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Silvio Bucher
Die Malaria im St.Galler Rheintal
Machten die besonderen Wasserverhältnisse der Gegend und häufige Überschwemmungen die
Rheintaler Bevölkerung krank? Hatten die Rheinwerke Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der
Leute?
Die grösste schweizerische Überschwemmungskatastrophe des 19. Jahrhunderts, diejenige von 1868,
traf bekanntlich auch das Rheintal empfindlich. Neun Menschen kamen ums Leben. Weite Gebiete
standen wochenlang unter Wasser, Gebäude und Fluren wurden schwer beschädigt. Man befürchtete
allgemein langdauernde Nachwirkungen. „Wenn wir sanitarische Revue halten und einen kurzen Blick auf
das verflossene Jahr zurückwerfen, denselben in seinen äussern Verhältnissen mit dem
Gesundheitszustande unserer Bevölkerung vergleichen“, schrieb der Werdenberger Bezirksarzt Ulrich
Senn 1869 in seinem Bericht an den Sanitätsrat des Kantons St. Gallen, „so tritt uns keineswegs ein
harmonisches Ganzes entgegen. Wer musste nicht mit ängstlichen Blicken die Schwelle des neuen
Jahres 1869 betreten, nachdem im Oktober 1868 unsere Rheinanwohner Plutos Zorn so schwer
empfunden haben, gleichsam in eine Sündfluth versetzt und ihr fruchtbares Gelände in einen
schlammigen Sumpf umgewandelt worden waren? Wer glaubte für die schwer Heimgesuchten besseren
Heil erwarten zu dürfen, als dass giftige Dünste mit kommendem Lenze aus dem Pfuhle steigen, durch
die menschlichen Adern wandern und den Keim zu hinraffenden Krankheiten abgeben. Doch nein, es war
Täuschung.“ Statt der befürchteten Seuche traten die üblichen endemischen Krankheiten, lokal
unterschiedlich stark, auf: Diphtheritis, Scharlach, Masern, Keuchhusten, Typhus. „ln den von der
Überschwemmung hart betroffenen Ortschaften Burgerau, Haag und Salez erfreuten sich die Einwohner
im allgemeinen einer vortrefflichen Gesundheit.“ Allerdings seien in bezug auf Ernährung, Lüftung und
Belichtung mehr Regeln beobachtet worden als in gewöhnlichen Zeiten.
Auch die wiederholten Überschwemmungen im August 1869 beeinflussten den Gesundheitszustand der
betroffenen Bevölkerung unwesentlich. Dazu trug die rasche Austrocknung der Böden und der Stand der
Vegetation ebenso bei wie die unverzügliche Behandlung der überschwemmten Teile. „Der vom Schlamm
glänzende, verklebte Boden wurde im Frühjahr fleissig tief umgespatet“, das alte Erdreich kam wieder an
die Oberfläche, „sowohl die fauligen Vegetabilien als die in Masse todt abgelagerten thierischen
Überreste wurden verscharrt“.
Die Hauptursache für die Abwendung einer gravierenderen Gesundheitsschädigung und drohenden
Hungersnot war aber die organisatorische Bewältigung durch die gesamtschweizerisch in reichem Masse
eingesammelten Spenden, die auf die betroffenen Gebiete verteilt werden konnten. Nach dem Kanton
Tessin erhielt der Kanton St. Gallen mit 1,44 Mio. Franken den zweithöchsten Betrag.
Gleich wie im Bezirk Werdenberg lauteten auch die Berichte aus den Bezirken Ober- und Unterrheintal
positiv. Lediglich in Au brach in einem von der Überschwemmung stark betroffenen Haus im Frühjahr
1869 der Typhus aus. Die Hausmutter starb daran, zwei erwachsene Töchter genasen.
Diese kurzen Bemerkungen zum Katastrophenjahr 1868 könnten dazu verleiten, die Bedeutung der
wasserbaulichen Massnahmen (Rheinkorrektion, Bau der Binnenkanäle usw.) für den
Gesundheitszustand der Rheintaler Bevölkerung unterzubewerten. Das Krankheitsspektrum war im st.
gallischen Rheintal im 19. Jahrhundert aber starken Veränderungen unterworfen.
