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BEHINDERUNG UND POLITIK
Erscheint 4 x jährlich – 58. Jahrgang
Ausgabe 3-09 – September 2009
Schwerpunkt:
Doppeltes JA –
zur Invalidenversicherung
und zu Gleichstellung
herausgegeben von
Behinderung und Politik 3/09
Inhaltsverzeichnis
Editorial ..................................................................................................................... 3
Schwerpunkt 5 Jahre BehiG
Gleichgestellt mit sich selbst....................................................................................... 4
Von Maria Gessler
Fünf Jahre BehiG: Eine Bilanz im öffentlichen Verkehr .............................................. 7
Von Beat Schweingruber
5 Jahre BehiG – Blick in den Alltag (III) ...................................................................... 9
Ausbaubedarf trotz beachtlichem Niveau ................................................................. 10
Von Tarek Nagui.
IV-Zusatzfinanzierung
Für eine solide und solidarische IV ........................................................................... 15
Von Maria Roth-Bernascon
IV-Zusatzfinanzierung – Mit Erfahrung überzeugen III ............................................. 16
Zum Beispiel: SBV (Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband) .... 17
Zum Beispiel: SHG (Schweizerische Hämophilie-Gesellschaft) ......................... 18
Zum Beispiel: Marfan-Stiftung Schweiz .............................................................. 20
Sozialpolitik
Sozialpolitische Rundschau ...................................................................................... 23
Von Ursula Schaffner
6. IVG-Revision - Theorie in der Praxis? .................................................................. 27
Von Ursula Schaffner
Arbeit
Künftig besser informierte Arbeitgebende! ............................................................... 29
Von Catherine Corbaz
Verkehr
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr........................... 29
Bildung
«Wenn nicht wir für Gleichberechtigung kämpfen, wer dann?» ................................ 30
Von Eva Aeschimann
Behindertenszene
«AGILE – Gesellschaftsprojekt für Menschen mit Behinderung» ............................. 32
Von Cyril Mizrahi
Klara Reber – eine engagierte Persönlichkeit ist tot ................................................. 33
Von Eva Aeschimann
SexualassistentInnen in der Romandie .................................................................... 34
Von Cyril Mizrahi
Westschweizer Ausbildung macht vielleicht Schule in Frankreich ............................ 36
Von Cyril Mizrahi
Medien
Starke Leben ............................................................................................................ 38
Von Bettina Gruber
Impressum .............................................................................................................. 40
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Behinderung und Politik 3/09
Editorial
Das BehiG – ein wichtiges Signal
Am 1. Januar 2004 ist das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von
Menschen mit Behinderung (BehiG) in Kraft getreten; bei den Betroffenen weckte es
grosse Hoffnungen. Einige Monate zuvor hatten die Schweizer Stimmbürgerinnen und
Stimmbürger eine Initiative verworfen, die Forderungen stellte, um das Leben von Menschen mit Behinderung zu vereinfachen. In der Folge hofften alle, dass das BehiG auf
diese noch unverheilte Wunde wie Balsam wirken würde.
Es liegt auf der Hand, dass ein Gesetzestext allein die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderung nicht verändern kann. Dafür braucht es Zeit und vor allem Wissen; doch auch damit werden Fortschritte nur langsam erzielt. Trotzdem ist das
BehiG ein Meilenstein. Denn es ermöglicht Massnahmen für den Fall, dass die öffentliche
Hand ihren Verpflichtungen nicht nachkommt.
Was aber bedeutet Gleichstellung? Können wir sie tatsächlich fordern, auf die Gefahr hin,
uns immer wieder in der Minderheit zu wissen? Wäre es nicht besser, Massnahmen zur
positiven Diskriminierung zu verlangen, um Auswirkungen von Behinderung zu mildern?
Mit Sicherheit wird die Zukunft auf diese Fragen Antworten bringen.
In dieser Ausgabe unserer Zeitschrift wird dem BehiG viel Platz eingeräumt. Maria Gessler, Vorstandsmitglied von AGILE, hat einen Essay rund um Gleichstellung verfasst. Beat
Schweingruber von der Fachstelle Behinderte und öffentlicher Verkehr (BöV) schildert
Erfahrungen und Ergebnisse der Zusammenarbeit mit Verkehrsunternehmen mit dem Ziel
einer verbesserten Zugänglichkeit des öffentlichen Verkehrs. Tarek Naguib von der Fachstelle Egalité Handicap ermöglicht im Weiteren eine Bewertung des Schweizer Gleichstellungsgesetzes im Vergleich mit der Situation im Ausland.
Roger Cosandey
Co-Präsident von AGILE
Übersetzung: Susanne Alpiger
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Behinderung und Politik 3/09
Schwerpunkt 5 Jahre BehiG
Gleichgestellt mit sich selbst
Gleichstellung – Behinderte Menschen sind gleichermassen gleich und anders gleich wie
alle anderen Menschen auch. Ein Essay auf den Spuren eines herausfordernden Begriffs
– zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Von Maria Gessler, Vorstandsmitglied AGILE
Menschheit – grundsätzlich gleich
Die Geschichte der Menschheit trägt auch die Geschichte von Gleichstellung in sich. Alle
Menschen sind ja «eigentlich» grundsätzlich gleich. Wir werden ungefragt geboren, und
wir sterben, wenn unser Herz nicht mehr mag. Im Leben dazwischen brauchen wir alle
das Gleiche zum unmittelbaren Überleben – Atemluft, Trinkwasser und Nahrung. Jeder
Mensch ist aber nur schon in Bezug auf diese drei Notwendigkeiten «anders gleich».
Wer hoch oben in dünner Bergluft lebt, braucht ein grösseres Lungenvolumen und mehr
rote Blutkörperchen als üblich. In abgeschiedenen Polargebieten kann man wohl eher
nicht einfach den Wasserhahn öffnen, sondern geht zuerst einmal vor der Behausung
Schnee schaufeln, während in regenarmen Gebieten das kostbare Nass nur durch kilometerlange Fussmärsche zu erlangen ist. Vor überfüllten Regalen im Supermarkt hat man
die Qual der Wahl, in wenig fruchtbaren Gebieten fast keine.
Gleichstellung – Sprachjonglage I
«Gleich» ist sprachgeschichtlich germanischen Ursprungs und bedeutete ursprünglich
«den gleichen Körper habend, von gleicher Gestalt», bezog sich also auf eine vorwiegend
von aussen sichtbare Eigenschaft. «Gleich» im Sinn von «sofort» verbindet Raum und
Zeit, gleich (!) wie etwa «hier und jetzt». «Gleich» erscheint in vielen Begriffen: Gleichgewicht – beide Seiten gleich schwer. Tag- und Nachtgleiche – gleich lang. Gleichschritt,
Gleichklang – gleichzeitig das Gleiche. Gleichnis – etwas, das sich mit etwas anderem
vergleichen lässt. Gleichung – Gleichsetzung rechnerischer Werte. Gleichgültig – ursprünglich «von gleichem Wert», bedeutet heute «unterschiedslos» oder auch «uninteressiert».
Gleichgestellt – mit sich selbst
Tatsächlich gleich kann ein Mensch allerdings nur mit sich selbst sein, denn sein Körper
steht ja nur ihm allein zur Verfügung. Selbst ein Klon wäre ein «Anderer», in einem anderen Körper, mit einer anderen, wiederum nur ihm eigenen Geschichte. Ein besonderes
Licht auf diesen Sachverhalt wirft die Aussage einer schwer depressiven Frau auf die
Frage, weshalb sie denn so sehr weine: «Wegen des Unterschieds zwischen mir und
mir.» – Unsere äussere Gestalt aber teilen wir mit allen anderen unserer Spezies, seien
wir jung oder alt, gross oder klein geraten, zierlich gebaut oder massig. Wir unterscheiden
uns allenfalls in der «Ausstattung» wie etwa Haut-, Haar und Augenfarbe – mit einer Ausnahme. Und dieser verdanken wir bis heute eine der extremsten Ungleichstellungen mit
erschreckenden Folgen für alle Beteiligten.
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Behinderung und Politik 3/09
Frau und Mann – gleich und anders
Diese Jahrtausende alte systematische Nicht-Gleichstellung von Mann und Frau ist nicht
wirklich naturgegeben, nun ja, abgesehen von stammesgeschichtlich bedingtem Verhalten, das mittlerweile unser Fortbestehen eher in Frage stellt denn garantiert. Sie resultiert
eher aus unserer Unreife, wir sind ja eine noch sehr junge Spezies und noch lange nicht
dort angekommen, das zu sein, ‹wie wir gemeint sind›, wie es der Denker Martin Buber
geradezu poetisch formulierte.
Es ist nun einmal einfach unsere Basis, dass wir in zwei Sorten vorkommen, und keine
von ihnen ist ‹besser als die andere›, so funktioniert die Natur ganz und gar nicht. Männer
und Frauen sind gleich und anders gleich, dies gleichzeitig. Paradox natürlich, aber wir
sind nun einmal aus vielen Widersprüchen zusammengesetzte, oft irrationale oder unvorhersehbar agierende Geschöpfe mit einer Neigung zum Chaotentum und Problemen mit
der Gleichstellung ganz allgemein.
Gleichstellung – in Frage gestellt
Es gehört auch zu den Eigentümlichkeiten menschlichen Verhaltens, einerseits im wie
auch immer gearteten «Anderen, Fremden, Ungleichen» grundsätzlich zunächst Beunruhigendes, Unbequemes oder gar Dämonisches zu sehen, das man schlimmstenfalls brachial bekämpft, jedoch zumindest ausgrenzt und deshalb massiv abwerten muss. Andererseits decken Opfer von Katastrophen oder Gewalteinwirkung, Kranke oder Behinderte
die eigene Verletzlichkeit, die eigenen Grenzen oder Ängste auf. Dies erzeugt Gefühle
von Unbehagen, Unsicherheit und Betroffenheit. Um diese unerwünschten Emotionen
oder Verantwortung abzuwehren, ist es am einfachsten, diese Menschen zu Tätern zu
machen. Und damit ist die Gleichstellung wieder in Frage gestellt.
Gleichstellung – Sprachjonglage II
«Stellen» erhält wie so viele deutsche Wörter durch Vor- und Nachsilben einen grossen
Bedeutungsraum. Man stellt etwas auf, hin, aus oder weg, jemanden ein oder auf. Der
Polizist kann den Dieb stellen oder der Jäger das Wild, der angehende Soldat stellt sich.
Feststellung, Nachstellung, Vorstellung im Theater oder im Kopf oder für eine Anstellung
… Stellen und Stellungen en masse. Und schliesslich die Gleichstellung als besondere
Herausforderung.
Gleichstellung – Rechte, Pflichten und Verantwortung
Gleichstellung ist eine Herausforderung in mehrfacher Hinsicht. Es genügt ja nicht,
Gleichstellung in einem Gesetzesparagraphen zu verfügen, sie muss auch durchgesetzt,
wenn nötig eingeklagt werden. Im allerbesten Fall könnte ein solcher Paragraph mit der
Zeit sogar überflüssig werden.
Bloss zu befürchten wäre solches noch lange nicht, denn wir tun uns schwer mit Gleichstellung überhaupt. Mit und ohne Paragraphen. Die einen setzen stillschweigend voraus,
dass sie sowieso und überhaupt gleicher seien als andere, deshalb per se tugendsam
sowie bessere Menschen. Und sie übersehen völlig, dass sie damit jegliche Gleichstellung vorweg zunichte machen. Andere kümmern sich einen Pfifferling um Gleichstellung
gleich welcher Art und beanspruchen Vorrechte. Manche nehmen sich heraus, darüber
bestimmen zu dürfen, wer wem wann und wie gleich gestellt sei oder zu sein habe. Einige
wiederum wollen lieber gar nicht gleichgestellt sein, sie verlieren dabei zwar ihre Rechte,
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Behinderung und Politik 3/09
haben aber auch keine Verantwortung und Pflichten. Etliche pochen bei jeder Möglichkeit
auf ihre Gleichstellung, manipulieren aber zu Gunsten von Eigeninteressen diejenige anderer.
Französische Revolution – Historisches I
Die französische Revolution ebnete der Gleichstellung den Weg von einem vorwiegend
theoretisch diskutierten Thema zur praktischen Umsetzung oder wenigsten den ersten
unsicheren Schritten in eine neue Wahrnehmung von menschlichem Sein. Und wie schon
früher so oft – und vermutlich auch in Zukunft, stand am Anfang ein Blutopfer. Erst, als die
durch eine fast unvorstellbar verblendete feudale Misswirtschaft ausgelaugte, ausgeblutete Bevölkerung bar jeder Hoffnung auf bessere Zeiten ihren König ermordete, wurde
eine neue Orientierung möglich.
Unterdrückung und Ausbeutung – Historisches II
Es gab in den Jahrtausenden selbstverständlicher durch Eroberungskriege und Annektionen alimentierter Versklavung neben unsäglichen Despoten zwar immer auch vernünftige
und gute Herrschende. Kasten-, Clan- und Klassensysteme mit unüberwindbaren Schranken und Leibeigenschaft waren trotzdem fast überall die Regel. In gewissen Ländern beginnen sie sogar erst jetzt ihre absolute Dominanz zu verlieren. Afrika und Amerika etwa
leiden noch heute an unheilbaren Wunden, welche der systematisch betriebene Sklavenhandel im Interesse der Zuckerplantagen schlug. Eigentliche Menschenjagden hüben und
drüben, Ausbeutung, Verachtung, buchstäblich Menschen als Wegwerfartikel.
Ungleich Überraschendes – Historisches III
Es ging aber auch anders: Die vornehmen Römer verwunderten sich höchlichst über die
Germanen, Ägypter und Juden, die ihre behindert geborenen Kinder aufzogen und sie
nicht einfach aussetzten oder umbrachten. Römische Sklaven konnten sogar, einen gefüllten Geldbeutel vorausgesetzt, zu hohen Würden kommen. – Erst kürzlich wurde das
ungefähr hunderttausend Jahre alte Skelett eines etwa neunjährigen Neandertalers aufgefunden. Ohne sorgfältige Pflege wäre dieser schon viel früher an seiner Erbkrankheit
gestorben.
