auf Lehramt.“ „Kann Emira denn das
überhaupt noch?“ „Was denkst Du denn. Wenn sie
ihre Tabletten hatte, ist sie ein normaler Mensch.
Man merkt fast nichts. Nur manchmal diese
Überreaktionen.“ „Was für Überreaktionen denn?“
„Sie hat einen Skinhead ins Krankenhaus gebracht, –
wohl auf Intensiv!“
„Ach Quatsch, so’n Rabiator scheint sie mir aber
nicht zu sein? Wie will sie das machen, ist wohl
beim Frauenwrestling, was?“ Marcel amüsiert sich
über seine witzigen Vergleiche und sieht Emira
muskelbepackt im Ring rumwirbeln und Gegner
durch die Luft werfen.
Bea ärgert sich über Marcels Gelassenheit. Dieses
Problem hat ihr schon so manchen Ärger bereitet. Im
Nachhinein freut sie sich jedoch über das dumme
Gesicht, das der Skinhead gemacht hatte, als Emira
auf ihn zugelaufen kam. Zu gerne hätte sie die
anderen Gesichter seiner Freunde gesehen, als Emira
in der Tür erschien und sie Beschimpfte.
Frauenwrestling, quatsch. Nein, nein sie hat einen
die Treppe hinuntergeten, aber so, daß er seine
Kumpels über die Glatzen strich.“
Marcel will ihr das nicht so recht abnehmen.
„Überreaktion, was? Wie soll sie das denn gemacht
haben?“ Bea ärgert sich und hat keine Lust sich zu
einer Erklärung animiert zu sehen. „Wie hast Du sie
denn kennengelernt?“ „Sie flüchtete wohl gerade vor
Oliver Droste 96
Irgendwo in Nirgendwo
den Glatzen.- Oh.“ „Jedenfalls sieht so eine
Überreaktion aus.“
Beide trinken Kaffee, Marcel zündet sich eine
selbstgedrehte Zigarette an und fragt Bea, ob sie sich
auch eine drehen möchte. Sie sieht den Tabak an,
den Marcel in die Mitte des Tisches legt und sagt
verächtlich: „Bantam, ne danke“. „Ach ja, ist ja
Aldi-Billigtabak. Da fällt mir eine lustige Geschichte
ein. Rauchen soll zur Kommunikation anreizen, wird
gesagt und dann abfällig von Gruppenzwang
gesprochen. Die Sucht nach Nikotin ist aber ein
Individualzwang, man raucht ja auch alleine
zuhause. Auf einer Fete drehte ich mir gerade eine
Zigarette und steckte den Tabak wieder weg. Da
kamm eine junge Frau auf mich zu und signalisierte
nach diesem. Sprechen war aufgrund der lauten
Musik nicht möglich, nur schreien. Ich dachte, na
prima, so lernt man mal jemand kennen und gab ihr
den Tabak. Deswegen geht man ja auf Parties. Sie
lächelte, als sie sich eine drehte, gab ihn mir zurück
und grinste: „Bantam“ und ging weg. Soviel zu
diesem Tabak.“ Marcel grinst Grübchen, was Emira
zu selbiger Reaktion veranlaßt; das Eis scheint zu
brechen. Sie erzählen sich noch witzige Geschichten
mit demselben Witz und lachen amüsiert über die
Verhaltensmuster in der zwischengeschlechtlichen
Kommunikation.
„Wir waren mal in einer Diskothek“ erinnert sich
Bea in diesem Zusammenhang, „und haben uns nach
ein paar netten Typen umgesehen. Frauen tun das ja
auch.“ „Ah, ja“ bemerkt Marcel interessiert. „Ja“
Oliver Droste 97
Irgendwo in Nirgendwo
antwortet Bea schmunzelnd und fährt fort,
„jedenfalls stand da ein wirkklich gutausehender
Junge, war interessant angezogen und ... sah
jedenfalls sehr gut aus. Emira und ich unterhielten
uns über ihn und wir überlegten, wie man ihn wohl
am besten ansprechen kann. Wir hatten einige
witzige Ideen und mußten darüber lachen. Dabei
bauten wir nun langsam den Blickkontakt auf, ha
ha" “hebt Bea an. „Nur hat das dieser Kerl wohl was
falsch verstanden. Nach einiger Zeit brauchten wir
uns keine Gedanken über das anquatschen machen;
da kommt er mit rotem Kopf und gestauten
Halsvenen auf uns zu und blafft uns an, ob wir uns
über ihn lächerlich machen wollten und wir wären
ein paar eingebildete Schicksen, blöde Hühner und
einige andere unangenehme Bezeichnungen knallten
noch vor unseren Kopf.“ „Na, da war die Baggerei
wohl zu ende, was?“ grinst Marcel. „Tja, Emira
wurde so ärgerlich, daß sie dem Typen ihr Knie in
die Weichteile rammte, worauf dieser, um dem
ganzen noch die Krönung aufzusetzen, von einem
Rausschmeißer ziemlich unsaft vor die Tür gesetzt
wurde.“ „So’n armer Kerl“ lacht Marcel. „Es hätte
ein schöner Abend für ihn werden können.“ „Tja“
grinst Bea, „man kann nicht alles haben“, wobei sie
‚man‘ eher als Substantiv betont hat.
Marcel brennt jedoch die eine Frage auf der Zunge,
so daß er sie nun doch endlich herausbringt: „Wie
kam sie denn an die Tabletten?“ Bea wird wieder
ernster und sieht Marcel ruhig, aber etwas genervt
an. „Gründe gibt es dafür genug. Weißt Du, wo sie
Oliver Droste 98
Irgendwo in Nirgendwo
herkommt?“ „Keine Ahnung, sie hat’n Dialekt,
vielleicht Polen.“ „Nein, sie kommt aus Bosnien.“ „Seit wann lebt sie hier?“ Marcel drückt seine
Zigarette aus, worauf sich Bea eine anzündet, so daß
die rauchige Atmosphäre gehalten wird. „Seit sechs
Jahren. Im Krieg ist mit ihr und ihrer Familie was
schreckliches passiert.“ „Was denn?“ „Frage sie
selber, ich weiß nicht, ob ich das jedem erzählen
sollte.“ „Klar.“
Sie unterhalten sich und trinken Kaffee; Emira liegt
im Bett und schwitzt und wälzt sich, als habe sie
einen Alptraum. Nackte Ballettänzer schweben
durch flatternd verhangenen Raum, wie zerlaufende
Farben in bunten Spinnweben, streifen ihr Gesicht
als Regenbogensaum. Fledermäuse fallen wie
Regentropfen von der alten, dunkel gewölbten
Decke; sie singen ganz leise, drehen Kreise um ihre
symetrisch umtanzten Verstecke. Emira fällt nieder,
Veitstanz fährt in ihre Glieder, Fledermäuse hängen
sich in die Haare, der gläserne Körper schläft 100
Jahre; die Zeit vergeht.
„Was machst Du eigentlich, Marcel?“ „Ich schlag
mich so mit Gelegenheitsjobs durch und schreibe
und nebenbei studiere ich noch Journalistik.“ Bea
scheint es zu interessieren, ihre Augen leuchten auf.
„Schreibst du für eine Zeitung?“ „Ne, mehr
Richtung Lyrik und Prosa. Ab und zu schreib ich
auch mal was für ‘ne Zeitung, aber selten. Einen
Roman habe ich bei ‘nem kleinen Verlag mal
veröffentlicht. Ist aber leider wieder pleite gegangen.
Da hab’ ich auch keinen Pfennig gesehen.“
Oliver Droste 99
Irgendwo in Nirgendwo
„Scheinst ja richtig erfolgreich zu sein,“ bemerkt
Bea ironisch, aber freundschaftlich.
Emira läuft durch den Flur, bleibt an der Küchentür
stehen und sagt etwas zerknautscht aus
geschwollenen Augen blinzelnd, „ich dusche“. „Ist
gut, Kaffee ist fertig, Emira“.
Emira bleibt in der Tür stehen, „danke Bea und sieht
etwas verwundert zu Marcel, „wer is’n das?“
„Marcel“ antwortet Bea und erklärt „er hat dich vor
den Skinheads und der Polizei gerettet und mir
geholfen, dich mit nach hause zu bringen“. Emira
sieht ihn verwundert an. „Ja?“ Polizei? Skinheads?
Hm, - danke Marcel“ und geht ins Bad.
Marcel sieht Bea an. „Sie weiß wohl nichts mehr.“
„Was du jetzt zu ihr sagst, kriegt sie mit.“ Marcel
überlegt, ob es nicht vorteilhaft ist, wenn man
schlechte Ereignisse einfach besser vergißt und
spricht den Gedanken aus. „Ist vielleicht auch besser
so. Ist auch’n scheiß Tag und angeschlagen bin
auch.“ Bea sieht diese Situation etwas anders und
antwortet auf Marcels Aussage, die eigentlich nicht
als Frage gedacht war, wo jedoch der Zweifel über
die Richtigkeit der Aussage im Gesagten zweifelnde
Untertöne besaß, was Bea sofort bemerkte; für diese
Begabung ist ihr Emira sehr dankbar; das macht ihre
Freundschaft aus. Bea ist kein Mensch der dann, um
sein Gegenüber zu schonen, ein Blatt vor den Mund
nimmt. Häufig äußert sich das auch in dem
Kennengelernten Sarkasmus. „Es ist nicht besser,
soetwas zu verdrängen, Marcel. Das ist der Stoff,
aus dem die Erfahrung gestrickt wird. Wie willst du
Oliver Droste 100
Irgendwo in Nirgendwo
sonst deine Erfahrungen machen, wenn du die
Probleme einfach vergißt?“ Marcel macht es
nachdenklich.
Nach einiger Zeit kommt Emira aus dem
Badezimmer, wankt noch etwas. Sonst sieht sie
relativ frisch aus, nur die Ränder unter ihren Augen
verraten das Gehewimnis. Sie spricht noch etwas
langsam, ihrem langsam erwachendem Geist zu
Folge, „habt ihr schon gegessen?“. Bea steht auf und
geht zu Emira, faßt ihr liebevoll an die Schultern
und sieht ihr in die grünen Augen, die langsam
klarer werden. Wie sehr liebt sie diesen Menschen
mit all seinen Problemen? Wie langweilig wäre ein
perfekter Mensch, den die Werbung täglich
suggeriert. Ein Leben ohne Probleme muß doch
schrecklich langweilig sein; wenn einfach alles
schon geregelt wäre und seinen alltäglichen Lauf
gehen würde. „Nein, wir haben mit dem Frühstück
auf dich gewartet, setz dich“, sie holt den Kaffee und
schenkt Emira ein.
Marcel sieht ihr in die Augen, die ihn so
elkektrisieren. Er bräuchte morgens keinen Kaffee,
nur diese Augen, und er wäre hellwach. „Geht’s
wieder besser?“ fragt er. Emira ist noch auf dem
Weg ins hier und jetzt, „so langsam“, setzt sich und
dreht sich zu Bea, „machst du mal Musik an?“. Bea
geht zur Anlage und spielt die CD, die eingelegt ist,
Tocotronics „Du und deine Welt“ ertönt in der
herrlichen Melancholie, die diese Situation so schon
beschreibt.
Oliver Droste 101
Irgendwo in Nirgendwo
Emira sieht Marcel an und überlegt, was das wohl
für ein Typ ist, der hier beim Frühstück sitzt. Er hat
sympatische Augen, verträumt, vielleicht etwas
nervöus, was aber an der ihm fremden Umgebung
liegen muß. Er sieht nicht maskulin-überheblich aus,
eher verletzlich, scheu. Das macht ihn sympatisch.
Emira ist ein Gefühlsmensch, der aus dem Bauch
heraus reagiert, ob es ihr schadet oder nicht. Das ist
der Juwel in ihrem Wesen; das ist das Licht, das
Kinderaugen strahlend macht und ihr ihr Vertrauen
schenkt. Sie betrachtet Marcels Edelsteinblick, der
ihm nicht standhält, diesem Jesusblick, so warm, so
rein, so voll Liebe. „Was machst du denn so, wenn
du niemanden rettest?“ fragt Emira lächelnd, so voll
Sanftmut, das es Marcels Herz zu sprengen droht,
diese Augen.
Marcel fällt in dieser Situation nichts besseres ein,
als „dies und das, - was ich so gerade kriege“. Er ist
so verunsichert. Was wäre, wenn Emira seine
Gedanken lesen könnte, ‚dir streiche ich die
Sternenkrone ins Haar, dein Gesicht soll kein Jahr
die Furche ziehen, dein Lächeln ist bei den Engeln
geliehen, deine Haut möchte ich über mich spannen,
dieses Zelt laut mit Liebe bemannen..., verdammt‘.
Marcel würde erröten; er wird nervöus, doch Bea,
erschlägt die Stille, „er ist Schriftsteller“. „Ich
versuche jedenfalls einer zu werden.“
Emira taumelt in der Neuigkeit, „oh, ein Künstler,
ein Dichter“. Bea setzt sich wieder an den Tisch,
„das paßt gut, was?“. „Wir haben Kunst als
Hauptfach und malen“, erklärt Emira. „Wir hatten
Oliver Droste 102
Irgendwo in Nirgendwo
auch schon eine Ausstellung“ ergänzt Bea stolz.
„Und wie ist es bei euch gelaufen?“ fragt Marcel
interessiert, mal zu hören, wie andere ihren Erfolg
erkämpfen, oder auch nicht; wird jeder unbekannte
Künstler mal ein verkannter van Gogh? „Ein
Besoffener hat auf Beas bestes Bild gekotzt“ weckt
ihn Emira. „Es war das erste und das einzige was ich
verkauft hatte“ bemerkt sie ärgerlich.
Marcel grinst pragmatisch, „und habt ihr es wieder
hingekriegt?“. „Magensäure!“, entgegnet Emira,
worauf Bea ihren Sarkasmus wiederfindet und fragt,
„chon mal was davon gehört“. Marcel grinst etwas
und kann sich seinen makaberen Humor nicht
verkneifen, „und läuft es jetzt unter Abstrakter
Kunst?“.
Emira weiß, wie empfindlich Bea ist, wie sehr sie
sich darüber geärgert hat; Bea, die sonst nicht zu
überreaktionen neigt, war damals doch etwas
unkonventionell mit dieser Geschichte umgegangen;
sie mußte von einem Sicherheitsbeamten
vorübergehend in Verwarsam genommen werden.
„Mach da lieber keine Witze drüber, Marcel“ sagt
sie. „Das dumme Schwein hätte ich umbringen
können.“ „Neigst wohl auch zu Überreaktion, was?“
spricht Marcel seine Gedanken aus. Bea bekommt
einen roten Kopf und sucht nach geeigneten Worten.
Emira beendet Beas Ringen, „unsere Bilder stehen
hinten im Abstellraum, wir nennen ihn unser
Atellier“. „Muß ich mir mal ansehen.“
Emira interessiert sich für diesen sympatischen
Jungen, der einen leichten, aber tiefen Hgumor zu
Oliver Droste 103
Irgendwo in Nirgendwo
besitzen scheint, „was schreibst du denn für
Sachen?“. Marcel kennt diese Frage, die mit
umschreibenden Worten nicht zu beantworten ist,
diese Frage, die er hasst. Warum sollte er schreiben,
wenn es so einfach in Worte zu fassen wäre? „Ich
kann sie dir mal mitbringen, kannst dann selber
lesen. Vielleicht gefällt es dir. Nächste Woche
nehme ich an einer Lesung teil, mit ein paar
Freunden. Kommt doch vorbei, ich geb’ euch auch
die Karten.“
Emira ist sofort begeistert; das macht ihre
Spontanität aus, die sie aus der Gegenwart schöpft.
Ein Mensch, der keine Vergangenheit hat, bei dem
die Zukunft nicht abzusehen ist, neigt gerne zu
dieser Spontanität, die das Leben aufregend macht.
„Oh, ja, ein bischen Kultur schadet nicht. Sowas
hab’ ich noch nicht mitgemacht.“
Bea, die sich wieder gefangen hat und an das
Praktische denkt fragt ihn, „wie übst du das denn?
Liest du sie zuhause jemandem laut vor, oder kannst
du deine Gedichte auswendig?“. „Nicht alle, einige
muß ich ablesen, einige sind etwas schwerer. - Und
du singst? Bist du in’ner Band?“ verrät sich Marcel,
ohne nachzudenken. Emira sieht ihn verständnislos
an, „woher weißt du das?“
Marcel bemerkt seinen Fehler; er stottert etwas, um
sich dann doch in gespielter Selbstsicherheit zu
geben, „das - hattest du noch erzählt“.
Emira kann keinen Argwohn und kein Mißtrauen
gegen diesen Jungen finden und so glaubt sie, „ja?
Ach, so’n paar Sachen habe ich geschrieben“.
Oliver Droste 104
Irgendwo in Nirgendwo
Marcel
kann
seine
Erleichterung
kaum
unterdrücken, „cool, würd’ ich mir gerne mal
anhören“. Klar, mit ein paar Freunden spielen wir ab
und zu.“ „Und seid ihr schon mal aufgetreten?“
Bea hebt den Kopf und sieht Marcel stolz an, „das
sind sie, und sie sind gut. Irgendwo haben wir doch
noch eine Demokassette rumfliegen“. Emira will
Beas Licht unter dem Scheffel hervorholen, da sie
die treibende Kraft ist, „Bea ist da auch mit bei. Sie
spielt Schlagzeug“.
Marcel fängt wieder an zu träumen, von Kunst und
wie schön die Welt wäre, würden die Menschen
doch wieder mehr Verständnis und Zugang zu dieser
Welt haben, wo die Kunst den Geist beflügeln kann
und für mehr Verständnis unter den Kulturen sorgen
kann, als er sagt, „vielleicht können wir mal so’n
Künstlerabend machen mit Bildern und Musik von
euch und Gedichten von meinen Bekannten und
mir“. Emira ist in ihrer Spontanität sofort begeistert,
„ja, das wäre super. Ich will mal die anderen fragen,
ob sie auch lust haben“, Musik fließt durch ihre
Venen wie Sonnenschein.
Marcel will endlich aus dem Alltagstrist entkommen
und freut sich, „vielleicht passiert ja endlich mal
was“. Jedoch bildet Bea den realistischen Faktor mit
ihrer Frage, „was soll denn passieren?“ und besieht
sich die träumende Runde. Emira strahlt bei der
Idee, etwas so schönes zu machen, Beas Frage
überhörend; Marcel kommt auf den Boden der
Tatsachen zurück, den die vielen Absagen der
Verlage bilden, will sich jedoch nicht abschrecken
Oliver Droste 105
Irgendwo in Nirgendwo
lassen und fragt trotzig, „wieso sollen wir jungen
Leute nicht Kunst machen. Wieso soll es nur von
denen sein, die Glück gehabt haben und zufällig zur
richtigen Zeit die richtigen Leute getroffen haben?
Ist Erfolg nur der kommerzielle, oder der, der die
Seele berührt; und wenn es nur eine ist?“.
Emira begeistert der Ausweg. Endlich ein neuer
Horizont. „Genau. Es gibt soviele begabte Maler und
gute Bands, die keiner kennt.“ Marcel ergänzt, „und
so viele Leute, die Gedichte und Geschichten
schreiben, die keiner liest“.
„Das stimmt schon“ bemerkt Bea, der auch nicht alle
Träumereien abhanden gekommen sind. „Emira,
kennst du noch die kleine Bärbel, die hat tolle
Sachen geschrieben.“ „Klar, die war doch immer so
lustig. Was ist eigendlich aus ihr geworden? Ich hab’
sie lange nicht mehr gesehen.“ „Sie hatte sich doch
vor einem Jahr im Wald aufgehängt, Emira, weißt
du das denn nicht mehr?“ „Oh.“
Von der Anlage kommt Radioheads „Astroid
paranoid“; sie hat nämlich einen CD-Wechsler.
Oliver Droste 106
Irgendwo in Nirgendwo
XV
Von Rechnungen, der Kunst zu Streiten und
einer Wendung des Schicksals
Marcel, Roland.
Marcel kommt nach Hause, geht in die Küche, wo
Roland bei einer Tasse Kaffee sitzt und mit
tiefliegenden Augen von seiner Zeitung aufsieht.
„Wo bist Du gewesen?“ fragt er Marcel vorwurfvoll,
aber auch erleichtert, da er anscheinend unversehrt
davongekommen ist. „Ich habe Emira noch nach
hause gebracht, zusammen mit ihrer Freundin Bea.
Du warst aufeinmal verschwunden; wie bist du da
weggekommen?“ Marcel setzt sich zu ihm an den
Tisch und schenkt sich in eine alte, das heißt
benutzte Tasse, einen Kaffee ein und sieht ihn an.
Seine Augen scheinen erschöpft, jedoch der Glanz
und die reflektierte Lichstärke verleihen ihm eine
leuchtende Freude, eine lebensfrohe, blauäugige
Energie. Das Radio läuft im Hintergrund.
„Ich bin von den Polizisten noch festgehalten
worden und mußte mit auf’s Revier. Die haben
vielleicht noch’n Akt davon gemacht, bin auch erst
vor’ner halben Stunde zurückgekommen.“ „Hast du
jetzt Probleme am Hals, ich meine Anzeige oder
sowas?“ Roland lehnt sich zurück und sieht auf den
Tisch. „Ich weiß nicht, die haben einen ziemlich
offiziellen
Eindruck
gemacht.
Aus
dem
Oliver Droste 107
Irgendwo in Nirgendwo
Beamtendeutsch bin ich auch nicht so recht schlau
geworden und irgendwie hab‘ ich auch noch nicht
alles so richtig mitgeschnitten, wird schon nichts
schlimmes kommen.War ja eigentlich nur’ne
Lapalie. Ich meine das mit dem Tisch und dem alten
Ehepaar.“ Beide schweigen nachdenklich und lassen
die Ereignisse im Geist nocheinmal revuepassieren.
Aus dem Radio kommen die Nachrichten. Beide
hören gelangweilt zu. Ihre Probleme scheinen mit
der Welt nichts zu tun zu haben, über die im
Rundfunk berichtet wird. Radio: „... wegen
Menschenhandel ... zur Prostitution gezwungen ...
Staatsanwaltschaft fordert vier Jahre ... Verteidigung
Bewährungsstrafe.
Hannover.
Punker
nach
Ladendiebstahl von Polizist festgehalten ... weitere
sechs Punker greifen diesen an ... wetere Polizisten
eilen ihrem Kollegen zu Hilfe ... ein Polizist verletzt.
Gegen einen Punker wird ermittelt wegen schwerer
Körperverletzung,
Wiederstand
gegen
die
Staatsgewalt, Landfriedensbruch ... .“
Marcel und Roland sehen beide auf. Marcel wird es
etwas unwohl, als er fragt, „hast du das gehört?“.
„Das gibt es doch nicht. Ein Menschenhändler, der
Frauen zur Vergewaltigung zwingt, soll höchstens
vier Jahre kriegen und die Verteidigung fordert’ne
Bewährungsstrafe.“ „Und so’n armer Punk, der
vielleicht eine Tüte Schips oder Schokolade geklaut
hat, kriegt es fett weg, weil er’nem Polizisten
vielleicht eine genockt hat.“ Roland lacht, „den
buchten die bestimmt noch für zehn Jahre ein, paß
man auf“. Soviel zu unserem Rechtstaat. Marcel
Oliver Droste 108
Irgendwo in Nirgendwo
überlegt laut, „wo kamen nur die anderen Polizisten
her?“. Roland sagt ärgerlich „polizeistaat“ und
macht eine wegwerfende Handbewegung, „auf’m
Polizeirevier haben die auch sowas gesagt, wie daß
es keine Lapalie mehr wäre“. „Scheiße.“
Roland will seine Gedanken an etwas anderes heften
und fragt Marcel, vielleicht eher aus Ablenkung, als
aus Interesse, „wie hieß die Frau noch, die du nach
hause gebracht hast?“. „Emira.“ „Die sah aber
ziemlich kaputt aus, wohl’ne Drogenabhängige,
was?“ „Sie hat nur Probleme.“ „Verdammt, was
hab‘ ich jetzt für’n Ärger am Hals.“ „Was hat das
denn mit Emira zu tun?“ Roland lenkt seinen Ärger
und die damit verbundene Schuldfrage, vielleicht als
Übersprungshandlung, auf dieses Thema. „Mit ihr
kamen die Skinheads, noch mehr Polizisten und die
Autonomen und das ganze Chaos.“
„Da kann sie doch nichts für.“
„Mich haben die Bullen einkassiert und du hast ‘ne
Verückte nach Hause gebracht.“ Marcel versucht
sich zu rechtfertigen und an eine soziale Ader zu
appelieren. „Sie ist nicht so... äh. Sie ist ganz in
Ordnung, versucht gerade klarzukommen. Ihre
Freundin besorgt ihr einen Platz zur Rehabilitation.“
„Will wohl ihren Doktor machen, was?“ „Du weißt
genau, was ich meine.“ „‘N Junkie, klar.“ „Ne,
Tablettenabhängig! Klar?“ „Na dann ist ja alles in
Butter.“
Marcel ist nun über die plötzliche Unfreundlichkeit
etwas genervt, „ist es auch“ und hofft, daß sich
dieses Thema nun erledigt hat. Roland hat jedoch
Oliver Droste 109
Irgendwo in Nirgendwo
die, durch das tägliche Zusammenleben auftretende,
häufig vorkommende Gabe, Dinge, die von dem
anderen
Gesprächsparter
als
abgeschlossen
betrachtet werden, wieder aufzugreifen, um die Glut
der Worte in die Hitze des Geistes zu legen, was
häufig zu Streitigkeiten führt, die in der
anschließenden Reflektion nicht mehr erklärt werden
können. Die Ursachenforschung kann dann, wird sie
fündig, ebenfalls erneut zur Auseinandersetzung
führen. Roland spricht erneut den Entzug an, als er
fragt, „weißt du eigentlich, wie lange sowas dauern
kann?“.
Marcel, der durch die Zuneigung zu Emira,
optimistisch diesbezüglich ist, meint „keine Ahnung,
aber irgendwie wird das schon klappen“ und freut
sich schon auf die aufregende Zukunft, in der diese
Frau eine entscheidende Rolle spielen soll. „Und du
hast mit ihr den ganzen Tag verbracht?“ „So kann
man es auch nennen,“ was Marcel von einem
schmunzelnden,
freudigen
Grinsen
nicht
zurückhalten kann, was Rolands Ärger natürlich
wieder aufreizt. „Und was gestern gelaufen ist, ist
dir heute wohl egal, was?“
Marcel muß nun, auf den Boden der Realität, das
Traumbild hinter sich lassend, zur Verteidigung
übergehen, was ihn seine Traummut verlassen läßt,
„hör bloß auf, du hast ja alles noch schlimmer
gemacht“, womit er auf Rolands Eskapaden anspielt.
„Und jetzt bin ich an allem schuld, was? Weißt du
daß Bine riesen Ärger hat. Sie ist von Zuhause
Oliver Droste 110
Irgendwo in Nirgendwo
abgehauen, bzw. mehr oder weniger rausgeflogen
ist. Sie hat einen riesen Krach gehabt.“
Diese Neuigkeit läßt Marcel nachdenklich werden,
der in seinen Gefühlsregungen von gleicher
Spontanität geleitet wird, wie in seinen Handlungen
und so Ärger schnell wieder abschüttelt. Großer
Ärger muß eine Nacht überschlafen werden, um
vergessen zu sein. „Und wo ist sie jetzt?“ „Bei ihrer
Freundin Sandra.“ Marcel versucht die positive und
die praktische Seite zu finden, „die beiden wollten
doch sowieso zusammenziehen. Ist doch in
Ordnung“. Roland kann diese Einstellung überhaupt
nicht akzeptieren und wird ärgerlich und damit auch
lauter, „aber doch nicht auf diese Art und Weise,
mach mal halblang!“. Marcel bemerkt, daß es keinen
Sinn hat. „Ach komm, ich hab’ keine Lust mehr.“
Beide schweigen grummelnd vor sich hin.
„Wie heißt die Verückte, noch?“ stichelt Roland.
„Emira, und hör endlich auf Verückte zu sagen.“ „Ist
sie doch, oder nicht?“ Marcel läßt sich noch einmal
hinreißen und reagiert gereizt. „Ja und?“ Beide
schweigen wieder.