Im Vordergrund der Betrachtung soll in diesem Kurzbeitrag die Malaria stehen, also jene Krankheit, die von
jeher mit unbefriedigenden hydrologischen Verhältnissen in Zusammenhang gebracht wird. Spielte die Malaria
im Krankheitsgeschehen der Rheintaler Bevölkerung überhaupt eine erwähnenswerte Rolle? Was weiss man
über ihr Vorkommen? Wie bewerteten sie die Ärzte?
Den betroffenen Menschen blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als einziges Erkennungsmerkmal das
typische Krankheitsbild, welches man mit Bezeichnungen wie Wechselfieber, intermittierende Fieber, als
Tertiana oder Quartana umschrieb.
Die Malariaforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts musste Infektionsherde für die Krankheit damals
nicht nur in subtropischen Gegenden suchen. In zahlreichen europäischen Regionen trat sie, unterschiedlich häufig, auf und beschäftigte die medizinische Forschung. Sowohl der infektiöse Charakter wie
auch der Ansteckungsweg der Krankheit blieben lange unerkannt.
Man führte die Krankheit auf „Bodenausdünstungen“ in versumpftem Gebiet (ital. mal aria = schlechte Luft)
zurück. Der Franzose Charles L. Laveran (1845-1922) entdeckte 1880 den Krankheitserreger in roten
Blutkörperchen des Menschen. Der italienische Histologe Camillo Golgi (1844-1926) trug wesentlich zur
Erkenntnis der einzelnen charakteristischen Fiebertypen bei.
Malaria ist die klinische Bezeichnung für mehrere Erkrankungen, die durch verschiedene Plasmodien
verursacht werden. Von den beim Menschen unterschiedenen drei Malariaarten, die Malaria tertiana
(Sumpf-oder 3-Tage-Fieber), Malaria quartana (4-Tage-Fieber) und Malaria tropica (Tropenfieber), kann letztere
für diesen Beitrag ausser acht fallen, weil sie nur in subtropischen Gegenden auftritt.
Den betroffenen Menschen prägte sich der alternierende Fieberrhythmus als Merkmal der Krankheit ein.
Kopf- und Gliederschmerzen, allgemeine Erschöpfung und Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen gingen
dem ersten Fieberanfall voran. Die Fieberkurve war abhängig von der Parasitenentwicklung. Zur Zeit des
Parasitenzerfalls steigt das Fieber an. Bei der Malaria tertiana setzt nach drei bis vier Tagen ein heftiger
Schüttelfrost - daher auch die oft anzutreffende Bezeichnung „kaltes Fieber“ - ein. Das Fieber steigt auf 40 bis
41 °C an. Nach wenigen Stunden sinkt es wieder auf normale Werte. Am dritten Tag setzt mit Schüttelfrost,
Kopfweh und Gliederschmerzen der nächste Fieberanfall ein. In dem für die Malaria tertiana typischen
Abstand von 48 Stunden folgt solchermassen ein Anfall dem ändern. Wenn sich Stämme schon früh
aufspalten, können tägliche Fieberanfälle das Krankheitsbild prägen (Malaria tertiana duplex). Nach acht bis
12 Fieberanfällen stellt sich ein gewisses Gleichgewicht zwischen Organismus und Parasit ein. Sind die
Parasiten aus dem peripheren Blut verschwunden, bleibt das Fieber ganz aus. Dies bedeutet noch nicht eine
parasitologische Ausheilung der Malaria. Rückfälle (Rezidive) können in einem Zeitraum von bis zu zwei
Jahren jederzeit wieder auftreten, bei unbehandelten Fällen schon nach drei bis vier Wochen.
Die Malaria quartana unterscheidet sich von der tertiana durch die langsamere Parasitenentwicklung. Das
Intervall verdoppelt sich von 48 auf 72 Stunden: Auf einen Fiebertag folgen zwei fieberfreie Tage (= 4-TageFieber); bis zu erlöschendem Fieber macht der Patient 20 und mehr Fieberanfälle durch. Doch auch hier sind
Rezidive möglich, manchmal nach Jahrzehnten! Die Infizierungsstärke ist auch bei dieser Malariaform von
besonderer Wirkung. Eine schwache Infizierung hat weniger Rezidive zur Folge als eine starke.