Gleichstellung ist nicht Gleichschaltung
Einstein sagte: «Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher.» Wegen Letzterem wird oft nicht einmal der Abgrund erkannt, der sich auftut zwischen echter Gleichstellung und Gleichschaltung via Diktatur, Modelabels und -trends,
den von Millionen gleichzeitig konsumierten Fernsehsendungen oder, als weiteres Beispiel, Massenereignissen – alles natürlich nicht per se ‹schlechte› Dinge. Aber echte
Gleichstellung verlangt nicht nach Gehirnwäsche sondern nach Auseinandersetzung: Zuerst muss ein Bedarf erkannt, dann anerkannt und schliesslich aktiv erfüllt werden, ein
meist mühsamer und ermüdender Prozess. Bremswirkung haben unter anderem Privilegien. Wer gibt diese schon freiwillig auf, nur, damit ein paar Kümmerlinge gleichgestellt
sind? Und als kümmerlich gilt aktuell ungefähr alles, was nicht massenmedientauglich
oder zu wenig reich ist. Die Gleichstellung von Behinderten gehört definitiv in diese Kategorie. Sie lässt sich schlecht verkaufen.
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Behinderung und Politik 3/09
Gleichstellung von behinderten Menschen
Hier nun die für uns wichtige Frage: Was haben die bisherigen Ausführungen mit der
Gleichstellung behinderter Menschen zu tun? Alles. Behinderte Menschen sind gleichermassen gleich und anders gleich wie alle anderen Menschen auch. Sie sind untereinander gleich, was gesundheits-, finanzpolitische und versicherungstechnische Belange betrifft sowie anders gleich je nach Ausformung der Behinderung.
Gleichstellung unter Behindertengruppen
Drei Dinge braucht es von unserer Seite, damit unsere Gleichstellung gesichert und konsolidiert wird. Unbedingt Solidarität und Loyalität der Behindertengruppen untereinander,
also auch die Vermeidung von Auseinandersetzungen, welche dieses nationale Anliegen
als Streitereien x-welcher Vereine erscheinen lassen könnten. Diskussionen ja, hitzige, ja,
aber nicht die Gleichstellung gleich selbst unterlaufen durch Ausgrenzung oder auch Generalverdachtsäusserungen gegen einzelne Formen von Behinderung. Und zum Dritten
müssen wir uns darüber klar sein, dass wir mit unserem Einsatz für unsere eigene Gleichstellung auch allgemein gesellschaftspolitisch markante Zeichen setzen, die für die Zukunft wichtig sind. Das tut nicht nur unserer Motivation gut, sondern ist sehr nötig, denn:
«Die Räuberbarone von heute sind der Adel von Morgen», und, sollten sie dieses Mal tatsächlich doch wieder erfolgreich sein, werden sie danach trachten, all diese alten Geschichten zu wiederholen. Ausserdem wird schon jetzt kräftig an unserer Demokratie herumgedoktert. Unsere in der Bundesverfassung festgelegten Rechte mit demokratischen
Mitteln einzufordern, könnte dem trotz allem doch zumindest ein wenig entgegenwirken.
Die angesprochenen Themen sind teilweise schmerzlich. Der Zeithorizont für das tatsächliche Erreichen von echter Gleichstellung ist fast entmutigend weit entfernt, und die Perspektiven dürften schon ein wenig rosiger daherkommen.
Deshalb hier ein letztes ‹gleich›: Alle heute auf der Erde lebenden Menschen sind insofern gleich, als dass jede und jeder von uns eine ungebrochene Ahnenlinie hat bis weit,
weit zurück in die Vorzeit, als Leben auf der Erde entstand. Ist das nicht eine Ehrfurcht
gebietende Tatsache? Und eine, die gewiss auch zu Hoffnung berechtigt.
Fünf Jahre BehiG: Eine Bilanz im öffentlichen Verkehr
Von Beat Schweingruber, Leiter der Schweizerischen Fachstelle Behinderte und öffentlicher Verkehr, BöV
Das BehiG hat die Entwicklung eines behindertengerechten öV in der Schweiz stark beschleunigt. In den vergangenen gut fünf Jahren wurden dabei grosse Fortschritte erzielt.
Viele sind sicht- und erfahrbar, andere wirken sich erst später aus. Die Fachstelle hat ein
enormes Arbeitspensum bewältigt und konnte viele Fortschritte und Verbesserungen bewirken. Zuweilen stösst sie aber auch auf grosse Widerstände. Eine Bilanz.
Busverkehr
Hier sind die Fortschritte am deutlichsten sichtbar. Heute sind gegen 90% der Buslinien
ganz oder teilweise rollstuhlgängig. In fünf Jahren sollte der Fahrzeugpark zu 100% roll-
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Behinderung und Politik 3/09
stuhlgängig sein, mit Ausnahme einiger Trolleybuslinien. Im urbanen Bereich verfügen
zahlreiche Fahrzeuge über zwei Rollstuhlplätze.
Mehr Arbeit geben uns (und den regionalen Bauberatungsstellen) die unzähligen projektierten Bushaltestellen. Immer wieder treffen wir auf zu niedrige Haltekanten und zu klein
dimensionierte Manövrierflächen für den Rollstuhl. Das rührt auch daher, dass man es
hier mit unzähligen kantonalen und kommunalen Regelungen und Instanzen zu tun hat.
Künftig soll eine VSS-Norm diesen Bereich national einheitlich regeln. Nach Möglichkeit
wirken wir auch daraufhin, dass die Manövrierflächen auch Rollstühle mit Vorhängemotor
bzw. Elektroscooter berücksichtigen.
Schienenfahrzeuge
Im Bereich Schienenfahrzeuge ist bezüglich Rollstuhlgängigkeit vor allem der Regionalverkehr von Bedeutung. Dank zahlreichen Fahrzeugbeschaffungen in den letzten Jahren
verfügen bereits heute rund 50% der Kompositionen über mindestens einen niveaugleichen Einstieg. (Teilweise müssen zur Spaltüberbrückung noch Schiebetritte nachgerüstet
werden, wie bei der BLS.)
Die SBB sind diesbezüglich noch etwas im Rückstand. Mit den grossen laufenden Beschaffungsprojekten wird jedoch bis in fünf Jahren jede SBB-Komposition im Regionalverkehr rollstuhlgängig sein (ausgenommen Zusatzzüge in Spitzenzeiten). Auch bei den Privatbahnen dürfte bis 2014 zumindest im Halbstundentakt jeder Zug über einen Tiefeinstieg verfügen. Bei den Trams liegt der Anteil, je nach Stadt, heute zwischen 30 und 70%,
in fünf Jahren zwischen 50 und 80%.
In den meisten Projekten wird die Fachstelle BöV erfreulicherweise so frühzeitig einbezogen, dass auch grundsätzliche Fragen noch diskutiert werden können. Das Prinzip der
Zugänglichkeit für Fahrgäste im Rollstuhl wird zwar nirgends in Frage gestellt. Probleme
tauchen aber oft da auf, wo es um die konkrete Einstiegssituation geht oder um die Qualität des Rollstuhlstellplatzes, insbesondere um dessen befriedigende Integration in den
Fahrgastbereich.
Heikle Punkte sind bei allen Projekten die Haltestangenkonzepte sowie Anordnung und
Ausgestaltung der Einrichtungen für die Fahrgastinformation.
Fahrgastinformation im Fahrzeug
Bei den akustischen Einrichtungen ist oft ein relativ hohes Niveau erreicht, aber es besteht noch wenig Wissen über die konkreten Anforderungen an die Sprachverständlichkeit
insbesondere für Hörbehinderte. Derzeit laufen Studienaufträge zum Thema unter Beteiligung der Fachstelle BöV und des Bundesamts für Verkehr BAV. Relativ häufig werden wir
auch darauf aufmerksam gemacht, dass bei Bahn- oder Busbetrieben noch immer keine
Haltestellenansagen gemacht werden.
Im Bereich der optischen Anzeigen herrscht noch ein rechter Wildwuchs, namentlich was
die Lesbarkeit von Anzeigen für Sehbehinderte und die Art der Darstellung betrifft. Im
Bahnbereich konnten wir bessere Lösungen oft durchsetzen, weil wir hier auch in die Beschaffungsprojekte einbezogen sind. Bei Busbetrieben wurden wir bisher über den Einbau
von Anzeigen meistens gar nicht informiert.
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Behinderung und Politik 3/09
Immer häufiger kommen Bildschirme zum Einsatz. Hier soll das Projekt «FIS-Commun»
des Verbands öffentlicher Verkehr VöV, finanziert vom BAV, bis Ende Jahr eine einheitliche Gestaltung vorgeben.
Fahrgastinformation am Fahrzeug
Die Aussenanzeigen an Fahrzeugen sind eines unserer grossen Sorgenkinder, sowohl im
Bahn- wie im Busbereich. Die seitlichen Anzeigen, die gerade für Sehbehinderte von
grosser Wichtigkeit sind, werden meistens irgendwo oben hinter die Fensterscheiben
montiert. Dafür gibt es gute Gründe vor allem technischer Natur, aber diese Art der Montage führt dazu, dass sie von den meisten Sehbehinderten nicht gelesen werden können.
Wir von der Fachstelle versuchen regelmässig, diese Anzeigen auf Augenhöhe hinunter
zu bringen, aber das scheitert ebenso regelmässig an technischen Randbedingungen
und/oder am fehlenden Willen der Unternehmen. Verbindliche Vorschriften gibt es hier
nicht. So versuchen wir jeweils, noch ein Optimum an Verbesserung zu erreichen.
Behindertengerechte Bahnhöfe
Die wesentliche Aufgabe ist die Anpassung der Perronanlagen auf die richtige Höhe für
den niveaugleichen Einstieg und der stufenfreie Zugang. Beides sind kostspielige Vorhaben, deshalb sind die beschränkten Mittel hier das grösste Problem. Es bemühen sich
immerhin alle Seiten darum, die knappen Mittel dort einzusetzen, wo sie den grössten
Nutzen bringen.
Zahlreiche Bahnhöfe wurden mit taktilen Sicherheitslinien und Abgangsmarkierungen
nachgerüstet. Dank intensiven Bemühungen der Fachstelle sind die Bildschirme mit den
Zugsabfahrten immer häufiger auf der für Sehbehinderte tauglichen Höhe anzutreffen.
Kommunikationseinrichtungen
Von einheitlichen Standards für behindertengerechte Notruf- und Info-Einrichtungen sind
wir immer noch weit entfernt. Da besteht noch grosser Handlungsbedarf, ebenso in den
Bereichen blinden- und sehbehindertengerechte Fahrgastinformation sowie Türöffnung.
Ein europäisches Projekt sollte hier die Standards definieren, doch fehlt dazu noch das
nötige Geld.
5 Jahre BehiG – Blick in den Alltag (III)
«agile» zeigt in einer Serie zum Jubiläum des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) Verbesserungen («Tops») und Mängel («Flops») auf im Bereich Gleichstellung in
den letzten fünf Jahren. Es zeigt sich: Für Menschen mit einer psychischen Behinderung
hat sich nichts verändert.
Weder Tops noch Flops
Von Françoise Steiner, Mitglied Gleichstellungsrat Égalité Handicap
Seit dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes hat sich für mich nichts
verändert. So kann ich weder von Tops noch von Flops berichten. Das gilt wahrscheinlich
auch für die übrigen Menschen mit einer psychischen Behinderung.
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Behinderung und Politik 3/09
Seit fünf Jahren erhalte ich aufgrund meiner Krankheit (Depression) eine halbe IV-Rente.
Das bedeutet, dass ich theoretisch in der Lage bin, zu 50% einem Erwerb nachzugehen.
Aber trotz über hundert Stellenbewerbungen habe ich keine Arbeit gefunden. Welcher
Arbeitgeber möchte schon jemanden einstellen, der eine halbe IV-Rente bezieht wegen
einer psychischen Krankheit?
Ich kenne keinen. Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich die Situation noch verschlechtert. Eine halbe IV-Rente ist ein Stigma, das an einem klebt bei der Arbeitssuche.
Ich habe deshalb alle Bemühungen, eine Stelle zu finden, aufgegeben.
Alle meine Freundinnen und Freunde sind erwerbstätig. Das bedeutet, dass sie häufig
sehr beschäftigt sind und ich sie nur selten sehe. Die Einsamkeit ist zu meiner Begleiterin
geworden. Eine nicht immer angenehme Begleiterin, die einem viel zu viel Zeit zum
Nachdenken lässt. Natürlich kann das manchmal positiv sein. Wenn es einem jedoch
nicht gut geht, dann gute Nacht!
Mit einer psychischen Behinderung ist das Leben schwierig, und man spricht nur sehr
wenig davon. Was kann man im Bereich der Gleichstellung tun? Man kann weder Rampen noch geeignete Wohnungen bauen.
Das beste Heilmittel für viele Menschen mit einer psychischen Behinderung wäre berufliche Integration. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass es ein Gesetz bräuchte, das die Arbeitgebenden verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz von Menschen mit Behinderung
anzustellen. Dann könnte man anfangen, von Gleichstellung zu sprechen.
Übersetzung: Susanne Alpiger
Ausbaubedarf trotz beachtlichem Niveau
Wo steht das schweizerische Behindertengleichstellungsrecht im Vergleich mit Staaten
aus dem Raum der Europäischen Union sowie den USA? Wo zeigen sich Stärken, wo
Schwächen? Die aktuelle Rechtslage und ihre Wirksamkeit im internationalen Vergleich.
Von Tarek Naguib, Lic. iur., Mitarbeiter der Fachstelle Égalité Handicap
Das schweizerische Behindertengleichstellungsrecht befindet sich auf einem beachtlichen
Niveau. Dennoch verfügt es über erhebliche Defizite. Problematisch sind die teilweise
mangelhafte und schleppende Umsetzung des Rechts in die Praxis und der fehlende
ausdrückliche Diskriminierungsschutz im Arbeitsverhältnis. Weiter problematisch sind zudem die aufgrund der föderalistischen Staatsstruktur kantonal unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen mit in der Regel relativ niedrigen Schutzstandards (insbesondere in den Bereichen Schule und staatliche Dienstleistungen).
Im Vergleich zu unseren Nachbarstaaten ist der Schutzstandard (pauschal betrachtet) in
etwa vergleichbar. Ein relativ grosser Rückstand besteht auf die USA und in gewissen
Bereichen vereinzelt auch auf nord- und mitteleuropäische Staaten. Zudem führen die
rasanten Entwicklungen auf der Ebene der Europäischen Union zu einer relativen Schwächung der schweizerischen Rechtslage gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäischen
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Behinderung und Politik 3/09
Union in den Bereichen Erwerbsleben und mit grosser Wahrscheinlichkeit bald auch bei
öffentlich angebotenen Gütern und Dienstleistungen Privater.