Roland meint, den Sieg davongetragen zu haben und
wechselt das Thema. „Im Briefkasten war Post.“
„Von wem?“ „Keine Ahnung, sah aus, wie von ‘ner
Behörde.“ „Mist, wieder ‘ne Rechnung, was? Hast
du die Telefonrechnung wieder vergessen?“
„Welche Telefonrechnung?“ „Na, die letzte.“ „Ist
die nicht abgebucht worden?“ „Der Dispo war doch
wieder überzogen.“ Roland überlegt. „Ich glaube,
die habe ich bezahlt.“
Oliver Droste 111
Irgendwo in Nirgendwo
Nun bemerkt Marcel eine Gelegenheit zum kontern,
um dem frischen Ärger nocheinmal Raum zu geben.
„Glaubst du. Wenn dein Konto nicht immer
überzogen wäre, müßten wir nicht immer die
Mahngebühren mitbezahlen.“ Jedoch findet Roland
ebenfalls eine Kontermöglichkeit, die in Haushalten
mit geringem Budget leicht zu finden ist. „Du hast
auch wieder Post von der EWE“ und grinst
triumphierend. „Scheiße.“ „Dein Konto sieht wohl
auch nicht so gut aus, was?“
Nun, wo die Verhältnisse wieder geklärt sind und
ein Gleichstand erreicht ist, sucht Marcel eine
Möglichkeit, die wideren Umstände zu ändern.
„Mist, wir müssen unbedingt wieder arbeiten
gehen.“ „Ziemlich ätzend“ kommentiert Roland
diesen bitteren Gedanken an Arbeit. „Und immer auf
Jobsuche, die Arbeit machen, die niemand sonst
machen will.“
Marcel steht dieser Sache durch vergangene
Erfahrungen nicht positiver gegenüber, als sein
Mitbewohner. „Und auch noch schlecht bezahlt.“
Nun haben beide endlich etwas gefunden, worauf sie
ihren Ärger projezieren können, ohne selbst dabei
Im Zentrum des Angriffs stehen zu müssen.
Roland seufst „tja, die finden immer einen
Dummen“ und zündet sich eine Zigarette an.
Marcels zuvor erwähnte Eigenschaft kommt wieder
hervor, als er meint „es gibt aber auch gute Jobs“.
Auf diesen Gedanken läßt sich Roland gerne ein,
„stell dir vor in’ner Videothek sitzen“. „Oder Essen
auf Rädern.“ Beide lachen, da diese Jobs
Oliver Droste 112
Irgendwo in Nirgendwo
unerreichbar sind. „In’ner Tanke arbeiten.“ „Oder
in’nem Sonnenstudio Geld wechseln und Leute
beraten.“ Roland kann sich von dem Gedanken an
schöne Frauen nicht wieder einkriegen, „Und als
Einölboy für die Schönen fungieren.“ „Bademeister,
à la Baywatch.“ Bei dem Gedanken an vollbusige
Badenixen, jedoch ohne Grips, geht es mit Roland
durch. „Pornodarsteller.“ „Und dafür noch Geld
kriegen.“ Beide lachen noch mehr.
Sirenengeheul geht durch Mark und Bein. Der
schwarzuniformierte Polizist schreit durch den Lärm
von Gelächter und Geheul „Gedankenpolizei,
Gedankenpolizei,
Karmapolice,
das
ist
chowinistisch,
frauenfeindlich,
unsittlich!
Gedankenpolizei, Gedankenpolizeieiei!“
Marcel wird wieder ernster. „Aber irgendwann
macht das wahrscheinlich keinenn Spaß mehr.“ Bei
Roland regiert das Hormon, „klar, ab Mitte Fünfzig“
und lacht wieder. Marcel holt ihn runter, „ach ist
doch alles beschissen“. „Aber besser als diese
Hiwiarbeiten auf’n Bau, oder im Metallbau“
klammert sich Roland.
Marcel erinnert sich an frühere Tätigkeiten. „Ich
hab’ mal auf’n Erdbeerfeld gearbeittet, das war ‘ne
Scheiße. Bei Regen auf allen Vieren durch die
Reihen kriechen. Aber nur da, wo die Leute, die zum
Pflücken kommen schon alles abgegrast haben und
dann ‘n paar Pfennig pro Pfund. Das war vielleicht
‘ne Ausbeute!“ „Hast du eigendlich wieder Gefühl
Oliver Droste 113
Irgendwo in Nirgendwo
indem linken Fuß?“ womit Roland auf Marcels
abgeklemmte Nerven anspielt. „Bis auf drei Zehen
wohl. Das behalte ich wahrscheinlich als Andenken
an das Erdbeerfeld.“
Roland, der wieder in der Realität angekommen ist
erwähnt nebenbei, „da war aber noch ein Brief bei“.
Marcel wittert Unangehmes. „Von wem denn noch?
Wasser oder Miete?“ „Er liegt da auf’m Bord.“
Marcel steht etwas müde auf, nimmt den Brief und
sieht auf den Absender. „Oh Mann, vom Verlag, wo
ich meine Gedichte hingeschickt habe,“ wird aber
gleich ruhiger, da er nur schlechte Erfahrungen
gemacht hat. „Wohl wieder ‘ne Absage.“ „Jedenfalls
haben die noch mal geantwortet, das haben die
anderen nicht,“ ermutigt ihn Roland, bei dem das
ergebnislose Streben seines Freundes Mitleid
erzeugt.
Marcel öffnet den Brief, liest ihn beim hin und
hergehen in der Küche. „Mann, ich werd’ verrückt,
Mann, super, wow.“ Roland ist über Marcels
Reaktion überrascht, da eine solche Reaktion
normalerweise
nicht
durch
solche
Briefe
hervorgerufen wird. „Was ist, wird es gedruckt,
haste was gewonnen, kriegst’e Geld, wieviel?“
„Quatsch, Geld. Die haben mich eingeladen zu ‘ner
Veranstaltung nach Berlin. Ich soll da was
vortragen. Ich hab’ da zehn Minuten Zeit. Da sind
wichtige Leute. Junge, das ist was ganz Großes. Da
kommen voll die bekannten Autoren hin. Wow!“
Oliver Droste 114
Irgendwo in Nirgendwo
Roland der Praktiker überlegt gleich, was Marcel
noch verbessern muß schlägt ihm vor, „dann mußt
du so langsam an deiner Ausdrucksweise arbeiten“.
Marcel zerfließt gerade mit seinen Gedanken in
einer Traumwelt und hört nicht mehr richtig hin,
„was is’?“ und liest den Brief ein weiteres Mal,
schwebend. Roland der Pragmatiker stchelt
freundschaftlich,
„ganze
Worte.
Deutlich
aussprechen: Was ist!“ „Red’ nich‘ so’n Quatsch!“
„Rede nicht so einen Quatsch! Ganze Worte,
Marcel!“ „Bla.“
„Wann mußt du denn da sein?“ „In einem Monat!“
„Da mußt du das Vortragen noch mal üben.“ Das
wirft für Marcel das nächste Problem auf, „was trage
ich nur vor? Ich muß was auswählen. Du mußt mir
helfen. Ihr müßt die Sachen lesen und mir sagen,
welche am besten sind!“ „Vielleicht solltest du
deinen alten Deutschlehrer mal fragen, der hilft dir
bestimmt. So ein Publikum wird ganz schön
anspruchsvoll sein.“ „Ne, ich weiß nicht. Der sucht
nur nach Stil- und Ausdrucksmitteln; der versteht
doch gar nicht, was ich meine. Ihr müßt das lesen,
für euch habe ich das geschrieben!“ Marcel wird
flatterig wie ein Schmetterling, was Roland als sein
langjähriger Freund sofort bemerkt und dem er
Abhilfe schaffen möchte. „Klar, wir üben das schon.
Da wirst du hingehen und als großer Lyriker des
einundzwanzigsten Jahrhunderts auftreten. Da wirst
du berühmt und wir haben keine Geldsorgen mehr,
falls du mich dann noch kennst.“ Darüber denkt
Roland nun aber erstmal nach. Wer bekannt wird
Oliver Droste 115
Irgendwo in Nirgendwo
geht andere Wege und vergißt seine Freunde, worauf
Marcel auch schon hinausläuft raus und ruft, „ich
muß gleich anfangen und die Sachen sortieren und
noch mal überarbeiten. Oho, jetzt werd’ ich aber
nervös.“
Oliver Droste 116
Irgendwo in Nirgendwo
XVI
Vom Wolfsgesicht und Seelenuntiefen
Marcel, Roland, Emira, Bea, Professor.
Die Universität ist ein Komplex mit verschiedenen
Fakultätsbereichen, eines dieser typischen, schnell
hochgezogenen Betonmonumente, wo Esthetik der
Funktionalität gewichen ist. Dort zwängen ab
siebenuhrfünzig die anständigen Studenten, lebhaft
diskutierend, oder schnell, kurzen Schrittes,
auchnachdenklich, durch die Eingänge.
Nach ihnen kommen in zeitlicher Verzögerung jene
Studenten, die nicht mit der Tugend der
Pünktlichkeit versehen sind, die eine der zahlreichen
Studentenfeiern hinter sich haben, also dem Alkohol
nicht abgeneigt sind – gaudeamus igetur als
Lebenseinstellung- oder die die Nacht irgendwo in
irgendeiner Gastronomie bzw. Diskothek ihren
Lebensunterhaltbestritten
haben
und
sogar
Studenten, die, soll man es glauben oder nicht, die
letzte Nacht durchgelernt haben oder an manchen
schriftlichen Hausarbeiten gesessen haben, mit vom
Schlaf aufgedunsenen Gesichtern, das Muster des
zerknautschten Kopfkissens als Abdruck in
selbigem, mit noch traumgeschwollenen Lidern über
oder vor glasigen Augen, Dreitagebart und
zerzaustes Haar tragend, in das Gebäude geströmt.
Marcel und Roland versuchen diesmal zur ersten
Gruppe zu gehören. Sie eilen mit schnellen, langen
Oliver Droste 117
Irgendwo in Nirgendwo
Schritten, etwas geistesabwesend wirkend, durch die
Tür. Roland dreht sich ärgerlich zu Marcel, „Mist,
wir kommen wieder zu spät“ und beschleunigt
seinen Schritt, so daß dieser Mühe hat, mitzuhalten
und bemerkt „egal, der alte Sack lohnt sich sowieso
nicht, steht doch eh alles im Skript. Alles nur
Nasenfaktor“, womit Marcel die versteckte
Anwesenheitspflicht anspricht, das bedeutet, daß
einige Proffessoren eine versteckte Eitelkeit
besitzen, die von ihnen einen vollen Hörsal erfordert
und zumindest einige Interesse heuchelnde oder
auch wirkliche Aufmerksamkeit aufbietende
Studenten wünscht. Das sind dann meist die
Kandidaten, die in den mündlichen Prüfungen den
Nasenbonus bekommen, was einfache Fragen und
entgegenkommende Bewertung bedeutet. Natürlich
sind nicht alle Dozenten so veranlagt, jeder hat seine
Stärken und Schwächen. In eine Verallgemeinerung
wollen wir uns nun nicht verlieren, das
Bewertungssystem ist gerecht, oder?, oder warum
bevorzugt die freie Wirtschaft häufig nicht den
Primus nach Notenspiegel, sondern die praktischen
und logistischen Teamfähigkeiten eines Bewerbers,
na egal.
Marcel fährt in seinen Überlegungen weiter fort, als
er sagt „wenn wir den nicht in der Mündlichen
hätten, wäre ich liegengeblieben“. Roland hat
jedenfalls kein so gutes Gewissen und sich wenig
Gedanken über solche Kausalitäten gemacht, was er
dann auch ausspricht. „Na, so’n guten Eindruck
macht das ewige Zuspätkommen auch nicht“. Sie
Oliver Droste 118
Irgendwo in Nirgendwo
biegen beide in einen der breiten Flure. In einiger
Entfernung sieht Marcel Bea und Emira laufen. „Oh,
da hinten ist Emira. Jetzt kannst du mal sehen, daß
sie auch ganz normal sein kann.“ „Ist mir doch egal.
Wir haben keine Zeit, los komm!“ Roland ist etwas
genervt, daß sich Marcel mehr um die Zuneigung zu
dieser Frau interessiert und er nun nur noch eine
untergeordnete Rolle in ihrer Freundschaft spielt –
auch eine Form der Eifersucht, die häufig übersehen
wird.
Dafür hat Marcel aber keine Augen, „warte, ich muß
ihr das mit dem Verlag erzählen,“ worauf er nun
seinen Schritt beschleunigt und in einen leichten
Trab übergeht und Roland überholt. Roland bleibt
ärgerlich stehen und sieht seinen Freund die Seiten
wechseln, wie er meint und ruft Marcel hinterher,
„also, ich gehe jetzt, wäre bestimmt auch besser für
dich“. Marcel hört schon nichts mehr. Roland
wendet sich geschlagen in den nächsten Gang und
sagt zu sich, „ich weiß nicht, wie er dieses Semester
schaffen soll; am Ende muß ich ihm wieder alles
erklären, dafür bin ich dann wieder gut genug“ und
geht.
Marcel läuft zu Emira und Bea und ruft „he, Emira,
Bea!“, worauf sich die beiden umdrehen. Emira
erkennt Marcel, „hallo, du bist auch hier?“. Marcel
kommt bei ihen zum Stehen, „ja, einige Vorlesungen
haben wir hier. Wo wollt ihr denn hin?“ und wendet
den Blick von Emira ab, um nicht unhöflich zu sein
und blickt kurz Bea an. Emira lächelt und freut sich
über das Wiedersehen, „wir haben eigentlich auch
Oliver Droste 119
Irgendwo in Nirgendwo
Vorlesung“. „Eigentlich?, sagt Bea, mehr
vorwerfend, als fragend, um dann mütterlich an die
Vernunft zu appellieren, „komm schon, du kannst
nicht schon wieder schwänzen Emira!“ „Warte doch
mal.“ Emira sieht Marcel freudig an, „was ist los mit
dir, du scheinst so aufgeregt.“ „Ich habe vom Verlag
Nachricht,“ strahlt es aus Marcel heraus, „wo ich
meine Sachen hingeschickt habe“. „Super, das freut
mich.“ Bea zeigt nun auch wohlwollendes Interesse,
„oh, ich gratuliere, wollen sie es drucken?“. „Sie
haben mich eingeladen, zu einer Lesung nach Berlin
zu kommen.“ „Dann wirst du bestimmt berühmt“
träumt Emira ihn an. Marcel ist durch die
erfolglosen Jahre etwas ernüchtert, als er antwortet,
„erst mal soll ich nur lesen und dann werd’ ich sehen
was läuft“.
Bei Bea siegt nun aber wieder die Vernunft, „also
ich will jetzt hingehen, können wir nicht nachher in
der Mensa weiterquatschen?“. Emira wägt die
belanglose oder zumindest für sie langweilige
Vorlesung ab mit dem, was dieser Morgen sonst
noch bieten kann und da das ein paar mehr
Argumente sind, entscheidet sie sich, „also, soviel
Lust habe ich eigentlich nicht.“ Marcelo hilft ihrer
Entscheidung, sich durchzusetzen, „wollen wir ‘n
Kaffee trinken gehen?“.
Emira ist für diese Stütze dankbar, „klar, der alte
Knacker langweilt mich sowieso“, wobei dieser
Professor, von dem sie gerade redet, um die Ecke
geschlendert kommt und wohl freiwillig Zeuge ihres
Ausspruchs wurde, was Emira nicht schnell genug
Oliver Droste 120
Irgendwo in Nirgendwo
merkte. Der Professor bleibt neben ihr stehen und
redet seitlich zu ihr, ohne sie anzusehen, ohne sie
eines Blickes, oder sonst etwas zu würdigen und
sagt, „wenn sie ein wenig häufiger die Vorlesung
besuchen würden, würden sie sich in dieser
Veranstaltung nicht so sehr langweilen. Und des
öfteren mal ausgeschlafen dort erscheinen, wäre
sicherlich nicht von geringem Nutzen für ihr
Auffassungsvermögen“ und geht weiter. Emira sieht
ihn erschrocken weiterschleichen, diesen Schleicher,
diesen Schleifer, diesen überheblichen Wortesardist
und flucht, „verdammt!“. „War das dein Dozent?“
fragt Marcel und blickt dem Schatten nach. Bea sieht
Marcel aus tiefen Augen an, die der Ärger tiefer
legte, „das war er; ich gehe. Macht was ihr wollt. Ihr
müßt es selber wissen. So viele Fehlstunden kann
ich mir nicht erlauben“. Emira ist ärgerlich über
Beas geringe Flexibilität und ihrer überherrschender
Vernunft, „ach du bist doch ewig in der Uni“. Bea
schlägt einen sarkastischen Ton an, als sie Emira
eine Augenfunkel hinüberwirft, „das kommt dir nur
so vor, weil du so oft nicht mitgekommen bist“.
Darauf kann Emira nur trotzig reagieren, „du gönnst
mir aber auch überhaupt nichts“. „Ich gönne dir viel
zuviel“ antwortet Bea und geht.
Marcel ist eigendlich froh, das Bea ihrer Berufung
folgt, auch wenn er der Ursprung ihres Ärgers ist,
sieht ihr kurz nach und blickt dann Emira an,
„wollen wir gehen? Vielleicht kannst du mir helfen,
ein paar Gedichte auszuwählen“. „Gerne, hast mir ja
auch geholfen, dann revanchiere ich mich. Es
Oliver Droste 121
Irgendwo in Nirgendwo
interessiert mich, was du so schreibst.“ „Wollen wir
zu mir? Dann kann ich dir gleich die Kopien geben;
die mußt du dann in Ruhe lesen.“ „Können wir
machen. „
Sie gehen beide diesen nun so gespenstig leren Gang
hinunter, der ihre Umrisse gebonert spiegelt, dem
am Ausgang grell spiegelndem Licht entgegen,
verlassen das Universitätsgelände und holen bei
einem dafür anliegendem Bäcker Brötchen. Darauf
gehen sie traumflugen Blicks durch die
Fußgängerzone, trivial konversierend und kommen
bei Marcel an.
Marcel durchsucht, an der Haustür angekommen,
wie gewohnt seine Taschen nach dem Schlüssel und
schließt nach einiger Zeit die Tür auf, wobei er
Emira entschuldigend vorwarnt „mhm, es ist nicht
gerade aufgeräumt, hatte in den letzten Tagen noch
nicht richtig Zeit dazu. Du mußt da ein wenig drüber
wegsehen“. „Ich werde in deine Gedichte sehen.“
„OK“ lächelt Marcel, „das ist eine gute Alternative“.
Sie gehen beide in die Küche, der in dieser WG den
Ort der Begegnung und des Lebens darstellt, wie es
in den alten Bauernfamilien auch heute noch der Fall
ist, was in heutiger Zeit eine kommunikative
Institution darstellen könnte. Marcel räumt den
Tisch ab, wischt ihn sauber, türmt das Geschirr
weiter auf. Nimmt die Stiefel von der Heizung, die
dort zum trocknen standen. Beim Rausgehen nimmt
er noch die Lederjacke und Motoradhose vom Stuhl,
die ebenfalls zum trocknen vor der Heizung hingen.
Marcel blickt nocheinmal nervöus in die Rund, um
Oliver Droste 122
Irgendwo in Nirgendwo
Emira nun einen Platz anbieten zu können, „so, jetzt
ist etwas mehr Platz. Setz dich“. „Danke, aber las
mich beim Tisch decken helfen, wo stehen die
Sachen“, sagt Emira, um ihre Unruhe etwas zu
beschäftigen; in dieser fremden Umgebung fühlt sie
sich etwas unwohl.
Marcel geht zur Tür, wirft die Sachen in den Flur
und sieht Emira etwas hilflos an. „Ich muß eben was
abwaschen, tut mir leid, setzt dich ruhig hin, ich hol‘
die Gedichte“, geht und kommt mit einer Mappe
zurück, „kannst ja mal drin blättern. Ich mach den
Kram kurz sauber“. Emira sieht den massigen
Ordner erstaunt an, „hast du das alles geschrieben?“
und zeigt auf die Mappe. Marcel antwortet
herunterspielend, „klar, es ist nach den Themen
geordnet, kannst mal im Inhaltsverzeichnis sehen,
was dich interessiert“ und macht sich an das
Abräumen und macht, während Emira blättert, alles
für das Frühstück fertig und wendet sich kurz zu
Emira, „hoffentlich bring ich die Sachen bei der
Lesung vernünftig“. „Das mußt du üben. Die Stücke
die du vortragen willst, mußt du öfters mal laut
lesen. Wie kommst du denn nach Berlin?“ „Ich
werde mit dem Motorrad fahren, mit dem Zug ist es
zu teuer.“ „Kannst du nicht mit dem
Wochenendticket fahren?“ „Ne, es ist am Freitag
abend und das Wochenendticket geht erst am
Samstag. Außerdem müßte ich dann auch noch mit
dem Bus fahren und die Bimmelbahn ist schon ewig
unterwegs. Den abend würde ich auch nicht mehr
nach hause kommen. Übernachtung in Berlin würde
Oliver Droste 123
Irgendwo in Nirgendwo
dazukommen, das wäre alles zu teuer. Die Züge sind
ja auch total überfüllt.“ „Willst du nicht in Berlin
bleiben, wenn du schon mal da bist?“ „Den Abend
wird es wahrscheinlich spät, kann sein.“
Emira blättert in dem Ordner und ließt einiges an.
Sie bemerkt, daß sie einiges doppelt lesen muß und
sieht zu Marcel, der noch mit der Arbeit des
Abräumens und des gleichzeitigen tischdeckens
beschäftigt ist, an, „die Gedichte nehme ich am
besten mit, jetzt hab’ ich keine Ruhe dazu. Darf man
hier rauchen?“. „Klar, tu dir keinen Zwang an.“
Emira tut es nicht und zündet sich eine Zigarette an.
Marcel überlegt, was Emira nur für einen Akzent
hat, sie scheint nicht von hier zu sein, „du hast einen
Dialekt, wo kommst du her?“; er setzt sich nun mit
der Kanne Kaffe zu Emira. „Aus Bosnien.“ Marcel
ist daran interessiert, aber weiß nicht so recht, wie er
sie taktvoll dazu befragen soll, „hast du da viel vom
Krieg mitgekriegt?“. Emira ist verwundert über
diese merkwürdige Frage, „kann man wohl sagen“
und bekommt Falten an der Nasenwurzel, wobei ihr
Blick dunkelt. „Wie ist es da denn abgegangen? In
den Medien kriegt man doch nur mit, was die einem
sagen wollen, um eine bestimmte Meinung zu
vertreten. Man hat immer was von Greueltaten
gehört, sowas wie KZ’s. Habt ihr davon als
Zivilbevölkerung was gewußt? Weißt du, im 2.
Weltkrieg haben die Leute hier in Deutschland
angeblich auch nichts gewußt. Wie ist das in
Bosnien bei euch gewesen?“.
Oliver Droste 124
Irgendwo in Nirgendwo
Emira senkt den nun glasig werdenden Blick und
starrt vor sich hin, „oh“, ihre Augen sehen nach
regen aus, als sie Marcel anblickt, „du hättest mich
nicht daran erinnern dürfen. Ich dachte, ich könnte
es hier vergessen“ und kramt in der Tasche, holt ein
Röhrchen mit Tabletten heraus und nimmt eine mit
einer Tasse Kaffee zu sich.
Marcel ist etwas verstrört über diese emotionale
Wendung bei Emira, „äh, du brauchst nicht davon
sprechen. Ich wußte nicht, daß es dich so sehr
berührt“. Emira wird es warm, kleine perlen dunsten
auf ihrer Stirn, „scheiße, jetzt kommt die
Erinnerung, die ich vergessen wollte wieder“ und
raucht schneller.
Marcel fühlt sich in seiner hilflosen Situation
unwohl und will schnell auf ein anderes Thema
kommen, wobei ihm nichts besseres einfällt, als
„OK, vergiß es. - Was machen deine Eltern? - Oder,
überlegt er, die falsche Richtung einschlagend und
wittert „- leben sie noch?“. Unter Emiras Kopf
tropft der beginnende Regen.
Marcel fragt etwas hilflos, ein weiteres Thema
anschneident, „äh, das Studium, wie kommst du mit
unserer Sprache zurecht?“.
Emira sieht ihn an, ein Beben zittert hinter ihren
Geistestoren, „jetzt hast du das Wolfsgesicht
gerufen“. Marcel überlegt, was nun mit Emira los
ist, was sie meint, ob sie wohl einen Schaden
zurückbehalten hat und fragt sich verängstigt
wundernd, „was?“. „Ist schon gut. Weißt du, was in
Bosnien passiert ist?“ Marcel will sie nicht noch
Oliver Droste 125
Irgendwo in Nirgendwo
weiter in diese emotionale Situation stürzen „las
sein, du brauchst nicht darüber reden“ und stockt
kurz, um zu befinden, daß es ihn doch ein wenig
interessiere, und dann anzufügen, „wenn du nicht
willst“.
Die Wolken draußen scheinen die Sonne und damit
auch Emiras Gesicht zu verfinstern, als würde eine
Sonnenfinsternis
stattfinden.
Die
Schatten
übernehmen die Übermacht im Zimmer, einer
erscheint wie ein Wolfshaupt an der Wand hinter
Emira, ihre Augen glühen geädert, als sie sagt, „Ich
will nicht reden, ich brauche es. Jetzt ist es wieder
da. Jetzt setzt dich und hör zu. Ich erzähle sowas
nicht gerne, nicht oft, aber du hast es geweckt, jetzt
hörst du zu!“
Marcel setzt sich und fragt ernst, „in Ordnung, was
ist passiert, was ist mit deinen Eltern, hast du
Geschwister?“ „Ich - hatte einen Bruder und eine
Schwester.“ Bei diesen Worten senkt sie ihren Kopf,
ihre Haare fallen ins Gesicht, dann hebt sie es
langsam, als Marcel weiter fragt, „was ist mit ihnen
passiert?“ und sieht ihn von unten aus ihrer Tiefe
dunkelgrün an und fragt, „hast du Geschwister?“.
„Ne.“ Eine Stille setzt ein, die Temperatur des
Raumes scheint stark gesunken zu sein. „Es kam
eine Horde Söldner durch unser Dorf, die haben
Leute einfach so umgebracht,“ sieht ihn verzerrt
faltenwerfend an und ergänzt leise, „vergewaltigt. Mein Vater wollte uns beschützen, ich war noch
ziemlich klein.“ Nun scheint ihr Redefluß ins Rollen
zu kommen, da sich ihre Zunge fast überschlägt bei
Oliver Droste 126
Irgendwo in Nirgendwo
kurzen, abgehackten Wörtern. „Meinen Vater haben
sie halb totgeschlagen und meine Mutter und meine
Schwester vergewaltigt, dann haben sie meinem
Vater einfach die Kehle durchgeschnitten. Meine
Mutter ist dann durchgedreht. Meine Schwester hat
es nicht überlebt. Sie war erst 14 und wurde - ahrrr
totgefickt.“
Marcel friert, er zittert und starrt vor sich hin,
schweigt entsetzt aus Fassungslosigkeit. Emira
zittert mehr und nimmt wieder eine Tablette. Ihr
Blick verliert die Glut, wird stumpfer und glasig.
Der Wolfsschatten dunstet mit den ersten
Sonnenstrahlen, die durchbrechen; von der Anlage
kommt ein Lied von Bush „Greedy fly“. Marcel hört
auf den Text und versteht das Feeling von grunge
bei der Textstelle, „I need help ...“. Er träumt vom
Krieg, wie sauber er durch die Medien kam, mit so
estethischen Worten beschrieben, wie dem
anscheinend
dem
französischem
Vokabular
entliehenem ‚Bombadement‘ oder den für
versehentlich die Zivilbevölkerung getroffen
benutzten ‚Kolateralschäden‘. Ja, wenn man das
Vokabular so abstrakt gestaltet, dann kann es das
Gewissen nicht mehr ergreifen; man glaubt, ein
sauberes zu haben, aber sie haben dann gar keins
mehr. Marcel kommt vom Abstrakten wieder zum
Greifbaren, „deine Mutter lebt noch?“.