In der Schweiz sind Wechselfieber seit dem 18. Jahrhundert an zahlreichen Orten nachgewiesen. - Auf st.
gallischem Gebiet waren Malariaherde vor allem im Linthgebiet bekannt. Die Melioration der Linthebene
gehört zu den frühen Initiativen der eidgenössischen und st. gallischen Wasserbaupolitik. Zwischen 1807 und
1811 wurde am Linthkanal gebaut. Bereits 1813 berichtete die Sanitätskommission des Kantons St. Gallen in
ihrem Verhandlungsbericht, Wechselfieber seien im Bezirk Uznach seit der Linthunternehmung immer
seltener zu beobachten, Feststellungen, die der Bezirksarzt 1820 bestätigte: „ln dem Thale, wo die Linth ihr
angewiesenes Bette bekam, scheinen die früher stets endemisch herrschenden Wechselfieber seit der
Fluss-Korrektion, gröstentheils verschwunden zu seyn.“
Aus der gleichen Zeit stammen erste Hinweise auf Malariaherde auch im Rheintal. Im Herbst 1815 brachen hier
„als Folge der Rheinüberschwemmungen“ Nerven- und Faulfieber aus, an denen in Diepoldsau und Schmitter
mehrere Patienten starben. Im Unterrheintal traten von Mai bis Juli 1821 vereinzelte Fälle von „Tertianfieber“ auf,
in denen der Sanitätsrat indessen keine Beziehung zu den starken Rheinüberschwemmungen dieses Jahres
sehen wollte.
Im gleichen Jahr werden nun auch für die Region Sargans unterhalb des Schollbergs „ziemlich häufig
Terzianfieber“ erwähnt. In den folgenden Jahren griff die Seuche weiter um sich. Aus dem Unterrheintal wurde
1823 berichtet, dass im Frühjahr viele Febres tertianae et quotidianae vorkämen, „welche Krankheiten früher
in den Rheingegenden endemisch waren“ - mit der Quotidiana dürfte wohl die Malaria tertiana duplex gemeint
sein.
In den folgenden Jahren verschärfte sich die Krankheitsbedrohung: Im Sommer 1825 trat das dreitägige
Wechselfieber nun sowohl in der Talebene wie auch den Bergregionen häufig auf. Im Juni, Juli und August
1826 ergriff eine Wechselfieberepidemie die Gegend am sarganserländischen Schollberg auffallend stark
Menschen jeden Alters. 1827 steigerte sich das Wechselfieber im Rheintal zur Epidemie. In den Rheindörfern
scheine das Fieber epidemischen Charakter anzunehmen, berichtete die Sanitätskommission. In den 1830er
Jahren konstatierten die Rheintaler Bezirksärzte einen Übergang der Fieberart vom Drei- zum Viertagefieber.
Im Bezirk Werdenberg erschienen Sumpfwechselfieber, besonders am Rhein nicht selten, „sie gehören zu
den stationären und endemischen Krankheitsformen“. Wegen der epidemischen Häufung der Fälle galt die
Malaria um 1840 als „Kardinalkrankheit“ der Region Rheintal. In Werdenberg schien sich die Situation nach 1845
zu verbessern: „Die Wechselfieber vermindern sich von Jahr zu ,
Jahr
mit
der
fortschreitenden
Entsumpfung des Bodens“, stellte der Bezirksarzt fest; ähnlich die Beobachtungen im Bezirk Gaster:
„Seit der neue Linth-Kanal das Land mehr entsumpft hat, sind die Wechselfieber grösstentheils verschwunden
und nur etwa noch in larvierter Gestalt zu beobachten.“
Eine gesamtkantonale Würdigung der Malariasituation wagte die Sanitätskommission im Jahre 1847: „Die im
Unterrheintal längs dem Rhein, im Gaster und Seebezirk, bei Uznach und Schmerikon, in früherer Zeit
einheimisch gewesenen kalten (oder Wechsel-)Fieber sind so viel als verschwunden“ - eine voreilige
Bemerkung, wie sich bei näherem Quellenstudium herausstellt.
Die Hauptfunktion der bezirksärztlichen Berichterstattung im 19. Jahrhundert war primär seuchenpolizeilich
begründet. Die Beobachtung der Epidemieszene sollte sowohl prophylaktische Massnahmen erlauben wie
auch allgemein gesundheitspolitische Initiativen auslösen. Im rheintalischen Epidemiespektrum war die
Malaria eine Krankheitsform unter vielen. „Aktuelle“ Epidemiegefahren wie Cholera und, immer noch, die
Pest beanspruchten bevorzugtes Interesse. Diphtherie, Scharlach, Masern, Pocken, Keuchhusten usw.
standen in der Rheintaler Krankheitsliste an vorderster Stelle. Die Malariaerkrankungen werden von den
Ärzten meist in sehr allgemeiner und nicht quantifizierbarer Formulierung erwähnt.