Übersicht zur aktuellen Rechtslage in der Schweiz
Das Recht zum Schutz vor Benachteiligung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen besteht auf der einen Seite aus dem eigentlichen Behindertengleichstellungsrecht. Dieses beinhaltet ausdrückliche Benachteiligungs- und Diskriminierungsverbote. Auf der anderen Seite umfasst es auch zahlreiche Rechtsnormen im Privatrecht,
Strafrecht und öffentlichen Recht, die implizit Schutz gewähren vor diskriminierenden
Handlungen (wie Ungleichbehandlung sowie behindertenfeindliche Gewalt und Äusserungen).
Behindertengleichstellungsrecht:
Die Bundesverfassung sowie einschlägige völkerrechtliche Verträge (wie z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention, die beiden UNO-Pakte sowie die Kinderrechtskonvention) untersagen direkte und indirekte Diskriminierung aufgrund einer körperlichen,
geistigen oder psychischen Behinderung (siehe z.B. Art. 8 Abs. 2 BV). An das Diskriminierungsverbot gebunden sind einzig Behörden, öffentlich-rechtliche Unternehmen sowie
private Unternehmen im Rahmen der Ausübung staatlicher Aufgaben. Weiter verbietet
das Behindertengleichstellungsgesetz (inkl. seiner Verordnungen und Konkretisierungen
in weiteren Gesetzen) die Benachteiligung in den Bereichen staatliche Dienstleistungen,
Dienstleistungen konzessionierter Unternehmen, öffentlicher Verkehr und Aus- und Weiterbildung, sofern sie in den Kompetenzbereich des Bundes fallen. Die Kantone haben im
Rahmen ihrer verfassungsrechtlich verankerten Zuständigkeiten jeweils eigene rechtliche
Standards. Bei Dienstleistungen Privater gelten weniger strenge Regeln. Verboten ist einzig die segregierende Form der Diskriminierung. Zu erwähnen sind noch die im BehiG
verankerte Möglichkeit freiwilliger Unterstützungsleistungen für Integrationsprogramme
durch den Bundesrat sowie die programmatische Verpflichtung der Kantone, für eine integrative Schulungsform zu sorgen. Weiter gibt es zahlreiche Bestimmungen der Kantone
insbesondere in den Bereichen Schule und Bau.
Allgemeine Rechtsnormen:
Über das Behindertengleichstellungsrecht hinaus gelten die allgemeinen Bestimmungen
des Strafrechts, wobei die behindertenfeindliche Form der Gewaltanwendung und der
Beschimpfung einen strafverschärfenden Charakter aufweisen. Eine behindertenfeindliche Äusserung und Gewaltanwendung stellt zugleich einen Verstoss gegen den zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz (Art. 28ff. ZGB) dar und löst einen Genugtuungs- und
(insbesondere bei Gewaltanwendung) einen Schadenersatzanspruch aus. Im Bereich des
Erwerbslebens lassen sich auf der Basis unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln wie dem Grundsatz von Treu und Glauben sowie dem arbeitsrechtlichen und dem
zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz ein arbeitsrechtliches Diskriminierungsverbot herleiten. Dieses verlangt vom Arbeitgebenden jedoch nicht, angemessene Vorkehrungen in
Form von Leistungen erbringen müssen, ausser sie sind zum Schutz der Gesundheit vom
Arbeitgeber gefordert. Die diskriminierende Verweigerung von Gütern, Dienstleistungen
und Wohnraum sowie die diskriminierende Kündigung eines Dienstleistungs- und Mietvertrages sind unrechtmässig ebenfalls auf der Basis des Grundsatzes von Treu und
Glauben, des Persönlichkeitsschutzes und – zusätzlich zum privatrechtlichen Arbeitsverhältnis – des Grundsatzes der guten Sitten unter bestimmten Voraussetzungen. Die auf11
Behinderung und Politik 3/09
gelisteten Bestimmungen untersagen die Diskriminierung in allen Vertragsphasen (Anbahnung, Abschluss, Inhalt, während des Vertragsverhältnisses, Beendigung).
Übersicht zur Wirksamkeit des Rechts in der Schweiz
Insgesamt betrachtet besteht ein grosser Unterschied betreffend die Wirksamkeit des
rechtlichen Schutzes, wenn man die Bestimmungen im Behindertengleichstellungsrecht
mit den allgemeinen Bestimmungen vergleicht. Dies ist hauptsächlich darauf zurück zu
führen, dass die ausdrückliche Verankerung von Diskriminierungsverboten massgeblich
zur Sensibilisierung und Rechtssicherheit beitragen und dadurch auch genutzt werden.
Darüber hinaus verfügt das Behindertengleichstellungsgesetz zwei wichtige Instrumente
zur Förderung der Durchsetzung und zum Abbau von Durchsetzungshemmnissen, die
Kostenlosigkeit im erstinstanzlichen Verfahren sowie – weniger wichtig – ein Verbandsbeschwerde- bzw. -klagerecht.
Es bestehen aber auch grosse Unterschiede betreffend den Effektivitätsgrad innerhalb
des Behindertengleichstellungsrechts. Wirksam ist das Behindertengleichstellungsgesetz
insbesondere im Bereich Bau; auch wenn durchaus erhebliches gesetzgeberisches Verbesserungspotenzial besteht. Dies hängt massgeblich davon ab, dass man im Rahmen
eines Baubewilligungsverfahrens mittels Einsprache einen Bau blockieren kann bzw. die
für die Baubewilligung zuständige Behörde von Amtes wegen prüft. Zudem wird die Bauherrschaft durch «negative» Erfahrungen für die Zukunft sensibilisiert. Anders ist die Situation in den Bereichen Dienstleistung, Aus- und Weiterbildung und öffentlicher Verkehr.
Zwar stehen auch hier Rechtsmittel und Rechtsansprüche zur Verfügung. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass die Leistung im Nachhinein erkämpft werden muss.
Schwach ist das Behindertengleichstellungsgesetz im Bereich der obligatorischen Schule.
Hier ist es aufgrund der Zuständigkeitsregel im Rahmen der grundrechtlichen Vorgaben
sowie von Art. 20 BehiG den Kantonen überlassen, wie weit sie Integration verwirklichen.
Die Schweiz im internationalen Vergleich
Dienstleistungen:
Bei Dienstleistungen des Bundes ist der Standard praktisch optimal. Ähnlich sieht es in
den Europäischen Staaten und den USA aus. Schwach ist der Schutz bei privaten
Dienstleistungen. Grossbritannien und die USA beispielsweise verbieten nicht nur segregierendes Verhalten, sondern jede sachliche nicht gerechtfertigte Benachteiligung. Darüber hinaus verlangen Sie auch von privaten Unternehmen in gewissem Umfang angemessene Vorkehrungen, sofern diese zur Beseitigung der Benachteiligung notwendig und
angemessen sind. In den USA unzulässig ist zudem die assoziierte Diskriminierung, d.h.
die Benachteiligung von Menschen, weil sie in einem engen Verhältnis (z.B. durch die elterliche Obhut) zu einem Menschen mit Behinderung stehen. Der hohe Schutzstandard
wie er beispielsweise in den USA gilt, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit in wenigen Jahren auch im gesamten Raum der Europäischen Union bestehen; denn die EU ist zur Zeit
an der Ausarbeitung einer neuen EG-Diskriminierungsrichtlinie. Diese soll insbesondere
auch vor Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen im Rahmen von Dienstleistungen praktisch «umfassenden» Schutz gewährleisten. Nicht optimal ist die Situation
bei der Mehrheit der Kantone, da viele über keine eigentlichen Behindertengleichstellungsgesetze verfügen.
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Behinderung und Politik 3/09
Erwerbsleben:
Im Vergleich zur Europäischen Union und den USA ist der Rechtsschutz in der Schweiz
relativ schwach. In den EU-Staaten sowie in den USA verbieten die Gesetze ausdrücklich
Diskriminierung in allen Phasen des Arbeitsverhältnisses und verpflichten die Arbeitgebenden zu angemessenen Vorkehrungen. Darüber hinaus verfügen die EU-Mitgliedstaaten in ihren Gesetzen eine sogenannte Beweislast-Erleichterung. Diese erleichtert den
Nachweis einer Diskriminierung vor Gericht erheblich und führt dadurch massgeblich zur
Vereinfachung der Durchsetzung und somit insgesamt auch zur Verbesserung der Wirkung des Diskriminierungsverbotes. Verfahrenserleichterungen sind auch in den USA
vorgesehen, wo das Diskriminierungsverbot mit Unterstützung einer Equal Employment
Opportunity Commission durchgesetzt werden kann.
Öffentlicher Verkehr:
Die relativ langen Fristen für die Anpassungen von Bauten und Anlagen (bis Ende 2023)
sowie von Kommunikationssystemen und Billetausgaben (bis Ende 2013) führen teilweise
zu einem Rückstand im Vergleich zum Ausland. In den USA beispielsweise müssen neu
gekaufte, «geleaste» sowie renovierte Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs automatisch
zugänglich gestaltet werden.
Bau:
In den USA gehen die Standards insbesondere bei Neubauten weiter. Hier sind auch
Massnahmen innerhalb des Wohnhauses, insbesondere auch für Sehbehinderte vorzunehmen – mit gewissen Ausnahmen und Einschränkungen für Privathäuser. In Deutschland werden zur Förderung der baulichen Zugänglichkeit privater Gebäude unverbindlich
Zielvereinbarungen zwischen den Verbänden gefordert. Bei öffentlichen Gebäuden besteht bei Neu-, Um- oder Erweiterungsbauten eine Pflicht.
Aus- und Weiterbildung:
Öffentliche Schulen in den USA sind denselben rechtlichen Rahmenbedingungen unterworfen wie bei staatlichen Dienstleistungen. Die neu in Bearbeitung stehende EG-Richtlinie (siehe unter Dienstleistungen) wird massgebliche Verbesserungen bei öffentlichen
Angeboten im Aus- und Weiterbildungsbereich vorsehen. Deutschland beispielsweise hat
hier bereits einen Vorsprung; hier ist der gesamte Bildungsbereich bereits vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz AGG erfasst.
Schule:
Im Bereich der obligatorischen Grundschulung befindet sich die Schweiz wie zahlreiche
andere europäische Staaten auf einem sehr niedrigen Niveau. Fortschrittlich erweist sich
unser Nachbarland Italien. 1977 wurde ein Gesetz verabschiedet, das alle staatlichen
Schulen verpflichtet, Kinder mit Behinderung aufzunehmen. Zehn Jahre später wurde der
Anspruch auf Integration auch auf den Kindergarten und das Gymnasium ausgeweitet. In
Deutschland beschränkt sich die noch kaum fortgeschrittene Integration vorwiegend auf
die Grundschule.
Fazit
Das schweizerische Behindertengleichstellungsrecht verfügt insgesamt betrachtet über
einen relativ hohen Standard. Verglichen mit den Staaten aus dem Raum der Europäischen Union sowie den USA ist das Niveau im Bereich des Erwerbslebens tief, auch
wenn aufgrund der allgemeinen Bestimmungen im Arbeitsrecht mehr möglich ist als all13
Behinderung und Politik 3/09
gemein angenommen wird. Problematisch ist zudem die grosse Schwäche bei der integrativen Beschulung. Hier steht die Schweiz mit vielen anderen Staaten im Vergleich zu
Italien (noch) praktisch vollständig im Abseits. Es bleibt abzuwarten, welche Erkenntnisse
der voraussichtlich am 3. Dezember diesen Jahres dem Publikum vorgestellte Bericht des
Bundesrats sowie der entsprechende «Schattenbericht» der Dachorganisationenkonferenz der privaten Behindertenhilfe DOK, der Fachstelle Égalité Handicap und des Gleichstellungsrates Égalité Handicap bringen.
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Behinderung und Politik 3/09
IV-Zusatzfinanzierung
Für eine solide und solidarische IV
Eine Umfrage zeigt: 99% der Bevölkerung finden, dass die Invalidenversicherung eine
ausserordentlich wichtige Institution ist. Vor allem für Personen mit Behinderung, deren
Existenz von der Sozialversicherung abhängt. Tatsächlich ist die IV aber für alle da und
muss deshalb auch von allen auf solidarische Weise gerettet werden.
Von Maria Roth-Bernasconi, Nationalrätin (GE) Präsidentin von Pro Mente Sana Westschweiz
Eine Behinderung oder eine chronische Krankheit kann jede Person irgendwann im Leben
treffen. Niemand ist davor hundertprozentig sicher. Die IV berücksichtigt diese Risikoaufteilung, indem sie die Leistungen für diejenigen finanziert, die sie nötig haben, mit Beiträgen jener, die vielleicht einmal Leistungen brauchen. Dies entspricht dem Versicherungsprinzip oder umgekehrt gesagt: Die egoistische Sorge, sich selber vor eventuellen Risiken
zu schützen wird in eine kollektive Anwandlung von solidarischer Grosszügigkeit umgewandelt. Das heisst für uns: Die Vorlage zur IV-Zusatzfinanzierung, die am 27. September
zur Abstimmung kommt, will eines der wichtigsten Sozialwerke der Schweiz retten.
Schiffbruch vermeiden
Die mit einer ewig wachsenden 13 Milliarden-Schuld belastete IV muss gerettet werden.
Deshalb sieht die zur Abstimmung gelangte Vorlage vor, dass die Mehrwertsteuer
(MWST) proportional und zeitlich begrenzt erhöht wird. Dies bevor andere, nachhaltigere
Lösungen ausgearbeitet werden. Anders gesagt geht es darum, die Dienste aller auf eine
bescheidene Art und für eine kurze Zeit in Anspruch zu nehmen, um zu verhindern, dass
diese uns alle betreffende Versicherung Schiffbruch erleidet.
Auf dem Spiel stehen mindestens 1,1 Milliarden Franken zusätzliche Einnahmen, um die
Verschuldung zu stoppen. Daneben soll aber auch noch ein von der AHV separater IVFonds geschaffen werden. Denn heute ist es die AHV, die die Schulden der IV bezahlen
muss. Die Vorlage trifft also zwei Fliegen auf einen Streich: Sie garantiert einerseits, dass
die Altersrenten weiterhin bezahlt werden können. Anderseits erlaubt sie es der IV, ihre
wesentliche Mission weiterhin zu erfüllen. Der Auftrag, den Menschen mit Behinderung
oder mit einer chronischen Krankheit das Existenzminimum zu garantieren und ihre soziale und berufliche Integration zu sichern, kann somit weiterhin erfüllt werden.
