Lesepredigt 31. Sonntag im Jahreskreis

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Lesepredigt
31. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr C (31. Oktober 2010)
Ev: Lk 19,1-10
Liebe Schwestern und Brüder!
Franz Beckenbauer, genannt der „Kaiser“, konnte vor einigen Wochen seinen 65.
Geburtstag feiern. Neben seinen fußballerischen Leistungen denkt so mancher bei ihm an
seinen legendären Ausspruch: „Schau´mer mal“.
Auch unsere Alltagssprache kennt sehr viele Ausdrücke, wo es um das Schauen und
Sehen geht. „Sehen“ und verwandte Wörter bezeichnen nämlich mehr als nur optische
Eindrücke, die mit den Augen empfangen und im Gehirn weiter verarbeitet werden. Auch
im Evangelium heute ist „sehen“ ein wichtiges Wort. Es fällt zunächst gar nicht so auf, wie
oft und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen dieses Wort im Text vorkommt.
Die Hauptperson, das ist Zachäus, der Oberzöllner: Er ist ein Kollaborateur, er arbeitet
zusammen mit den Feinden seines Volkes, vermutlich nicht aus Not und Zwang, sondern
zum eigenen Vorteil. Kollaborateure sind bei ihren Landsleuten verhasst. Das zeigen uns
Bilder oder Berichte vom Ende des Zweiten Weltkriegs aus den Ländern, die ihre Freiheit
von den deutschen Besatzern wieder erlangt haben. Kollaborateure wurden durch die
Straßen gejagt, manchmal sogar umgebracht. Frauen, die sich mit Besatzungssoldaten
eingelassen hatten, wurde der Kopf kahl geschoren. Blanke Wut gegen solche Menschen
hat sich angestaut, und dieses Gefühl hat sicher auch Zachäus bei den Einwohnern seiner
Stadt Jericho ausgelöst.
Von Zachäus heißt es nun: „Er wollte gerne sehen, wer dieser Jesus sei.“ Also nicht nur
einen neugierigen Blick wollte er auf Jesus werfen, sondern etwas über ihn erfahren.
Dann kommt die berühmte Szene mit dem Baum, auf den Zachäus stieg, um Jesus zu
sehen. Wir können Zweifel haben, ob er es nur der besseren Sicht wegen getan hat. Es ist
gut möglich, dass er sich von den übrigen Menschen absetzen und verstecken wollte, da
war sicher Angst davor, seinen Mitbürgern zu nahe zu kommen.
Selbst genau alles sehen, aber nicht gesehen werden – wir merken schon, da ist etwas
von einem Voyeur, Zachäus hat keinen normalen Kontakt zu seiner Umgebung.
Und dann erscheint Jesus; er schaut hinauf, heißt es. Wir dürfen überzeugt sein, es ist
mehr als nur ein Anschauen des Männleins da im Baum, es ist ein Durchschauen. Jesus
überblickt wohl sehr schnell die Situation und prompt wendet er sich an ihn: „Zachäus,
komm herunter – ich muss dein Gast sein!“
Und jetzt sehen die Leute, was passiert: Zachäus, den sie vielleicht zuvor noch gar nicht
wahrgenommen haben, steht plötzlich im Mittelpunkt, weil Jesus ihm seine ganze
Aufmerksamkeit schenkt.
Es folgt die bekannte verblüffende Wandlung des Zachäus, seine Umkehr – warum? Es ist
nicht, weil Jesus ihm ins Gewissen geredet oder vielleicht mit Höllenstrafen gedroht hat.
Die Geschichte lässt eigentlich nur eine Deutung zu: Zachäus konnte sich ändern, weil
Jesus ihn mit anderen Augen gesehen hat als all die Menschen zuvor.
Liebevoll gesehen zu werden hilft – und da ist wieder unser Wort – zur Ein-Sicht.
Das Evangelium beschreibt aber nicht nur die Geschichte einer Umkehr, wie ein sündiges
Leben seine gute Wendung findet. Es beschreibt sehr präzise zwei Sehfehler, die auch wir
kennen – und die Möglichkeiten zur Einsicht.
Manchmal sind wir in der Situation des Zachäus: aus Angst vor Enttäuschung und
Konflikten vermeiden wir Kontakt, bleiben nur in der Position des Beobachters, der
scheinbare Schutz führt aber in die Einsamkeit.
Und manchmal sind wir in der Situation der Leute von Jericho: Wir haben eine vorgefasste
Meinung. Das muss gar kein ungerechtfertigtes Vorurteil sein – sicher haben die
Menschen dort ihre leidvollen Erfahrungen mit Zachäus gemacht. Wenn wir ähnliche
Erfahrungen wie sie kennen, müssen wir uns aber auch fragen: Rechnen wir überhaupt
mit der Möglichkeit, dass Menschen sich auch zum Guten ändern können? Oder
stabilisieren wir mit unserer Ablehnung immer neu das Verhalten von Zachäus-Menschen?
Natürlich dürfen wir Ergebnisse eines gütigen Verhaltens nicht zu blauäugig erwarten,
aber anders herum ist es sicher: Wenn wir in einem nur den Mistkerl sehen, dann wird er
sich auch weiterhin wie ein Mistkerl verhalten!
Jesus bringt in menschliche Beziehungen wirklich eine neue Sicht. Er hat eine Botschaft
für Zachäus und für die Leute in Jericho. Wichtig ist, dass beide Seiten zusammen
gehören. Zachäus ist nicht nur der Oberzöllner, sondern auch der Oberschuft und somit
das klassische Beispiel für einen Sündenbock.
Ihm kann man alle Betrügereien und jede Ungerechtigkeit anlasten. Wenn man in Jericho
auf ihn schimpft, braucht man sich nicht mit den eigenen Fehlern auseinander zu setzen.
Was Jesus tut, wenn er Zachäus aus seiner Ecke herausholt, ist nicht nur eine Tat der
Barmherzigkeit des lieben Heilands gegenüber dem Sünder, sondern auch Provokation für
die Mitbewohner der Stadt.
Denn wenn Zachäus sich wirklich ändert und nicht mehr allein für alles Böse
verantwortlich ist, dann sind ja die anderen in der Situation, sich mehr mit sich selbst
auseinander setzen zu müssen.
Und so zeigt uns dieses spannende Evangelium zwei Seiten der Botschaft Jesu – beide
können wir als Aufforderungen an uns mitnehmen. Kurz auf den Punkt gebracht heißen
sie:
„Sei ehrlicher zu dir selbst – sei gnädiger zu anderen!“
Peter Michaeli,
Pfarrbeauftragter in Hösbach-Bahnhof
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