Dies hing auch mit dem Krankheitsverlauf zusammen, den die Ärzte als nicht alarmierend beurteilten. Nach
den zwar zahlreichen, höchst unangenehmen Fieberanfällen zog sich die Malaria zurück. Beide Malariaformen
führten in der unkomplizierten Form selten zu bleibenden Organveränderungen, Todesfälle kamen vereinzelt
und meist in Kombination mit anderen Krankheiten vor.
Undeutlich auftretende Fieberformen erschwerten den damaligen Beobachtern ohnehin eine genauere
Diagnose. Gewisse Fieber charakterisierten die Rheintaler Bezirksärzte häufig als „larvierte Malaria“.
Malariologen haben die Bezeichnung fallen lassen, weil sie gar nicht selten andere Krankheiten als die Malaria
betrifft.
Allerdings schienen sich die Krankheitsherde nach der Jahrhundertmitte stärker auf das untere Rheintal zu
verlagern. Bereits 1851 bemerkte Bezirksarzt Näff in den Rheingegenden „wiederum und wie alle Jahre das
„Kalte Fieber“, ohne Zweifel als Erzeugnis des dortigen Sumpfbodens“.
Der Unterrheintaler Bezirksarzt Dr. Bärlocher brachte 1851 den Zusammenhang zwischen
Umweltbedingungen und Krankheitshäufigkeiten deutlicher als früher zum Ausdruck: „Allgemein dem
Gesundheitswohl nachtheilige Schädlichkeiten sind [im Unterrheintal] keine bekannt, wohl aber muss die
Versumpfung der Rheingegenden bis an den Bodensee als eine örtliche Schädlichkeit betrachtet werden,
daher so viele febres intermittent und Dysenterien.“ Im März 1855 traten intermittierende Fieber vor allem im
Überschwemmungsgebiet von Rheineck auf; rheinaufwärts machten sie sich erst später bemerkbar „und
gerne larviert“. Nächste sanitarische Auswirkungen der Überschwemmung waren „Furunkel bei Allen, die im
Wasser gestanden“. Folgen einer bakteriellen Infektion.
Eine höchst illustrative Beurteilung der Gesundheitsverhältnisse im Bezirk Unterrheintal in der Mitte des 19.
Jahrhunderts ist Dr. Laurenz Sonderegger, für kurze Zeit Bezirksarzt des Unterrheintals, zu verdanken.
Besonders gesundheitsschädigend seien hier:
„1)
Starkes
Überhandnehmen
des Branntweintrinkens, Folge und
noch mehr Ursache der Armuth und
Krankheit
2)
Malaria, Sumpfmiasma
3)
5
Kulturbild
Spaziergänger: „So, so, do isch also
s'letzscht Johr die gross Ueberschwemmig gsi? Wie hoch isch s'Wasser denn öppe gstande?“
Frau: (hebt den Rock, sodass man die Schlammringe an den Waden sieht): „Do käst luege, wie tüüf mer
hend müesse wata.“
1860 beschreibt Sondereggerden klinischen Verlauf und die medikamentöse Behandlung der Rheintaler
Malaria: Von Rheineck und Thal, wo das Wechselfieber sonst endemisch festsitze, sei die Krankheit nun
häufiger in den oberen Gemeinden Au, Diepoldsau, Berneck und Balgach anzutreffen. Am zahlreichsten
waren die Fälle der Quotidiana mit Typhus anteponens, seltener die Tertiana; sehr häufig waren auch
Neuralgien als larvirte Wechselfieber. Alle Formen recidivirten häufig und führten rascher als andere Jahre
Milztumoren und Anaemie herbei. Im Laufe der Zeit genasen die Leute unter Chinin und Eisengebrauch.