Politisch schwieriges Klima
Klar ist nicht alles in Butter. Die Vorlage wird zwar von links bis rechts unterstützt, aber –
wie schon so oft – bekämpft die SVP mit populistischen Argumenten das solidarische
Projekt: Die SVP, die nur von Sparen und Leistungsverminderung auf dem Buckel der
Menschen mit Behinderung redet. Für die das Wort Solidarität ein Schimpfwort ist! Vergessen wir nicht: Die Erarbeitung einer neuen Finanzierung der IV wurde damals bei der
Abstimmung über die 5. IV-Revision als Gegenleistung zu den Opfern versprochen. Eine
5. Revision, die notabene schon eine Verminderung der Anzahl der Renten gebracht hat,
und der nun eine 6. Revision folgen soll, die bis zum Jahr 2018 nicht weniger als 12‘500
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Behinderung und Politik 3/09
Rentenbezügerinnen und -bezügern die Leistungen entziehen würde… (Le Temps vom
17. Juni 2009).
Als Folge dieser schwierigen politischen Lage wurde die vorgesehen Erhöhung der
MWST – d.h. +0,4% für den normalen Satz, +0,2% für den Spezialsatz der Leistungen
aus dem Hotelgewerbe und +0,1% für den ermässigten Satz der Basiskonsumgüter –
noch einmal während der parlamentarischen Debatte reduziert. Zudem hat das Parlament
angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise im Juni 2009 noch beschlossen, das Inkrafttreten des Gesetzes um ein Jahr zu verschieben, damit die Kaufkraft der Bevölkerung nicht
noch mehr belastet wird. Falls die Vorlage angenommen wird, wird sie also erst zwischen
2011 und 2017 ihre Wirkung entfalten. Meinetwegen, aber vergessen wir nicht: Die Krise
macht die Rettung unserer Sozialversicherungen noch unabdingbarer.
Auf dem Buckel der Schwächsten
Es ist in der Tat so, dass bei Sturm auf dem Arbeitsmarkt die behinderten Personen die
ersten sind, die von negativen Massnahmen bedroht werden. Das Schlimmste wäre,
wenn nun die Schwächsten einer Doppelstrafe unterzogen würden: Entlassung und keine
Rente!
Leider ist das aber die herrschende Tendenz in Bern: Wir sehen es mit der 11. AHV-Revision, die auf dem Buckel der Frauen spart. Frauen, die notabene immer noch auf dem
Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Dasselbe gilt für die 4. Revision der Arbeitslosenversicherung, die die Leistungen der hauptsächlichen Opfer der Krise kürzt: der Jungen, der älteren Arbeitnehmenden, der unqualifizierten Arbeitskräfte und vor allem auch der Migrantinnen und Migranten.
Sich für das JA engagieren
Wir sehen: noch ist nichts gewonnen. Die Behinderten und ihre Organisationen müssen
ohne Pause mobilisieren, um den ersten und unabdingbaren Meilenstein für die Rettung
dieses wichtigen Sozialwerkes zu setzen und am 27. September ein JA des Volkes zu
erhalten. Dies, bis zum Abstimmungstag. Das ist der Preis, den wir zu bezahlen haben,
um den ersten Schritt hin zu einer soliden und solidarischen IV machen zu können.
IV-Zusatzfinanzierung – Mit Erfahrung überzeugen III
Gemeinsam mit den Mitgliedorganisationen will AGILE den Stimmbürgerinnen und
Stimmbürgern vor Augen führen, was für die Betroffenen von der Annahme der IV-Zusatzfinanzierung abhängt. Die Basis von AGILE, also ihre Mitgliedorganisationen haben
sich in den letzten Monaten mit Fragen zur IV als Sozialversicherung auseinandergesetzt.
Als ExpertInnen in eigener Sache und damit glaubwürdig und authentisch. (Siehe auch
«agile – Behinderung und Politik» 3/08 und 2/09).
Dieser Beitrag bringt eine weitere Auswahl der Antworten zu Fragen von «agile – Behinderung und Politik»:
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Zum Beispiel: SBV (Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband)
Kontakt: Joël Favre, Bereichsleiter Interessenvertretung SBV
E-Mail: [email protected]
Kurzportrait der Organisation:
Der SBV setzt sich in allen Landesteilen für die Interessenvertretung der Blinden und
Sehbehinderten ein und fördert insbesondere deren gesellschaftliche und berufliche Eingliederung.
agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören?
Die IV ist eine Institution, die die materiellen und finanziellen Folgen von Invalidität vermindert/eliminiert. Dies indem sie den Grundsatz der gesellschaftlichen und beruflichen
Wiedereingliederung anwendet. Der Grundsatz «Eingliederung vor Rente» ist nach wie
vor richtig und vom Stimmbürger mit der Annahme der 5. IVG-Revision gestützt worden.
Dies bedingt, dass die damit verbundenen Massnahmen im erforderlichen Rahmen verfügt und finanziert werden können. Ist eine berufliche Eingliederung trotz dieser Massnahmen nicht möglich, so muss eine Existenz sichernde Rente als «ultima ratio» zur
Verfügung stehen.
agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder des SBV?
Die IV finanziert Massnahmen medizinischer und beruflicher Art sowie Hilfsmittel. Sie
leistet zudem wichtige finanzielle Beiträge im Bereich der Beratung und der Kurse von
behinderten Personen. Falls die Massnahmen für eine berufliche (Wieder-)Eingliederung
nicht ausreichen, garantiert sie durch die IV-Rente den Lebensunterhalt der behinderten
Personen.
agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder?
Leistungen wie oben erwähnt.
agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen, entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV?
In keiner Weise. Die Renten machen heute zwar den finanziell grössten Anteil aus. Die
medizinischen und beruflichen Massnahmen, die Finanzierung von Hilfsmitteln sowie von
Beratung und Schulung sind sehr wichtig und tragen dazu bei, dass Renten vermieden
werden können.
agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem
häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird?
Es handelt sich hier um eine politisch motivierte Fehlinformation der SVP. Alle Leistungen,
welche von der IV ausgerichtet werden, basieren auf einer klaren gesetzlichen Grundlage
(IV-Gesetz und Verordnung sowie Ausführungsbestimmungen, welche der Bundesrat erlassen hat). Es können nur Leistungen aufgrund dieser gesetzlichen Grundlagen bezogen
werden. Die SVP hat die Aussage, dass man sich bei der IV wie in einem Selbstbedie17
Behinderung und Politik 3/09
nungsladen verhalten könne, noch nicht mit konkreten Beispielen belegen können. Sie ist
schlichtweg falsch und muss mit aller Bestimmtheit und konkreten Beispielen zurückgewiesen werden.
agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie im
Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören?
«IV-Leistungsberechtigte» oder «IV-Versicherte»
agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige,
Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die Urne zu legen?

Die Zusatzfinanzierung ist nötig, um die gesetzlich garantierten Leistungen finanzieren
zu können.

Jeder kann in die Lage kommen, auf Leistungen der IV angewiesen zu sein (Unfall,
Krankheit).

Die Einsparungen, welche allenfalls durch die 5. IVG-Revision erzielt werden können,
werden erst in ein paar Jahren wirksam. In der Zwischenzeit ist die IV auf Grund der
gestiegenen Anzahl von Behinderten auf diese Zusatzfinanzierung angewiesen.
agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die Mitglieder Ihrer Organisation?

Der jetzt schon existierende Druck auf die IV-Stellen, Einsparungen zu erzielen, wird
noch zunehmen. An sich berechtigte Gesuche werden in erster Instanz oft abgelehnt,
weil damit gerechnet wird, dass sich die Betroffenen nicht wehren (können). Diese
Tendenz wird noch zunehmen. Es besteht die Gefahr, dass die gesetzlich zugesicherten Leistungen nicht mehr (voll) gewährleistet sind.

Der Druck auf die Ärzte wird steigen, insbesondere im Bereich der psychischen
Behinderungen, welche ja von der SVP als «Schein-Invalidität» bezeichnet werden.
Zum Beispiel: SHG (Schweizerische Hämophilie-Gesellschaft)
Kontakt: Willi Lutz, betroffenes Mitglied der SHG, Arzt,
E-Mail: [email protected]
Kurzportrait der Organisation:
Die Schweizerische Hämophilie-Gesellschaft (SHG) ist die nationale Patientenorganisation von Hämophilen. Die Hämophilie ist als Bluterkrankheit im Volksmund bekannt. Die
SHG möchte die Interessen der Betroffenen bzw. der Eltern von Betroffenen vertreten.
Fachlich steht der SHG eine Ärztekommission zur Seite, die sich aus behandelnden Ärzten der Hämophilie-Zentren zusammensetzt.
agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören?
Ich denke an Stigmatisierung, Leistungsabbau und zunehmende Entsolidarisierung, Vergessen der bei der Gründung der IV ursprünglichen Idee.
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Behinderung und Politik 3/09
agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder der SHG?
Für die Mitglieder bedeutet die IV sehr viel.
Bei Hämophilie als anerkanntem Geburtsgebrechen ist die IV für die Eltern hämophiler
Kinder «grosszügige» Kostengarantin für die sehr teure medizinische Behandlung.
Für die erwachsenen Hämophilen scheint die IV Garant für Sozialleistungen im Falle abnehmender Arbeits- und Leistungsfähigkeit. In diesem Bereich haben die Mitglieder jedoch zunehmend mehr Probleme.
agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder?

Medizinische Massnahmen im Rahmen des Geburtsgebrechens

Berufsberatung (immer weniger)

Hilfsmittel

Renten
agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen, entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV?
Da die IV bis zum 20. Altersjahr die sehr teuren Behandlungskosten im Rahmen der medizinischen Massnahmen übernimmt, entspricht diese These nicht unbedingt der Wahrnehmung und Realität bei Hämophilen. Als «Renten-Versicherung» wird die IV den Bedürfnissen der Hämophilen zunehmend weniger gerecht und verliert die Glaubwürdigkeit
als Eckpfeiler der sozialen Sicherheit.
agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem
häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird?
Die Beurteilung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit von Menschen mit Behinderung ist
sehr individuell (Betroffene, Ärzte usw.), trotz der genau festgelegten Bedingungen nicht
mit physikalischer Genauigkeit messbar. Dadurch kommt es zu unterschiedlichen Beurteilungen und scheinbar immer zu Ungerechtigkeiten.
Ich erkläre mir die Darstellung als Selbstbedingungsladen als politischen Schachzug, damit der Leistungsabbau (d.h. Sparübungen) bei der IV auf die erforderlichen Stimmenmehrheiten bei der Bevölkerung kommt.
agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie im
Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören?
Soziale Sicherheit.
agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige,
Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die Urne zu legen?
Meines Erachtens laufen wir Gefahr, eine Zwei- oder Mehr-Klassen-Gesellschaft zu akzeptieren. Dabei ist die für die IV relevante Unterscheidung nur ein Aspekt. Im Zusammenhang mit den Krankenkassen/Gesundheitskosten und der Altersvorsorge/Pflege beobachte ich ähnliche Entwicklungen – für Hämophile sind diese bedrohlicher. Ich appelliere
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Behinderung und Politik 3/09
an die Vernunft: Unsere Gesellschaft kann es sich finanziell leisten, ein «gerechter» Sozialstaat zu sein, der die Würde des Individuums pflegt.
agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die Mitglieder Ihrer Organisation?
Unmittelbar keine. Ich befürchte jedoch, dass der Spardruck auf die IV wachsen würde
und zusätzlichen Leistungsabbau bzw. Leistungsbegrenzungen zur Folge hätte. Damit
würde auch für die Krankenkassen der Weg frei, die Grundversorgung weiter einzuschränken. Für Hämophile – die keine Möglichkeiten haben, sich über die gesetzlichen
Vorgaben hinaus zu versichern – hätte diese Entwicklung eine bedrohliche Signalwirkung.
Zum Beispiel: Marfan-Stiftung Schweiz
Kontakt: Maëlle I. Pérez, Geschäftsleiterin & Beratung, Marfan Stiftung Schweiz,
[email protected] oder [email protected]
Kurzportrait der Organisation:

Beratung und Begleitung von Menschen mit Marfan-Syndrom (MFS) oder MFS-ähnlicher Bindegewebeschwäche und ihren Bezugspersonen

Information/Öffentlichkeitsarbeit: Verbreitung Wissen und Sammeln von aktuellen
Informationen zu Diagnostik, Behandlungsmöglichkeiten, Forschungsstand, psychosozialen und (versicherungs-)rechtlichen Aspekten der Krankheit. Aufbereitung, Bereitstellung und aktive Vermittlung dieser Informationen auch an Bezugs- und Fachpersonen. Förderung und aktive Unterstützung der Selbsthilfe (patient empowerment), zum
Beispiel fachliche und/oder finanzielle Unterstützung von Anlässen und Projekten für
Betroffene

Zusammenarbeit und Austausch mit Fachpersonen (v. a. Mediziner/innen) und
Institutionen, Vernetzung
agile: An was denken Sie, wenn Sie den Begriff Invalidenversicherung hören?
Der Begriff wird der Bandbreite der Einschränkungen oder Behinderungen, Erkrankungen,
die zu (teilweisen) Einschränkungen im Alltag, Berufsleben etc. führen, nicht gerecht.
Ebenso wenig beinhaltet er die Komplexität, was abgedeckt ist und was nicht. Er löst bei
Nicht-Betroffenen die Idee von «alles ist abgedeckt» und «falls dann mal etwas passiert,
bin ich ja versichert…» aus. Sie wähnen sich rundherum abgesichert. Das Wort invalid ist
überholt und altmodisch; invalid kann auch jemand sein, «dem man es nicht ansieht».
agile: Was bedeutet die Invalidenversicherung für die Mitglieder der Marfan-Stiftung?
Bei dem Marfan Syndrom oder ähnlichen Bindegewebeschwächen (Bsp. Ehlers Danlos
Syndrom EDS) handelt es sich um ein Geburtsgebrechen, und sog. seltene Erkrankungen. Merkmal: nicht einfach zu diagnostizieren, da die Symptomvielfalt (Augen, Rücken,
Gefässe, Gelenke) und der Grad der Ausprägung (Kurzsichtigkeit, Linsenersatz bis Erblindung, Rücken-Operation, Aortenteil- u. Herzklappenteilersatz, Schmerzen etc.) sehr
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Behinderung und Politik 3/09
unterschiedlich sein kann. Die IV ist zuständig bis zur Volljährigkeit; es werden sogar die
Kosten von kieferorthopädischen Massnahmen übernommen.
agile: Welche Leistungen der IV beanspruchen Ihre Mitglieder?