Emira antwortet heiser „ja“ und reuspert sich, „sie
ist in der Psychiatrie hier in der Stadt. Hab’ sie letzte
Woche besucht, hätte ich nicht tun dürfen. Dort
wirst’e wirklich verrückt, wenn du es nicht schon
Oliver Droste 127
Irgendwo in Nirgendwo
bist, zwischen den ganzen Verrückten. Das glaubst
du nicht, was da für Gestalten rumlaufen.“ „Und wie
geht es jetzt weiter; wird deine Mutter bald
rauskommen?“ fragt Marcel, als ob der Mensch so
und soviel Jahre bekommen hätte und dann aus
seinem Gefängnis herauskommt. Doch das
Gefängnis ist in diesen Menschen. Emira weiß das,
als sie antwortet, „ne, das soll wohl hoffnungslos
sein. Und wo soll sie denn dann hin? Alleine kommt
sie nicht zurecht und bei Bea und mir ist kein Platz.
Ich könnte das auch nicht. Wir würden uns beide
runterziehen.“ „Ganz schön beschissen alles“
bemerkt Marcel; er wird nervöus, sein Blut pulsiert
nach einer Lösung, doch es findet sie nicht. Was
wird den Menschen angetan, was für Wracks
hinterläßt diese Zivilisation? Emira ist ärgerlich über
keine Lösung, „du weißt doch gar nicht, wie es da
zugeht“. „Ganz so blöde bin ich auch nicht“
verteidigt sich Marcel. „Warst du schon mal in einer
Psychiatrie?“ „Nö, aber ich kann ja mal mitgehen,
wenn es Dich nicht stört.“ Emira überlegt kurz
dieses Angebot, „klar können wir machen“. „OK,
wann?“ Marcel ist entschlossen. Doch Emira ist
entschlossener, „wir können doch jetzt gehen. Mir
geht es jetzt ganz gut. Ich darf es nicht verdrängen,
sagte der Arzt; es kommt sonst immer wieder. Bald
werde ich einen Platz bekommen, um von den
Tabletten und so, wieder wegzukommen.“ Marcel
geht das etwas schnell, „jetzt willst du gehen? Du
bist ziemlich spontan“. Wer keine Vergangenheit
mehr hat, da er sie verdrängt hat, hat auch keine
Oliver Droste 128
Irgendwo in Nirgendwo
Zukunft, da die Erfahrung gezeigt hat, daß
unerwartet immer etwas Schreckliches geschehen
kann, der ist spontan. „Ich nehme den Tag, wie er ist
und heute ist er gut, das fühle ich.“
Marcel stellt sich schnell auf diese Situation
prakmatisch ein, „wir können mit dem Motarrad
hinfahren, einen zweiten Helm und einen Nierengurt
habe ich noch“.
Bei dem Gedanken wird Emira lebhafter, Freude
verdrängt die Dunkelheit der Vergangenheit, wie die
Sonnenstrahlen die Schattenwolken des Zimmers
verdampften. „Oh ja, ich wollte schon immer mal
auf dem Motorrad fahren.“ Marcel und Emira
räumen den Tisch ab und gehen raus.
So spontan, wie Emira ist, ändert sich auch ihr
seelisches Gleichgewicht, sie lebt wieder und kann
sich an den kleinen Dingen erfreuen. Eine seltene
Gabe, dafür aber kurzlebig. „Riechst du die Luft?
Heute ist sie so frisch, so sanft.“ „Ja, herrlich. Ist es
die große Klinik in der Innenstadt, mit dem Park
die?“ „Ja, genau.“
Marcel nimmt das Motorrad vom Ständer, tritt es an.
Auf seinem Motorrad ist er der Drachentöter, der die
Drachen dieser Gesellschaft feuerspuckend,
donnernd erschlägt. „Gut, setz dich, hier hinten sind
deine Fußrasten, mußt dich gut festhalten, hier hinter
dir am Griff.“ Emira denkt über diese merkwürdige
Sitzposition nach, wie unpraktisch sie ist. „Hinter
meinem Rücken? Wenn ich runterfalle verdreh‘ ich
mir die Arme und kann mich nicht festhalten. Ne,
darf ich mich nicht an dir festhalten?“ Das ist das
Oliver Droste 129
Irgendwo in Nirgendwo
Schöne am Motorradfahren, denkt er, „klar“ und
fährt langsam los, den Schalk im Nacken. Emira
hält sich locker fest. Marcel gibt etwas ruckelnd
Gas, als wenn er Kanguruhbenzin getankt hätte, so
daß sich Emira etwas fester halten muß, beide
grinsen aus gleichem Grund. Sie fahren durch die
Stadt, frei.
Oliver Droste 130
Irgendwo in Nirgendwo
XVII
Die Irrenanstalt und zwei Hände
Marcel, Emira, Mutter, Pfleger, Arzt, Schwester,
Verrückte.
Marcel und Emira kommen im Krankenhaus durch
den Haupteingang. „Wo müssen wir hin?“ fragt
Marcel und sieht Emira an. „Ich weiß, hier lang und
mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock.“ Emira
geht zielstrebig voran; sie steigen in den Fahrstuhl.
Dort sieht Marcel Emira durch den Spiegel an und
fragt, „wie lange hast du deine Mutter nicht mehr
gesehen?“. „Ich weiß nicht.“ „Du mußt doch wissen,
wann du das letzte mal hier warst.“ Marcel sieht sie
etwas verständnislos an; eine so lockere
Familienbindung ist ihm unverständlich.
Emira überlegt wirklich angestrengt. Ihr gefällt das
schlechte Gedächtnis auch nicht, es macht ihr angst.
„Ich weiß nicht, vielleicht vor ein paar Monaten oder
so.“ „Aber auf der Station ist sie noch, wo wir
hinfahren?“ „Ich hoffe.“
Der Fahrstuhltür öffnet sich, sie steigen aus, gehen
durch den Flur und klingeln an einer schweren
Glastür. „Ist ‘ne Geschlossene. Die kommen gleich
und schließen die Tür auf“ erklärt Emira. Nach
einiger Zeit kommt ein Pfleger und öffnet. Marcel ist
es etwas unwohl.
Der Pfleger sieht sie an und wünscht einen „guten
Tag“. Emira wartet die Frage nicht weiter ab,
Oliver Droste 131
Irgendwo in Nirgendwo
sondern gibt gleich die Antwort, „hallo, wir wollen
meine Mutter besuchen“ und lächelt aus
Verlegenheit. Der Pfleger macht kein freundliches
Gesicht,
es
ist
ja
auch
kein
Dienstleistungsunternehmen und fragt unfreundlich,
als sei es eine Fließbandabfertigung, „wie ist der
Name?“. „Meine Mutter heißt Mirna Bladievic.“ Die
Frage, ob sie Angehörige sind hat Emira gleich
mitbeantwortet, so daß die Prozedur abgekürzt ist.
„Kommen sie rein, sie müssen kurz warten.“
Sie treten ein, der Pfleger schließt die Tür hinter
ihnen ab und geht ins Stationszimmer. Beide stehen
draußen. Da kommt ein junger Mann zu Marcel und
fragt ihn mit toten Augen, „hast du die Fliegen
gesehen?“. Marcel lächelt kurz, da er eine solche
Frage nicht erwartet hat, wird darauf wieder ernst,
da er nicht weiß, wie er mit der Situation umgehen
soll, „ne, hab’ keine gesehen“ und lächelt Emira
verlegen an, die es anscheinend nicht weiter
verwundert. Der Mann sieht Marcel aus fahlem
Gesicht starr an, „das ist der Teufel, der fliegt hier
irgendwo. Den darfst du nicht anfassen, sonst
infiziert er dich“. Marcel überlegt, was er mit einer
lästigen Fliege machen würde, „ich kann die Fliege
ja tothauen“. Die Lösung wäre zu einfach; der Mann
ruft entsetzt, „nein, nein, das darfst du nicht. Der
geht dann in deinen Kopf. Das darfst du nicht!“ „Ist
ja gut, ich tue keiner Fliege was zu leide.“ „Das
darfst du nicht. Askopal läßt dich dann nicht mehr
los, alle infiziert,“ er macht ausholende
Bewegungen, dreht sich um, „wo ist denn mein
Oliver Droste 132
Irgendwo in Nirgendwo
Engel? Hast du meinen Engel gesehen?“ Marcel
wird es unangenehm; in was für einer Welt lebt
dieser Mensch hier nur? Er weicht etwas zurück und
antwortet „ne, hab’ ich auch nicht gesehen“. „Ich
muß den Engel suchen“ und blickt zu Emira, „bist
du ein Engel?“. „Ich bin bestimmt kein Engel, die
sind im Himmel.“
Der Mann schüttelt den Kopf, zerwühlt sich das
Haar und schüttelt sich dann ganz, „nein, nein, ich
muß ihn finden. Der war vorhin noch da. Ich muß
ihn finden“ und geht, mit sich selbst redend, mit
irrem Blick, in ein größeres Zimmer, wo
Betten stehen. Sein Blick fliegt ihm vom Gesicht
schräg durch das Zimmer, senkt sich dicht über
einen Patienten, der ins Leere der Zimmerdecke
starrt, von ihm weg, dreht sich durch den Raum,
fängt einen weiteren irren Blick und bunte Farben,
einen grellen Regenbogen, um wieder in den Flur zu
Emira und Marcel zu gelangen, wo er zu Boden fällt.
Marcel sieht Emira an, „oh Mann, hier würde ich es
nicht aushalten“. „Da gibt es noch schlimmere.“
„Scheiße.“ Man hört Schreie. Der Pfleger kommt
und sagt im Vorbeigehen zu den beiden Wartenden,
„setzen sie sich doch bitte dort drüben hin; ich hole
ihre Mutter sofort“. Sie setzen sich. Kurze Zeit
später kommt der Pfleger mit der Mutter zurück.
Emiras Mutter ruft, als sie ihre Tochter erkannt hat
voller Freude, „hallo, hallo, du bist gekommen“,
geht zu Emira und streicht ihr mit der Hand durchs
Haar. „Wo ist Michaela, wollte sie nicht kommen?“
„Michaela ist tot, Mama.“ Die Mutter sieht sie etwas
Oliver Droste 133
Irgendwo in Nirgendwo
streng an, „sag sowas nicht. Nur weil sie sich etwas
verspätet“ und streicht ihr wieder durch das Haar.
„Wie geht es dir Mama.“ „Gut, gut geht es. Es geht
mir hier gut“, sie lacht kurz auf, „alle sind so nett.
Ich krieg Tabletten. Alle sind so nett.“
Ein älterer Herr in weißem Arztkittel kommt vorbei,
hält einen Papierbogen in der Hand, bleibt bei
Marcel stehen, sieht ihn kurz mit Haifischaugen an
und erklärt ihm, auf seine Unterlagen verweisend,
„da haben wir es, schizophriede Hirnhormone,
gehören sie zur Art der paranoiden Entropide, oder
haben sie nur den Anschein?“ er schlägt Marcel kurz
vor die Brust, als er bemerkt, daß dieser fragend zu
Emira sieht, um sich seiner Aufmerksamkeit wieder
zu bemächtigen, um weiter auszuführen, „können
doch auch schizophriede Metaphide sein.“ Marcel
sieht ihn nicht in die Augen, sondern auf das Papier,
„bitte? Ich weiß nicht wovon sie reden; ich bin nur
zu Besuch hier.“ „Na, wie reagieren wohl
schizophride
Entropide
bei
reiner
Temperaturerhöhung von 0,00014 hoch –1/3
Megagrad Bensonheit? He? Die Kreisverbindungen
im elyptischen Elektronenstrom verhalten sich
transnuklear rapide.“ Er sieht wieder in die Papiere,
schlägt Marcel wieder vor die Brust, dem langsam
unwohl wird und fährt fort, „Aha, die tangentalen,
permeablen,
rhombischen
Epylaxenparaphide
verhalten sich schizophride“ und schlägt mit seinem
Zeigefinger auf die Papiere, „hypertransgallaktisch
genau“. Der Pfleger kommt wieder vorbei und sieht
den Weißkittel dort stehen. Er faßt ihn unter den
Oliver Droste 134
Irgendwo in Nirgendwo
Arm und redet ihm zu, „kommen sie her Proffessor,
wo haben sie denn wieder den Kittel her, den sollen
sie doch nicht mehr anziehen und die Leute
belästigen. Der Proffessor reist sich ruckartig aus
dem Griff, stampft mit dem Fuß auf, daß sein
Grauhaar bebt und schreit den Pfleger an, mit den
Papieren in der Luft wedelnd, „die hyglisierende
Neosakrealequlente
zeigt
eine
halluzinöse
Schizophrie-hyperventilierung
megapolypherierendes
negamoschus
Paranoid,
dürfte keine makromilitangene Nebenreaktion
zeigen.“ Der Pfleger greift ihn fest am Arm, eine
weitere Schwester kommt dazugelaufen und faßt mit
an. Der Pfleger dreht dem alten Mann den Arm auf
den Rücken und sie führen ihn ab. Der weißkittelige
Grauhaar schreit, „da haben wir die Schoon’sche
Gemipinisakralreaktion
nicht
beachtet.
Transzendentale interfekal Schwufftilierung tendiert
zur Melancholie-Interaktion der fraktionären
Anakraft des spermeastischen Finalsatzes.“ Der
Pfleger fragt ihn, „haben sie heute wieder ihre
Medizin nicht genommen? und sagt zur Schwester,
„hol doch gleich mal sein Haldol“ und sie
verschwinden im Zimmer. Die Schwester kommt
zurück und sagt entschuldigend im vorbeigehen, „tut
mir leid, das hat er wohl mal, das haben wir gleich;
er hat wohl zuviele Tierversuche an Affen gemacht,
war Leiter des Primateninstituts“ und verschwindet
wieder.
Emira sieht wieder ihre Mutter an und zeigt auf
Marcel, der etwas verwirrt umherblickt, „das hier ist
Oliver Droste 135
Irgendwo in Nirgendwo
Marcel, ein guter Freund“. „Hallo, Marcel“ sagt sie
und nimmt seine Hand und nimmt Emiras Hand und
legt sie zusammen, sieht Marcel in die nervösen
Augen, wobei sein Blick ruhiger wird und bemerkt
weiter, „du bist auch nett. Sei nett zu meinem
kleinen Mädchen. Paß gut auf sie auf. Sie darf sich
niemals verspäten. Du mußt auf sie aufpassen“. „Das
werde ich.“ Emira legt ihre Hand auf die Schulter
ihrer Mutter, „er paßt auf mich auf, Mutter; er hilft
mir“.
Die Mutter lächelt Emira an und fragt, „wo ist Papa?
Er kommt nicht. Er verspätet sich auch. Ich bin böse
auf ihn“, sieht zu Marcel und lächelt weiter, „aber
ihr seid gekommen“. Sie drückt ihre Hände
zusammen. Paß auf mein kleines Mädchen auf.
Marcel fühlt die Wärme, „das tue ich“.
Emiras Mutter steht auf, „ich muß jetzt gehen. Ich
muß fernsehen“, worauf sich alle von den Sesseln
erheben; die Mutter dreht sich ihnen nochmals zu
und nimmt noch mal Marcels und Emiras Hand und
sagt zu Marcel, „du darfst sie doch nicht loslassen.
Du mußt auf sie aufpassen. Laß sie nicht los, das ist
so gefährlich, versprich mir das!“ Marcel lächelt,
eine Freude, die er ihr gerne macht, die ihn erfreut,
„ich verspreche es“. Die Mutter dreht sich und geht
mit sich selbst redend, „doch nicht loslassen“ und
schüttelt den Kopf, „nicht loslassen!“ und
verschwindet im Hintergrund, im Weiß der Wände,
das sie verschluckt.
Emira ist nun ziemlich kaputt, von innerlichem
Kampf ermüdet, „ich will hier raus“.
Oliver Droste 136
Irgendwo in Nirgendwo
Beide gehen Hand in Hand zur Tür. Marcel faßt ihre
Hand fester, da er merkt, wie sie zittert. Vor der Tür
drehen sie sich und winken dem Pfleger, daß er sie
öffnet.
Beide gehen.
Oliver Droste 137
Irgendwo in Nirgendwo
XVIII
Von Mondstaub und schwebendem Tanz
Marcel, Roland, Emira, Joel, Maike, zwei Polizisten.
Der Wind weht an diesem Spätnachmittag schwer
durch die Gassen, um sich duftbeladen durch die
Fenster in ein verrauchtes Zimmer zu lassen, dort
durch die Nase eine Synapsapenverknüpfung zu
schaffen, der neie Ideen entfliehen, sich in Horizonte
verlieren, die geöffnet eine weite Reise durch
Traumlandaugen
inszenieren.
0815Stadtvogelgesang
verbindet
es
zu
einer
Großstadtidylle, die Marcel in seine Phantasie
abschweifen läßt. Er sitzt in seinem Zimmer am
Schreibtisch und kritzelt in einem Stapel loser
Blätter herum. Ab und zu hebt sich sein Kopf und er
sieht durch das Fenster hinaus, durch die
Häuserfassade in eine innere Weite, kaffeetrinkend.
Eine Haustür fällt ins Schloß, Schritte nähern sich
und Marcels Zimmertür öffnet sich. Roland tritt ein,
in alter verwaschener Jeans, einen grauen
Kapuzentroyer tragend und wirft einen Stapel
Kopien vor Marcels Nase, „hier, ich habe dir die
Skriptkopien mitgebracht“.
Marcel dreht sich ihm, in seinem Schreibtischstuhl
zurückgelehnt, zu, fragt mit schlechtem Gewissen
nach Beruhigung des selbigen, „und hab‘ ich heute
was verpaßt?“.
Oliver Droste 138
Irgendwo in Nirgendwo
Roland nimmt eine wichtige Haltung und ein ernstes
Gesicht an, „war alles klausurrelevant. Der Prof. hat
uns einige Tips gegeben.“
„Mach keinen Scheiß“ sieht ihn Marcel ungläubig,
aber blauäugig und somit leicht zu verarschen, an.
„Ach, hätte ich mir heute auch sparen können, hätte
genausogut im Bett bleiben können“, lockert Roland
die Atmosphäre wieder.
Marcels Augen werden wieder heller, „ah, danke,
das wollte ich hören. Haste was mitgeschrieben?“.
„Ja, aber steht auch alles im Skript, hab ich dir auf
deinen Schreibtisch gelegt.“ „Jo, danke.“
Gut kopiert und gut sortiert ist halb studiert, ist
Marcels Devise. Wenn einer von beiden die
Vorlesung besucht und mitschreibt, braucht man nur
die halbe Vorlesungszeit zu besuchen. Hat man eine
gute Quelle für gute Mitschriften und organisiert
sich die Skripte bzw. Bücher, kann man die
gewonnene Zeit auch mit Arbeit und Party machen
sinnvoller verbringen. Der Streß kommt für Marcel
und Roland erst immer kurz vor den Klausuren und
Prüfungen, wo sie sich jedes Semester aufs Neue
schwören ‚aber nächstes Semester fangen wir früher
an zu lernen‘, was sich bei ihrer mangelnden
Disziplin natürlich zu Beginn der Prüfungszeit
regelmäßig, einer
Gesetzmäßigkeit
folgend,
wiederholt.
Roland setzt sich auf Marcels Schreibtisch und fragt,
„was läuft denn heute abend? Wo wollen wir uns
treffen?“, womit er ihr Hobby anspricht, sich in
Oliver Droste 139
Irgendwo in Nirgendwo
Literatur zu versuchen, jedoch mit dem nötigen
Spaßfaktor (gaudeamus igetur ...).
„Wir fahren erst mal runter zum Markt und wollen
von da weiter. Aber ein genaues Ziel hatten wir noch
nicht festgelegt. Weißt ja, wie spontan das immer
läuft.“ Organisierter Spaß ist nur halber Spaß.
„Wollen wir wieder in die alte Fabrik?“ Marcel
überlegt kurz, „weiß´nicht. Heute ist es eigendlich
viel zu schönes Wetter, als daß wir in so ‘nem
Kellergewölbe hausen sollten“ und sieht zum
Fenster hinaus, die schwere Luft zu besehen.
Roland denkt ähnlich und kommt auf eine bessere
Örtlichkeit, „wie wäre es mit der alten Burgruine?“.
„Ich weiß nicht, ist da nicht zuviel Tourismus?“
„Abends ist da doch fast nichts los. Außerdem ist
Publikum doch gar nicht so schlecht, oder?“
„Stimmt. Wir können eigentlich wieder ein
Lagerfeuer machen; oder wir besorgen ein paar
Fackeln, das bringt Stimmung.“ „Und was zu
trinken“, bringt Roland, eines der wichtigsten
Gründe für ein solches Treffen, vor.
Dem kann sich Marcel auch nicht verschließen und
nimmt die Organisation gleich in die Hand „mach
ich“, was für sein logistisches Talent spricht und
fügt hinzu, „ich freue mich schon darauf, was Neues
zu hören, was die anderen gemacht haben“.
Roland interessiert sich nun aber auch dafür, wie
Marcel den Vormittag verbracht hat, wollte aber
nicht gleich so aufdringlich sein und mit der Tür ins
Haus fallen. Nun überkommt ihn aber der fast
verflogene Gedanken wieder, als er neben sich auf
Oliver Droste 140
Irgendwo in Nirgendwo
dem Schreibtisch in den Papieren stöbert, so daß er
Marcel künstlich beiläufig fragt, „was habt ihr denn
heute eigendlich so getrieben?“.
Marcel bemerkt nicht die unterschwellige Eifersucht
in Rolands Frage, als er antwortet, „wir waren noch
ihre Mutter im Krankenhaus besuchen, in der
geschlossenen“.
Roland versucht es freundschaftlich mit einem
abgegriffenen
Spruch,
„bist
ja
wieder
rausgekommen, hatten wohl keinen Platz für ’nen
verrückten Dichter, was?“ und grinst.
Marcel wird wieder ernst, sich an die Vorkommnisse
in dser Psychatrie erinnernd; das Lichtlachen
entweicht aus seinen Augen, „na, das war nicht
besonders lustig. Das muß ganz schön schwer für
Emira sein, ihre halbe Familie auf diese grausame
Weise verloren zu haben“.
Um das nicht den erwünschten Erfolg zeigende
Thema zu wechseln kommt Roland auf das freudige
Ereignis, das Marcels Gedanken sicher wieder
schweifen läßt, „mhm, heute abend kannst du ja
erzählen, daß du Nachricht vom Verlag hast und die
Einladung zur Lesung nach Berlin“.
Es klappt. „Ja genau, in die Höhle des Löwen. Berlin
ist doch die Kunststadt überhaupt. Da mußt du schon
ein etwas durchgeknallter Künstler sein, um da
anzukommen, denke ich.“
„Ja, Berlin, Paris, Rom, Wien“ spinnt Roland die
Träumereien weiter.
„Paris“ hebt Marcel in Erfurcht an, „das ist die
Kunststadt überhaupt. Da waren schon alle großen
Oliver Droste 141
Irgendwo in Nirgendwo
Künstler. Irgendwann fahre ich da hin.“ „Klar, da
machen wir mal am Ende der Semesterferien eine
Motorradtour hin, wenn wir genug verdient haben.
Da nehmen wir die anderen mit, die auch Motorrad
fahren.“ Roland freut sich auf eine Tiur mit seinem
besten Kumpel und sieht sich schon Easy-Ridermäßig durch die französische Landschaft jagen.
Marcel hegt diesen Traum auch schon eine
Ewigkeit, jedoch filigraner, „und wir müssen über
Amsterdam fahren und in das van Gogh-Museum
gehen, unbedingt. Monet will ich sehen und zum
Grab von Jim Morisson. Wenn man schonmal in
diese Länder fährt, muß man alle die großen
Künstler sehen, die wir hier im Original nie zu sehen
bekommen“.
Das Realitätsbewißtsein und etwas mangelnde
Spontanität äußern sich bei dem Realiste Roland in
wiederholtem
Ansprechen
der
finanziellen
Probleme, „aber erst mal müssen wir in den
Semesterferien malochen. Mein Motorrad braucht
einige Ersatzteile“. So kommt auch Marcel wieder
zurück von seiner Geistesreise, „ich brauch auch
noch ‘n neuen Reifen, ‘ne Kette und ‘n
Kettenritzel“. Nun fällt Roland ein, „bei meiner
Mühle wird TÜV bald fällig“ und rechnet schon
hoch, was ihn das kosten wird.
Nun kommt Marcel auf Rolands wunden und
gefürchteten Punkt zu sprechen, „ich frag Emira, ob
sie auch mitkommt“.
Das trifft Roland tief, sein ganzer Urlaubselan macht
der Eifersucht platz, „Mann, Emira, Emira, Emira.
Oliver Droste 142
Irgendwo in Nirgendwo
Kannst du auch noch an was anderes denken? Laß
uns alleine fahren, dann können wir richtig Spaß
haben. Du hast dich doch nicht in diese Verrückte
wirklich verknallt?“. Nun hat sich Roland verraten
und Marcels Leidenschaft verletzt, der sich
vehement wehrt, „und ich kann dein scheiß
Verrückte, Verrückte, Verrückte auch nicht mehr
hören! Sie wird schon wieder“.
Roland sieht das jedoch nicht ein, sondern anders,
„gibt es da einen vernünftigen Grund für?“ schaukelt
er die Diskussion hoch. „Klar gibt es den“ läßt sich
Marcel ebenfalls dazu hinreißen. „Und?“ fragt
Roland fordernd.
„Na“ überlegt Marcel, „sie sieht so toll aus und
irgendwie alles und - es hat mich voll erwischt und
ich kann nicht sagen warum. Es paßt irgendwie
alles“.
„Das ist ein Grund“, entgegnet Roland voller Ironie,
die Marcel nicht bemerkt, als er sich bestätigt sehend
sagt, „siehst du, sag ich doch“.
Die Blauäugigkeit verletzt nun langsam Rolands
Realismus, „Mann, werd vernünftig. Diese Emira
findest du vielleicht gutaussehend; ich meine, ist ja
schon’n Gerät, so optisch ‘ne 8 oder 9, aber eben
total durchgeknallt. Was da mit den Skinheads
gelaufen ist. Mensch, was ich da gehört habe. Wer
weiß, was sie dazu treibt, sich mit solchen Killern
anzulegen, die hat doch kein Realitätsgefühl.“
Marcel bemerkt nun die Falle und ärgert sich, „ach,
du spinnst doch. Jetzt hör auf. Weißt du was? - Ich
kann mir nicht helfen, ich weiß ja, daß das alles
Oliver Droste 143
Irgendwo in Nirgendwo
irgendwie merkwürdig gelaufen ist und vielleicht
keinen Zweck hat, also vom Verstand aus, aber - ich
es hat mich total erwischt. Du weißt ja nicht, wie das
gelaufen ist.“
Roland verfällt nun dem Sarkasmus, da er Marcel
nicht versteht und ihre Freundschaft durch diesen
Fremdkörper gestört sieht, „oh, ja? Wie heißt sie
denn, kenn ich sie?“ und springt vom Schreibtisch
auf, um der freundschaftlichen Ferne auch die
optische zu verleihen.
„Ach, du bist doch ... . Ich find das jetzt nicht sehr
komisch. Das ist nämlich ein Problem. Du hast mal
hier ‘ne Freundin, mal da; bei mir ist das aber
anders. Ich mein es ernst. Wenn ich mich verliebt
habe, dann soll das für’s Leben sein. Da bin ich
irgendwie konsequenter.“
Das trifft nun Roland hart, der seine
Beziehungskisten in einem anderen Licht sieht, „was
soll das heißen? Denkst du, mir geht alles am Arsch
vorbei, oder was?“.
Die Diskussion nähert sich weiter
der
Unsachlichkeit und dem Verletzendem, als Marcel
in die Offensive geht, „du wechselst doch deine
Freundinnen, wie ...“.
Als sich das Blatt wendet und Roland in die
Verteidigung gehen muß wird er agressiver, „nun
werd’ mal nicht polemisch“.
Es klingelt an der Tür, beide schweigen.
Roland überwindet als erster die Sturheit, „komm, es
hat keinen Zweck. Jeder hat seinen Privatbereich.
Oliver Droste 144
Irgendwo in Nirgendwo
Ich kümmere mich nicht um deinen und du dich
nicht um meinen, was Frauen betrifft“.