Translocation in freie Gegenden war selten mögliche Andeutungen über das langsame Verschwinden der
Malaria im unteren Rheintal erscheinen in den bezirksärztlichen Physikatsberichten erstmals gegen Ende der
1860er Jahre. 1866 vermerkte Karl Albert Güster in seinem Rapport, die „sonst bei uns häufige, hie und da
förmliche Epidemien veranlassende Krankheit, die lntermittentes“, scheine sich seit einigen Jahren ganz
verloren zu haben. Der Mediziner war allerdings nicht sicher, ob lediglich andere Krankheiten die Malaria
verdrängt hätten. Immerhin registrierte er, auch im unteren Rheintal, ein auffallend häufigeres Auftreten des
Typhus. Aus dem Bezirk Werdenberg kamen noch vorsichtige Beurteilungen: Die Bodenverhältnisse hätten
sich zwar seit einiger Zeit bedeutend verbessert; „doch können wir die Entsumpfung keineswegs so
fortgeschritten erklären, dass nicht noch höchst schädliche Ausdünstung möglich ist, die den Bewohnern den
Keim zur Krankheit gibt“. Solche Lokalitäten seien namentlich „die vielen sumpfigen Riethböden, in
Werdenberg der Teich, der sehr mangelhaft gereinigt wird und im Sommer bei heissen Tagen und schwülen
Abenden einen höchst widrigen Moorgeruch“ verbreite. Obwohl „Vater Rhein“ schon seit manchen Jahren
regelmässig einzelne Landstriche überschwemme, seien gesundheitsstörende Einflüsse kaum zu bemerken.
Bezirksarzt Ulrich Senn fand hierfür nur Vermutungen: „Es ist hiebei schwer zu entscheiden, ob die zähe
Constitution unserer Rheinanwohner solchen Natureinflüssen Hohn lacht oder ob die starke Luftströmung,
wie Föhn-, Nord- und Westwind die Miasmen im Keime erstickte.“
Die zurücktretende Bedeutung der Malaria betonte Dr. Karl A. Güster in seinem Bericht über das Jahr 1876. Im
Vorsommer war in den Gemeinden Rheineck und Thal wegen des hohen Wasserstandes Wasser in die
untersten Räume der Häuser, Keller, Scheunen, zum Teil sogar in die Parterrewohnungen eingedrungen; die
Umgebung der Häuser schien mancherorts in einen See umgewandelt. In Altenrhein verschwand das Wasser
erst nach acht Wochen aus den Häusern. „Ebenso lang stand dort das Gesamtareal, auf dem sich das Dörfchen
ausbreitet, wohl 100 Juchart Land, unter Wasser, mit Wegen, Gärten, Baumgärten, Äckern 1/a bis 1 Schuh tief
unter stinkendem Wasser, über dem sich Myriaden von Müken tummelten.“ Ein prachtvoller Nachsommer, der
die durchfeuchteten Räume und das sumpfige Terrain rasch austrocknen liess, trug dazu bei, dass der
Gesundheitszustand der Bevölkerung gut blieb. Zudem waren alle Räume „mit schwefligsauren Dämpfen“
gründlich durchgeräuchert und die Senkgruben mit Eisenvitriol und Carbolsäure desinfiziert worden.
Dem Hinweis auf die Insektenplage muss hier nachgegangen werden. Bei der Übertragung der Malaria spielen
die Mücken eine zentrale Rolle. (Die Entdeckung gelang dem Italiener Grassi 1898.) Mit der Blutnahrung
gelangen nämlich die menschlichen Gametozyten in den Mückenmagen. In jeder Mücke können bis zu 200000
Sporozoiten gebildet werden. Sie werden beim Einstich mit etwas Speichel auf den Menschen übertragen.
„Diese Parasitenentwicklung in der Mücke erfolgt für die Plasmodien des Menschen nur in Arten der Gattung
Anopheles, von denen nur wenige Arten in den einzelnen Gebieten jeweils eine entscheidende
epidemiologische Bedeutung haben. Da die Mücken als Larven im Wasser leben, ist das Auftreten der übertra-
genden Mücken an die Anwesenheit geeigneter Mückenbrutplätze gebunden.“ Die Entwicklung der
Plasmodien in der Mücke hängt von bestimmten Temperaturverhältnissen ab. Bereits um die Jahrhundertwende erkannten Malariaforscher, dass unter 15°C kein Aufbau der Parasiten stattfinden kann; je nach
Temperatur dauert es 10 bis 35 Tage, bis die infizierte Mücke infektiös wird. Bis zu 2 Monaten bleibt ihre
Infektionsfähigkeit erhalten. Deshalb reicht die Verbreitung der Malaria tertiana nördlich und südlich bis zur 16°Sommerisotherme.