Kieferorthopädische Massnahmen (Kinder und Jugendliche), Teilrente, Vollrente, Umschulung, Mobilitätsunterstützung etc. Nicht übernommen werden die Ausgaben für die
hohe Frequenz neuer Brillengläser/Linsen, Einlagen etc. bei Kindern und Jugendlichen,
auch Erwachsenen. Dies sind aber Ausgaben, die häufiger anfallen als bei anderen Erkrankungen, sich somit summieren. Für eine Familie mit z.B. einem betroffenen Elternteil
und betroffenem/n Kind/ern sind diese Kosten sehr hoch. Manche Betroffene können bis
zum Rentenalter arbeiten, andere nur Teilzeit. Die Vorhersagbarkeit der Leistungsfähigkeit od. vom Grad der evtl. Verschlechterung ist schwierig. Die Gleichung «Aorta operiert
= normale Lebenserwartung/Leistung = kein Bedarf an IV-Leistungen» geht nicht auf.
agile: Die IV wird aktuell ausschliesslich als Renten-Versicherung wahrgenommen, entspricht diese Wahrnehmung den wirklichen Leistungen der IV?
Nein.
agile: Personen haben einen Rechtsanspruch auf IV-Leistungen, wenn die im Gesetz genau festgelegten Bedingungen erfüllt sind. Wie erklären Sie sich, dass die IV trotzdem
häufig als Selbstbedienungsladen dargestellt wird?
Weil es in Einzelfällen offenbar einfacher ist, die Bedingungen zu erfüllen. Unsere Erfahrung ist, dass die Hürden hoch sind und der Weg zu einer Teilrente oder gar Einspruch
bei Ablehnung von Kostenübernahme sehr beschwerlich.
agile: Die SVP hat den Begriff Schein-Invalide geprägt. Welchen Begriff möchten Sie im
Zusammenhang mit der Invalidenversicherung vermehrt hören?
Anspruchsberechtigt oder Nicht-Anspruchsberechtigt auf Leistungen.
agile: Steuererhöhungen sind unattraktiv - Wie überzeugen Ihre Mitglieder Angehörige,
Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen, für die IV-Zusatzfinanzierung ein Ja zur Mehrwertsteuer-Erhöhung in die Urne zu legen?
Es geht jeden an – eine Krankheit bis hin zur Invalidität kann jeden treffen. Es lassen sich
Beispiele anfügen: Burn-out bis zur Erwerbsunfähigkeit; Herz-Kreislaufbeschwerden bis
hin zum Schlaganfall. Arbeitsunfall/Autounfall mit bleibenden Einschränkungen. Solche
Beispiele belegen, dass es viele und jeden treffen kann. Wer rennt und kämpft dann für
sie/ihn, wenn es zuwenig Geld hat im Topf? Wie sollen dann Leistungen, z.B. für Hilfsmittel oder Mobilität finanziert werden?
agile: Welche Konsequenzen hätte die Ablehnung der IV-Zusatzfinanzierung für die Mitglieder Ihrer Organisation?
Es würde noch schwieriger werden, eine Teil-/Vollrente gutgesprochen zu bekommen.
Beim MFS oder EDS Syndrom sind berufliche Wiedereingliederungsbemühungen keine
Alternative. Betroffene sind bereits mit eingeschränkter Berufswahl und abnehmender
Leistungsfähigkeit konfrontiert (schnellere Ermüdung, früheres Eintreten altersbedingter
Beschwerden etc.). Die Summierung der Einschränkungen – als einzelne Erscheinung
evtl. nicht massiv einschränkend – , ist im Alltag allgegenwärtig, beeinträchtigt die Lebensqualität massiv, erfordert Unterstützung/Hilfeleistungen, die dann noch mehr durch
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Behinderung und Politik 3/09
die Familie getragen werden müssten. Diese ist aber sowohl finanziell wie durch Betroffenheit eines Elternteils bereits übermässig belastet. Es würden sich vermutlich die Anmeldungen für Unterstützungen an die Sozialdienste häufen.
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Behinderung und Politik 3/09
Sozialpolitik
Sozialpolitische Rundschau
Komplexe sozialpolitische Themen zusammengefasst und verständlich aufbereitet: von A
wie AHV bis Z wie Zusatzfinanzierung.
Von Ursula Schaffner, Bereichsleiterin Sozialpolitik und Interessenvertretung
Invalidenversicherung
Diesen Monat entscheidet das Schweizer Stimmvolk über die Zukunft der IV. Sie finden
weitere Artikel zu diesem brandaktuellen Thema im Dossier «IV-Zusatzfinanzierung» in
dieser Ausgabe von «agile - Behinderung und Politik».
Neben der IV-Zusatzfinanzierung ist auch eine Meldung des BSV aktuell: Die Stossrichtung der 5. IVG-Revision bestätige sich. Unklar bleibt allerdings, was im Detail bestätigt
wird. Die Zahl der neuen IV-RentnerInnen mag in den letzten Jahren gesunken sein und
Arbeitgebende wenden sich offenbar vermehrt und früher an die IV-Stellen, um Arbeitnehmende zur Früherfassung anzumelden. Das BSV hält zudem fest, dass bei den Arbeitgebenden ein Umdenken stattgefunden habe. Dies zeige sich darin, dass Unternehmen vermehrt Personen mit gesundheitlichen Schwierigkeiten am Arbeitsplatz behalten
würden. Dass zusätzliche Personen mit einer Behinderung einen Arbeitsplatz gefunden
hätten, davon war bisher aber nichts zu lesen und zu hören. Diese Personen stehen in
Konkurrenz mit jenen, die von der Arbeitslosenversicherung oder der Sozialhilfe wegkommen wollen. Bald werden zusätzlich rund 12'500 bisherige IV-RentnerInnen einen
Arbeitsplatz suchen. Dies ist jedenfalls der erklärte Wille des Bundesrates im Entwurf zur
6. IVG-Revision. Fragt sich bloss, ob damit nicht einfach noch mehr Personen aus der IV
verschwinden ohne klare Informationen zu ihrer weiteren Existenzsicherung?
Auch in anderen Bereichen der IV sollen Kosten zum Verschwinden gebracht werden. So
hat der Nationalrat eine parlamentarische Initiative überwiesen, damit Hörgeräte in Zukunft nicht mehr von der IV, sondern von den Krankenkassen finanziert werden. Eine
reine Kostenverschiebung, die vorab ans Portemonnaie von Menschen mit einer Hörbehinderung geht; denn die Krankenkassen werden kaum die gleichen Kosten übernehmen
wie bisher die IV.
Immer mehr Behinderte erreichen das AHV-Alter. Heute sind eine Viertelmillion Menschen
mit einer IV-Rente im AHV-Alter. Diese Zahl wird in den kommenden Jahren noch wachsen. Was passiert mit diesen älter werdenden Behinderten, welche bisher ganz oder teilweise bei ihren Eltern gelebt haben, wenn die Eltern selber pflegebedürftig werden? Vermehrt wird es zu Heimeintritten kommen. Gleichzeitig sollte jedoch auch das Assistenzmodell ausgebaut werden, für jüngere und weniger junge Menschen, so dass sich diese
möglichst früh in einem Leben in eigenen vier Wänden einrichten können.
AHV
Wie in «agile 2-09» angekündigt, hat sich der Ständerat in der Sommersession der 11.
AHV-Revision gewidmet. Er ist dabei weitgehend seiner vorberatenden Kommission SGKSR gefolgt, wenn auch nur halbherzig. Der SP geht die soziale Abfederung eines flexiblen
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Behinderung und Politik 3/09
Rentenalters ab 63 zu wenig weit. Sie ist zudem nicht einverstanden mit der Erhöhung
des Frauenrentenalters auf 65 Jahre. Den bürgerlichen Parteien FDP und SVP geht die
Vorlage dagegen zu weit. Sie setzten sich für eine reine Sparvorlage ein. Dennoch wurde
die Mini-Reform schliesslich verabschiedet. Der Ball liegt nun wieder beim Nationalrat.
Das Einkommen von AHV-RentnerInnen ist sehr unterschiedlich. So müssen 20 Prozent
der AHV-RentnerInnen mit 2'300 Franken pro Monat leben. Ihnen stehen die 20 Prozent
der reichsten AHV-RentnerInnen gegenüber, welchen 9'300 Franken pro Monat zur Verfügung stehen. Die Verschuldungstendenz von Menschen über 65 nimmt zu, ebenfalls die
Sozialhilfequote. Frauen sind in der Regel stärker von diesen Entwicklungen betroffen als
Männer.
Zahlen der Stadt Winterthur zeigen in eine ähnliche Richtung. So sind zwar dort die Kosten für Sozialhilfe im letzten Jahr deutlich gesunken. Dagegen stiegen die Ausgaben für
Zusatzleistungen zu AHV und IV deutlich. Winterthur erwartet, dass die Sozialhilfeausgaben in Kürze ebenfalls wieder steigen, nicht zuletzt wegen der anstehenden Revision der
Arbeitslosenversicherung (siehe dazu weiter unten).
Berufliche Eingliederung
Im Mai haben sich an einer Tagung in Genf Personalverantwortliche und Gesundheitsexperten zu einem Austausch getroffen. Einer der Referenten, ein Psychiater mit Spezialgebiet Gesundheit am Arbeitsplatz, hielt fest: Früher habe er gedacht, ein Arbeitsunterbruch
könne einen Patienten nicht heilen; deshalb habe er selten Arztzeugnisse ausgestellt.
Heute, wo Arbeit oft krank mache und Leute aus Angst vor Entlassung häufig zu spät zum
Arzt gingen, stelle er eher solche Zeugnisse aus und verordne eine Arbeitspause. Denn
mindestens 30 Prozent der Erkrankungen seien heute auf die Arbeit zurückzuführen, und
zwar nicht physische Erkrankungen sondern psychische.
Eine Nationalfonds-Studie hat untersucht, ob und wem die rund 10'000 Beschäftigungsarbeitsplätze der Sozialhilfe und Arbeitslosenversicherung nützen. Am meisten profitieren
Personen, auf deren Bedürfnisse die Beschäftigung zugeschnitten ist und für die diese
Arbeit sinnvoll ist. Fraglich ist der Nutzen dagegen für BerufeinsteigerInnen, vor allem
dann, wenn Programmleitende davon ausgehen, die Teilnehmenden seien bloss faul und
müssten mit militärischem Drill zu Leistung getrieben werden.
BVG
Zwei Drittel aller Pensionskassen hatten Ende 2008 eine Deckung von unter 90 Prozent.
Sie mussten bis Mitte Jahr gegenüber der jeweiligen Aufsichtsbehörde aufzeigen, mit
welchen Strategien sie die fehlende Deckung ihrer Verpflichtungen in den kommenden
fünf bis sieben Jahren korrigieren wollen. Dafür stehen verschiedene Möglichkeiten zur
Verfügung. Beispielsweise kann die Anlagestrategie angepasst werden. Oder es können
höhere Beiträge von Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden eingefordert werden. Oder
die Altersguthaben können weniger als bisher oder überhaupt nicht mehr verzinst oder
aber laufende Renten gekürzt werden. Die meisten Pensionskassen haben in der Folge
ihre Anlagestrategien angepasst; da sie enttäuscht waren über die geringen Renditen der
vollmundig beworbenen Funds, die einen absolut garantierten Return hätten einbringen
sollen. Verschiedene Kassen haben den Zinssatz auf den Altersguthaben gesenkt. Eher
die Ausnahme sind jene Firmen, welche Rentenkürzungen vornehmen.
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Auch der Bund und diverse Kantone müssen sich seit Jahren mit Sanierungsmassnahmen der Pensionskassen ihrer Angestellten befassen. Jüngstes Beispiel ist die Pensionskasse der SBB. Ihr fehlen rund 3 Milliarden Franken, um den offenen Verbindlichkeiten
der nächsten Jahre nachkommen zu können. Der Bund will gut eine Milliarde der offenen
Rechnung übernehmen, den Rest müssen die SBB selber berappen. Die Deckungslücke
bei den Bundesbahnen stammt nicht nur aus dem schlechten Anlagejahr 2008, sondern
ist vor allem auf sehr gute Leistungen zurückzuführen, die den Angestellten versprochen
wurden. Die SBB haben nämlich einen Teil der Umstrukturierung der letzten Jahre über
grosszügige Frühpensionierungen abgewickelt. Dies, ohne deren Finanzierung transparent und kostendeckend aufgegleist zu haben. Jetzt sollen die Steuerzahlenden diese
Rechnung begleichen.
Etlichen BVG-«Fachkommentaren» ist zu entnehmen, dass viele Pensionskassen nach
wie vor keine realistischen langfristigen Kostenberechnungen vornehmen. Zu stark werde
im Moment auf die Finanzkrise verwiesen, statt dass die Lösung der wirklichen Probleme
an die Hand genommen werde. Insbesondere die hohen Leistungsversprechen gegenüber künftigen RentnerInnen stimmten nicht mehr mit den Berechnungsgrundlagen überein. Diese stützen sich nämlich auf bald zwanzigjährige Annahmen.
An anderen Orten ist zu lesen, dass zwar die genannten Fragen längerfristig angegangen
werden müssen. Mindestens so dringend sei es jedoch, die Anlagevorschriften für Pensionskassen zeitgemäss anzupassen. Denn die Verlustgeschäfte, welche die «Pensionskassenexperten» bisher eingefahren haben, durften diese ganz legal tätigen – ohne dass
die Experten etwa für Fehler haften müssten!
KVG
Im Mai hat die Schweizer Stimmbevölkerung mit 67 Prozent deutlich ja gesagt zur Komplementärmedizin, welche durch die Grundversicherung gedeckt werden soll. Diese Neuerung trägt sicher auch dazu bei, dass die Schweiz ein gutes und teures Gesundheitssystem hat. Die Lebenserwartung hierzulande ist denn auch entsprechend hoch. Diese
Zusammenhänge hat die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung kürzlich in ihrem neuesten Gesundheitsbericht bestätigt. Mehr für ihr Gesundheitssystem geben lediglich die US-AmerikanerInnen und die FranzösInnen aus.
In der Schweiz können sich allerdings immer mehr Menschen dieses Gesundheitssystem
nicht mehr leisten, wie die steigende Zahl von ausstehenden Prämienzahlungen (2007
gehen Schätzungen von mindestens 100'000 Personen aus) und die zunehmenden Prämienzuschüsse (2008: 3,4 Milliarden Franken) zeigen. Aufgeschreckt durch prognostizierte Prämienerhöhungen von über zehn Prozent im kommenden Jahr haben verschiedene PolitikerInnen aller Parteien, und vorab Gesundheitsminister Pascal Couchepin, in
den letzten Monaten mehr oder weniger neue «Sanierungsvorschläge» in die Öffentlichkeit getragen.