Es klingelt wieder.
„Ist in Ordnung“, nimmt Marcel den Vorschlag an,
geht zur Tür und öffnet sie; Emira steht dort.
Marcel ist erstaunt über das plötzliche und
unverhoffte Wiedersehen, „oh, hallo. Wie geht es
dir?“. „Danke, es geht“ antwortet Emira und sieht zu
Rolamnd, der im Flur steht, „hallo Roland“.
Roland kann sein Desinteresse und Ärger über die
Zeit, die Marcel jetzt in eine andere Freundschaft als
die ihrige investiert, nicht so gut verstecken, da der
Konflikt noch zu kurz zurückliegt, „Tach“.
„Komm rein“ lädt Marcel freundlicher ein.
Emira sieht Marcel etwas verstört, den feindlichen
Unterton sensibel bemerkend, an und erklärt
entschuldigend, „ich brauch ein wenig Ablenkung,
Marcel“.
Marcel sieht Roland böse an und lädt Emira
freundlich ein, „laß uns in meine Bude gehen“ und
sie gehen. Etwas unsicher erwähnt Marcel noch das
Chaos in seinem Zimmer, „ist aber nicht gerade
aufgeräumt“, läuft zu einem Haufen mit Wäsche und
schiebt sie mit dem Fuß unter das Bett.
„Macht nichts, hab’ mich ja auch nicht angemeldet“
hilft ihm Emira.
„Warte“ entgegnet Marcel, nimmt einige Bücher und
Papierkram von einem alten Sessel und macht Musik
an. Bob Dylans „One more coffee before I go setz
dich“ ertönt, was Marcel zu einer Einladung zu eben
diesem verpflichtet, so daß er diese Weinladung
Oliver Droste 145
Irgendwo in Nirgendwo
ausspricht, „willst du einen Kaffee, ich mach’
sowieso welchen, oder was anderes?“. „Ja, gerne.“
Marcel
stellt
in
seinem
Zimmer
eine
Kaffeemaschine an.
Er versucht nun ein Gespräch zu beginnen, hat aber
Angst, daß es nur ein Smalltalk wird, als er beginnt,
„ist doch komisch, wir haben beide einen
französisch klingenden Namen“.
„Stimmt, habe ich noch gar nicht dran gedacht.“
Marcel überlegt angestrengt, ‚wie kann ich nur ein
gutes Gespräch beginnen?‘ „Was ist los, du siehst
traurig aus?“ beginnt er, verständnisvoll blickend.
Eine kurze Pause setzt ein. Marcel sieht Emira mit
seinem durchdringenden Blick an, bemerkt ihre
Unsicherheit, die auf ihn zurückfällt. Emira gibt aber
nach, „ach, es kommen immer wieder diese
Erinnerungen und Bilder“. Sie überlegt, ob ihre
Sympathie ihre Offenheit rechtfertigen würde; sie
geht bei diesen Überlegungen aber weniger von
Vernunft aus, als von Vertrauen zu diesem
Menschen mit den ehrlichen Augen, wenn es
soetwas gibt, vielleicht es mehr der Blick; „ich
mußte irgendwas machen, sonst wird es immer
schlimmer. Und diese Medikamente helfen auch
nicht, die schießen einen nur ab“.
Das ist für Marcel eine einladende Überleiutung zu
der geplanten Abendunterhaltung, „heute abend
kannst du etwas Ablenkung an der alten Burgruine
finden. Wir treffen uns da und machen ein bisschen
Party und lesen Gedichte und machen etwas Musik.“
Oliver Droste 146
Irgendwo in Nirgendwo
Das Gespräch gerät in einen Fluß. Marcel atmet auf
und die Stimmung lockert sich, als Emira anfügt,
„das klingt ja gut. Besser als zuhause rumzusitzen“.
„Oder vor der Glotze abzuhängen“, steigt Marcel
begeistert ein. „Oder in die Disco zu gehen“,
bemerkt Emira.
Marcel ist nun nicht mehr zu halten, die Zunge löst
sich, „ja, genau. Was hat denn das Leben sonst zu
geben. Fernsehen, Disco, Video, Kino oder Kneipe.
Das kann doch nicht alles gewesen sein. „
„Da war das bei uns in meiner Heimat früher besser“
erinnert sich Emira, „da gab es noch richtig
Tanzveranstaltungen mit Lifemusik von so einer
Tanzkapelle“. „Oh, so mit schwofen und auffordern“
witzelt Marcel.
„Man konnte sich jedenfalls unterhalten und hatte
am nächsten Morgen kein Pipen in den Ohren.“
„Klingt aber ganz schön altmodisch.“ „Da konnte
man noch Leute kennenlernen. Und es war eher
romantisch.“ Das Argument kann Marcel nicht von
der Hand weisen, „tja, das gibt es heute hier nicht
mehr. Das soll es wohl vor dreißig Jahren hier
gegeben haben, hab’ ich mal in ‘nem alten Film
gesehen.“ „Das gibt es heute in meinem Land auch
nicht mehr, leider!“ Emira wird bei dem Gedanken
an ihre verlorene Heimat traurig. Sie ist ihr für
immer verloren gegangen, so wie ihre Erinnerung an
die schönen, vergangenen Tage.
Marcel will die Situation retten, „vielleicht sollten
wir von was anderem reden“.
Oliver Droste 147
Irgendwo in Nirgendwo
„Es erinnert mich aber so viel an meine
Vergangenheit“ wehrt Emira ab. Marcel ergibt sich,
„was kannst du dagegen nur machen?“. „Ich muß
damit fertigwerden. Das sind eben so Phasen, wo ich
so down bin.“
„Oh, der Kaffee ist fertig,“ bemerkt Marcel am
Blubbern der Kaffeemaschine, „ich hole eben
Tassen aus der Küche“ und geht. Der Duft der
frischen schwarzen Brühe durchsteigt den Raum.
Emira sieht sich im Zimmer um, nimmt ein paar lose
Zettel vom Fußboden und liest. Marcel kommt
zurück.
Marcel sieht Emira über die Schulter in die Blätter
und erklärt, „oh, das sind ein paar Gedichte, die ich
an ‘ne Zeitung geschickt hatte. Hab’ ich dir schon
gesagt, daß ich nach Berlin eingeladen bin. Ich kann
da was lesen und suche mir gerade was Gutes raus,“
was sie dann auch macht. Marcel setzt sich auf sein
altes Sperrmüllsofa, trinkt Kaffee und zündet sich
eine Zigarette an, da er nervöus ist, wie wohl Emiras
Urteil ausfallen wird.
Ihr Kopf scheint in ihren Haaren versunken,
versunken im Lesen. Sie blättert und liest etwas
anderes. ‚Was liest sie nur gerade?‘ Diese
Ungewissheit läßt ihn intensiver rauchen. Emira
scheint seinen Gedanken aufgefangen zu haben, als
sie erklärt, „das ist ja schön. Wie kommst du auf
sowas? Interessante Bilder sind darin.“
Das erleichtert Marcels Spannung, „das freut mich,
daß es dir gefällt. Ich will unbedingt Bilder im Leser
erzeugen,
will
Stimmungen und
Gefühle
Oliver Droste 148
Irgendwo in Nirgendwo
rüberbringen, oder manchmal Themen irgendwie
ausdrucksstark verpacken, die mich beschäftigen.
Lies ruhig, es interessiert mich, was du darüber
denkst.“ „Das gefällt mir“; sie steht vom Sessel auf
und setzt sich auf den Fußboden, wo sie noch mehr
Zettel aufhebt.
Marcels Nervöusität läßt seinen Blick im Raum
herumspringen, wo er noch mehr Unordnung in
seinem Chaos entdeckt, „äh, ja, ich hab’ nicht mit
Besuch gerechnet, nicht gerade aufgeräumt.“ Emira
hört nur noch halb hin, legt sich auf den Fußboden
und liest weiter, „Ist mir doch egal“.
Marcel drückt die Zigarette aus und steht vom Sofa
auf, steigt über Emira an seinen Schreibtisch, fährt
den Computer hoch, knippst einen Beamer an und
startet ein visuelles Programm, das Musik in
abstrakte Formen farblich wandelt. Diese
Farbenspiele richtet er an die Decke und startet eine
CD von Kula Shaker, indische Klänge verformen
sich in E-gitarrensound mit melodischem Gesang.
Marcel sieht zu Emira zu Boden; Der sterbende Tag
zerfließt blutend am Horizont in Feuerquallenfarben,
die in Marcels Zimmer schatten. Alles verwandelt
sich in warme übernatürliche Energiefarben, zum
Kontrast der Deckenspiele. Marcel legt sich dann zu
Emira und ließt die Überschrift eines Gedichtes, um
es schnell zu Überfliegen und zu beurteilen, „oh, das
finde ich auch ganz gut“, was er nicht zu jedem
seiner Verse sagen kann.
Draußen wird es dunkler, die Dämmerung legt sich
mit ihrem Mantel über die Stadt, eine Singdrossel
Oliver Droste 149
Irgendwo in Nirgendwo
auf einem hohen Ast des Straßenbaums und singt
Carusos Reinkarnation, wovon in Marcels Zimmer
nichts zu hören ist, aufgrund der laufenden Musik
von P.J. Harvey. Marcel hat inzwischen Kerzen
angemacht und zum lesen auf den Fußboden gestellt.
Emira liest nun laut „Mondstaub: Ich lege Sterne in
dein Haar, Mars an deine Stirn. Du kleidest dich in
Wind, läßt Bäume weinen, Drachen fliegen, Feuer
spucken. Ich gehe durch korallenen Garten bloßen
Fußes, feuerquallenschwer, wartend auf den Wind.
Streiche den Mond in mein Haar, um Gezeiten zu
rufen, mit der Flut zu gehen. Ein fallender Stern
streift dein Gesicht, schlägt in mein Meer. Ich sah
ihn tauchen, Düfte dampfend ersaufen, fasse ihn am
Schweif und rieche dein Gesicht in seinem Stein.“
Emira schweigt, dreht ihren Kopf zu Marcel, streicht
ihr Haar aus dem Gesicht und funkelt grün in
Marcels Gletscheraugen, „das sind schöne Bilder“.
Marcels Augen beginnen nun den Himmel zu
spiegeln in der Freude eines Kinderherzens. Dieses
Urteil war ihm besonders viel wert, „danke“sieht sie
tiefer an, fast bis an ihr Seelentor, das für ihn jedoch
durch Fremde verschlossen bleibt. Emira taucht
ebenfalls in seine Seen, um seine fliegende Welt zu
sehen, worauf er durch den salzigen Seehauch eine
Gänsehaut auf dem Arm bekommt, „deine Augen
sind interessant“ bemerkt, diese persönliche
Beschreibung erklärend.
„Grün.“
„Ist mir noch nicht aufgefallen.“
Oliver Droste 150
Irgendwo in Nirgendwo
Nun bemerkt Emira, „in deinen Augen sehe ich die
Kerze brennen“.
„Blau.“
„Ja, sehr.“
Ihre Augen flammen sich an. Schattenspiele ihrer
Finsternisse schwingen quantenspringend ineinander
und tanzen wild durcheinander, farvermischend.
Marcel erklärt ihr das gerade gelesene Gedicht. „Ich
habe dich das erste Mal in der Fußgängerzone
gesehen, als ich dort Gitarre spielte und später durch
einen wundersamen Zufall auf einer Fensterbank
singen gehört. Diesem Lied bin ich gefolgt bis an
eine verwachsene Mauer und kletterte in einen
Baum, dem Klang der Sirene folgend. In deinem
Haar war der Mond, als ich dich das erste mal
erblickte. Ich sah zu ihm auf und fand eine
Sternschnuppe fallend. Mars war die Wunde wie
Feuerquallen in deiner Stimme - seitdem brennt ein
Feuer, wie von Drachen gespien in mir. Ich lag in
einem Baum, der mich laubweinend in seinen
hölzernen Armen hielt und hörte dir zu.
Emira dreht sich auf den Rücken und sieht dem
Farbenspiel der Decke, zur Musik von P. J. Harveys
‚Missed‘, zu. Sie winkelt die Knie an und kann ein
Kichern nicht zurückhalten. Sie hat hier endlich
Frieden und Ruhe gefunden, die sie glücklich
machen. Es ist das erste Mal seit Jahren, daß sie
dieses Gefühl hat. Sie kann sich nicht erinnern,
wann sie das das letzte Mal so erlebt hatte. Sie dreht
sich zur Seite und holt aus ihrer Tasche einen
Tabakbeutel heraus, dem sie eine fertig gedrehte
Oliver Droste 151
Irgendwo in Nirgendwo
trichterförmige Zigarette entnimmt und sie ansteckt.
Sie möchte dieses seltene Gefühl verstärken. Marcel
dreht sich auch auf den Rücken und raucht mit. Sie
sehen beide in diese Farbenwelt und lassen sich
dorthin treiben, ihre Seelen fliegen und
aneinanderstoßen, durch den Raum tanzen. Sie tanzen zur Musik und schweben, zeitlos.
Ein neues Lied beginnt, „controlling my feelings for
too long ... they make me real ... trying to breath you
for too long ... make me dream ... make my
scream...“ ‚Showbiz‘ von Muse steigert sich im Gesang und dem Musiksound zu wilden Bildern, „... set
off distruction ...“. Sie wirbeln durch das immer
weiter werdende Zimmer und bleiben am Liedende
in ihren Armen stehen, um sich wieder in die
Traumaugen zu schauen.
Marcel möchte irgendwie seine innere Wärme nach
Außen tragen, sie in Emiras Hände legen, die er
ergreift und tief in sie eintaucht und den Anfang zu
machen sucht, „Emira?“ „Schsch“. Blau taucht in
Grün, Grün taut in Blau, in ein Farbensee. Ihre
Blicke schweifen von Auge zu Auge zu Mund und
duften im Schweif von Sternschnuppenkribbeln. Ihre
Gesichter nähern sich, bereit ineinanderzufließen.
Es klopft energisch an die Tür, Rolands
Eisenschlagstimme
ruft
drachenerschlagend,
„Marcel, sag mal, willst du nicht mitkommen?“ und
öffnet die Tür.
Roland sieht die beiden in einer surrealen
Farbenwelt im Raum schweben. „Oh, ich wollte
nicht stören“, doch mit dem gesprochenem Wort ist
Oliver Droste 152
Irgendwo in Nirgendwo
sie bereits eingetreten und Marcel und Emira fallen
zu Boden. Marcel, von der Realität wieder in
tentakelnden Empfang genommen weist Roland
sauer zurecht, „schon mal was von unpassend
gehört?“. Seine Augen nehmen eine gerötete Farbe
an, was das Blau wie einen Gewitterhimmel
erscheinen läßt.
„Sorry.“
Marcel sieht zu Emira, die noch zwischen den
Welten steht, „kommst du mit?“. „Ja, gerne.“ Sie
hofft auf die Wiederkehr dieses wärmenden Gefühls.
Roland geht, läßt aber die Tür offen und heißt sie in
der Welt willkommen „beeilt euch, wir sind schon
zu spät“.
Marcel ist sehr ärgerlich, daß sein Traumbild wie
eine nach der Explosion eine kühle Leere hinterläßt
und kommentiert, „manchmal könnte ich ihn töten“.
Emira erschrickt bei diesem Gedanken, „nein, das
könntest du nicht“. „Ist nur ‘ne Redensart“
entschuldigt sich Marcel. „So sollte man nicht reden.
In meiner Heimat ist daraus Wirklichkeit
geworden.“ „Ich würde meinen besten Freund nicht
umbringen, war nur so dahingesagt.“ „Sag das
nicht.“
Marcel geht zu Roland in den Flur, um ihn zur Rede
zu stellen, „sag mal, haben wir nicht was abgemacht,
von wegen anklopfen, herein sagen und so?“.
„Entschuldigung, hab’ ich nicht dran gedacht. Hab’
ich gestört?“ „Es hätte nicht unpassender sein
können, verdammt.“ „Ich habe sehr gestört, was?“
Oliver Droste 153
Irgendwo in Nirgendwo
bedauert
Roland.
„Du
Idiot.“
„Scheiße,
entschuldige.“
Emira kommt ebenfalls in den Flur, „wo habt ihr
denn die Toilette?“ Marceol zeigt auf das Gangende,
„dahinten die Tür mit dem Schild: student
crossing“. „Ah, ja“ quittiert Emira und geht.
Roland will schnellst möglich das Thema wechseln,
sowie Marcels Gemütslage, „du kannst heute abend
das freudige Ereignis ja verkünden, daß du nach
Berlin eingeladen wurdest“. Doch Marcels Geist hat
wieder seine Schärfe erreicht, „lenk ruhig ab, Du
Sack“, kann sich jedoch ein Schmunzeln nicht
verkneifen. Seinem Freund kann er nicht lange böse
sein, die offensichtliche Hilflosigkeit, mit der
Roland sich aus dieser Schlinge ziehen möchte,
macht ihn wieder symphatisch. Roland muß nun
auch Schmunzeln, was sich zu Marcel fortpflanzt
und ihn grinsen läßt; das springt zu Roland zurück,
so daß sie beide lachen.
Roland schlägt seinem Kumpel gegen die Schulter
und fragt, „nimmst du deine Gitarre wieder mit?“.
„Klar, ich hab’n neues Lied, das werde ich heute
abend uraufführen.“ „Du bist auch wieder kreativ.
Und neue Gedichte haste wohl auch wieder?“ „Das
eine oder andere.“ Von der Toilette ist ein Plätschern
zu vernehmen. „Äh, ihr müßt mir bei der Auswahl
helfen.“ „Klar und wenn du berühmt bist, kannst du
unsere anderen Sachen von der Gruppe rausbringen“
albert Roland. „Jou, wir werden als Künstlergruppe
in die Kulturgeschichte eingehen“ nimmt Marcel
den Gedanken auf. „Ja, eingehen werden wir, nur
Oliver Droste 154
Irgendwo in Nirgendwo
worin, oder woran“ schlägt ihn Roland wieder aus
der Hand. Toilettenspülung. „Fahren wir mit den
Moppeds?“ fragt Marcel. „Ne, laß uns mit dem alten
Ford fahren.“ „OK, laß uns fortfahren.“ „Wir
müssen noch Joel und Maike abholen.“ „Na, dann
los.“
Emira kommt und sie brechen auf.
Oliver Droste 155
Irgendwo in Nirgendwo
XVIV
Eine Fahrt zur Burgruine
Marcel, Roland, Emira, Joel, Maike, zwei Polizisten
Draußen hat sich ein junger Abend ausgebreiet. Ein
paar Drosseln bespotten ihn mit ihrem „zipp, zipp,
zipp“ und suchen einen sicheren Schlafplatz auf. Der
alte Ford fliegt fort von Ort zu Ort, bis sie bei Joel
und Maike angekommen sind, sie aufnehmen und
weiterfahren.
Joel ruft fröhlich in die Runde, „los, mach Musi an“
und rüttelt am vor ihm befindlichen Fahrersitz.
Roland dreht Nirvana auf. Joel zündet sich eine Tüte
an und gibt sie im Auto weiter. Alle bewegen sich zu
der Musik.
Als sie ziemlich breit sind kommt eine Stelle, an der
Kurt Cobain anfängt zu schreien. Roland dreht sich
zur Seite, sieht Marcel kurz an, dann in den
Rückspiegel zu Joel und alle drei schreien zur Musik
mit, worauf großes Gelächter ausbricht. Sie biegen
auf eine Landstraße und fahren aus der Stadt raus.
Sie singen mit, tanzen und pogen sich im Sitzen an.
Ein Auto fährt ihnen hinten dicht auf.
Marcel bemerkt es als erster und stößt Roland an,
„heh, die hinter uns wollen wohl ein Rennen“. Joel,
der einen Schuß Proletenblut nicht unterdrücken
kann und Spaß haben will ruft „los, die hängen wir
ab“. Maike lacht „gib Gas!“.
Oliver Droste 156
Irgendwo in Nirgendwo
Roland fährt mit 50 äußerst angestrengt. Die anderen
sehen auf die an ihnen vorbeifliegende Straße, oder
wenden sich zu dem folgenden Fahrzeug um. Marcel
versucht in der Dunkelheit, den Straßenverlauf zu
erkennen, „ich glaub, da kommt ‘ne Linkskurve“.
Joel zweifelt „sieht aber irgendwie rechts aus, die
Kurve“ und grinst. „Ich glaub ich hab’ den
Mittelstreifen verloren“ bemerkt Roland, der diesen
zur Orientierung benutzte. Emira streckt ihren Kopf
nach vorne, an Marcels Gesicht vorbei und ruft
gegen die Musik, „da vorne ist einer, in der Mitte“
und zeigt auf die Straße. „Ja“ erkennt ihn Roland,
„jetzt hab’ ich ihn wieder. Deswegen heißt er auch
Mittelstreifen. Er ist doch in der Mitte“. „Der muß
doch sonst, äh links sein, oder?“ lacht Maike.
„Quatsch, rechts ist immer ein Streifen“ meint Joel.
„Egal, wo er sonst ist, von vorne kommt ein Auto“,
sagt Emira. „Auf unserer Seite“ bemerkt Maike,
worauf Marcel lacht, „so ein Schlingel, ein
Falschfahrer“, der aufblendet. „Scheiße, ich glaub’,
ich bin falsch“ ruft Roland und reist das Lenkrad
herum. „Mach jetzt keinen falschen Fehler!“ meint
Marcel ängstlich zu Roland. Der Wagen schleudert
nach links, dann nach rechts. Roland lenkt jedesmal
dagegen, wodurch sich der Wagen immer weiter
aufschaukelt. Roland findet seinen Gefallen daran
und läßt den Wagen schaukeln, worauf sie alle
lachen, bis auf Emira, die sich beschwert, „oh, mir
wird schlecht, fahr mal ordentlich Roland“. „Warum
rast du auch so?“ fragt ihn Joel. „Ich fahr’ fünfzig.“
„Hier is’ hundert“ bemerkt Marcel grinsend, worauf
Oliver Droste 157
Irgendwo in Nirgendwo
Roland meint, „ach, ne, laß mal. Schneller kann ich
nicht“ und fährt wieder ordnungsmäßig. Der Wagen
hinter ihnen überholt nun hupend und verschwindet
in der Dunkelheit.
Joel ruft, „dreh mal die Musi lauter!“ Es wird wieder
lauter und sie singen wieder mit. Vor ihnen winkt
ein rotes Licht. Von der Anlage kommt von P.J.
Harvey „I’m flying“.
Roland sieht angestrengt auf das Licht und weist
seine Fahrgäste darauf hin, „he, guckt mal“. Alle
sehen geradeaus auf das rote Licht. Joel erkennt sie
als erstes, „scheiße, Bullen“. Alle lachen. „Das is
ja’n Ding“ sagt Roland, die Nase dicht am Lenkrad,
„Junge, da muß ich wohl mal rechts ran“. „Jo.“
Marcel fragt ihn unsicher, „wo is’ rechts?“. „Na, da,
wo die Bullen stehen ist rechts“ erklärt Roland. „Die
Bullen stehen immer rechts“, sagt Joel sarkastisch.
Roland fährt langsam auf den Polizisten zu, der
darauf zur Seite springen muß. Maike ruft
erschrocken, „paß auf, der Polizist, mach jetzt
keinen Scheiß!“. Marcel sieht den Ernst der
Situation und sagt scharf zu Roland, „ja, Mann,
easy. So jetzt bremsen, halten, und sich nichts
anmerken lassen. Schnauze halten Leute!“ Nach
einer kurzen Ruhepause kitzelt es in ihren Bäuchen
und alles lacht los. Marcel kann sich das Lachen
kaum selbst verkneifen, aber will die Situation unter
Koontrolle bekommen, „jetzt seid mal eben Lei ...
haha .. se!“. Ein Polizist klopft an die Scheibe.
„Scheiße, ruhig jetzt!“ bekommt es Roland mit der
Oliver Droste 158
Irgendwo in Nirgendwo
Angst, die Staatsmacht an seiner Tür stehen sehend
und dreht die Scheibe herunter; rauch zieht heraus.
„Haben sie was getrunken?“ fragt der Polizist.
Roland sieht ihn mit glasigen Augen an, was man in
der Dunkelheit nicht so gut erkennt und grinst
„nöö“. „Hauchen sie mich mal an!“ zweifelt der
Beamte. Roland haucht. „Ihre Papiere bitte.“ Roland
wühlt im Handschuhfach, „Marcel, guck doch mal,
wo sind, äh, ist der Fahrzeugschein“. Marcel grinst
und sieht nach, „ja wo ist er denn, der
Schlingelschein“.
Joel meldet sich von hinten und scherzt unpassend,
„Herr Wachtmeister, eh, die alte Rübe hat bestimmt
kein TÜV mehr“ und lacht. Roland sieht hilflos
umher, da er das sich einstellende Chaos nicht mehr
unter Kontrolle hat. Marcel dreht zu allem Überfluß
die Musik lauter. Roland entschuldigt sich beim
Wachtmeister, „wenn man solche Freunde hat
braucht man keine Feinde“.
Der Polizist ruft zu seinem Kollegen, „sieh mal
nach dem Tüv“. „Hören sie nicht auf die, die sind
besoffen“, meint Roland. Lauter Protest ertönt im
Auto unter Grinsen. „TÜV ist noch in Ordnung“,
erwähnt der Kollege des Beamten.
In der Zwischenzeit hat Marcel den Schein gefunden
und reicht ihn weiter an Roland, der ihn durchs
Fenster reicht. Der Polizist hält seinen
Kugelschreiber gestikullierend hin, als er sagt,
„soweit ist alles in Ordnung, dann fahren sie etwas
zügiger“. Roland greift den Kugelschreiber und bläst
hinein, da er noch an die Alkoholkontrolle denkt.
Oliver Droste 159
Irgendwo in Nirgendwo
Der Polizist sieht ihn verdutzt an und sagt zu seinem
Kollegen, „Jens, hol mal den Alkoholtester“, der tut,
wie ihm aufgetragen und reicht ihn seinem
Kollegen, der ihn an Roland weitergibt, „Na, dann
pusten sie doch mal hier hinein. Roland pustet erneut
und gibt ihn zurück. Der Polizist prüft verdutzt das
Ergebnis, „ist in Ordnung, na dann noch gute Fahrt“.
Sie fahren weiter.
Roland atmet erleichtert auf, „Junge, Junge“, dem
Marcel zustimmt, „das war wohl knapp“. Ein
allgemeines Lachen setzt ein.
Oliver Droste 160
Irgendwo in Nirgendwo
XX
Die Burgruine und der Waldalp
Marcel, Roland, Emira und Freunde.
Marcel, Roland Emira und einige Freunde kommen
an der Burgruine auf einem Waldhügel an.
Taschenlampen und Fackeln werfen wilde Schatten
zwischen die Bäume. Gelächter und frohe Stimmen
sind zu hören und ca. 15 bis 20 Leute gehen ins
Innere der Burgruine. Das alte Gemäuer wird wieder
lebendig. Sie sammeln Holz und schichten es auf.
Jemand gießt Benzin darüber und warnt, „vorsicht,
zurücktreten!“ „Mensch bist du verrückt?“ ruft
Roland, als er seine Absicht erkennt. Doch da
schnipst dieser eine Zigarette ins Holz, worauf mit
einer großen Stichflamme das Feuer losbrennt. Ein
Raunen geht durch die kleine Schar. Sie sammeln
sich um das Feuer und trinken Bier und Wein aus
Flaschen.
Roland klettert auf eine Mauer, breitet die Arme aus,
um eine den Lärmpegel zu senkende Bewegung zu
machen und ruft, „hört mal her Leute, Marcel hat
heute ein fröhliches Ereignis zu verkünden“. Jemand
ruft, „was denn, ist er Vater geworden?“. „Ja, er hat
wohl wieder die Muse geschwängert“ ruft ein
anderer, was in Gelächter überspringt.
Marcel lacht, „unter anderem“. Ein Waldkauz ruft
die Nacht. „Wie ihr wißt habe ich meine Gedichte zu
einem Ausschreiben nach Berlin geschickt“, beginnt
Oliver Droste 161
Irgendwo in Nirgendwo
Marcel. „Sag bloß, es hat sich mal jemand
gemeldet?“, fragt ein junger Mann erstaunt. Joel
witzelt „wahrscheinlich mußten sie Nachporto
bezahlen und wollen jetzt das Geld“ und lacht.