Aufgrund der reichen Quellenbelege für Malaria ist deshalb sicher, dass die Anopheles-Mücke in der
„Myriaden“-Mückenpopulation des Rheintals gut vertreten war. Die geographische Verbreitung der Malaria
hängt somit aufs engste mit der Anwesenheit der sie übertragenden Stechmücken zusammen. Endemisc h
vorkommende Malariagebiete finden sich deshalb vor allem in jenen Niederungen des Rheintals, wo die
Bodenverhältnisse keinen genügenden Wasserabfluss zuliessen und die Mücken optimale Brutplätze
vorfanden. Aus Sicht der Krankheitsbedrohung durch Malaria war das Rheintal weniger durch Grossüberschwemmungen gefährdet als durch die Verschlechterung der gesamthydrologischen Verhältnisse,
markant erkennbar an der Veränderung des Grundwasserspiegels im 19. Jahrhundert.
Auch im Gasterland vermerkte man in der zweiten Jahrhunderthälfte eine Abnahme des Wechselfiebers und
führte sie auf die „immer mehr fortschreitende Trockenlegung“ des Linthgebietes zurück. 1881 meldete der
Bezirksarzt das gänzliche Verschwinden der Krankheit.
Tatsächlich erwies sich die Malaria im Kanton St. Gallen statistisch als kaum mehr relevant. In den Listen der
Gestorbenen nach Krankheitsformen, die der Sanitätsrat alljährlich in seinen Berichten publizierte, finden in der
Betrachtungsperiode von 1880 bis 1910 acht an Malaria verstorbene Personen Erwähnung.
Berücksichtigt man neben dieser Globalstatistik aber noch jene Patienten, die unter besserer ärztlicher
Beobachtung standen - nämlich die Spitalpatienten -, so ergeben sich bemerkenswert andere Zahlen: Zwischen
1880 und 1910 wurden in den damals bestehenden st. gallischen Spitälern 52 Malariakranke behandelt, deren
regionale Herkunft allerdings nicht mehr eruiert werden kann. Von den 41 Malaria-Patienten des 1873 eröffneten
Kantonsspitals in St. Gallen dürften wahrscheinlich auch einige aus dem Rheintal gestammt haben. Vielleicht
waren aber auch st. gallische Textilkaufleute darunter, die auf Geschäftsreisen in südländischen Malariagebieten
infiziert worden waren. - Im Spital Walenstadt lagen im gleichen Zeitraum 4, in den Krankenhäusern Rorschach,
Wattwil und Flawil je 2 Malariakranke, in Uznach 1. Von den 52 Kranken konnten 37 geheilt entlassen werden.
Die Beobachtungen der Rheintaler Arzte über das langsame Verschwinden der Malaria passen sich gut in die
kontinentale Entwicklung ein. Zwischen 1870 und 1890 erloschen die alten nord- und mitteleuropäischen
Malariaherde aus bis heute nicht restlos geklärten Ursachen. Meliorations- und Entsumpfungswerke mit massiver
Reduktion der Anophelespopulation, bessere Akzeptanz hygienischer Vorsichtsmassnahmen durch die
Bevölkerung mit einer veränderten Einstellung der Gesundheit gegenüber, Ausweitung der medizinischen und
therapeutischen Versorgung, aber auch Auswirkungen eines Klimawandels könnten das Abklingen der Krankheit
ebenso beschleunigt haben wie die Vermutung, dank grösserer Viehbestände durch bessere Viehzucht habe erst
ein Wirtewechsel vom Mensch zum Tier stattfinden und damit die infizierende Wirkung der Anopheles-Mücke
bedeutend herabgesetzt werden können. Die Annahme, die Anophelen seien gegenüber Plasmodium vivax
immun geworden, widerlegte Rudolf Geigy 1945 - mit einheimischen, aus ehemaligen Malariagegenden stammenden und heute noch zahlreich vorkommenden Anopheles maculi- pennis und bifurcatus - im Labor. Solange
die Anopheles in der Rheintaler Bevölkerung keine oder unzureichende Mengen von Malariaparasiten zur
Übertragung finden, ist denn auch mit einem Ausbruch der Krankheit nicht mehr zu rechnen.
Otto Gsell spricht von einem „Anophelismus ohne Malaria“. Das Verschwinden der Malaria im Rheintal
ausschliesslich wasserbaulichen Massnahmen zuschreiben zu wollen, ist demnach nicht möglich.
Leichter kann ein Zusammenhang mit anderen Krankheitsformen hergestellt werden. Dies gilt insbesondere
für die Erkrankung an Typhus. Schuld daran war der kontinuierliche Anstieg des Grundwasserspiegels im
Rheintal.
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