Die Vorschläge der Politikerinnen reichen von höheren Krankenkassen-Prämien für SeniorInnen, über das Sparen von Leistungen bei der Pflege von Todkranken, zur Bildung von
sieben Gesundheitsregionen in der Schweiz, bis zur Senkung der Medikamentenpreise.
Einzelne Vorschläge wurden von den im Blickfeld stehenden Personengruppen empört
zurückgewiesen, andere haben Eingang in die weiteren Debatten gefunden.
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Behinderung und Politik 3/09
Bundesrat Couchepin löste mit seinem Ansinnen, einer Ärztin oder einem Arzt pro Konsultation eine Gebühr von 30 Franken auf den Tisch legen zu müssen, wahre Entrüstungsstürme aus. Dass Krankenkassen in Zukunft verpflichtet sein sollen, telefonische
Beratungen durchzuführen, fand dagegen eher Zustimmung.
Schliesslich fand im Juni eine überparteiliche Gruppe von BundesparlamentarierInnen
zusammen, welche Alternativen zu den Sofortmassnahmen von Bundesrat Couchepin
entwickelte und präsentierte. So soll nach den Vorstellungen der Gruppe jeder direkte
Gang zu einem Spezialisten oder ins Spital mit einem doppelten Selbstbehalt von 20 Prozent bestraft werden. Grundversicherungen mit Rabatten müssen mindestens zwei Jahre
aufrechterhalten werden, dürfen also nicht kurz vor einer teuren Operation gewechselt
werden. Für Zusatzversicherungen sollen keine Prämienverbilligungen gewährt werden.
Jede erwachsene Person muss sich mit 15 Franken pro Spitaltag an den Kosten beteiligen. Krankenkassen sollen Arztzeugnisse erst ab dem 4. Tag bezahlen müssen. Krankenkassen dürfen keine Telefonjagd auf sogenannt gute Risiken mehr machen. Und
schliesslich soll der Bundesrat Eckwerte für die Tarife zwischen ÄrztInnen und Versicherern festlegen, so dass eine Behandlung im Spital nicht attraktiver ist als die Konsultation
beim Hausarzt in der Allgemeinpraxis. Zusammen mit einigen weiteren Vorschlägen sieht
die Gruppe darin insgesamt ein Sparpotential von rund 1,5 Milliarden Franken pro Jahr. –
Jetzt ist das Parlament gefragt, einen Fahrplan für die Neuerungen zu entwerfen.
Vermischtes
Arbeitslosenversicherung in Revision
Da im Jahr 2002 mit einer zu optimistischen Entwicklung der Arbeitslosenzahl gerechnet
wurde, weist die ALV heute einen Schuldenberg von nahezu 6 Milliarden Franken auf. Der
Ständerat hat sich in der Sommersession mit einer Revisionsvorlage befasst. Er schlägt
vor, die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge um 0,2 Prozentpunkte zu erhöhen. Um
die Schulden abzubauen sollen zudem während einer befristeten Zeit zusätzlich 0,1 Prozent und während der gleichen Zeit auf höheren Einkommen ein Solidaritätsprozent erhoben werden. Der Bundesrat sprach von 6 bis 8 Jahren. Auf der Leistungsseite ist der
Ständerat teilweise dem Bundesrat gefolgt. In Zukunft sollen die Taggelder strikter auf die
Beitragsdauer ausgerichtet werden. Und nur noch über 55jährige sollen den Maximalanspruch von 520 Taggeldern beziehen können. Dagegen werden die Zumutbarkeit von
Arbeit für Menschen bis 30 erweitert und die Wartezeit für ein erstes Taggeld verlängert. –
Das Geschäft geht in den Nationalrat.
Präimplantationsdiagnostik
Im Mai ging das Vernehmlassungsverfahren zur Neuregelung der Präimplantationsdiagnostik (PID) zu Ende. Die Reaktionen zur Aufhebung des bisher geltenden Verbots gingen sehr weit auseinander. Namentlich der Ethikkommission und der FDP ist die Neuregelung zu wenig liberal. Die SP, viele Kantone und der Katholische Frauenbund begrüssen die restriktive Regelung. Die CVP, die EVP und Schweizer Bischofskonferenz lehnen
sie aus grundsätzlichen Überlegungen ab.
Berücksichtigte Quellen (23. April bis 30. Juli 2009): NZZ, Tagesanzeiger, Der Bund, Le
Temps, La Liberté, Medienmitteilungen der Bundesämter für Sozialversicherungen und
Statistik.
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6. IVG-Revision - Theorie in der Praxis?
WissenschafterInnen haben erstmals Dossiers von IV-RentnerInnen mit psychischen Gesundheitsstörungen untersucht. Ob die Analyse und die Empfehlungen in die 6. IVG-Revision einfliessen, bleibt fraglich.
Von Ursula Schaffner, Bereichsleiterin Sozialpolitik
Behindertenorganisationen, Parteien, Kantone, Versicherungsorganisationen und Interessenverbände beugen sich zur Zeit über den Vernehmlassungsentwurf 6. IVG-Revision.
Sie geben ihre Meinung dazu ab, wie sie die Massnahmen zur Wiedereingliederung von
rund 12'500 Personen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung und deren Chancen
zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt beurteilen. Dabei stehen vorwiegend Menschen mit
einer psychischen Beeinträchtigung im Blickpunkt. Wir haben in den letzten beiden Nummern von «agile – Behinderung und Politik» darüber berichtet.
Theoretische Eingliederung
Wenn eine Person mit Behinderung bei einer IV-Stelle eine Massnahme beruflicher Art
erfolgreich absolviert hat, gilt sie als integriert. Das heisst, wenn sie zum Beispiel eine
erstmalige berufliche Ausbildung oder eine Umschulung abgeschlossen hat. Ob die betroffene Person anschliessend eine Stelle hat und sie halten kann, ist dabei nicht relevant.
Dies gilt sowohl für Menschen, die noch keine IV-Rente beziehen, aber auch für solche,
die bereits eine solche Leistung bekommen. Letzteren wird die Rente nach Abschluss der
Massnahme gestrichen. In der IV-Sprache und -Statistik wird dieses Vorgehen als erfolgreiche Eingliederung bezeichnet. Die Betroffenen und ihre Organisationen bezeichnen es
dagegen als theoretische Eingliederung.
Leider muss befürchtet werden, dass die jetzige Vorlage 6. IVG-Revision dazu führt, dass
einige Menschen mit einer IV-Rente im soeben erwähnten Sinn theoretisch eingegliedert
werden und noch mehr Menschen ihren Rentenanspruch verlieren werden, ohne dass sie
aber einen realen Arbeitsplatz haben. Die aktuelle Wirtschaftslage mit hohen Arbeitslosenzahlen sowie der weiter voranschreitende Prozess der Globalisierung mit der Auslagerung von vielen Arbeitsstellen ins Ausland lässt jedenfalls keine grossen Hoffnungen aufkommen, dass in naher Zukunft vermehrt Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung wieder eine Arbeit finden. Aber auch die mangelhafte Ausrichtung von beruflichen Massnahmen auf die Zielgruppe der psychisch Kranken lässt solches vermuten.
Theorie für das Büchergestell…
Der Bundesrat geht davon aus, dass zu viele Menschen mit dem sogenannten Code 646
in den letzten zwanzig Jahren eine IV-Rente bekommen haben. Im Rahmen einer neuen
Studie im Auftrag des BSV wurde erstmals untersucht, ob dieses (Vor-) Urteil tatsächlich
stimmt.
Der sogenannte «Gebrechenscode 646» umfasst psychische Krankheiten, die schwer
einzuordnen sind, so etwa depressive Störungen, Borderlinefälle oder Neurosen. Die Studie zeigt deutlich auf, dass die IV-Stellen ihre Abklärungen in der Regel korrekt und nach
rein medizinischen Kriterien vorgenommen haben. Nicht biographische, soziale, regionale
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Behinderung und Politik 3/09
oder historische Faktoren, sondern unterschiedliche Krankheiten haben zu einer Rente
geführt.
Weiter zeigt die Studie, dass das IV-Abklärungsverfahren bei den im Blick stehenden Personen kaum auf die Wiedereingliederung ausgerichtet ist und dass bisher sehr wenige IVRentnerInnen mit psychischen Krankheiten überhaupt berufliche Massnahmen erhalten
haben. Zudem sind die wenigen Personen, welche solche Massnahmen erhalten haben,
kaum wieder erwerbstätig. Die Autoren der Studie erklären diesen Umstand mit der
schweren und chronischen Erkrankung der RentnerInnen sowie mit der mangelnden Ausrichtung der beruflichen Massnahmen genau auf diese Personengruppe. Zwar könnten
die neuen Massnahmengefässe der 5. IVG-Revision hier Chancen eröffnen. Dazu müssten sie nach Meinung der Autoren jedoch schnell mit fachlichen Inhalten gefüllt werden.
Schliesslich empfehlen sie, dass im Bereich berufliche Massnahmen dringend vermehrt
geforscht werden sollte. Die Wirksamkeit beruflicher Massnahmen lasse sich nämlich
nicht allein mit angeblich sichtbaren Ergebnissen verbessern.
Ob die Empfehlungen der Studie Eingang in die Praxis finden, bleibt abzuwarten. Sie
müssten unbedingt bei der 6. IVG-Revision berücksichtigt werden. Die Studie findet sich
unter folgendem Link:
http://www.bsv.admin.ch/praxis/forschung/publikationen/index.html?lang=de&bereich=1&j
ahr=2009
…oder für die Praxis?
Bekanntlich will die 6. IVG-Revision die bisherigen beruflichen Massnahmen und vor allem jene der 5. IVG-Revision für Menschen öffnen, die eine psychische Krankheit und
bereits eine Rente haben. Nimmt man die Empfehlungen der Studie ernst, muss vorher
jedoch noch einige Forschung betrieben und müssen einige konzeptionelle Arbeiten geleistet werden, damit die Massnahmen tatsächlich wirken. Zudem sind die an die Massnahmen geknüpften Erwartungen zur Wiedereingliederung von Menschen mit psychischen Krankheiten realistischer zu formulieren.
Gemachte Erfahrungen lassen leider befürchten, dass all dies nicht geschieht, sondern
dass auf dem Buckel von Menschen mit Behinderung einmal mehr Politik mit Schlagworten betrieben wird.
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Behinderung und Politik 3/09
Arbeit
Künftig besser informierte Arbeitgebende!
Von Catherine Corbaz, Verantwortliche für das Dossier «Arbeit» bei AGILE
Kein Tag vergeht, ohne dass in der Weite des Internets neue Seiten auftauchen. So
wurde Anfang Juni das neue Webportal www.compasso.ch eröffnet, wo Informationen zu
beruflicher Eingliederung zu finden sind. Obwohl diese Website nicht a priori für Menschen mit Behinderung bestimmt ist, entspricht sie einem Anliegen von AGILE: bessere
Informationen online für Unternehmensleitende und Personalverantwortliche, die Menschen mit Behinderung einstellen möchten oder Antworten suchen zu Fragen rund um
Arbeitnehmende, die eine gesundheitliche Beeinträchtigung haben oder behindert sind.
Das Projekt war von Intégration Handicap und Pro Mente Sana lanciert worden. Mit der
Entwicklung der Website wurde ein Zürcher Kommunikationsbüro beauftragt. AGILE engagierte sich in einer Arbeitsgruppe für die Entwicklung dieser Website und konnte dort
basierend auf ihre Erfahrung mit dem Projekt «Back to work – ein Angebot für Arbeitgebende» (vgl. agile 1/09) ihren Beitrag leisten.
Das Informations-Portal ist gegenwärtig nur in einer deutschen Version verfügbar. Die
französische und die italienische Version dürften in den nächsten Wochen online gehen.
In der Erwartung, dass genügend Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung geschaffen
werden, laden wir Sie herzlich ein, die neue Website zu besuchen. Falls Sie feststellen,
dass Informationen etwa über Krankheit oder die Auswirkungen eines Unfalls fehlen, welche mögliche Arbeitgebenden interessieren könnten, schreiben Sie bitte an den Webmaster unter: http://www.compasso.ch/de/p90000170.html.
Übersetzung: Susanne Alpiger
Verkehr
Mitteilungen der Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr
Die Fachstelle Behinderung und öffentlicher Verkehr (BöV) gibt vierteljährlich ihre Nachrichten heraus. Sie berichtet darin über die neusten Entwicklungen im Bereich behindertengerechter öffentlicher Verkehr.
http://www.boev.ch/news/index.htm
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Behinderung und Politik 3/09
Bildung
«Wenn nicht wir für Gleichberechtigung kämpfen, wer dann?»
Simone Leuenberger ist Dozentin bei der Weiterbildung «Politische Selbstvertretung von
Menschen mit Behinderung». Die 34jährige Wirtschaftswissenschafterin und Lehrerin ist
wegen einer Muskelkrankheit im Rollstuhl unterwegs und engagiert sich seit 1996 in der
Behindertenpolitik. Das Interview führte Eva Aeschimann von AGILE
Simone Leuenberger, Sie sind Dozentin beim E-Learning-Pilotprojekt von AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz, was reizt Sie an dieser Aufgabe?
Ich bin gerne mit Leuten unterwegs und fordere sie heraus, sich an Dinge zu wagen, die
sie sich nicht zutrauen würden. Andererseits ist es mir ein grosses Anliegen, dass wir
Menschen mit einer Behinderung uns in der Politik einmischen, denn wir sind Experten in
Sachen Behinderung. Als Dozentin bei dieser Weiterbildung kann ich beides verbinden.
Ich kann Leute in die Behindertenpolitik einführen und sie motivieren, für ihre eigenen
Anliegen einzustehen. Und ich kann sie unterstützen beim Realisieren eigener Projekte.
Davon verspreche ich mir auch eine multiplikative Wirkung.
Sie leben mit Behinderung, diese Weiterbildung richtet sich ausschliesslich an Menschen
mit Behinderung, weshalb braucht es solche Weiterbildungen?
Menschen mit einer Behinderung stossen in einer noch nicht barrierefreien und gleichberechtigten Gesellschaft immer wieder auf Hindernisse. Diese zu beseitigen muss gelernt
werden. Leider lernen das häufig nicht einmal diejenigen Menschen mit einer Behinderung, die ihre Schulzeit noch in speziell für sie ausgerichteten Schulen (Sonderschulen)
absolvieren müssen. Diese Lücke füllt unsere Weiterbildung aus.
Was ist Ihr Ziel der Weiterbildung «Politische Selbstvertretung für Menschen mit Behinderung»?