Marcel geht durch gespannte, fragende Blicke bis
unterhalb von Roland, der sich nun auf die Mauer
setzt und auf die Leute um das Feuer sieht. „Sie sind
interessiert und haben mich zu einer Lesung nach
Berlin eingeladen.“ Allgemeiner Jubel bricht aus.
„Wahnsinn, es geht voran“, freut sich ein Mädchen.
Jemand anderes ruft, „endlich tut sich was“ und
prostet Marcel zu. Roland breitet nocheinmal seine
Arme aus und ruft, „als sein Mitbewohner und
Freund fordere ich jetzt Silentium! Hört unseren
aufstrebenden Dichter sprechen“.
Marcel greift seine Gitarre und klettert zu Roland
hinauf, „aufstreben will ich - das Gemäuer
hinaufstreben und singen“. Die Leute klatschen,
Marcel setzt sich neben Roland und läßt seine Beine
baumeln. Unter ihm setzten sich die anderen im
Halbkreis um das Feuer, erheben ihr Getränk und
jemand ruft, „salve Cäsar, morituri te salutant“, was
die römischen Gladiatoren zum Gruß in der Arena
vor dem Kampf riefen; es bedeutet: die
Totgeweihten grüßen dich. Ein Zitat, das dieser
Zirkel an der Burgruine gerne ausruft, wenn einer
von ihnen etwas vortragen will und sich dem Urteil
seiner Zuhörer unterzieht.
„Ich hoffe, ihr seid meiner Musik wohlgesonnen und
laßt euren cäsarischen Daumen oben. Einem
ehrlichen Urteil werde ich mich beugen.“ Alles
Oliver Droste 162
Irgendwo in Nirgendwo
schweigt, Marcel spielt eine Melodie und fängt an
zu singen. Der Text, den er vor ein paar Tagen
geschrieben hat geht ungefähr so:
„Sunbeam from a mirrowball. Big room, beach sand
moon, white skin sun in her vein, her bleeding eyes
in a shady corner, surched for a world, wich is
wormer. Glances moved past on dusty water to fast,
lie scared faces, never win the races. Ref.: The truth
that you have recogniced, experiences made, the
truth is yousless in your eyes, it always comes to
late.
Friends stand eyes averted, she screams words muted, without eyes and without light, in your arms hold
her tight. Dancing straightjacked youth, stupid musik and shiny teeth, her empty brain, no mind and no
thought, there’s only a sunbeam from a mirrowball.
Refrain: The truth that you have recognized, experiences made, truth is youseless in your eyes, it always
comes to late.“ Es ist ein trauriges Lied mit einer
schönen Melodie, passagenweise in Moll-Duren
gehalten. Es wird applaudiert.
Marcel möchte nicht so lange im Vordergrund
stehen und übernimmt das weiterleiten, „wer von
euch hat was vorzutragen?“. Der Anfang ist immer
schwer. Die Leute müssen erst einmal aus sich
herauskommen, vielleicht mehr trinken, um ihre
Seele dann zu entblößen.
Jemand steht auf und geht vor den Halbkreis.
„Silentium.“ Er hält eine Taschenlampe und ließt
von einem Blatt: Spieglein, Spieglein... Wann wirst
du erkennen, der Teufel kommt aus sprechenden
Oliver Droste 163
Irgendwo in Nirgendwo
Bildern? Wie verrückt darf man sein, um noch als
normal
durchzugehen?
Wo
liegt
deine
Hemmschwelle, um zu töten? Wieviel Elend
brauchst du, um zu fühlen? Gibst einem Penner nur
was, wenn du Geld hast? Liebst du nur, wenn du
zurückgeliebt wirst? Sprichst du mit Gott nur, wenn
du in der Scheiße steckst?
Du siehst fern und erkennst doch nichts. Du bist
nach außen der, der du bist, dein Inneres erkennt
man nicht. Du schlägst mal über die Strenge; am
Morgen danach ist es dir peinlich. Du fühlst nur
Elend, wenn du was brauchst. Ein Penner kriegt nur
was, wenn dein Gewissen dich plagt. Du gibst nur
Liebe, wenn du sie zurückbekommst. Der Teufel spricht Scheinrealität. Normal? Wer ist
das schon?
Mit Worten kannst du töten. Elend existiert, solange
der Mensch ist. Geld hast du, frag ein hungerndes
Kind.“
Die Leute klatschen. Der Leser geht erleichtert
zurück auf seinen Platz.
Marcel wendet sich der Versammlung zu, „wir
haben hier eine weitere Künstlerin, Leute“, dreht
sich zu Emira, „sie kann sehr gut singen.“ Er geht
mit seiner Gitarre zu ihr und reicht sie ihr, „komm,
spiel mal was, Emira“. „Ach, du bist doch verückt.
Ich singe doch nicht vor Leuten.“ „Loß, du hast eine
tolle Stimme, mach doch.“ „Hier kannst du noch so
schief singen, is’ egal“, munter Roland sie auf. „Es
zählt nur das künstlerische Schaffen, die Kreativität,
Hauptsache man macht was“, erklärt Marcel. „Hier
Oliver Droste 164
Irgendwo in Nirgendwo
wird keiner davongejagdt“, ruft ihr jemand zu.
Roland lacht, „höchstens nicht mehr zum Vortragen
aufgefordert“.
„OK“ gibt Emira nach, „jetzt kommt aber ein
ruhiges Lied, von Melanie ‚Save the night‘, das geht
so“ und fängt an zu spielen. Als sie am Ende
angelangt ist, spielt sie die Melodie vor sich hin; die
Leute sind ruhig. Emira gibt die Gitarre zurück und
sieht etwas traurig aus. Das Klatschen setzt dafür um
so mehr ein. „So, jetzt will ich euch Dichter hören“
sagt sie und geht zu einem Mädchen, daß diesen
Abend zurückhaltend und ruhig dasaß, „du siehst so
aus, als würdest du ein schönes Gedicht haben, ein
trauriges“. „Ich, äh, ja, ich habe eins“ stottert diese.
Jemand flüstert zu seinem Nachbarn, „jetzt geht die
schöne Stimmung den Bach runter“. Emira lächelt
sie an, „ließ es doch vor, wenn du magst“.
Das Mädchen beginnt zögernd, „ich habe etwas
geschrieben, für meine Mutter. Ihr wißt, daß sie sich
vor drei Jahren die Pulsadern aufgeschnitten hat.
Jetzt habe ich für sie etwas geschrieben. Ich glaube
ihr werdet es nicht verstehen, aber meine Mama hört
mich jetzt, sie ist bei mir“ und schaut in den
nächtlichen Himmel, „das ist für dich: Auf dem See
der Lebenslichter schwimmt auch eins von dir. Wer
war denn der große Richter, der nahm dich von mir?
Erloschen ist dein Licht schon lang; es treibt die
Kerze noch. Ich höre deiner Stimme Klang und weiß
du liebst mich doch. Die Kerze wird nicht
untergehen, solang ich an dich denke und du gibst
mir zu verstehen, daß ich sie für dich lenke. Mit dem
Oliver Droste 165
Irgendwo in Nirgendwo
Boot der Traurigkeit gleit ich durch die Kerzen und
nehme mit Vergänglichkeit, auf mich alle
Schmerzen. Ein Engel gibt mir Kraft und Ruh,
beschützt mich Nacht und Tag. Nur ich weiß, Mama,
das bist du, weil ich dich so mag.“ Das Mädchen
starrt vor sich auf das Papier und friert. Emira setzt
sich neben sie, sieht sie an und nimmt ihre Hand,
„ich verstehe dich. Ich weiß, was es heißt seine
Familie zu verlieren“.
Marcel zerbricht das allgemeine Schweigen, „das
war wunderbar“. Jemand wischt sich eine Träne ab.
„Eigentlich dürfte ich nicht alleine nach Berlin
gehen. Ihr seid alle genauso gut, wenn nicht noch
besser.“
Jemand nimmt eine Gitarre und ruft, „das ist doch
ein Grund zum feiern; so, jetzt mal was zum
mitsingen, laßt uns Party machen“, spielt einige
Rock’n’Roll- Akkorde und singt von Marius „Mit
18“. Marcel steigt auf der Mauer mit ein, steht auf,
spielt Gitarre und tanzt dabei auf der Mauer langsam
hinunter, gefolgt von Roland. Die Leute singen alle
mit und klatschen oder tanzen dazu. Emira torkelt
lächelnd durch die Menge. Einige Leute sehen sie
komisch an, da sie fremd ist. Doch Marcel liebt
fremd erscheinende Mensche; sie sind interessanter,
als Normale. Er springt von der Mauer und bewegt
sich wild spielend auf Emira zu. Emira lächelt um
sich und tanzt etwas außerhalb des Taktes.
Weinflaschen und Bierdosen gehen um und sie trinkt
etwas. Das Lied geht zuende, jemand grölt.
Oliver Droste 166
Irgendwo in Nirgendwo
Emira umarmt Marcel, „hier ist ja was los. Ich
dachte, da sitzen bloß so Brillenschleichen und
diskutieren über Gedichte“. Marcel lacht, „ne, ne, ‘n
bischen Spaß muß man schon haben“. Roland, der
immer noch hinter Marcel steht fügt hinzu, „das ist
hier ja kein Club der toten Dichter“. Jemand ruft,
„nö, hier is’ Leben drin“. „Lyrik lebt.“ „Und wie!“
stimmt Roland zu.
Es werden jetzt um das Feuer herum weiter Gedichte
vorgetragen. Marcel und Emira setzen sich in eine
Ecke der Mauer und beobachten das Geschen.
Marcel interessiert sich jetzt weniger für Lyrik, als
für das zu erforschende Fremde in Emira, sieht sie
an und fragt, Emira?“. „Ja?“ „Wieso sprichst du so
gut deutsch?“ „Für Sprachen war ich begabt und hab
in der Schule schnell deutsch und englisch gelernt.
Meine Lehrerin meinte, ich solle Dolmetscherin
werden.“ „Warum hast du das nicht gemacht?“,
wundert sich Marcel. Ein Windhauch fährt durch die
Gemäuer, als würde es zu atmen beginnen. „Ich
lernte Bea in der Schule kennen. Sie wollte was
anderes studieren. Ich wollte mit ihr gehen, sonst
hatte ich ja niemanden mehr.“ „Und macht es
Spaß?“ „Doch. Es ist auch sehr interessant. Bea hilft
mir gut. - Was machst du, wenn das in Berlin ein
Erfolg wird?“ „Ich glaube nicht, daß es was
besonderes wird. Es gibt genug Schriftsteller.“
„Bleibst du dann vielleicht in Berlin?“ „Ich weiß
nicht, was kommen wird. Ich werde mich dann
entscheiden.“
Oliver Droste 167
Irgendwo in Nirgendwo
Der Wald erwacht zur Nacht zum leben, als scheinen
ihn Träume zur Wacht übergeben. Für Emira scheint
diese Welt an die ihre zu stoßen und rüttelt sie, so
daß wieder mehr Licht und Wärme in ihr Leben
fällt. „Es ist schön hier, sowas habe ich noch nie
mitgemacht.“
Ein schauriger Schrei fährt durch den Wald. Emira
erschreckt, „oh, was ist das? Das ist richtig
gruselig“. „Ein Waldkautz. Das ist aber nicht
gruselig. Hier im Wald ist der sicherste Platz. Die
Menschen haben fast alle angst im dunklen Wald.
Mehr Angst sollte man in der Stadt oder auf dunklen
Parkplätzen haben, oder in der Straßenbahn, oder in
der Disco.“ „Oder als Skinhead in einem Café.“
„Das stimmt. Komm laß uns in den Wald gehen und
die Natur genießen. Hier wird es sowieso nur noch
ausgelassener.“ „Ich weiß nicht“, übelegt Emira; für
sie ist das Fremde hier furchteinflößend. „Du kannst
mir vertrauen“, versichert Marcel, steht auf und
reicht Emira die Hand. „Na gut, ich vertraue dir“,
greift Emira zu.
Sie gehen weiter ins Dunkel, vom Schein des
Lagefeuers weg, zwischen Mauern dann in den alten
Hutewald aus knorrigen, tiefastigen Eichen, der
dann auf hohe, schlanke Buchen stößt. Der Mond
scheint aus dem wolkenlosen Nichts. Schatten fallen
von den alten Bäumen wie von Säulen aus alten
römischen Tempeln. Sie gehen ästeknackend in die
Tiefe, bis sie an eine Lichtung kommen, wo ein
Baumriese am Boden langsam vermodert. Marcel
setzt sich in das Moos. „Komm setz dich, es ist
Oliver Droste 168
Irgendwo in Nirgendwo
schön weich.“ Emira setzt sich, „oh, ja. riechst du
die Luft, wie frisch und mild sie ist?“. „Herrlich,
was? Riechst du den alten Baum hier?“
Sie atmen genießend ein, zünden sich eine Zigarette
an, um diese Sinnesexkursion abzubrechen und der
Akustik zu lauschen. Ein Singen ertönt von den
Eichen. „Was ist das für ein Vogel, der da singt?“
„Oh, zu dieser Zeit singt nur ein Vogel das muß eine
Nachtigall sein.“ „Was war das, dieses heisere
Bellen?“ „Das war ein Fuchs, aber weit weg.“ „Tun
die denn nichts?“ „Die haben mehr Angst vor uns.
Das hier ist der sicherste Ort auf der Welt. Hier
könntest du in Frieden schlafen.“ „Ich weiß nicht.
Ich find es trotzdem gruselig.“ „Hör dir einfach die
Natur an, höre, was der Wald erzählt.“ Marcel legt
sich ins Moos und verschränkt die Arme hinter dem
Kopf. Emira atmet noch einmal die Luft tief ein,
genießt es kurz und legt sich neben Marcel. Sie
beobachten den Rauch, den sie hinaufblasen, der
sich in den Nachthimmel löst. „Sieh mal in den
Sternenhimmel. Da über den Kronen fliegt eine
Fledermaus“, sagt Marcel, in den Himmel zeigend.
„Wo?“ fragt Emira erschrocken. „Da, zwischen den
Kronen, paß auf, da kommt sie wieder.“
Emira ist emotional sehr empfindlich, was nicht nur
an den Psychopharmakern liegt, sondern sicher auch
im Alkohol- und Schittkonsum dieses Tages. Sie
dreht sich zu Marcel und legt ihre Hand auf seine
Brust, „das ist jetzt aber doch gruselig“. Ihn belustigt
jedoch diese unbegründete Angst, die er nicht
einschätzen kann, „Furcht, Quatsch. Die tun doch
Oliver Droste 169
Irgendwo in Nirgendwo
überhaupt nichts. Ist es nicht interessant, wieviel
Leben nachts im Wald ist? Sowas kriegen die
meisten Menschen gar nicht mit“; er genießt diese
friedliche Welt der Freiheit, keine Zwänge, nur
pures Leben, einfach nur der Wille zum Leben, der
Überlebenstrieb.
Für Emira ist es Dunkelheit, Angst vor dem
Unbekannten; überall können versteckte Gefahren
drohen, Hinterhalte, eine Welt die sie nicht kennt,
wo ist eine Zufluchtsmöglichkeit, wer hilft ihr? Sie
drückt sich an Marcels Seite. Er führt weiter aus,
„Fledermäuse fressen Insekten“. „Es gibt doch auch
welche, die saugen Blut.“ Marcel bemerkt nicht die
Schwärze in ihren Worten, versucht sie aufzuheitern,
indem er sie nicht ernst nimmt, „ja,
Vampirfledermäuse“ und beugt sich über Emira,
fletscht die Zähne, „die beißen sich in der Kehle fest
und saugen dein Blut aus.“ Er tut so, als würde er
Emira in den Hals beißen. ‚Blut‘ fährt es ihr durch
den schweren, flatterigen Geist, der wie ein
geflügelter Rabe auf der Straße vor dem drohendem
Verkehr zu fliehen sucht; sie schreit kurz auf, „laß
das“.
Er nimmt den Mund von Emiras Hals und sieht in
ihr Grün. Seine Berauschtheit ermutigt ihn, im
Gegensatz zu Emira und küßt sie kurz, „die gibt es
nur in Afrika; dort saugen sie an Rindern, bzw.
beißen sie und lecken dann das Blut. In ihrem
Speichel haben sie sogar einen Gerinnungshemmer.
Hier gibt es sowas aber nicht.“ ‚Blut‘ – blutrote
Ballettänzer schweben durch das Kronendach,
Oliver Droste 170
Irgendwo in Nirgendwo
blätterraschelnd, springen hinter den Bäumen in ihre
Verstecke, sobald Emira saie zu erblicken versucht.
„Na, hoffentlich“ sagt sie und sieht Marcel in die
Augen, beide schweigen. –
Marcel genießt. Emira friert. Sie verwirrt sich in
ihrer Scheinrealität und träumt in die Vergangenheit.
„Ich kannte einen Engel und kenne ihn noch, da ich
ihn ab und zu wieder spreche. Eine Engelin, weißt
Du, einen Engel, der in einen menschlichen Körper
gesperrt wurde und auf diese Weise immer wieder in
Konflikt geriet, da er immer wieder mit seiner
unvollkommenen Seite konfrontiert wurde, was
seiner Engelsseele widersprach. Alle Kinderherzen
öffneten sich diesem Engelswesen und liebten es,
liebten seine Selbstlosigkeit, bis es von schwarzen
Engeln zu Tode geliebt wurde.“
Diese Traumbilder verleihen Marcels Geist Flügel,
die er in Worte fassen möchte, obwohl sich Träume
nicht berühren lassen, „manchmal wachsen mir auch
Engelsflügel, doch schlagen sie sich an zu engen
Räumen und zu kleinen Türen wund. Meine Augen
werden dann Sonnenregen und leuchten die Herzen
durch die Tore ihrer Augen aus.“ „Aber manche
Herzen sind schwarze Löcher, negative Materie, die
dich verschlingen wollen. Ihre Augen sind leblos
wie die von Haifischen.“ Das Gefühl kennt Marcel
auch, „und manche so verblaßt, daß ich nicht in die
Tiefe gehen kann. Sie verbrauchen viel Sonnenregen
und blasen Herbstraub in meine Seelen.“ Emira
warnt ihn, da sie diese kennt, „ja, vor diesen mußt du
dich hüten, besonders wenn sie Honigmünder haben
Oliver Droste 171
Irgendwo in Nirgendwo
und mit den Augen funkeln, ist es in ihrem Innern
dunkel. Falsche Kristalle verleiten zu tödlichen
Illusionen.“
Der Rausch scheint ihre Worte zu bläuen, „wie oft
haben sie meine nachgewachsenen Flügel zerzaust
und
gebrochen,
ausgerissen,
mich
als
Menschenwesen verspottet und denunziert,“ sieht
Emira in die Augen, „manchmal jedoch treffe ich
diese wunderbaren Wesen mit Diamantaugen und
Sonnenregenblick; dann wachsen wir zusammen
unsere
Engelsflügel
nach
und
werden
Himmelswesen, flattern wie Schmetterlinge über
Blumenwiesen unserer Einfalt im Traum eines
besseren Lebens, trinken den Nektar unserer Seelen,
befruchten Orchideen englischer Rasen und lassen
unsere Kreativität fliegen, als Kinder, anderen
Flügel wachsen zu lassen.“
Emira verbindet diese Bilder mit Flucht, „ja, fliegen
will ich. Es ist so schön, zu gehen, ohne den Boden
zu spüren, von Flügeln getragen“; sie will nicht
mehr in dieser Welt leben, sie sucht eine einfachere,
eine schmerzfreie, sicherere Welt.
„Und Lachen wird zu bunten Schmetterlingswolken
geblasen“ fügt Marcel hinzu. „Eine kurze Zeit siehst
du sie dann fliegen, wie Kinder die sich auf den
Traum in der Nacht freuen, um in eine andere
grenzenlose Welt eintauchen zu können“ erklärt
Emira ihr Gefühl. „Doch werden englische Rasen
bekanntlich von Unkräutern freigehalten und es wird
uns unmöglich gemacht, sich zu stärken, um diese
Metamorphose
durchzuführen.“
„So
viele
Oliver Droste 172
Irgendwo in Nirgendwo
Schmetterlingskokons - so viele von Parasiten
befallen“, verfällt Marcel in Agonie seines Traums,
einen Stimmungswechsel verzeichnend, aber nicht
zu akzeptieren, „und wenn ich wieder flügellos bin,
suche ich diese Edelsteine, verlegte Blicke zwischen
den Seiten wertvoller Bücher, flatternde Seiten. –
Welch Engelseinfalt“. „Engelseinfalter!“ spinnt
Emira den Faden weiter, an den Tod einer
Eintagsfliege erinnert.
„Emira, laß uns in Meinweiten gleiten!“ bietet ihr
Marcel eine fluchtmöglichkeit vor dieser Realität an,
eine Flucht in die Scheinrealität, oder vor der
Scheinrealität? Er weiß nicht, wie er ihr sein Gefühl
für sie, an sie herantragen soll. Ihm fällt nichts
besseres ein, seine Worte neigen sich in mangelnder
Phantasie dem Ende, als er es versucht, „zu meiner
Schulzeit als 14 oder 15-jähriger hätte ich dich jetzt
gefragt, ob du mit mir gehen willst“. „Und wohin?“
fragt Emira, diesen Ausdruck in ihrer Sprache nicht
kennend.
„Nirgendwohin,
irgendwo
nach
Nirgendwo. Es heißt soviel, wie – ich, äh, liebe dich,
oh Mann fällt mir das schwer“. „Das hättest du mich
jetzt gefragt?“ „Ja, Emira, laß uns zusammen gehen.
Ich weiß nicht wohin, vielleicht geht es nach
Nirgendwo. Wer weiß wohin. Aber zu zweit wäre
der Weg sicher einfacher, oder angenehmer.“ Emira
sieht ihn an und schweigt, wie sehr hat sie einen
Weg gesucht, einen Ausweg, mit jemandem, der mit
ihr geht. „Jetzt solltest du etwas sagen,“ fordert
Marcel ungeduldig, ihr sein offenes Herz hinhaltend.
„Was sind schon Worte?“, fragt Emira, hebt ihren
Oliver Droste 173
Irgendwo in Nirgendwo
Kopf und Marcels senkt sich langsam, bis sie sich
im Kuß treffen. Zuerst küssen sie sich vorsichtig,
dann immer intensiver und zum Schluß heftig, als
wollten sie sich gegenseitig auffressen.
Gegenseitig ziehen sie sich aus und es wird immer
wilder. Zwei Menschen, die endlich ihr Gegenstück
gefunden haben, die ihre Liebe erwidert bekommen,
sogar mit Zinsen zurückbekommen. Ein wenig
Wärme sich gegenseitig spenden, Haut fühlen, in
einer milden Nacht; das läßt sie immer weiter
fortfahren in ihrem Treiben, bis sie ganz nackt
ineinander verschlungen sich im Moos drehen und
wälzen, als wären sie im Todeskampf. Wie ein Tier,
das von einer Kugel getroffen wurde und sich noch
dreht und zuckt. So vertieft ineinander unter
rhythmischen Bewegungen fangen sie im Mondlicht
an zu schwitzen und zu stöhnen. Und niemand ist da,
der sie stört. Nicht der Waldkautz, nicht die
Nachtigall, auch nicht der heisere Fuchs. Nur stumm
zieht die Fledermaus ihre Kreise durch den Mond,
als wolle sie gleich niederstoßen.
Emira stöhnt immer lauter und ihre Gedanken
geraten ineinander. Der Joint am Lagerfeuer entfaltet
seine Wirkung nun wie eine Decke in der Nacht,
über das Gesicht gezogen. So langsam kommen in
ihr die Gedanken aus ihrer Heimat hoch und
vermischen sich mit der Realität hier im Wald. Die
drohenden Schreie des Waldkauzes, irgendwo
knackt es. Es nähern sich Schritte, es raschelt, sie
stöhnt lauter und lauter. Es ist nicht mehr angenehm,
irgendetwas Bedrohliches ist bei ihr, etwas aus der
Oliver Droste 174
Irgendwo in Nirgendwo
Vergangenheit kommt. Sie öffnet die Augen und
schreit.
Ein Soldat vergewaltigt Emira. Sein Atem legt sich
auf ihren Mund, daß sie zu ersticken droht. In
Todesangst entwickelt sie übermenschliche Kräfte
und schlägt mit einem ergriffenen Knüppel nach
Marcels Kopf. Marcel richtet sich benommen auf
und starrt ins Leere, worauf Emira die Gelegenheit
der Hilflosigkeit ausnuzt, um ihren Vergewaltiger
den zweiten Schlag zu versetzten. Marcel kippt zur
Seite und bleibt regungslos liegen. Seine Hand zuckt
noch etwas, doch dann ist er ruhig, dann ist er
irgendwo in Nirgendwo.
Oliver Droste 175
Irgendwo in Nirgendwo
XXI
Wie Emira Engelsflügel erhält
Marcel, Roland, Bea, Emira, Engel, zwei Sanitäter,
Notarzt,
Wohnung von Marcel und Roland:
Wie Marcel nach Hause gekommen ist, weiß er nicht
mehr. Er hat tief und erschöpft geschlafen. Roland,
Emira und Bea sitzen in der Küche. Marcel läuft,
noch immer etwas benommen, durch den Flur und
kommt zu seinen Freunden. Seine Haare sind fettig
und zerwuschelt, „was ist nur mit meinem Kopf. Ich
weiß nicht mehr, was gestern abend passiert ist“.
„Du hättest dich nicht so abschießen dürfen“ weist
ihn Roland zurecht. „Ich hab’ vielleicht ‘nen Kopf.
Und schlecht ist mir. Mir ist noch richtig
schwindelig.“ „Und dann willst du mit dem
Motorrad nach Berlin fahren?“, fragt ihn Roland
kopfschüttelnd, „wir haben euch gestern abend noch
überall gesucht, und Emira kann sich auch an nichts
mehr erinnern“.
„Aha, wenn Stau ist komm ich so viel schneller
durch. Wie spät ist es denn?“ Bea sieht auf ihre Uhr,
„gleich halb zwei“. „Ach du scheiße, ich muß los,
wo ist denn der Motorradschlüssel? Wo kann der
scheiß Schlüssel nur sein?“ Er geht wiedert in sein
Zimmer und versucht sich die Motorradhose
anzuziehen, doch strauchelt, als er mit einem Bein
Oliver Droste 176
Irgendwo in Nirgendwo
schon drin ist, hopst im Zimmer und fällt in einen
Sessel. Nachdem der seine Lederjacke angezogen
hat, kommt er wieder in die Küche und sieht Emira
an. Ihr Gesicht ist anteilslos, ihre Augen tragen noch
die Schatten der Nacht tief gefurcht. Marcel
erschreckt ein wenig der Ausdruck; er steht etwas
ratlos wirkend an die Tür gelehnt da.
„Guck doch mal in deine Lederjacke“, hilft ihn
Roland wieder zurück. „Hab’ ich schon“, sagt
Marcel und geht zurück in sein Zimmer, man hört
wildes Kramen, Schubladen knallen und ihn
schimpfen, „ich hab’ ihn gestern doch noch
irgendwo gehabt“ und kommt wieder in die Küche,
dem Bedürfnis folgend, wieder einen klaren Kopf zu
bekommen, „ist der Kaffee schon durch?“. „Der ist
gleich schon wieder auf, kannst dann neuen
ansetzen“, bemerkt Roland gelassen, provozierend.
Marcel, der mit seiner körperlichen und geistigen
Selbstbeherrschung noch genügend beschäftigt ist,
um diese große, vielleicht auch schon größte
Aufgabe in seinem Leben zu meistern, sieht
ärgerlich in die Runde, „wie könnt ihr alle nur so
ruhig sein? Ich muß heute nach Berlin und find den
scheiß Schlüssel nicht“.
Emira versucht Marcel, den unruhigen Punkt an
diesem Nachmittag, einzufangen, „du hast doch
noch genug Zeit, trink doch’n Kaffee und frühstücke
mit uns, dann fällt dir bestimmt ein, wo der
Schlüssel ist“.
Bea, die mehr praktisch veranlagte, fragt, „hast du
wenigstens deine Gedichte?“. „Die liegen schon im
Oliver Droste 177
Irgendwo in Nirgendwo
Tankrucksack. Oh, der Tankrucksack, ich sehe mal
da rein.“Er geht wieder, - „Mist!“. Dieser Vorgang
ist bekannt. Roland erklärt den anderen, „da ist er
auch nicht“ und grinst.
Marcel kommt zurück, seinen Tagesablauf ordnend,
jedoch verwirrt, „ok, was essen muß ich, nachher
krieg ich nichts mehr runter“. Bea betrachtet ihn:
schwarze Lederhose, schwarzer Rollkragenpulli,
Lederjacke und sieht ihn darin von einem Podest aus
ehrwürdigen, alten Männern vortragen und fragt,
„willst du da so hingehen?“, abwertend. Emira sieht
ihn nebelnd an, fühlt Wärme in seinen Augen,
„wieso, er sieht doch gut aus?“. „Das bezweifele ich
doch nicht,“ beharrt Bea, „nur bei einer so
offiziellen Sache, zu der so wichtige Leute kommen,
da sollte man sich vernünftig repräsentieren“.
Marcel verteidigt sich, „ich verkleide mich nicht;
soll ich mit ‘nem Anzug auf’n Motorrad fahren?“
„Warum willst du denn unbedingt mit dem Motorrad
fahren?“ müttert Bea. „Bei dem schönen Wetter
fahre ich bestimmt nicht mit dem Auto.“ „Das wird
was werden“ fügt Bea an und resigniert vor diesem
Starrsinn.
Marcel geht zum Kühlschrank, seinem Drang nach
Nahrungsaufnahme folgend und holt Quark heraus,
stellt ihn zum Frühstück, guckt etwas komisch, dreht
sich wieder, macht den Kühlschrank noch mal auf
und holt den Schlüssel heraus, wundert sich „wie
kommt er denn da rein?“
Roland lacht, „Mann, bist du vielleicht durch’n
Wind“. „Ach egal“ winkt Marcel ab, setzt sich und
Oliver Droste 178
Irgendwo in Nirgendwo
schmiert sich ein Brot mit Nutella und Quark. Bea
beobachtet ihn und wundert sich über die
Kombination seines Brotaufstrichs, „wie kannst du
nur sowas essen?“. „Schmeckt gut, ist gesund. Hoffentlich klappt das mit der Lesung heute.“ „Du
schreibst wunderbar, das müssen sie mögen“,
muntert ihn Emira auf. „Ich weiß nicht, vielleicht
hätte ich doch etwas intellektuelleres aussuchen
sollen.“ „Jetzt schmeiß das bloß nicht über’n
Haufen. Die Sachen sind gut. Und wenn die das
nicht mögen, dann sind sie eben zu verknöchert“,
sieht Roland ihn schon kapitulliere. „Wir mögen es
doch und die Leute, denen ich deine Sachen gezeigt
habe, finden das auch ganz toll“, steht ihm Emira
bei. Roland ist auf Kontrakurs, „ob das Leute wie
wir mögen oder nicht, wird die in Berlin nicht
interessieren“. Marcel stimmt mit vollem Mund zu,
„genau“.
Roland schneidet sich eine Scheibe Brot ab,
beschmiert sie mit Magarine und fordert Marcel auf,
„gib mir doch mal den Quark rüber“. Er bekommt
ihn, will sich auch etwas auf das Brot schmieren und
riecht kurz dran, „bäh“, riecht nocheinmal daran und
bestätigt seine Sinneswarnehmung, „buäh, wie
kannst du das nur essen, der ist ja schlecht, stinkt
wie ‘ne tote Katze“. Marcel riecht an dem Brot auf
seinem Brettchen und gräbt mit den Händen in
seinen Haaren, „Scheiße, ich hab es fast
aufgegessen“. „Studentenmagen, verdaut alles,
was?“ amüsiert sich Roland. „Und ich hab’ mich
schon gewundert, was für’n komischen Geschmack
Oliver Droste 179
Irgendwo in Nirgendwo
ich im Mund habe.“ „Das wird sich für heute wohl
nicht ändern“, bemerkt Bea trocken. Marcel erinnert
sich an die Folgen solchen Genusses, „Mist, kriegt
man da nicht Durchfall von?“und wirft sich zurück
in den Stuhl. „Ne, das ist nicht schlimm. Ich habe
auch schon Schlechtes gegessen“, beruhigt in Emira.
Bea, die noch besorgt ist, über die sich in den letzten
Tagen verschlechternde Verfassung Emiras,
entgegnet, „das kriegst du doch gar nicht mit“. „Was
soll das denn? Ich werde schon noch in Ordnung
kommen“, verteidigt sich Emira. „Dann mußt du mal
langsam anfangen und von den Tabletten
wegkommen. Und dann noch was rauchen und
trinken, du spinnst doch“, resümiert sie die letzte
Nacht, die Emira so verschattet hat. „Dieses
Wochenende nach der Lesung werden wir das in
Angriff nehmen“, steht Marcel ihr ermutigend bei,
sich von seiner Hürde ablenkend. Emira sieht
Marcel erfreut an.
„Mit Emira ist das in der letzten Zeit schlimmer
geworden. Letzte Nacht ist sie fast wieder
durchgedreht. Sie war wieder ohnmächtig. Ich war
kurz davor den Notarzt zu rufen“, fährt Bea Marcel
an, als sie bemerkt, daß er das Problem auf die
leichte Schulter nimmt, auf die flügellose. Emira
ärgert sich über diese Unstimmigkeit, die ihr
unbegründet erscheint, „hört endlich auf; eure
Probleme möchte ich haben“.
„Noch jemand Kaffee?“ beendet Roland den Desput.
Alle heben ihre Tassen zustimmend, Roland schenkt
ein; für ihn bleibt nichts mehr übrig, „na, dann kann
Oliver Droste 180
Irgendwo in Nirgendwo
ich ja noch ‘ne Kanne machen“. „Also, ich trink
noch einen“, sagt Marcel, „ich auch“, schließt sich
Emira an und zieht die Nase hoch. Roland nimmt
sich dieser Aufgabe schleppend an und steht auf,
„wann mußt du eigentlich in Berlin sein?“. Marcel
springt plötzlich auf, wieder an seine heutige
Aufgabe erinnert, „oh Mann, ich muß doch los, wo
sind die Schlüssel?“. „In deiner Tasche“, erinnert ihn
Bea. „Ach, ja.“
Emira putzt sich die Nase, bekommt Nasenbluten
und entschuldigt sich „oh, macht nichts“. Sie steht
auf und geht hinaus. Marcel läuft, diesen Vorgang
nicht bemerkend, aufgeregt durch die Wohnung und
zieht sich seine Lederjacke an, nimmt seinen
Halbschalenhelm und seine Sonnenbrille, „ich muß
los, macht’s gut, drückt mir die Daumen“ und geht
in den Flur. „Viel Glück“, wünscht ihm Bea. „Wo ist
Emira hin?“ fragt er nervöus. „Ich glaube auf dem
Klo“, antwortet Bea.
Marcel geht zur Toilettentür und ruft „tschüß,
Emira, ich muß los. „Fahr vorsichtig“, kommt es
leise zurück, „und viel Erfolg, äh und so“. „Komm
doch eben raus.“ Emira sitzt auf dem Fußboden,
„geht jetzt nicht“, Blut tropft aus dem durchtänkten
Taschentuch auf die Fliesen, sie ist blaß und zittert,
„ich - ich wünsche dir viel Glück, aufwiedersehen“.
„Ich muß los, ich komme sonst zu spät“, drängt
Marcel. Bea ruft aus der Küche, „fahr vorsichtig“.
Marcel geht zur Tür raus. „ja, ja. Tschau“. „Zeig’s
denen!“ kumpelt Roland. „Jou“ antwortet er, geht
und knallt die Tür zu.
Oliver Droste 181
Irgendwo in Nirgendwo
Emira sitzt im Bad und kramt mit blutigen Händen
ihr Tablettenrörchen aus ihrer Tasche, kippt welche
in ihre Hand, nimmt sie von dort in den Mund.
Einige Tabletten kleben noch auf der Hand, die sie
herunterleckt und dann mit einem Zahnputzbecher
voll Wasser schluckt. Sie zittert noch mehr.
Bea sieht Roland an und bemerkt, „er hat keine
Schuhe an“. Es klingelt, Roland öffnet und grinst.
Marcel sieht ihn wirr an, „mensch, ich hab doch glatt
vergessen mir die Stiefel anzuziehen“. „Aber die
Gedichte hast du?“ „Klar, denkste ich fahr ohne
meine Gedichte los.“ „Natürlich nicht“, sagt Roland
ironisch.
Marcel zieht die Stiefel an und springt wieder die
Treppe herunter. Roland geht zu Bea in die Küche
zurück und setzt sich mit dem frischen Kaffee zu ihr.
Von draußen ist das Motorrad mit einer
Fehlzündung zu hören, dann lautes Motorblubbern,
quitschende Reifen und ein hupendes Auto. Das
Motorengeräusch entfernt sich.
Bea, beurteilt das Reifenquitschen in Verbindung
mit seinem Fahrstil, „er fährt sich noch mal tot“.
„Vielleicht“, gibt Roland zu. Bea sieht in den Flur
und horcht nach Emira, „wo bleibt Emira nur?“.
Etwas unsensibel fragt Roland, „wie hältst du das
eigentlich aus, wenn sie immer solche Anfälle
kriegt?“. „Na, Anfälle sind das nicht, eher
Depressionen. Einfach ist das bestimmt nicht. Manchmal ist Emira Tage lang weg, ich weiß nicht
wo. Wenn sie dann wiederkommt ist sie ziemlich
verstört. Manchmal glaube ich, sie weiß selber nicht,
Oliver Droste 182
Irgendwo in Nirgendwo
wo sie war. Zur Zeit sieht sie aber wieder ganz gut
aus, bis auf heute.“ „Vielleicht kommt das, weil sie
sich mit Marcel so gut versteht und sie demnächst
den Tablettenentzug machen will.“ „Vielleicht hat
sie diesmal eine Chance. Dann hört das endlich auf.
Ich kann mir das nicht mit ansehen, wie sie sich mit
den starken Medikamenten kaputtmacht und dann
noch was trinkt oder was raucht.“ Bea und Roland
kommen sich persönlich etwas näher. ER empfindet
Symphatie für Bea. „Wieso macht sie das denn auch
alles?“ „Sie muß wirklich ein schlimmes
Kriegstrauma haben“, meint Bea leiser, „was sie
manchmal für wirres Zeug erzählt und ihre
Alpträume. Wie oft ist sie schon nachts schreiend
aufgewacht. Ich konnte sie dann kaum beruhigen.
Wo bleibt Emira denn?“ „Ich weiß nicht, sie ist
schon ziemlich lange im Bad.“ „Ich glaube, da
stimmt was nicht.“ Diese Bemerkung ängstigt beide;
sie gehen an die Badezimmertür und klopfen,
„Emira, alles in Ordnung?“ Keine Antwort.
„Emira? Hörst du mich, alles in Ordnung?“ ruft Bea
etwas lauter. Keine Antwort.
Roland wird nervöus, „Emira, was ist los? Komm
raus!“. „Sie hat bestimmt wieder ihre Tabletten
geschluckt. Wenn ich da nicht aufpasse nimmt sie
immer mehr, damit es ihr schneller besser geht“,
erklärt Bea. Roland bückt sich nun sehr besorgt und
sieht durch das Schlüsselloch, „ach du Scheiße“,
springt hoch, schubst Bea zur Seite und tritt die Tür
ein, daß das Holz springt.
Oliver Droste 183
Irgendwo in Nirgendwo
Bea schreit „Emira?“. Sie liegt graublau auf dem
Boden in ihrem Blut mit offenen Augen in
Embryonalstellung, die Haare im Blut verklebt. Bea
dreht sie um, hört mit ihrem Ohr auf Emiras Brust,
„ruf den Notarzt!“.
Roland läuft zum Telefon, verwählt sich das erste
Mal, „Scheiße“, wählt neu; er hat die
Rettungsleitstelle am Apparat, „kommen sie schnell,
hier stirbt jemand, oder ist tot, oder so. - Was? Eh,
Albert Einsteinstraße 75, 2. Stock, kommen sie
schnell! - Was? Puls? Bea, du sollst den Puls
fühlen!“ - „Ich kann nichts fühlen.“ – „Wie, was?
Die Halsschlagader Bea, am Hals sollst du fühlen.“ Bea weint „da ist auch nichts“. – „Ja, verstanden,
Führerschein – Erste Hilfe“, wirft den Hörer
daneben und springt ins Bad zu Bea,
„los,
wiederbeleben, Herzdruckmassage, ich mache
Herzdruckmassage, du pustest, die kommen“. Für
Bea stürzt eine Welt zusammen, sie hat die
Kontrolle verloren, schwebt in freiem Fall und
schluchzt, „ja, ich kann nicht, ich“, schluchzt,
„Emira ist tot“.
Roland schiebt Bea zur Seite und pustet Emira Luft
in den Mund, Blut kommt aus der Nase. Bea sieht es
entsetzt, „halt die Nase zu, geh weg und drück“. In
dieser Not schaltet sich nun der Verstand aus und sie
arbeiten mechanisch. Bea beugt sich über Emiras
Kopf, überstreckt ihn, hält die Nase zu und bläst
Luft hinein. Roland fängt mit der Herzdruckmassage
an, „verdammt, wo bleiben die denn, scheiße, wo
bleiben die denn?“. Die Zeit schleicht so langsam
Oliver Droste 184
Irgendwo in Nirgendwo
und gedehnt durch die Wohnung, daß sie
überhauptnicht
vorbeikriechen
will.
Die
Reanimation läuft unkoordiniert ab, Bea beatmet,
während ihr die Tränen herunterlaufen.
Bea ist außer Atem, vom vielen Pusten ist sie schon
ganz benommen, als wolle sie den Sauerstoff beim
Einatmen selber nicht verbrauchen, sondern ihn
Emira überlassen, „Emira, Emira, komm zurück!“,
sie bläßt wieder in sie hinein.
Nach einiger Zeit hören sie den Notarztwagen.
Türen knallen, Geräusche, im Treppenhaus Schritte,
es klingelt. Roland springt auf, rennt zur Tür, reißt
sie auf. Der Notarzt und zwei Sanitäter kommen
herein.
Emira liegt mit offenen Augen auf dem Boden,
verliert wieder an Farbe, wird graublau im Gesicht
und starrt an die Decke, durch die Decke. Sie
bekommt Engelsflügel und schwebt aus dem Raum,
sieht nach unten, wie sie sich vom Haus entfernt. Sie
besieht sich ihre Engelsflügel und flattert in die
Wolken, genießt die Luft und lacht. Dann sieht sie
durch die Wolken nach unten zur Erde und sieht die
Autobahn, auf der Marcel fährt. Sie stürzt wie ein
Falke im Sturzflug herunter und gleitet über Marcel
durch die Luft, endlich frei.
Marcel fährt sehr schnell auf seinem Chopper. Er
spricht Gedichte vor sich her und ist mit den
Gedanken ganz woanders. Seine Geschwindigkeit
dürfte mit 170 km/h an der Leistungsgrenze sein.
Vor ihm scheert plötzlich ein BMW aus, der gerade
vom Beschleunigungsstreifen kommt, um einen
Oliver Droste 185
Irgendwo in Nirgendwo
anderen PKW zu überholen. Emira haut Marcel mit
der Faust auf den Helm und versucht zu schrein,
aber es kommt kein Ton über ihre Lippen. Marcel
schreckt aus seinen Gedanken hoch, bremst, aber ist
schon zu dicht dran. Er zieht mit dem Motorrad auf
den Grünstreifen, zwischen BMW und den
Leitplanken. Das Hinterrad fängt an zu schleudern.
Marcel versucht die Maschine wieder unter
Kontrolle zu bekommen. Emira greift am hinteren
Schutzblech das Motorrad und bringt es zum ruhigen
Fahren. Marcel kommt mit Mühe wieder auf die
Straße, indem ihm Emira mit letzter Kraft einen
Schubs gibt, wobei sie selber mit den Flügeln in die
Leitplanken kommt sich mehrfach überschlägt und
dann am Straßenrand liegenbleibt. Ihre Augen offen
in die Wolken gerichtet, ihr Gesicht graublau
werdend.
Der Notarzt fragt Roland, hinter ihm herlaufend,
„wo müssen wir hin?“, um etwas zu sagen. „Hier,
hier ins Bad.“ Der Arzt kniet sich neben Emira, fühlt
den Carotispuls, die Sanitäter stellen den Koffer ab.
Der Notarzt schaut mit einer Taschenlampe in die
Pupillen und gibt gleichzeitig kurze Anweisungen,
„Ambubeutel, Rea!“. Sie beginnen mit ihrer Arbeit.
Ein Sanitäter redet beruhigend zu Marcel und Bea,
„lassen sie uns jetzt bitte alleine, wir machen das
schon“. Bea kann sich nicht von Emira lösen, sie ist
wie erstarrt. Der Notarzt zieht sie energisch von
Emira weg, die darauf anfängt hemmungslos zu
weinen. Der Arzt sieht kurz zu Roland hoch,
„nehmen sie das Mädchen hier weg, wir brauchen
Oliver Droste 186
Irgendwo in Nirgendwo
Platz“, sieht den Sanitäter an, um weitere
Arbeitsanweisungen zu geben, „EKG, Zugang, Nabi,
zweiter Zugang Supra, Intubation vorbereiten“.
Alles läuft in gut abgestimmter Teamarbeit, ohne
viel hektik; jeder Handgriff sitzt. Der Arzt sieht auf
das angeschlossene EKG, „Arrhythmie, Defi laden,
Gel auf die Paddels, wir wollen die junge Dame ja
nicht grillen, wie den letzten!“ und grinst, denn auch
in diesem Beruf arbeitet man nicht ohne Humor,
wennauch er schwarz ist. Ein Rettungssanitäter sieht
zur Tür zu Roland und Bea, „los, gehen sie mit dem
Mädchen nach nebenan, machen sie Kaffee oder so
was“, um sie mit einer sinnvollen Beschäftigung von
dieser
Situation
abzulenken,
denn
zum
Kaffeetrinken werden sie erst wieder auf der Wache
kommen. Roland zieht Bea am Arm, froh, einen
Grund gefunden zu haben, diesen schrecklichen
Schauplatz endlich verlassen zu dürfen, von der
Wiederbelebung entbunden zu sein, „los nun komm
endlich, wir können nichts mehr tun“. „Das ist
meine beste Freundin“, wehrt sich Bea. Roland zieht
sie jetzt mit sanfter Gewalt in den Flur und Bea ruft
beim Schließen der Tür, „retten sie sie“. „Wir tun
unser Bestes, gehen sie, das ist jetzt nichts für sie.“
Der Defi piept. Der Notarzt ruft um sich sehend,
„alle zur Seite!“, setzt die Paddels auf und drückt ab.
Emira zuckt mit den Armen und macht ein
Hohlkreuz, liegt dann wieder regungslos da. Der
Notarzt sieht auf das EKG, „Dolorhythmal, 10 ml!“;
der Sani zieht auf, zeigt dem Arzt die Ampulle mit
der fertigen Spritze und verabreicht es.
Oliver Droste 187
Irgendwo in Nirgendwo
In der Küche weint Bea, Roland zündet sich mit
zitternden Händen eine Zigarette an und raucht
hastig mit Blut am Mund und verschmiert im
Gesicht. Nach einiger Zeit, als er ein poltern im Flur
hört, öffnet er die Küchentür und sieht zum Bad
hinüber, dann zur Wohnungstür. Die Sanis kommen
gerade mit der Trage hoch, Emira wird etwas
unsanft
aufgelegt,
das
EKG
läuft,
ein
Beatmungsgerät ist am Tubus angeschlossen, der aus
ihrem Mund steht. Die Infusion wird vom Notarzt
hochgehalten. Der Notarzt bittet Marcel, „bringen
sie bitte die Koffer mit runter!“. „Ja, sofort.“ Er wirft
die Zigarette in die Spüle, wo sie zischend im
Geschirr verglimmt und tut, wie ihm aufgetragen.
Das Treppenhaus ist eng und die Rettungssanitäter
schnaufen heftig bei der Anstrengung.
Emira wird zum Wagen getragen und eingeladen,
Roland reicht die Koffer hinein und Bea läuft
kopflos umher, die Sanitäter fragend, „kann ich
mitfahren?“. „Sie können jetzt nichts tun, kommen
sie einfach zum Krankenhaus nach, dort können sie
warten. Bringen sie ihrer Freundin einige Sachen
mit“, springt, nachdem er alle Türen geschlossen
hat, auf den Fahrersitz und fährt mit Alarm los.
„Komm Bea, ich bringe dich ins Krankenhaus.“ Sie
laufen beide zum Wagen und fahren hinterher.
Oliver Droste 188
Irgendwo in Nirgendwo
XXII
Wie Marcel eine Scheibe einschlägt und nach
Berlin kommt
Zwei Proleten und ihre Freundinnen, Kinder,
Wachmänner, Diner, Pressemann, Veranstalter.
Noch 100 km bis Berlin. Vor Marcel taucht ein
notorischer Rechtsfahrer mit vier Personen im Auto
auf. Vorne sitzten zwei Typen mit Gel in den
Haaren, Sonnenbrille auf und hören laut Rap mit
durchschlagendem Bass. Hinten sitzen zwei Frauen.
Marcel blendet auf. Doch das Auto fährt links
weiter. Er will rechts überholen, doch der Wagen
zieht nach rechts hinüber. Marcel muß wieder
abbremsen. Die beiden Frauen drehen sich um und
grinsen. Marcel schimpft, zieht nach links, doch der
Wagen macht es ebenfalls. Marcel muß bremsen,
damit er nicht auffährt und schimpft, „du Penner,
soll ich mich totfahren, Lackaffe!“.
Die Personen scheinen sich zu amüsieren. Sichtlich
mit Spaß im Gesicht sehen die Frauen nach hinten
aus dem Fenster. Marcel hupt, hebt die Faust und
schimpft. Marcel täuscht jetzt das Überholen rechts
an und zieht links vorbei, als der PKW nach rechts
zieht. Die Lackaffen versuchen ihn noch durch ihr
linksfahren zum Bremsen zu bewegen, doch das
Motorrad ist haarscharf vorbei. Marcel macht jetzt
vor dem Wagen eine Vollbremsung, das Auto macht
es ihm gezwungenermaßen nach. Marcel stellt das
Oliver Droste 189
Irgendwo in Nirgendwo
Motorrad auf den Seitenständer, das Blut staut ihm
die Venen, „jetzt hab’ ich aber die Schnauze voll,
die sind dran“. Marcel steigt ab, geht finster,
schwarzledernd mit Sonnenbrille auf den Wagen zu.
Alle vier Insassen drücken erschrocken die Knöpfe
runter und sehen mit großen Augen zu Marcel.
Hinter dem Auto machen zwei PKW’s eine
Vollbremsung und kommen gerade noch zum
Stehen. „Los du Schwein, mach die Tür auf, ich
bring dich um“; er faßt den Türgriff und rüttelt
daran, die vier im Auto grinsen etwas verstört, sich
in Sicherheit wiegend. „Mach die Tür auf Arschloch,
ich schlag dir die Fresse ein.“ Die Autos hinten
hupen. Marcel sieht in das blöde grinsende Gesicht
des Fahrers, ballt die Faust, holt aus und schlägt die
Scheibe ein. Die Insassen werden blaß, der Fahrer
weicht zum Beifahrer und die beiden Frauen
schreien auf.
Dieser Kerl hätte ihn fast umgebracht. Wieviele
Motorradfahren haben schon den Todeskuß der
Leitplanken gefühlt, „komm raus du Schwein, ich
bring dich um. (Die Frauen fangen an zu heulen.
„Komm raus!“ Marcel greift nach dem Ärmel des
Fahrers, dieser versucht sich zu wehren, indem er
mit der Hand auf den Lederhandschuh schlägt und
nervöus ruft, „spinnst du, es war doch nur ein Spaß“.
„Und ich schlag Dich jetzt aus Spaß tot. Du hättest
mich fast umgebracht.“ Marcel fällt sein Thermin
wieder ein, „Wichser!“ und geht zu seinem
Motorrad, startet und fährt mit durchdrehendem
Reifen los.
Oliver Droste 190
Irgendwo in Nirgendwo
Nach einiger Zeit kommt er an einen ausscherenden
Bus. Einige Kinder in der letzten Reihe winken
Marcel zu. Der Bus schert wieder ein, Marcel winkt
zurück und grinst breit, wobei er in einen
Fliegenschwarm kommt, der in sein Gesicht und auf
seine Zähne klatscht. Jetzt grinsen die Kinder.
Marcel wischt sich einen Teil der Insekten von der
Brille und vom Gesicht, gibt Gas und fährt auf
einem Rad unter Jubel der Kinder am Bus vorbei.
In Berlin angekommen fragt sich Marcel bei
Taxifahrern durch, findet die Straße und kommt an
eine Absperrung. Ein Wachmann, einer privaten
Sicherheitsfirma kommt auf ihn zu, sieht einen
Rocker, der unerwünscht ist, da er nicht hierher paßt.
Er kann die gefährlichen Leute an Äußerlichkeiten
erkennen; überzeugt von seiner Menschenkenntnis,
„hier ist gesperrt, sie müssen woanders langfahren“.
„Hier soll doch eine Lesung stattfinden“, entgegnet
Marcel. „Das ist richtig, sie müssen trotzdem
woanders langfahren“, beharrt der Wachmann. „Da
muß ich hin.“ „Das glaube ich kaum“, besieht ihn
der Wachmann verachtend von oben bis unten, „hier
kommt niemand durch, nur mit Einladung.“
Marcel zieht sich seinen Lederhandschuh aus, kramt
in seiner Lederjacke, faltet die Einladung auf und
reicht sie dem argwöhnischen Sicherheitsbeamten,
der kurz ließt, „zeigen sie erst mal ihren Ausweiß,
könnte ja jeder kommen“. Marcel sieht nun das Wort
Koryntenkacker personifiziert vor sich stehen, zieht
sein Portemonnaie und gibt dem Wachmann den
Ausweis, der den Namen vergleicht. „Setzen sie mal
Oliver Droste 191
Irgendwo in Nirgendwo
ihre Brille ab.“ Er vergleicht das Foto mit dem
Original und muß kapitulieren, „na ja, dann fahren
sie eben durch“ und gibt die Papiere zurück, Marcel
fährt ärgerlich los, eine Fehlzündung erschreckt
einige Sicherheitsbeamte. Vor dem Haupteingang
fährt gerade eine Limousine weg, Marcel fährt vor.
Der Diner sieht ihn fassungslos an. Marcel fühlt sich
fehl am Platz, mit einer solch vornehmen
Veranstaltung hat er nicht gerechnet und fragt, „sag
mal, wo kann ich das Motorrad parken“. „Tut mir
leid mein Herr, darauf sind wir nicht eingerichtet“,
antwortet der Diner verwirrt, sich das erste Mal in
einer solchen Situation befindend.
Zwei Sicherheitsbeamte kommen angelaufen,
Pressefotografen
knipsen.
Die
Beamten
gestikulieren, es entsteht ein Streitgespräch durch
Kompetenzgehabe. Es wird wichtig in Funkgeräte
gesprochen. „Was is’n hier los, soll der Papst auch
kommen, oder was?“ raunt Marcel unbeachtet, er
klopft dem Sicherheitsbeamten auf die Schulter, der
sich finster umdreht. „Sagen sie, ich soll da drinnen
lesen und da werde ich jetzt auch reingehen.“ So läßt
sich der Beamte seine Kompetenz schon gar nicht
übergehen, „zeigen sie erst mal ihre Einladung“.
„Die habe ich gerade ihrem Kollegen gezeigt.“ „Das
interessiert mich nicht.“ Marcel muß wieder die
Brille absetzen. Der Beamte telefoniert mit seinem
Handy.
„Ich soll da jetzt gleich lesen und bin schon spät
genug“, sagt Marcel und sieht auf seine Uhr.
„Augenblick, sie kommen da so nicht rein.“ Marcel
Oliver Droste 192
Irgendwo in Nirgendwo
stellt das Motorrad aus und steigt herunter.