Ich will Menschen mit einer Behinderung motivieren, politisch aktiv zu sein und sich für
ihre Rechte einzusetzen. Sie sollen merken, dass sie wichtige Fähigkeiten haben. Sie
sollen Mut bekommen, sich zu äussern und eigene Anliegen zu vertreten. Wenn nicht wir
für unsere Gleichstellung kämpfen, wer dann? Es gibt noch viel zu tun, und deshalb brauchen wir Leute, die in ihrem Umfeld, mit ihren Möglichkeiten anpacken.
Weshalb sollen sich Menschen mit Behinderung politisch selbst vertreten?
Genau so wie die Männer lange Zeit nicht für die Gleichstellung der Frauen gekämpft haben, kämpfen Nichtbehinderte ohne Bezug zu Behinderung kaum für die Gleichstellung
und Selbstbestimmung von Menschen mit einer Behinderung. Das ist keine Kritik oder
Abwertung. Sie haben einfach andere Aufgaben und Anliegen. Sie können höchstens
versuchen, sich in Menschen mit einer Behinderung hineinzuversetzen. Was es wirklich
heisst, mit einer Behinderung zu leben und Diskriminierung und Ausgrenzung am eigenen
Leib zu erfahren, weiss nur, wer tagtäglich damit lebt und die Behinderung nach der Arbeit
mit nach Hause nimmt.
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Behinderung und Politik 3/09
Was lernen die Kursteilnehmenden in dieser Weiterbildung?
Sich für ihre Rechte einzusetzen! Das klingt einfach, umfasst aber sehr viel. Denn zuerst
müssen sich die Teilnehmenden zutrauen, dies überhaupt in Angriff zu nehmen. Deshalb
machen sie ein Stärkenprofil. Sie sollen als Erstes erkennen, was sie bereits alles können
und gerne tun. Da kommt oft einiges zu Tage, woran man selbst nie gedacht hätte. In einem nächsten Schritt lernen die Teilnehmenden verschiedene Themen der Behindertenpolitik kennen: Gleichstellung in Verfassung und Gesetz, freier Zugang, Gleichstellung in
Schule, Ausbildung und Beruf, Leben im Heim und leben mit persönlicher Assistenz,
Selbsthilfe, Lebensrecht und Gewalt, doppelte Diskriminierung von Frauen mit einer Behinderung usw. Damit sollen sie für ihre eigenen Anliegen und auch für diejenigen von
anderen Menschen mit einer Behinderung sensibilisiert werden. Oft sind uns nämlich
Ungleichbehandlungen gar nicht bewusst, weil wir sie gewohnt sind. Kennen wir erst einmal unsere Rechte, erkennen wir auch, wo sie noch nicht durchgesetzt sind.
Die Kursteilnehmenden sollen zudem ein eigenes Projekt umsetzen?
Ja, ein ganz konkretes Anliegen parallel zur Weiterbildung: z.B. freien Zugang ermöglichen zur Bäckerei am Wohnort, sich für eine Ringanlage für Schwerhörige im Gemeindehaus engagieren, einen Vortragabend veranstalten zur Sensibilisierung der Bevölkerung,
usw. Für solche Projekte ist es ein Vorteil, wenn die Teilnehmenden das politische System der Schweiz kennen. Sie müssen wissen, bei wem sie mit ihren Anliegen vorsprechen. Mit Öffentlichkeitsarbeit und sachgerechter Kommunikation kommen sie dabei weiter. Deshalb sind dies auch Themen der Weiterbildung. Zum Schluss agieren Einzelkämpfer weniger schlagkräftig als Gruppen. Mit dem Thema «Sich organisieren und vernetzen» sollen die Teilnehmenden lernen Verbündete zu suchen und gemeinsam vorwärts zu gehen.
Welche Vorteile sehen Sie darin, dass die DozentInnen dieser Weiterbildung selbst Menschen mit Behinderung sind?
Wir können von anderen Emanzipationsbewegungen ableiten: Wer hat die Frauen gelehrt, sich für ihre Gleichstellung einzusetzen? Waren es die Männer? Wer hat die AfroamerikanerInnen gelehrt, sich gegen Diskriminierung zu wehren? Waren es die Weissen?
Eine Antwort erübrigt sich! Und so geht es auch uns Menschen mit einer Behinderung: Es
gibt viele Menschen, die es «gut» mit uns meinen, die schon «viel» für uns getan haben.
Doch damit werden wir erstens selten befähigt, selber Verantwortung für uns zu übernehmen. Zweitens können wir Menschen mit einer Behinderung einander viel besser
ermutigen, weil wir selber mit Einschränkungen leben. Im Sinn von: «Wenn die es kann,
dann probiere ich es auch!». Ich sehe mich als Dozentin auch in einer Vorbildfunktion.
Simone Leuenberger, besten Dank für das Gespräch und viel Erfolg.
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Behinderung und Politik 3/09
Behindertenszene
«AGILE – Gesellschaftsprojekt für Menschen mit Behinderung»
An der letzten Delegiertenversammlung von AGILE, am 25. April in Bern, wurden zwei
neue Vorstandsmitglieder gewählt. Nach Joël Favre, den wir Ihnen in der letzten Ausgabe
vorgestellt haben, ist nun Robert Joosten an der Reihe.
Von Cyril Mizrahi, Secrétaire romand und Mediensprecher Westschweiz von AGILE
Robert Joosten ist 36 Jahre alt. Er hat an der ETH Lausanne Mathematik studiert. Neben
seiner Tätigkeit als Assistent hat er nach dem Studium an seiner Doktorarbeit geschrieben. Kurz vor Abschluss der Arbeit wurde er plötzlich psychisch krank. Erst nach monatelanger Depression und einem Spitalaufenthalt konnte er sich erholen und den Doktortitel
erlangen.
Neue Pläne, die mathematische Forschung weiterzuverfolgen oder eine Lehrtätigkeit aufzunehmen, wurden durch die psychische Krankheit ein weiteres Mal durchkreuzt. Ende
2002 musste er sich dazu entschliessen, die IV in Anspruch zu nehmen. Ein Jahr später
erhielt er eine IV-Rente. Joosten engagiert sich stark in Vereinen, insbesondere in der
GRAAP (Groupe romand d’accueil et d’action psychiatrique – die Westschweizer Anlaufstelle für psychisch Kranke). Zudem setzt er sich aktiv bei Amnesty International ein und
singt in einem Lausanner Chor.
2004 hat die GRAAP Robert Joosten als Teilzeit-Webmaster angestellt. Diese Tätigkeit
übt der 36jährige auch heute noch aus. Zu seiner Arbeit für die GRAAP gehört auch die
Betreuung der sozialpolitischen Dossiers. In diesem Rahmen ist er Mitglied der sozialpolitischen Kommission der CORAASP (Coordination romande des associations d’action
pour la santé psychique – Westschweizer Koordination der Vereinigungen, die sich für die
psychische Gesundheit einsetzen) und des sozialpolitischen Forums Westschweiz von
AGILE (Forpolsoc). Über dieses Forum hat er auch AGILE kennengelernt.
Selbsthilfe bedeutet für mich…
«Dass ein Mensch mit Behinderung einem anderen Menschen mit Behinderung auf völlig
uneigennützige und selbstlose Weise hilft. Die Helfenden erwarten keine Gegenleistung
und sind in der Lage, über ihre eigenen Interessen hinaus zu sehen.»
AGILE bedeutet für mich…
«Eine Vereinigung, für welche die Selbsthilfe Brücken zwischen den und über die einzelnen Arten von Behinderung baut. Eine Vereinigung, die ein Gesellschaftsprojekt für alle
Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen verfolgt.»
Meine Motivation
«Ich möchte bei AGILE die Anliegen der psychisch kranken Menschen vertreten. Ich
möchte mich für die Verbesserung der Sozialversicherungen für Menschen mit Behinderung einsetzen.»
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Behinderung und Politik 3/09
Mein Beitrag
«In der Kampagne gegen die 5. IV-Revision war ich (ab der Vernehmlassung) sehr aktiv.
Diese Erfahrung kann für weitere politische Kampagnen, die Menschen mit Behinderung
betreffen (beispielsweise Zusatzfinanzierung oder 6. IVG-Revision), sehr nützlich sein.
Politische Fragen interessieren mich sehr, und ich möchte mich bei AGILE in diesem Bereich engagieren.»
Prioritäre Ziele
«- Den Abbau der Invalidenversicherung bekämpfen und Verbesserungen des aktuellen
Systems vorschlagen.
- Mich für die gesellschaftliche und berufliche Integration von Menschen mit Behinderung
einsetzen.
- Darauf hinwirken, dass AGILE die Selbsthilfeorganisationen, insbesondere in der Westschweiz und im Bereich der psychischen Behinderung, noch besser vertritt.»
Übersetzung: Susanne Alpiger
Klara Reber – eine engagierte Persönlichkeit ist tot
Klara Reber, Mitglied des Gleichstellungsrats ‚Égalité Handicap (GR), ist am 15. Juni
2009 im Alter von 65 Jahren unerwartet verstorben. Die Ratsmitglieder und AGILE haben
mit grosser Betroffenheit auf den überraschenden Tod Klaras reagiert. Die promovierte
Juristin war seit Juni 2005 GR-Mitglied, als Vertreterin der SeniorInnen.
Eva Aeschimann, Sekretärin Gleichstellungsrat Égalité Handicap
Frau mit Behinderung
Klara Reber, am 8. April 1944 in Winterthur geboren, war im Kindesalter an Polio erkrankt.
Die Erkrankung hatte zur Folge, dass Klara mit einer Gehbehinderung und der Behinderung beider Arme konfrontiert wurde. Ihre Erfahrungen als Mensch mit Behinderung und
auch als Frau mit Behinderung sensibilisierten sie für dieses Thema.
Dies zeigte sich etwa in ihrem langjährigen Einsatz in der Geschäftsleitung und im Zentralvorstand von Integration Handicap (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter SAEB), wo sie zuletzt als Vizepräsidentin gewirkt hatte.
Als Mitglied des Gleichstellungsrats Égalité Handicap seit 2005, lagen Klara Reber insbesondere Gleichstellungsthemen in Bezug auf ältere behinderte Menschen am Herzen. Die
Einführung eines Assistenzbeitrags, die Zugänglichkeit von Bauten und Anlagen und öffentlichem Verkehr waren ihr besonders wichtig.
Frau mit Visionen
Klara Reber war zeitlebens eine engagierte Persönlichkeit. Bis zu ihrer Pensionierung
hatte sie im Kader der Winterthur Versicherung gearbeitet. Um Frauen zu vernetzen und
in der beruflichen Entwicklung zu unterstützen, hatte die Berufsfrau Klara Reber 1985 das
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Behinderung und Politik 3/09
Frauennetzwerk «Frau und Bildung» gegründet. Die Winterthurerin hinterlässt in vielerlei
Hinsicht Spuren: Denn auch als politisch denkender Mensch hat sich Klara Reber einen
Namen gemacht. Als FDP-Mitglied war sie nicht nur Mitglied im Grossen Gemeinderat
von Winterthur, zwischen 1986 und 2002 war sie auch Zürcher Kantonsrätin. Im Kantonsrat hat sie sich vor allem für sozial- und gesundheitspolitische Fragen engagiert.
Frau mit Willensstärke
Ab 2002 hat Klara Reber den Aufbau des Schweizerischen Seniorenrates SSR massgeblich beeinflusst und amtierte bis zu ihrem Tod als Co-Präsidentin dieses Gremiums. Ihr
Interesse an Alters- und Generationenpolitik und die gesellschaftlichen Herausforderungen der demografischen Entwicklung in der Schweiz waren der Motor dieses Engagements.
Klara Reber bleibt uns als liebenswürdige und aufrichtige Persönlichkeit in Erinnerung.
Gerne denken wir an ihr herzliches Lachen, ihre offene Art und ihr Interesse an Menschen
unterschiedlichster Herkunft. Ihr vielseitiges Engagement, ihre Willensstärke und ihr Lebensmut verdienen unseren Respekt.
SexualassistentInnen in der Romandie
Sinnliche und sexuelle Begleitung der Menschen mit Behinderung, die dies wünschen –
Dies ist die Aufgabe der ersten SexualassistentInnen der Romandie, die Anfang Sommer
ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Das Ende eines Tabus und eine Premiere im französischsprachigen Teil Europas.
Von Cyril Mizrahi, Secrétaire romand und Mediensprecher Westschweiz von AGILE
Bei der Diplomfeier für die ersten zehn SexualassistentInnen der Romandie, die am 13.
Juni in Lausanne stattfand, waren die Emotionen spürbar. Die Ausbildung war auf Initiative des Vereins «Sexualité et Handicaps pluriels» (www.sehp.ch) lanciert worden. Diese
setzt sich seit über zwanzig Jahren auf umfassende Art und Weise dafür ein, Lösungen zu
finden für dieses grundlegende und «ganz einfach menschliche» Bedürfnis – die Sexualität – für Menschen mit Behinderung und auch die gesamte Bevölkerung.
«Vor zwanzig Jahren wagte man nicht einmal daran zu denken», sagt SEHP-Präsidentin
Catherine Agthe Diserens über Sexualassistenz und spricht dabei den verschiedenen
Partnern ihren Dank aus: Darunter sind INSOS (Branchenverband der Institutionen für
Menschen mit Behinderung), Pro Infirmis, die Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Selbsthilfeorganisationen wie ASRIM (Menschen mit Muskelerkrankungen) oder insieme (Eltern
von Kindern mit geistiger Behinderung) sowie die Kirchgemeinde Nyon, die Räume zur
Verfügung gestellt hatte.
Zwangsmittel
«Ob diese intimen Begleitungen in zwanzig Jahren weniger tabu sein werden?» fragt sich
Catherine Agthe und fährt fort: «Es ist eine Möglichkeit neben anderen, eines von verschiedenen Angeboten.» Der Verein erhält eine Vielzahl von Anfragen. Für die einzelnen
Arten von Behinderungen sind jeweils unterschiedliche Lösungen nötig. Menschen mit
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Behinderung und Politik 3/09
einer schweren körperlichen Behinderung wünschen beispielsweise einen anderen Kontakt als die ausschliesslich medizinische Berührung, die ihnen so oft zuteil wird.
In den Institutionen waren die Bedürfnisse der BewohnerInnen seit langem bekannt, doch
sprach niemand davon, berichten verschiedene RednerInnen. Ein ehemaliger Leiter einer
Institution erzählt: «Die Institutionen konnten sich früher nicht erlauben, dass es Sexualität
gab, da dies einen Skandal hervorgerufen hätte. Man benutzte teilweise sogar Zwangsmittel, um die BewohnerInnen daran zu hindern, zu masturbieren.» Dennoch «unterscheiden sich die affektiven und sexuellen Bedürfnisse der Menschen mit geistiger Behinderung nicht von jenen der übrigen Bevölkerung».