„Moment, Moment, das Ding kann hier nicht stehen
bleiben!“ schnauzt der Beamte. Der Diner will sich
nun auch einmischen, da hier sein Platz ist, seine
Aufgabe, die er pflichtgetreu erfüllen will, wie er es
sein Leben lang getan hat. Marcel drückt ihm seinen
Schlüssel in die Hand, „dann kümmert euch darum“
und will an diesem vorbei. Ein Securitymann schiebt
den Diner zur Seite, weist ihn in seine Grenzen, „das
hier ist jetzt nicht mehr ihre Aufgabe, ich zeig ihnen
Mal wie das hier läuft“, greift Marcels Arm und
dreht ihn auf den Rücken. Marcel sieht seine
einmalige Chance, hier zu lesen,
langsam
schwinden und wehrt sich, „hey, was soll’n das, laß
mich los“. Der Sicherheitsbeamte ruft zum
Kollegen, „ruf die Polizei, der wird erst mal
festgesetzt“. Marcel kann nicht glauben, schon
wieder mit der Polizei in unangenehmen Kontakt zu
kommen, dreht sich mit einem Ellenbogenstoß
heraus. Es gibt ein Handgemenge und jemand
schlägt Marcel auf das Auge. Ein weiterer
Sicherheitsbeamter kommt angelaufen und Marcel
wird unter Gewalt hineingeführt. „Ich sag’ euch, ich
soll da gleich lesen.“
Es kommt jemand in Anzug angelaufen und spricht
mit dem Beamten, sieht sich die Einladung an, dann
zu Marcel, „entschuldigen sie, das hier ist wohl ein
großes Mißverständnis, wir erwarten sie bereits“.
Marcel löst sich aus den sich lockerndem Griff des
verständnislos blickenden Wachmanns heraus, sieht
ihn triumphierend an, „sag ich doch“. Ein
Oliver Droste 193
Irgendwo in Nirgendwo
Pressemann, der eine Schlagzeile wittert kommt aus
dem Eingangsbereich angelaufen und ruft,
„Augenblick, ein Foto bitte“. Der Mann im Anzug
und Marcel stellen sich in Pose, die
Sicherheitsbeamten stehen hinter dem Pressemann.
Marcel grinst sie an, wobei ihm das Veilchen und
die Fliegen auf den Zähnen unfreiwillige Komik
verleihen. Der Reporter grinst, „danke, das gibt
einen Aufhänger“.
Alle gehen hinein. Vorne am Rednerpult übt sich
jemand in belangloser Rhetorik, die Gäste sehen
wichtig und aufmerksam zu. Marcel wird ein Platz
zugewiesen, worauf er durch das angewidert
gaffende Publikum diesen einnimmt. Eine
überschminkte ältere Dame in Abendkleid und
protzenden Klunkern sieht ihn verachtend an.
Tolleranz hat ihre Grenze. Marcel bemerkt diesen
Blick und flüstert, die Hand zum Gruß erhoben,
„Tachchen junge Dame“ und grinst, worauf diese
sich zu ihrem
Begleiter wendet,
diese
Unverschämtheit anzeigend. „Schscht!“ kommt es
von hinten ärgerlich. ‚Oh, verdammt, das wird hier
in die Hose gehen‘ befürchtet Marcel.
Verschiedene Künstler tragen vorne am Rednerpult,
wichtig gestikulierend mit gekonnten rethorischen
Pausen, ihre Arbeiten vor. Nach einiger Zeit wird
Marcel dann aufgefordert nach vorne zu kommen,
um zu lesen. Marcel beginnt sein erstes Gedicht
vorzutragen.
Ein
Handy
klingelt.
Ein
Sicherheitsbeamter dreht sich weg und flüstert
etwas. Marcel sieht von seinen Schriften hoch und
Oliver Droste 194
Irgendwo in Nirgendwo
etwas ärgerlich zu dem Sicherheitsbeamten hinüber.
Er unterbricht seine Lesung, einige Zuschauer
drehen sich um und blicken den Störenfried
ärgerlich an. Nicht das dieser Mann ihm schon
draußen genug ärger gemacht hat, nein jetzt will er
seine große Stunde vereiteln, „können sie nicht
zuhause telefonieren, es stört!“. Der Mann dreht sich
weg und flüstert ins Telefon, „Moment“, spricht zu
seinem Kollegen, dann sehen sie auf ein Papier mit
dem Tagesablauf und schauen auf die Uhr. Er sieht
sich zu Marcel um, der immer noch pausiert,
„entschuldigen sie“. „Sind sie bald fertig?“ „Sind sie
Herr Heym?“ „So ist es“, entfährt es Marcel. „Es ist
für sie, wichtige familiäre Angelegenheit“, fügt der
Wachmann hinzu, er bringt das Handy nach vorne
und gibt es Marcel. Dieser versteht nicht, was hier
vorgeht, und sagt, etwas aus dem Konzept gebracht,
„doch nicht jetzt!“, nimmt das Telefon entgegen, „ja,
- hallo?“ dreht sich weg, „Roland, sag mal, bist du
verrückt, ich stehe gerade... Was? Was ist los? Und
wie geht es ihr jetzt? Was? Kommt sie durch? Was? Scheiße!“. Marcel legt das Handy auf das
Rednerpult und rennt hinaus.
Ein verständnisloses Tuscheln geht durch das
Publikum. Der Mann im Anzug kommt angelaufen,
spricht mit dem Sicherheitsbeamten. Marcel springt
auf sein Motorrad und rast mit rauchendem
Hinterrad los.
Oliver Droste 195
Irgendwo in Nirgendwo
XXIII
Vom Drachen und verfliegendem Lichtlachen
Marcel, Emira, Schwester
Tage
vergehen,
fliegen
schnellen
Fluges
horizontwärts. Marcel verbringt sie im Krankenhaus
am Abgrund von Emiras Bett. Sie wird gerade von
einer Schwester gefüttert, „So ist es schön und noch
einen Happen, so schön den Mund aufmachen. So,
nur noch ein Löffelchen“ und wischt ihr den Mund
ab, „bist ein feines Mädchen“. Marcel sieht finster
angewidert durch seine ins Gesicht hängenden Haare
zur Schwester, erschüttert von der Situation, „hören
sie auf, lassen sie das. Emira ist kein kleines Kind“.
Die Krankenschwester sieht ihn ärgerlich darüber,
daß so ein junger Rotslöffel ihr in die Arbeit redet,
an, der nicht einmal verwandt ist mit der Patientin,
„hören sie mal junger Mann, ich mache das schon
dreißig Jahre“. „Man kann es auch dreißig Jahre
verkehrt machen. Lassen sie das!“
Oho, ihr sagen, daß sie das falsch macht. „Ich werde
mich beim Oberarzt beschweren“, giftet sie Marcel
an. „Verschwinde bloß du alter Drachen!“ „Uhh, das
muß ich mir nicht bieten lassen. Das ist mir noch nie
passiert. Sie werden schon noch sehen, was sie
davon
haben“,
droht
der
Drachen
schwefeldampfend,
feuerspuckend.
„Kschsch,
kschsch!“ verscheucht Marcel das altersschwache
Reptil. „Sowas hab ich ja noch nicht erlebt, nein,
Oliver Droste 196
Irgendwo in Nirgendwo
nein,“ raucht kopfschüttelnd aus dem Zimmer, „wie
undankbar dieses Volk“.
Marcel ist endlich alleine mit Emira. Sie riecht nach
Creme oder irgendwelchem Puder, „hörst du mich?
Weißt du was ich heute mitgebracht habe?“. Er holt
einen Zettel heraus, faltet ihn auf und zeigt ihn
Emira, die mit offenen Augen regungslos ins
Zimmer starrt. Ihr Augengrün scheint ergraut. „Es ist
dein Platz“, lächelt er mit feuchten Augen, „du weißt
doch, um den Psychopharmerkaentzug zu machen.
Dein Platz auf den du gewartet hast“ und fügt
verbittert hinzu, „endlich hast du deinen Platz“.
Marcel zerknüllt den Zettel und gibt ihn Emira in die
Hand, die ihn aus Reflex greift. „Ja Emira, jetzt
nützt er nichts mehr, was?“ Er füttert Emira, zittert
in der Stimme, „wo bist du jetzt, bist du jetzt
glücklicher? - Jetzt hast du keine Sorgen mehr. Jetzt
weißt du gar nicht mehr, was das bedeutet. Wie kann
denn nur das Leben so ungerecht sein? Du hast doch
schon genug durchgemacht. Jetzt hättest du den
Platz, jetzt wäre deine Chance, jetzt könnten wir
glücklich werden.“ Er streicht Emira durch das Haar,
sie bewegt im Reflex die Augen.
Marcel küßt sie auf die Stirn, ihr die Nacht
herauszusaugen, Prinzessin Dreck wachzuküssen.
Eine Träne fällt aus seinem Auge in Emiras, das
darauf grün aufleuchtet, grüner, als Marcel es in
Erinnerung hat, er sieht in ihre tiefe Dunkelheit und
stürzt hinunter ins Giftgrün, von sanfter Schwerkraft
verlockt, gesogen. Im Lichtfall hockt ein Schimmer
von Erinnerung auf der Wimper, springend, blitzend,
Oliver Droste 197
Irgendwo in Nirgendwo
blinkt und platzt auf beim Aufprall und versinkt im
Gedankenland bergauf. Ein Bach wird daraus
entstehen, an der Wange unter Trauerhaarkraus
gesehen. Marcel flüstert, „ich werde dich suchen
zwischen den Welten; ich werde dich finden und
nach hause bringen, nach hause zu mir. Wir werden
dann für immer zusammenbleiben.“ Er sitzt am Bett,
sein Auge brennt aderrot, das Lichtlachen wurde
ertränkt. Marcel steht auf und geht.
In Emiras Augen ist klebende Traurigkeit
flechtengrün
in
tropenmangrovenartig
alten
Fiebermühen gefangen. Ihr Gesicht ist weiß und
glatt, gleicht einem Kristallhauch, bleicht und
zerstaubt zu Elfenbeinstein. Das schwarze Haar im
Kontrast
zerquellt
opheliahaft;
unter
den
Augenlichtern drücken nicht geweinte Tränenfalten.
Sie sucht im Dunkel ihrer zerfließenden Nacht das
Augenfunkel, das sie umgebracht hat. Jetzt dunkelt
es brackwasserstinkend in ihrer Stirn schwer, trüb
versinkend, blickt nach Nirgendwo.
Oliver Droste 198
Irgendwo in Nirgendwo
XXIV
Emira, Pfleger, Mutter, alter und junger Polizist,
Taxifahrer, Chefarzt, Landpolizei, Passanten,
Roland, Arzt.
Ein Pfleger kommt herein, setzt Emira in den
Rollstuhl und schiebt sie hinaus, um sie auf eine
andere Station, für sogenannte therapieresistente
Fälle zur Pflege, zu bringen. Es ist die Station, wo
jetzt ihre Mutter ist. Seit Wochen blieb Emira in
ihrem Wachkoma gefangen. Auf der Station kommt
ihre Mutter den Flur herunter mit einer Puppe im
Arm und erkennt Emira, „huh, Emira, da bist du ja.
Mein kleines Mädchen“. Der Pfleger stellt Emira ab
und geht ins Schwesternzimmer.
Die Mutter setzt sich Emira gegenüber in eine
Sesselgruppe und strahlt, „jetzt bist du endlich
wieder da. Jetzt bist du endlich bei mir. Jetzt bleibst
du bei mir.“ Sie legt ihre Puppe zur Seite, beugt sich
vor und nimmt ihr Tochter in den Arm. Emira
bewegt die Hand, die Umarmung zu erwidern. Ein
Arzt sieht erstaunt durch die Glasscheibe in den
Flur. Die Mutter streicht Emira durch das Haar,
streichelt ihr Gesicht. Emira bewegt die Augen. Jetzt
hebt sie die Hand und streicht der Mutter durch das
Haar, sieht sie an und flüstert heiser, „Mama, ich bin
wieder da“. „Ja Emira, da bist du endlich.“
Ein Arzt sieht durch die Scheibe des
Stationszimmers und sagt zu einer dabeistehenden
Schwester, „sehen sie mal, da bahnt sich ein kleines
Oliver Droste 199
Irgendwo in Nirgendwo
Wunder an, ist nicht möglich“. „Ist das nicht der
Neuzugang,
die
Apoplektikerin
mit
dem
Tablettenintox?“ fragt ihn die Schwester. Der arzt
zeigt auf eine braune Mappe, „zeigen sie mir doch
einmal die Papiere; so ist es angemeldet. Ich glaube
die Kollegen haben sie etwas zu früh abgeschrieben,
interessante Sache.“ Die Schwester reicht sie ihm
und erwähnt, aus der Scheibe blickend, „nach 8
Wochen hätte ich das aber auch nicht mehr für
möglich gehalten“.
Der Stationsarzt überfliegt den Bericht und sieht
hinaus zu Mutter und Tochter, „sehen sie mal, Frau
Bladievic verhällt sich vollkommen anders, als hier
im Bericht beschrieben. Das ist ja interessant, sehr
interessant. „Mensch, das ist ja mal ein Ding“, freut
sich die junge Krankenschwester. „Ja, ja, nicht alles
läßt sich in der Medizin voraussagen. Wird eine
interessante Untersuchung geben“, freut sich der
Medizinmann auf die folgenden Tage. „Soll ich die
Angehörigen unterrichten?“ fragt ihn die Schwester.
„Der Vater ist doch im Kosevo ums Leben
gekommen ihre Schwestern doch auch, oder irre ich
mich? Deswegen haben wir die Mutter auch hier in
Behandlung“. „Und was ist mit dem Freund?“ fragt
die Schwester. „Warten sie erst einmal. Ich werde
sie zuerst untersuchen, sicher eine interessante
Untersuchung.“
Oliver Droste 200
Irgendwo in Nirgendwo
XXV
Negative Creep bricht Polizistennase
Marcel ist ermüdet zu Hause angekommen; seine
Hoffnung um Emira ist auf einen Tiefpunkt
angekommen. So viele Tage ist er dort gewesen, so
lange hat sich bei ihr nichts geändert. Er geht in die
Küche, wo Roland auf dem Sofa sitzt und ihn
begrüßt, „hallo, wie ist es?“. „Wie soll es sein?“
„Was hat der Arzt gesagt?“ Marcel sieht ihn aus der
finsteren Tiefe seiner hohlen Augen an, „aus seinem
Latein hab ich nur so viel verstanden, daß da wohl
nichts zu machen sei. Wahrscheinlich wegen dem
Sauerstoffmangel.“
Roland, dem sein Mitbewohner langsam fremd
geworden ist, fragt ihn weiter, um mit ihm zu reden,
„wo warst du gestern?“, denn Marcel lebt seit
Emiras Koma zurückgezogen und spricht nicht mehr
viel. „Ist doch egal“ ist die kurze abweisende
Antwort. „Da waren zwei Polizisten hier, Du weißt
doch noch, unsere beiden Dorfsheriffs“, erklärt
Roland. „Und was wollten die?“, fragt Marcel
desinteressiert. „Keine Ahnung. Irgendwas war, als
du nach Berlin gefahren bist.“ „Ja?“ „Die wollten
noch mal wiederkommen.“ „So.“ Roland weiß nicht, wie er an seinen Freund wieder
herankommen soll und wird etwas vertraulicher und
geht auf Marcel zu, um ihm wenigstens Physisch
näherzutreten, „gibt es denn keine Hoffnung für
Emira?“. Marcel geht an Roland ärgerlich vorbei,
Oliver Droste 201
Irgendwo in Nirgendwo
„wenn da was im Gehirn abgestorben ist, wegen der
Sauerstoffunterversorgung“, er sieht Roland finster
an, „weil ihr die Wiederbelebung nicht richtig
hingekriegt habt“ und geht in sein Zimmer.
Roland wird ärgerlich über diese zerstörte
Freundschaft und schnauzt hinterher, „sag’ mal, du
bist vielleicht ‘n Arschloch, was denkst du, was wir
getan haben. Du weißt ja gar nicht ... . Du hättest
auch nicht so schnell abhauen zu brauchen. Hättest
du auf Emira gewartet, bis sie aus dem Bad ist ...“.
Nun scheint die Freundschaft doch noch durch
Emira zerstört worden zu sein, nur so, daß alle
Beteiligten dadurch voneinander getrennt worden
sind.
Marcel kommt nocheinmal zurück schreit ihn an,
„halt bloß deine Schnauze, jetzt bin ich noch daran
Schuld, daß ihr nicht richtig wiederbeleben konntet“.
„Du machst es dir einfach. Suchst dir einen
Schuldigen“,
verteidigt
sich
Roland,
den
Federhandschuh
zurückschleudernd.
Verwirrt
darüber, daß es ein Schicksalsschlag ist, wofür kein
Schuldiger anklagbar ist sagt Marcel, „ich, - ich
hätte, ach Scheiße, sie hat einen Platz, es wäre alles
gut gegangen. Wieso ist das verdammte Leben nicht
wie’n Hollywoodfilm, so mit Happy End?“, geht in
sein Zimmer und macht laute Musik an; Nirvanas
‚negative creep‘ ist zu hören.
Roland entschuldigt sich vor sich selbst, „was hätte
ich denn machen sollen. Beim Erste Hilfe für’n
Führerschein hab ich auch nicht richtig aufgepaßt,
ich glaub’ ich fahr am besten zu Bea, hier weg.“
Oliver Droste 202
Irgendwo in Nirgendwo
Roland schnappt sich seine Jacke und geht zur Tür,
wo es jetzt klingelt, er öffnet. Der alte und der junge
Polizist stehen dort. Der ältere, wichtig
dreinblickende, sich wie ein Spatz im Winter,
aufplusternde, fragt unfreundlich, „wohnt hier ein
Marcel Heym?“, dann unverschämt unfreundlich,
„ach quatsch, natürlich wohnt dieser Verbrecher
hier. Na los, holen sie ihn!“. Der junge Kollege
versucht, irgendwie noch die dienstgebotene
Höflichkeit zu wahren und fragt nocheinmal, als
würde das diese feindliche Stimmung etwas lösen,
„ist er wohl zuhause?“ und sieht seinen Kollegen
vorwurfsvoll an.
Roland dreht sich, „moment mal“, geht, klopft an
Marcels Tür und öffnet sie. Die dröhnende,
m,arschierende E-Gitarre erbricht sich zu den
Polizisten; Kurt schreit gerade ‚I’m a negative creep,
I’m a negative creep, I’m stoned...‘. Marcel sitzt am
Schreibtisch, dreht sich um. Roland kommt
unaufgefordert herein und macht die Musik aus, was
bei Marcel eine nicht gerade wohlgesonnene
Stimmung erzeugt. Roland erklärt sein Handeln,
„dein Freund und Helfer steht vor der Tür“. Marcel
sieht ihn genervt an, „was? Was wollen die Bullen
denn schon wieder?“ und steht auf. „Die sind nicht
gerade das, was man gut gelaunt nennt“, schwenkt
Roland den Zaunpfahl, um Marcel zu warnen, daß
ihn wohl eine ernste Angelegenheit erwartet. Marcel
ist schon mit Aggressivität und Nonchalance
beladen, „ich auch nicht“, geht hinaus, sieht seine
Oliver Droste 203
Irgendwo in Nirgendwo
beiden Freunde dort stehen, „was wollt ihr zwei
denn schon wieder?“.
Dieser kumpelhafte Ton ist bei dem alten Polizisten
unangebracht. Er holt einen Zettel heraus, hält ihn
Marcel hin und wedelt mit diesem roten Tuch
triumphierend vor Marcels Augen, „so Freundchen,
heute ist der schönste Tag in meiner Laufbahn. Ich
habe darum gebeten hierher fahren zu dürfen. Es
gibt doch einen Polizistengott, - du bist
festgenommen.“ „Is’ ja’n Ding“, quittiert Marcel
gelassen.
Roland ist über den Ernst der Situation erschrocken
und fragt den Beamten, „wieso?“. Der junge Kollege
greift in die Stimmung erklärend ein, „er soll vor
Berlin auf der Autobahn auf der linken Spur geparkt
haben“. Marcel kann sich angesichts dieser
Vorstellung ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
Roland
appeliert
an
den
gesunden
Menschenverstand, „so’n Blödsinn. Überlegen sie
doch mal, auf der Überholspur. Marcel ist doch nicht
verrückt“, sieht bei diesen Worten Marcel an und
weiß, daß er es doch ist.
Der alte Polizist setzt seinen Triumpfzug weiter fort,
„dann gab es noch Sachbeschädigung, versuchte
Körperverletzung und bei einer Veranstaltung hat er
einen Wachmann
angegriffen,
klingt
das
glaubwürdiger?“, um dann die Siegessäulen zu
küssen, greift Marcels Arm und versucht ihn auf den
Rücken zu drehen, dieser wehrt sich und will sich
losreißen. Der alte greift jetzt Marcel in die Haare
und reißt seinen Kopf in den Nacken. Von dieser
Oliver Droste 204
Irgendwo in Nirgendwo
Durchführung seiner freudigen Pflicht hat er die
letzten Nächte schon geträumt, auch auf der Hinfahrt
in seinen Polizeiheldentagträumen. Das das so
einfach werden wird, hatte er sich jedoch nicht
erträumt.
„Was soll’n das, ah, Arschloch“, schimpft Marcel.
„Wie schön, nun haben wir auch noch
Beamtenbeleidigung“, schwellt es beglückt aus dem
Beamten heraus. „Ah, las meine Haare los, du
Penner.“ „Ich kann auch anders, Bürschchen.“ „Ich
auch“, warnt ihn Marcel, greift nach der Hand in
seinem Haar, bekommt den kleinen Finger zu fassen,
reißt ihn weg, daß es knackt. Der jüngere Kollege
will eingreifen, doch Marcel ist schon los und tritt
dem zu Hilfe eilenden zwischen die Beine, so daß
dieser mit einem erstickendem Ausdruck im Gesicht
zusammensackt. Der alte sieht das und will nach
seiner Waffe greifen, doch Marcel hat schon
ausgeholt und dem erschrockenem Wachtmeister mit
einem Faustschlag die Nase gebrochen. Roland steht
nicht weniger überrascht im Flur und versteht nicht,
was dort vor sich geht. Der alte Polizist sackt
ebenfalls zusammen. Marcel schnappt sich seine
Lederjacke und springt über die Polizisten durchs
Treppenhaus raus, wirft seine Maschine an und fährt
los. Der junge Polizist atmet schwer, richtet sich auf
und rüttelt den Kollegen, doch erfolglos, dieser ist
noch in Lummerland, träumt noch von seinem
großen Tag. Der junge steht auf, geht gekrümmt
zum Wagen hinunter zum Funk.
Oliver Droste 205
Irgendwo in Nirgendwo
Der alte kommt im Flur vor der Tür liegend gerade
langsam wieder zu sich. Für Roland ist gerade eine
Welt zerstört worden; ersieht den alten Beamten an
und verurteilt ihn, „selbst Schuld, ihr macht euch
eure Verbrecher auch selber“. Dieser sieht auf die
Hände gestützt hoch, will diesen über seine Rechte
aufklären, doch knallt Roland die Tür schon zu, die
den älteren Kollegen wieder am Kopf trifft. Roland
schnappt sich seine Jacke, luft zu seinem Wagen und
fährt zu Bea.
Oliver Droste 206
Irgendwo in Nirgendwo
XXVI
Die Flucht nach Nirgendwo, oder wie das Netzt
gesponnen ist
Zur gleichen Zeit im Krankenhaus:
Emira weiß von den Ereignissen und dem sich
änderndem Schicksal nichts, wird jedoch lebhafter.
Mag sein, daß es keine Seelenverwandtschaft gibt,
vielleicht auch keine Telepatie. Es wäre aber eine
gute Möglichkeit, um ihren Drang, aus dem
Krankenhaus zu kommen, zu erklären. Die
Lebensgeister sind zurückgekehrt, mit einer Kraft,
die sich im Menschen entwickeln kann, für die es
jedoch auch keine annehmbare rationelle Erklärung
gibt. Sie fast den untersuchenden Arzt an den Armen
und fragt erschrocken, „wo ist Marcel?“. „Ich weiß
es nicht“, antwortet dieser. Die assestierende
Krankenschwester fügt hinzu, „wir rufen gerade bei
ihrer Freundin an“ und lächelt. „Ich will nach
hause“, flattert Emira, wie ein Vogel im Käfig, wo
ist Marcel?“. Der Arzt beruhigt sie ebenfalls
lächelnd, zähnefletschend, „sie müssen sich
beruhigen, kommen sie erst mal zu Kräften und
entspannen sie sich“. Sein Gebiß entspricht nicht
ganz den Proportionen und erzeugt einen
bedrohenden Ausdruck. Emira wehrt diesem, „sie
brauchen nicht so blöd zu grinsen, ich bin ordentlich
ausgeruht, mir geht es gut“.
Oliver Droste 207
Irgendwo in Nirgendwo
Marcel ist mit dem Motorrad unterwegs. Bevor sich
sein Schicksal erfüllt und der Polizistengott ihn
richtet, möchte er nocheinmal Emira im
Krankenhaus sehen; was dann mit ihm wird ist ihm
mittlerweile egal. Die allamierte Polizei ist mit
mehreren
Streifenwagen
unterwegs,
einen
Gewaltverbrecher zu fangen, eine willkommene
Ablenkung vom Polizistenalltag in dieser Kleinstadt.
Marcel ist im Straßenverkehr auffällig, da er ohne
Helm fährt. In der Zwischenzeit kommt Roland bei
Bea an.
Der Keis der Verfolger zieht sich enger, da Marcel
keine Nebenstraßen benutzt. Er bemerkt einen
Streifenwagen hinter sich und flucht, seine
Fahrtroute ändernd, „Scheiße, dann eben nicht“ und
gibt Gas. Die Streife melodet über Funk, „haben
verdächtige Person gefunden, fährt mit hoher
Geschwindigkeit Richtung Innenstadt“. Marcel
versucht entschlossen, zu Emira zu kommen.
Und zurück bei Emira.
Der Stationsarzt versucht Emira zu beruhigen, „sie
müssen sich erholen, sie können nicht so schnell
gesund sein“, seine jahrelange Erfahrung schützend
und geht ins Schwesternzimmer. „Mir geht es gut“,
verteidigt sich Emira verärgert, „hab’ mich schon
schlechter gefühlt“.
Emira und ihre Mutter sind nun alleine. „Mama, ich
halte es hier nicht aus, hilfst du mir?“ fast Emira
entschlossen ihr Schicksal. Die Mutter ist glücklich
Oliver Droste 208
Irgendwo in Nirgendwo
über die Anwesenheit ihrer Tochter und den sich
aufhellenden eigenen Verstsand, als sie ihr
antwortet, „oh, Emira, ich helfe dir“.
Emira hört ein Motorrad und läuft zum Fenster.
Martinshorn ist zu hören. Sie erkennt ihn draußen
vor dem Krankenhaus und schreit, „Marcel, da ist
Marcel, warte auf mich!“ und läuft zur Mutter und
fordert sie in ihrer Spontanität auf, „lenk sie ab
Mama. Du mußt sie ablenken, ich schleiche zur Tür.
Du mußt den Öffner irgendwie betätigen.“ „Denkst
du daß das richtig ist?“, sagt die Mutter bemutternd.
„Was ist schon richtig?“ Sie umarmen sich. „Vergiß
mich nicht mein Mädchen.“ „Du wirst auch bald
rauskommen, alles wird gut, dann stell ich dir
Marcel vor.“ „Ist gut.“ Sie verlassen beide das
Zimmer.
Marcel macht eine Vollbremsung vor dem
Krankenhaus, dreht, da von vorne ein zweiter
Polizeiwagen gekommen ist. Er sieht zum
Krankenhausfenster hoch, als habe er Emira
irgendwo gesehen, doch findet nicht das Gesicht, das
er suchte. ‚Kann ja auch nicht sein‘, schüttelt er den
Kopf und ruft, nun in Bedrängnis gekommen, „bye
Emira, bald bin ich bei dir, dann trennt uns nichts
mehr“ und gibt Gas, fährt auf den quer stehenden
Polizeiwagen zu, dann auf den Bürgersteig. Die
Polizisten springen aus dem Wagen und wollen
diesen sichern. Marcel biegt scharf abbremsend in
die Krankenhauseinfahrt ab, fährt sie hoch, zwängt
sich an einem Krankenwagen und zwei rauchenden
Sanitätern vorbei, fährt die andere Seite wieder
Oliver Droste 209
Irgendwo in Nirgendwo
hinunter und ist an den Polizisten vorbei. Eine
schwarzgeistiger Glatzkopf kommt in diesem
Augenblick aus dem Krankenhauseingang, die
Zeichen der letzten Schlägerei stolz tragend. Er und
Marcel sehen sich kurz in die Augen. Trotz seines
kaum genuztem Hirns erkennt dieser Marcel, sieht
die Polizeibeamten in ihren Wagen springen,
wenden und Marcel verfolgen. Er läuft zu einem
Wagen, wo seine Kameraden warten und rauchen.