Nicolas De Tonnac, Präsident der Genfer Kantonalkommission von Pro Infirmis und selbst
im Rollstuhl, erinnert sich: «Am ersten Kongress zum Thema Behinderung und Sexualität
in Genf 1986 stellte man sich Fragen wie: Welche Rechte? Welche Sexualität? Mit wem?
Die Medizin kümmert sich um das Leiden, nicht so sehr um die Lust. Aber wenn die Lust
nicht zugänglich ist, führt dies zu einem grossen Leiden.» Im Anschluss an diesen Kongress wurde die Vereinigung SEHP gegründet.
Aber, wie Françoise Vatré, Sexualpädagogin und eine der Gründerinnen der SEHP, erklärt, «alles dauert seine Zeit». «An einer Konferenz haben sich französische Psychoanalysten an einen anderen Tisch gesetzt, sie haben mich wie eine Hexe behandelt»,
erzählt Catherine Agthe. Die Deutschschweiz hatte in unserem Land zwar eine Pionierarbeit geleistet, doch die Einführung einer Ausbildung im Jahr 2003 rief heftige Reaktionen
in der Öffentlichkeit hervor, erklärt Ahïa Zemp, Verantwortliche der FABS (Fachstelle für
Behinderung und Sexualität). Die FABS wurde gegründet, nachdem sich Pro Infirmis, um
Spendeneinbussen zu vermeiden, nach der Lancierung aus dem Projekt zurückgezogen
hatte. Es ist also nicht so sicher, dass die Vorurteile lediglich kulturell bedingt sind, hält
Marcel Nuss fest, Gründungsmitglied des Collectif Handicap et Sexualité (Frankreich).
Nuss weist aber auf die Vorreiterrolle der Schweiz hin (siehe unten).
Sex und Liebe
Oft ist auch unter den Betroffenen selbst Überzeugungsarbeit nötig. «Mit den Eltern muss
viel Arbeit geleistet werden. Diese sehen ihre Kinder häufig immer noch als … Kinder»,
unterstreicht der Leiter der Genfer Institution Clair-Bois. Auch bei Menschen mit Behinderung selbst sind manchmal Scham und Ängste vorhanden, wie die Parlamentsmitglieder
Luc Recordon und Liliane Maury Pasquier feststellten. In einem der Zeitungsartikel, die
Anfang Juni in der Presse erschienen, schreibt die Journalistin Annick Monod: «In den
Idealen unserer Gesellschaft sind Sex und Liebe untrennbar». Menschen mit Behinderung
streben nichts anderes an. Stellen SexualassistentInnen dafür tatsächlich eine integrative
Lösung dar?
Es handelt sich um eine pragmatische Lösung, um die Bedürfnisse von Menschen, die
eine schwere Behinderung haben oder in einer Institution leben, zumindest teilweise zu
erfüllen, schreibt die SEHP auf ihrer Website. «Sexualität ist nicht nur ein Bedürfnis, sondern vor allem eine Lust, ein Verlangen!», präzisiert ein Mann mit Behinderung. Für Luc
Recordon ist das Recht auf Sexualität ganz einfach eine Frage der Gleichstellung. Auch
wenn vorläufig nicht die Rede davon ist, dafür eine Finanzierung durch eine Sozialversicherung in Betracht zu ziehen.
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Behinderung und Politik 3/09
Streben nach Lust
Albert Rodrik, ehemaliger Chefbeamter des Département de l’action sociale und Verfassungsratsmitglied in Genf, erntet Applaus für seine Ausführungen: «Unter den Menschen
wurde alles ausprobiert und hat seine Achtbarkeit. Das Streben nach Lust ist die produktivste Sache. Es entspricht dem Wesen des Menschen, auf andere zuzugehen, um sein
Verlangen zu stillen. Wenn man etwas tun kann, um unseren behinderten Mitmenschen
zu helfen, dann muss man es tun!».
Obwohl sie für ihre Dienste bezahlt werden, unterscheiden sich die – freiberuflich tätigen 6 Männer und 4 Frauen, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben, von Prostituierten.
Durch die Bezahlung soll vor allem gewährleistet werden, dass die Beziehung zwischen
KundInnen und AnbieterInnen ausgeglichen und klar bleibt. Im Vordergrund steht die Motivation, sich in den Dienst der behinderten Person zu stellen. Die KandidatInnen sind
nach mehreren Gesprächen und mit Sorgfalt ausgewählt worden. Sie sind über 30 Jahre
alt und üben zu mindestens 50% eine andere Tätigkeit aus. Nach einer fast einjährigen
anspruchsvollen Ausbildung nehmen sie monatlich an einer Supervision teil. Anfragen
nimmt die Vereinigung entgegen, evaluiert diese und stellt allgemein sicher, dass die geeignetste Lösung gewählt wird.
Im Gegensatz zur allgemeinen Erwartung stammen die Anfragen nicht mehrheitlich von
Männern. In den letzten sechs Monaten meldeten sich über die Website der SEHP vor
allem Frauen. Sie wagen es immer häufiger, ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte auszudrücken, erklärt Géry, einer der neuen Assistenten. «Wenn die Frau zu ihrer Unabhängigkeit
zurückfindet, wieder emanzipiert ist, hat sie auch dieselben Bedürfnisse im Bereich der
Sexualität wie Männer», fügt Laura (Vorname fiktiv) hinzu.
Westschweizer Ausbildung macht vielleicht Schule in Frankreich
Interview von Cyril Mizrahi
Marcel Nuss, Gründungsmitglied des Collectif Handicap et Sexualité (Frankreich), engagiert sich in Frankreich seit langem für das Recht auf Sexualität von Menschen mit Behinderung. Auf seinem «Rollbett» äussert er sich begeistert zur neuen «Ecole romande»,
zwei der Diplomierten kommen sogar aus Frankreich. «Obwohl es in rechtlicher Hinsicht
in Frankreich eine Öffnung gibt, wird die Ausbildung sicher in der Westschweiz stattfinden.
Es gibt keinen Grund, eine neue Schule zu gründen, wenn sich die bestehende bewährt».
«Im Bereich der Ausbildung muss auf europäischer und nicht auf Ebene der einzelnen
Länder gedacht werden. Die Romandie spielt unter den französisch- und lateinischsprachigen Regionen eine Vorreiterrolle. Wahrscheinlich ist dies darauf zurückzuführen, dass
sie mehrheitlich protestantisch ist. Die katholische Kultur ist eher fatalistisch: ‚Man muss
es hinnehmen’. Nicht ohne Grund dürfen Priester beispielsweise nicht heiraten.»
«Gegenwärtig versucht unser Collectif, die rechtlichen Probleme durch Engagement auf
Ministerebene zu lösen. Die Schwierigkeit besteht darin, eine gesetzliche Lösung zu finden, um die SexualbegleiterInnen zu schützen, ohne gleichzeitig die Kuppelei zu legalisieren (deren Begriff in Frankreich sehr breit ausgelegt wird, um die SexarbeiterInnen möglichst gut zu schützen, AdR). Im Mai haben wir eine interministerielle Delegation getroffen.
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Auf Seiten des Staates gibt es eine Öffnung. Deshalb habe ich mir zum Ziel gesetzt, dass
bis 2010 eine Lösung umgesetzt werden kann.»
«agile» wird in der nächsten Ausgabe auf das Thema der Sexualität von Menschen mit
Behinderung und der Sexualassistenz zurückkommen.
Übersetzung: Susanne Alpiger
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Medien
Starke Leben
Für Sie gelesen von Bettina Gruber
Beim Wort stark denken wir an Muskeln. Mit dieser Assoziation liegen wir für das vorliegende Buch goldrichtig. Nur ist der Zusammenhang ein besonderer. Wir lernen en Dutzend Menschen kennen, für die Muskelkraft gerade keine Selbstverständlichkeit (mehr)
ist; sie sind muskelkrank. Die Autorin Helga Kessler berichtet aus Begegnungen mit Betroffenen und Angehörigen, wie diese ihr Leben anpacken.
Als erstes lernen wir Harry Köppel kennen, einen Mann in den besten Jahren. Er ist verheiratet, hat zwei erwachsene Söhne, ist beruflich erfolgreich als Rayonchef in der Migros
und in der Freizeit passionierter Dudelsackspieler. Im Frühjahr 2007 machen sich leichte
Sprechbeschwerden bemerkbar. Im Sommer dann erwähnt er dieses Problem bei einem
Arztbesuch. Der Arzt hat einen schlimmen Verdacht. Nach einer Woche mit unzähligen
Untersuchungen ist die Diagnose da: ALS, eine rasch verlaufende Erkrankung des Nervensystems. Dem 51-Jährigen bleiben voraussichtlich noch drei Jahre zu leben.
Zwischen Januar und Oktober 2008 trifft sich die Autorin insgesamt elfmal mit ihm und
spricht auch mit seiner Frau und den beiden Söhnen. Über diesen Zeitraum erlebt der Leser, die Leserin, wie sich Harry Köppels Gesundheitszustand verschlechtert. Gleichzeitig
werden auch verschieden Lebensbereiche in Hinblick auf die Veränderungen durch ALS
angeschnitten. Da geht es darum, wie die Erkrankung erlebt wurde, aber auch um Freizeitgestaltung, Berufsarbeit, Familie, Mobilität und Reisen, Wohnen und Hilfsmittel. Und
um Abschied. Insgesamt werden so elf Themenbereiche gestreift.
Zu jedem einzelnen dieser Schwerpunkte lernen wir einen weiteren Menschen mit einer
Muskelerkrankung kennen. So entsteht ein reichhaltiges Bild: Wir begegnen unterschiedlichen Erkrankungen, die in verschiedenen Lebensaltern auftreten können, und verschiedenen Persönlichkeiten mit dem je eigenen Temperament und den eigenen Strategien,
mit der Erkrankung umzugehen. Da sind u. a. die beiden Buben Albert und Walter, und
ihre Mutter erzählt von den Schwierigkeiten, bei der Erziehung das richtige Mass an Forderung und Rücksicht zu finden. Wir begegnen dem sportbegeisterten Gilles Bettex,
Feuer und Flamme für sein Hockeyspiel. Sonja Zähner-Bühlmann erzählt vom Leben mit
ihrem Begleithund Brasil, Silvia Knaus teilt mit uns ihre Reiseerlebnisse. Gabriela Rimmele erklärt, wie sie dank dem Pilotversuch der IV mit Assistenz in der eigenen Wohnung
lebt, David Burgener berichtet davon, wie er sich beruflich selbständig gemacht hat, weil
er nur so nach seinem eigenen Rhythmus arbeiten kann. Und wir begegnen noch einmal
der 2008 verstorbenen Ursula Eggli, die durch ihr Engagement in der Selbsthilfe wie auch
durch ihre Bücher weit über den Kreis der Muskelkranken hinaus gewirkt hat und bekannt
ist.
Nach diesen 200 Seiten voller Leben folgt ein Sachteil. Dort werden verschiedene Muskelkrankheiten im Einzelnen beschrieben und ein medizinischer Experte gibt jeweils Auskunft über Diagnose, Therapiemöglichkeiten und aktuelle Forschungsansätze.
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In einem weiteren Kapitel werden die Gründungsgeschichte der Schweizerischen Gesellschaft für Muskelkranke SGMK aus der Sicht der Gründerin Erica Brühlmann-Jecklin
nachgezeichnet und das heutige Aktivitätenfeld der 35jährigen Vereinigung beschrieben.
Die SGMK ist übrigens Aktivmitglied von AGILE.
Ein kurzer Anhang liefert schliesslich ein Sachregister, eine Literaturliste zum Weiterlesen
und ausgewählte Links, so z.B. zur Homepage von Harry Köppel, der unter
http://koeppel.chapso.de über sein Leben mit ALS Tagebuch führt.
Die mit dem 250 Seiten starken Buch mitgelieferte CD, die den gesamten Inhalt als pdfDatei anbietet, erleichtert das Lesen für muskelkranke Menschen.
Fazit: Wer mit einer Muskelkrankheit lebt, kann es sich nicht leisten, ein Vorhaben in die
Zukunft zu verschieben. Wer weiss schon, was in ein paar Wochen, Monaten oder Jahren
noch möglich ist. Muskelkranke gestalten gezwungenermassen ihr Leben im Hier und
Jetzt. Es stellt sich die bange Frage, ob diese Intensität wirklich nur in Verbindung mit der
fortschreitenden Krankheit zu haben ist. Wie dem auch sei, die Menschen, denen wir im
vorliegenden Buch begegnen, sind Realisten, die um ihre Grenzen wissen und der Zukunft ins Auge blicken. Und darum ihre Möglichkeiten nutzen, solange sie da sind. Das ist
es, was die Porträtierten zu starken Menschen macht.
Die Angaben zum Buch: Helga Kessler, Starke Leben. Wie Muskelkranke ihren Alltag bewältigen, rüffer & rub, 2009. ISBN: 978-3-907625-46-0, Preis: 39.-- CHF.
Und für eine Kontaktaufnahme mit der Schweizerischen Gesellschaft für Muskelkranke
SGMK: Kanzleistrasse 80, 8004 Zürich, Tel. 044 245 80 30, Fax 044 245 80 31. E-Mail:
[email protected] Internet: www.muskelkrank.ch
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Impressum
agile – Behinderung und Politik (mit regelmässiger Beilage – in elektronischer Form – der
«BÖV Nachrichten»)
Herausgeberin:
AGILE Behinderten-Selbsthilfe Schweiz
Effingerstrasse 55, 3008 Bern
Tel. 031/390 39 39, Fax 031/390 39 35
Email: [email protected]
Redaktion:
Eva Aeschimann, Redaktionsverantwortliche deutsche Ausgabe
Cyril Mizrahi, Redaktionsverantwortlicher französische Ausgabe
Bettina Gruber Haberditz
Simone Leuenberger
Ursula Schaffner
Lektorat:
Bettina Gruber Haberditz (deutsche Ausgabe)
Claude Bauer, Salima Moyard (französische Ausgabe)
Neben der deutschsprachigen besteht auch eine französischsprachige Ausgabe von
«agile». Ihre Inhalte sind weitgehend identisch – Übersetzungen werden als solche gekennzeichnet.
Die Übernahme (mit Quellenangabe) von «agile»-Texten ist nicht nur gestattet, sondern
erwünscht!
Anregungen, Anfragen, Feedback, Bemerkungen usw. bitte an: [email protected]
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