Ein alter Mann, groß, kräftig, ein alter deutscher
Hühne geht vorbei, sieht diese glatzköpfigen
Bomberjacken an und geht vorüber. Ein Skinhead
ruft, den Arm hebend sein „Heil Hitler“ stumpf
grinsend hinterher. Der Alte bleibt stehen, dreht sich
um und geht auf diese Meute zu, die ihn lachend
ansieht und sagt, jedes Wort korrekt aussprechend,
mit rollendem R und kräftiger Stimme, „ihr solltet
einmal, - nur ein einziges Mal in einem
Schützengraben unter Trommelfeuer liegen; es
braucht niemand getroffen zu werden; es soll euch
nur der Dreck um die Ohren fliege. Glaubt mir, von
euch würde niemand mehr nach Krieg schreien!“
und geht wieder unter Spott der Unvernunft. Er
humpelt, da er fünf mal verwundet wurde und am
Ende noch aus dem Kessel von Stalingrad entkam
und den Krieg vom ersten bis zum letzten Tag
überlebt hatte. Der verletzte Skinhead kommt am
Auto an und ruft seinen Leuten voller Tatendrang
zu, „da war gerade das Schwein, das bei der
Schlacht
in
der
Fußgängerzone
diese
Kanackenschlampe geholfen hat“. Die witzelnden,
Oliver Droste 210
Irgendwo in Nirgendwo
gröhlenden Skins hörem ihm nicht zu, sondern
spotten über die Feigheit dieses alten Mannes mit
Zivilcourage.
Emira schleicht zur Tür und die Mutter klopft am
Schwesternzimmer, jedoch öffnet ihr niemand. Ein
Arzt will gerade die Station betreten und schließt die
Tür von außen auf. Emira steht da und sieht ihn
erschrocken an. Der Graubärtige, vornehme Mann
fragt sie väterlich, „was machst du denn hier mein
Kind?“. Emira überlegt nicht lange, holt aus und
schlägt den Chefarzt schräg von der Seite ans Kinn.
Dieser wackelt auf seinen Beinen noch schwerfällig
zurück, läßt seine Papiere,
ihnen ungläubig
nachsehend, fallen, bevor er zusammensackt. Emira
springt über ihn hinweg und läuft hinaus. Eine
Schwester läuft dem Chefarzt zur Hilfe und ruft
erschrocken, „Herr Proffessor?“.
Emira rennt durch den langen Flur, sieht einen
Pfleger zum Spurt ansetzen und biegt in das
Treppenhaus ab. Aus dem Haupteingang
herrauslaufend sieht sie ein Taxi und rennt darauf
zu. Der Wagen mit den Skinheads fährt gerade am
Eingang vorbei. Der Verletzte sieht Emira und
macht seine Kumpanen wild gestikulierend und
schreiend auf Emira aufmerksam. Der Wagen
bremst, drei Mann springen heraus und renn hinter
Emira hinterher, die sich umblickt und die Gefahr
kommen sieht. Blut schießt ihr durch die dunklen
Windungen ihres Gehirns. Der Pfleger kommt
ebenfalls auf die Straße gelaufen und rennt nun
Oliver Droste 211
Irgendwo in Nirgendwo
neben den Skinheads her, und ruft mit diesen, „halt
stehenbleiben!“, sieht erschrocken die Meute neben
sich an.
Emira springt in das Taxi. Der Fahrer kaut gerade
auf seinem Brot, sieht Emira überrascht an und will
den Polizeifunk, der gerade bei ihm im Wagen läuft
ausstellen. „Lassen sie das ruhig an und fahren sie
los, schnell!“ „Hier ist was los. Die jagen gerade
einen Verbrecher, der flieht mit dem Motorrad, ist
hier gerade an mir vorbeigefahren. Ich habe Glück
gehabt, daß ich noch lebe. Der Kerl wollte mich
umfahren. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig
in die Büsche retten. Sowas.“ Er sieht in den
Rückspiegel zu Emira, dann durch die Heckscheibe
den Mob kommen, wirft das Brot zur Seite und gibt
Gas, „was ist denn hier los, scheiße!“ und fährt mit
quitschenden Reifen los. Die ersten Skinheads sind
am Auto, reißen die Türen auf, doch da beschleunigt
der Wagen und hängt sie ab. Janiene erklärt Marcels
Verhalten, „er wollte sie bestimmt nicht umfahren“.
Der Taxifahrer sieht verwirrt in den Rückspiegel und
dann wieder auf die Straße, „woher wollen sie das
denn wissen. Sie waren doch gar nicht dabei. Haben
sie gerade Probleme gehabt?“ und zeigt mit dem
Daumen nach hinten auf die Verfolger. „Fahren sie
bloß hier weg“, antwortet Emira, sieht ängstlich
nach hinten, „ich sag ihnen dann woher ich das
weiß“. „Ja, ja“, sagt der Taxifahrer und fährt los,
durch die Stadt und hören die Verfolgungsjagd über
den Scanner. Die Skinheads wurden durch das
Abbiegen in zwei kleine Seitenstraßen vom
Oliver Droste 212
Irgendwo in Nirgendwo
Taxifahrer gekonnt abgehängt. Durch seine geübte
Ortskenntnis kommen sie bald an ihr Fahrziel bei
Bea an.
„Macht 14, 80 DM, oder ungefähr 7 Euro, haha.
Man muß sich ja nun langsam daran gewöhnen,
was?“, freut sich der Taxifahrer über seinen
Lieblingsscherz und seine gelungene Fahrleistung.
„So woher wollten sie denn wissen, daß mich der
Gangster nicht umgefahren hätte?“ fragt der
Taxifahrer, sein Potemonaie hervorholend. „Marcel
ist kein Gangster und fährt niemanden mit Absicht
um.“ „Marcel? Woher wissen sie wie der heißt?“ Im
Polizeifunk wird jetzt erwähnt, daß Emira aus der
geschlossenen Abteilung ausgebrochen ist, eine
Beschreibung durchgegeben, die der Taxifahrer
erschrocken mit dem Original vergleicht. Es wird im
Anschluß erwähnt, daß Marcel jetzt wohl gerade auf
dem Weg zu ihr sei.
Emira steigt aus und beugt sich zum Fenster,
„kommen sie doch mit hoch, meine Freundin hat das
Geld, aber wohl keine Euro“. Der Taxifahrer kann
über den zurückgegebenen Scherz nicht lachen.
Emira sieht erwartungsvoll die Straße hoch, nach
einem Motorrad ausschau haltend und fügt hinzu,
„dann können sie auch Marcel kennenlernen, der ist
ganz nett“. Der Taxifahrer sieht nervöus die Straße
hoch, „was? ‘nVerbrecher, der zu seiner bekloppten
ausgebrochenen Freundin will? Oh, Gott“ und gibt
Gas, daß die offene Tür von Emira zufällt. Sie wartet
an der Straße und hört das Motorrad schon knattern,
es nähert sich. Marcel wird jeden Augenblick hier in
Oliver Droste 213
Irgendwo in Nirgendwo
die Straße einbiegen. Emiras Herz schlägt schneller.
Ein Polizeiwagen kommt von hinten und prescht die
Straße hoch. Emira erschreckt sich und ruft
hinterher, „nein, laßt Marcel endlich kommen“.
Marcel wird so der Weg abgeschnitten. Es wird ihm
nun zuviel und er versucht aus der Stadt zu
entkommen. Es gelingt ihm.
Emira geht nach längerem warten ins Haus und
klingelt bei Bea. Die Tür geht öffnet sich. Bea sieht
Emira verwundert an, erkennt sie und schreit,
„Emira“, um ihr im nächsten Moment um den Hals
zu fallen und zu weinen. Roland kommt angelaufen,
um zu sehen, was sich da gerade abspielt, sieht
Emira nicht weniger verwundert an und stottert, „Jannnine, du lebst wieder“ und bekommt einen
feuchten Blick.
Emira ist von neuem Lebensdrang erfüllt, der sich in
neuen Tatendrang äußert, „ich habe Marcel gesehen,
die Polizei verfolgt ihn“, sieht Bea an, „du hast doch
noch den Scanner von deinem Bruder, oder? Laß uns
hören, wo sie sind und zu Marcel fahren“.
Bea holt den Scanner, sie laufen zum Auto und
fahren los. Roland gibt Gas, Bea versucht auf der
Rückbank den Scanner auf den Polizeikanal zu
bringen, was ihr dann auch gelingt. Emira ruft
aufgeregt und freudig, die Situation in der Marcel
steckt misachtend, „wo sind sie jetzt?“ und rüttelt an
den Vordersitzen. Roland sieht zu Bea und fragt,
„kriegst du den Kanal rein?“. „Ich versuche es.“
Nach einiger Zeit hören sie das, was zu einer
Verfolgungsfahrt paßt, „Verdächtiger fährt Richtung
Oliver Droste 214
Irgendwo in Nirgendwo
Eberhausen...“, dann Rauschen. Ratlosigkeit macht
sich in Beas Gesicht breit. Roland ruft, „ich weiß,
wo das ist“ und biegt in die nächste Straße ab.
Marcel fährt in hoher Geschwindigkeit eine
Landstraße entlang, im Rückspiegel zwei
Polizeiwagen mit Blaulicht fahren. Vor ihm kommt
die nächste Ortschaft. Eine alte Dame überquert die
Straße mit einem Pekinesen an der Leine. Roland
muß bremsen, kommt kurz vor ihr zum Stehen und
blickt sich nach seinen Verfolgern um. Die alte
Dame hat sich so sehr erschrocken, daß ihr
implantierter Defibrilator anspringt. Oma schwankt,
bekommt einen Ruck und springt wutentbrannt auf
Marcel zu, schlägt mit ihrer Handtasche wild auf ihn
ein, den Hund um sich wirbelnd. Er wendet mit einer
Drehung am Gasgriff die Maschine, gibt Gas und
donnert an der alten Dame vorbei; der Pekinese
fletscht die Zähne.
Die Polizeiwagen schließen auf, Marcel fährt vorne
weg. Doch dann bremsen die Verfolger ab, Marcel
biegt in die nächste Kurve, die er durch die hohe
Geschwindigkeit nur mit Mühe schafft, doch vor
ihm macht sich eine Straßensperre breit. Marcel muß
eine Vollbremsung machen und stürzt. Einige
Schaulustige stehen an der Straße, die Aktion der
Polizei zu beobachten, die letzte Anweisung der
polizeibeamten mißachtend. Marcel rutscht auf dem
Asphalt und dreht sich, ein Polizist kommt
angelaufen. Marcel springt wieder auf die Beine.
Der Polizist fingert an seinem Koppel nach seiner
Dienstpistole und ruft, „mach jetzt keinen Fehler“
Oliver Droste 215
Irgendwo in Nirgendwo
und zieht seine Waffe vor Nervosität zitternd. Einen
solchen Einsatz hat er hier auf dem Lande bisher
noch nicht gehabt und möchte seine Sache gut
machen. Marcel steht etwas unschlüssig da. Zwei
Polizisten rufen hinter dem Wagen, „sei vorsichtig,
der hat zwei Kollegen verprügelt, als sie ihn
festnehmen wollten“.
Der Polizist sieht sich kurz ängstlich um, seine
Beine zittern und sagt zu Marcel, „los, Hände hoch.
Marcel sieht ihn starr an, jede Konsequenz
verachtend. Schweiß steht auf seiner Stirn. Hinter
ihm hört man Martinshörner näher kommen. Marcel
geht jetzt ruhig mit leicht erhobenen Händen auf den
Polizisten zu, der nervöus, heiser schreit, „bleiben
sie stehen, oder ich , äh...“. „Schieße“, fügt Marcel
ihm in die Augen blickend an. „Ja, ja, genau“,
stimmt ihm der Beamte zu und zittert nun auch mit
den Händen. „Ziemlicher Gewissenskonflikt, was?“
fragt ihn Marcel.
Die anderen Polizeibeamten verstecken sich mit
gezogenen Waffen hinter ihren Autos; einer ruft,
„mach was Kalle!“ „Was denn schreit dieser zurück
und geht einen Schritt zurück, „bist du
lebensmüde?“. „Vielleicht.“ ‚Falsche Antwort denkt
der Wachtmeister‘. Marcel fügt hinzu, „freedom is
just another word for nothing else to loose“. „Schieß
doch!“, ruft der andere Polizist. „Stehenbleiben“,
ruft dieser und schießt in die Luft. Marcel ist
ziemlich nahe gekommen und sieht ihn etwas traurig
an. Einer der verschanzten Polizisten schreit zu den
Gaffern, hinüber, die den Bezug zur Wirklichkeit
Oliver Droste 216
Irgendwo in Nirgendwo
und zu der Gefahr verloren haben, „gehen sie
verdammt noch mal in Deckung!“. Der Polizist mit
der Waffe sieht nervös zu den Passanten. In diesem
Augenblick macht Marcel eine katzenartige
Bewegung, greift die Waffe und schlägt während
einer Körperdrehung mit dem Ellenbogen in das
Gesicht des Beamten. Dabei löst sich ein Schuß, ein
Passant schreit auf, da er ins Bein getroffen wurde.
Marcel hat die Waffe in der Hand, zeigt auf den
Polizisten und zu den anderen, „die Waffen weg!“
und schwenkt seine Pistole von einem zum anderen.
„Machen sie keinen Blödsinn, bis jetzt ist noch
niemandem etwas passiert, ruft es hinter dem quer
stehendem Polizeiwagen hervor. Der angeschossene
Passant brüllt verärgert auf dem Gehweg liegen, „ich
bin wohl niemand, was“.
Der Polizist mit den erhobenen Händen, froh
darüber nicht mehr über Leben und Tod entscheiden
zu müssen, verärgert, in dieser Situation zu stecken,
sagt verängstigt, „machen sie es nicht noch
schlimmer“. Marcel sieht sich um, listet die
Vergehen auf, die ihm zur Last gelegt werden und
resumiert, „jetzt ist doch sowieso alles egal. Waffen
weg!“. Die Polizisten lassen die Waffen zu Boden
fallen. Marcel reißt das Motorrad hoch, wirft es an,
schießt in die Luft und fährt los. Die beiden
Polizisten springen zurück zu ihren Pistolen,
ärgerlich darüber, versagt zu haben und schießen
wild hinter Marcel her, der um die Kurve rast und
der nächsten Nebenstraße verschwindet, um den
verfolgenden Polizisten zu entkommen.
Oliver Droste 217
Irgendwo in Nirgendwo
Die Polizeibeamten stehen auf der Straße, die
Schaulustigen drehen sich von ihnen weg, da sie
eine enttäuschende Show gesehen haben, die nicht
mit den Polizeiverfolgungsjagden amerikanischen
Fernsehens zu vergleichen sind. Der eine Kollege
dreht sich zu seinem immer noch waffenlosen
Kollegen, „wie kann man nur so dämlich sein?“. Der
andere ärgert sich, „so ein Mist, auf dem
Schießstand bin ich doch der Beste“. „Im Ernstfall
ist das eben was ganz anderes“, entschuldigt dieser
sich. „Ich hab noch nie vorbeigeschossen“,
verteidigt er sich. „Red doch nicht so’n Blödsinn“,
weist der andere ihn zurecht.
Roland, Bea und Emira werden blaß, als sie aus dem
Scanner erfahren, daß es eine Schießerei gegeben
hat und Marcel nun bewaffnet sei. Roland sagt
entsetzt, „was macht er denn jetzt für Sachen, ist er
denn total durchgeknallt?“. „Die werden doch
Marcel nichts tun?“ fürchtet Emira. Bea sieht
Roland gespannt an,“wie weit ist es noch?“. „Wir
müssen gleich da sein. Da vorne sind Blaulichter!
Da, auf dem Acker, seht doch, da fährt Marcel. Da,
der Feldweg zur alten Burgruine hoch. Ich kenne
den Weg“, biegt links ab und fährt einen anderen
Feldweg hoch. Weiter hinten drehen die
Polizeiwagen und fahren in einer Staubwolke hinter
Marcel her. Die Sonne steht tief und wird langsam
rot. Marcel rast in den Waldweg, fährt zwischen den
Mauern der Burgruine in den Innenteil. Emira, Bea
und Roland kommen knapp vor den Polizeiwagen an
der Burg an. Emira springt noch vor dem Halten des
Oliver Droste 218
Irgendwo in Nirgendwo
Fahrzeugs heraus, dreht und überschlägt sich
mehrmals, springt wieder auf die Beine, läuft, den
eintreffenden
Polizeiwagen
noch
gerade
entkommend, in die Ruine.
Zwei Polizisten greifen Bea und Roland, beim
Verlassen des Wagens, so daß diese nicht folgen
können, einer ruft, „sind sie verrückt, der Mann ist
bewaffnet!“. Er hat Mühe, die sich währenden zu
halten. „Es ist unser Freund! Lassen sie mich los,
reist sich Roland los, um gleich wieder von weiter
eintreffenden Polizeibeamten festgehalten und zu
Boden geworfen zu werden. Weitere Polizisten
laufen auf Weisung vorsichtig von Deckung zu
Deckung auf den Eingang der Ruine zu.
Emira kommt an den Platz, wo sie die Dichterlesung
hatten. Sie sieht das Motorrad im Innenhof liegen
und sucht Marcel. Ihr Blick schweift verwirrt hin
und her, zurück zu den näher schleichenden
Beamten. Sie fühlt die Zeit verrinnen, dann die
Waffe Marcels, die sie aufhebt. Sie sieht Blut in
ihren Händen, und das Blut der Vergangenheit
schlägt mit Erinnerung Emira in den Nacken, daß sie
ihre Sinne verliert. Vergangene Schreckensbilder
kehren wieder lebhafter mit den Gefühlen dieser Zeit
zurück, als wären sie nie gegangen und als werden
sie auch nicht mehr gehen. Der Geruch von Blut
steigt in ihre Nase und in ihren Kopf.
Polizisten kommen hereingestürmt und verschanzen
sich. Emira kann die Bilder in ihren Kopf nicht mehr
von denen außerhalb auseinanderhalten. Sie sieht
nur bewaffnete, uniformierte Männer, hört
Oliver Droste 219
Irgendwo in Nirgendwo
Befehlsrufe, hört längst verklungene Schreie. Sie
sieht das Blut an der Pistole und an ihren Händen
und schreit nach längst vergangenen Personen, die
aus ihrer Erinnerung wieder herausgetreten sind.
Marcel steht auf der Mauer, durch einen Schuß
verletzt und hört Emiras Rufe und ihr Schreien. Es
fällt ihm ebenfalls schwer dieses der Realität
zuzuordnen. Rufe aus dem Jenseits ins Diesseits,
oder ist er schon jenseits von Diesseits. Sein
Blutverlust und sein Schmerz verhindern eine klare
Warnehmung. Ihm läuft Schweiß in die Augen,
wobei er doch friert.
Ein Schwarzspecht mit roter Haube, also ein
normaler Schwarzspecht springt von Chinesenbart
zu Chinesenbart und lacht höhnisch in der Ferne
über das Treiben. Marcel sieht von der Mauer zu den
Polizisten herunter und an der Burgruine
Schaulustige kommen. Ein Mann von der Presse,
von umsichtigen Passanten informiert, fotografiert
von einem Baum aus. Polizisten schreien
irgendwelche Anweisungen herum und tasten sich
zu ihren Deckungen vor. Einige jüngere Polizisten
blühen auf in ihrem Räuber und Gendarm Spiel;
endlich werden sie gefordert, endlich passiert etwas
in ihrem Alltagstrott, wovon sie noch ihren Kindern
erzählen können. Marcel sieht sich auf der Mauer
stehend sein Publikum an. Das Lagerfeuer brennt in
der Tiefe vor ihm, wie ein Scheiterhaufen, auf dem
eine schwarzhaarige Hexe steht.
Marcel wankt im Rausche seiner Verletzung hin und
her und grüßt die Beamten so, wie er seine
Oliver Droste 220
Irgendwo in Nirgendwo
Dichterfreunde immer grüßte, „Salve Cäsar, morituri
te salutant! Ich bin der Drachentöter den ihr jagt“
und hebt mit trübem, augenlidzuckendem Blick an
zu seinem Monolog, „ich weiß mein Tag wird
kommen, mein Tag, den ich bemale mit meinen
Lebensfarben. - Ich bin so schwer, mit gebrochenem
Flügel an meiner müden Schulter. - An meinen Tag
gelehnt, mein alter Freund der Engel. - In den
Himmel bleich Blut spuckend“ und zeigt auf den
Sonnenuntergang, „erzeugt er wirre Idylle. - Engel
steh auf, laß dich nicht hängen! Wer hängt schon
Engel auf, - wenn sie fliegen können, ohne ihnen
zuvor die Flügel zu brechen? - Engel, schau“, er
macht eine ausholende Bewegung, „in meine
wunderbaren blauen Augen, - morgen früh werden
sie in Monde ergrauen. –„ Dann mit monotonem
Ton in der zitternden Stimme, „ein Lachen viel
herab, ich hob es auf, doch der Verlierer wollte es
nicht haben - und schoß mir in den Bauch.“
Die Polizisten werden langsam unruhig, Emira hat
immer noch die Waffe in der Hand, durchs Megafon
werden sie aufgefordert ihre Waffen wegzuwerfen,
„Waffen weg, ihr habt keine Chance, ihr seid
umstellt, seid vernünftig“.
Marcel sieht von der Mauer in den Innenhof,meint
Emiras Stimme zu erkennen, und fragt kraftlos,
„Emira bist du das?“. Er hört nur wilde Rufe
kratziger Männerstimmen und Emiras Rufen, flehen
und Schreien. Marcel ist es ziemlich schwindelig
und will der Realität auf die Schliche kommen, wo
sie nun wohl schleiche.
Oliver Droste 221
Irgendwo in Nirgendwo
Emira sieht mit weit aufgerissenen, flackernden
Augen in das Chaos um sie herum und aus ihr
heraus. Rote Ballettänzer springen in dem
Durcheinander durcheinander, als tanzten sie
Prokofievs ‚Tanz der Ritter‘. Ihre schreiende
Schwester wird verschleppt, an den Haaren in eine
männerumringte Ecke gezerrt. Fürchterliche,
entsetzliche Schreie der Todesangst zerreißen ihr
Gehör, verwirren ihren Geist, der aus diesem Chaos
zu entschwinden sucht, aber nicht kann, da er an
Körperliches gebunden ist. Er rüttelt sich und
schüttelt sie, wie ein erstickender im Todeskampf.
Emira sieht das Blut an den Händen, hört das
gurgelnde Ersticken ihres halsdurchschnittenen
Vaters, sieht ihn in einer Blutlache wälzend, dann
nur noch zuckend, um schließlich im Zittern den Ort
des Wahnsinns zu verlassen. Seine aufgerissenen
Augen starren in ihre, - nein, es sind ihre Augen.
Nun reißt sie diese von der Pistole und jene auch
noch hoch, um auf die Polizisten zu feuern: ein
Schuß, zwei Schuß, der dritte trifft. Ein
uniformierter, bewaffneter Mann fällt stöhnend zu
Boden.
Emira rennt weiter in den inneren Bereich der alten
Burg, unter wilden Schüssen der erschrockenen
Männer, die sie jedoch, nervöus und ungezielt
abgefeuert, verfehlen. Emira lacht, „ha, ha, ihr habt
nicht gedacht, daß ich auch eine Waffe habe; ich
werde euch Schweine alle töten“. Sie ist dieses Mal
nicht wehrlos und fühlt sich stark.
Oliver Droste 222
Irgendwo in Nirgendwo
Marcel steigt von der Mauer, torkelt aus dem Innern
heraus und sieht Emira dort stehen, verwundert,
verwundet und ruft schwach, „Emira, bist du es
wirklich? Emira?“und kann sich kaum auf den
Beinen halte. Er weiß nicht mehr, ob er seinen
morschen Sinnen noch trauen kann.
Emira sieht eine schwarze, jämmerliche Gestalt dort
stehen, schwarz und bedrohlich, mit schwarzen
Flügeln, diese aber nur schemenhaft.
Marcel erkennt, nocheinmal erwacht, wie ein
Sterbender vor seinem Tod, „Emira, du lebst?“,
flüstert, „jetzt wird alles gut, egal, wo wir jetzt sind“,
womit
er
wohl
seinen
geschwächten
Bewußtseinszustand gemeint hatte. Emira hört diese
sehnsüchtigen Worte mit den Ohren des Grauens,
das sie eingeholt hat und antwortet ironisch, „auf
dich habe ich gewartet, dich habe ich gesucht, mein
schwarzer Dämon. Endlich bist du da“.
Marcel versteht nicht ganz, was sie meint, freut sich
über ihre Rückkehr aus dem Jenseits des Komas,
aber zurückgekehrt ins Diesseits der Vergangenheit,
irgendwo in Nirgendwo. Er breitet die Arme aus und
geht auf Emira zu, mit einem Lächeln im Gesicht,
das er aufhob aus dem Staub der Erwartung eines
sich erfüllenden Traums.
Emira sieht ihn an, hebt ihren Arm und schießt ihm
in den Bauch. Marcel lächelt, wackelt, zittert und
fragt, „Emira, was ist passiert“. Sie schießt ein
zweites Mal und lacht, „es ist alles in Ordnung,
komm nur zu mir“. Marcel blutet aus der Nase, sieht
an sich herunter, sieht die dritte Wunde bluten.
Oliver Droste 223
Irgendwo in Nirgendwo
Emira geht weiter auf ihn zu und lacht lauter, bleibt
zwei Meter vor Marcel stehen und schießt ihm in
den Kopf, so daß sein Hinterkopf weggesprengt
wird, wie ein Regenbogen im Sonnenuntergang,
sprüht eine Wolke heraus. Er fällt schlagartig zu
Boden, wobei sein Hinterkopfrest platschend
aufschlägt und seine Nerven ein leichtes Zucken
über seinen Körper legen.
Emira feuert das Magazin leer, „willst du denn nicht
endlich sterben?“. Vor ihr liegt ein toter schwarzer
Engel, blaue Ballettänzer schweben heraus und
tanzen mit den roten durch die Burgruine.
Oliver Droste 224
Irgendwo in Nirgendwo
XXVII
Der Nebelgesang
Letzter Auftritt:
Geschlossene Abteilung der Psychatrie, Emira in
einer ausgepolsterten Zelle, lachend, Marcels Hand
streichelnd.
Ein Tag geht wundend in die Nacht, zieht den
Dämmerschleier wie Nebelwogen über ihr Gesicht,
wo Marcels warmer Atem wacht. Der erste Stern
zwinkert sein Sonnenlachen funkelnd in ihre
blauegrünen Seen, tief ins Herz dunkelnd, wo
Gedankenbäume stehen, weit ausladend in den
Kronen. Unser Besuch dort hat sich gelohnt, in
ihrem Nirgendort. Paradiesvögel sitzen auf den
Ästen, prächtig Farben sprießend, stumm –
„Ich hab’ doch gesagt, es wird wieder alles gut“
lacht sie Marcel an; sie lacht, lacht lauter, lacht
schreiend.
Dort spielt sie nun, ein Kind, das den Vögeln ihre
Lieder vorsingt, hoffend, der Wind blase sie dann
durch ihr Gefieder, sie in ihre Traumweiten zu
begleiten.
So oft warf die Nacht sie fort, so oft war sie in ihrdort, wo ihr ihr Farbenschöpferworet gehört, was sie
sich erzählt und niemand hört, denn nur sie ist dort
Wort, dem Paradiesvogelabort, wo Gedankenblasen
fährt ihr ins Gefieder.
Oliver Droste 225
Irgendwo in Nirgendwo
Oliver Droste 226
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