Steffi Hobuß

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STEFFI HOBUß
„Die Wahrheit ist irgendwo da draußen“
Verschwörungstheorien zum 11.09.2001 und die Frage nach dem Entkommen aus der Skepsis
Abstract – Eine Übersicht über Verschwörungstheorien zum 11. September 2001 zeigt, dass sie
viele Merkmale gemeinsam haben. Unter anderem eignet ihnen eine paranoide Logik, die sie gegen Widerlegungen immunisiert. Um aber zwischen Verschwörungstheorien und ernst zu nehmenden Erklärungen zu unterscheiden, genügt es nicht, nach der Wahrheit der Erklärung im
Sinne einer Übereinstimmung mit den Fakten zu fragen, denn beide Typen von Erklärungen berufen sich auf die Wahrheit und beide erweisen sich als Narrationen der Ereignisse. Wie lässt sich
dann der Unterschied zwischen den Erklärungstypen rechtfertigen? Im Anschluss an eine Prüfung des Begriffs der Skepsis und an die Diskussion in der Geschichtswissenschaft um Fakten
und Erzählungen fragt der Aufsatz nach Kriterien der Angemessenheit für die konkurrierenden
Theorien.
Im Wald der Narrationen – Verschwörungstheorien und ihre Kennzeichen
Auf die Frage „Glauben Sie, dass die US-Regierung die Anschläge selbst in Auftrag gegeben hat?“
(Cziesche u.a. 2003: 59) antworteten in einer Forsa-Umfrage vom 30. April 2003 19%
der Befragten mit „ja“ und immerhin weitere 9% mit „weiß nicht“. Über ein Viertel der
Befragten glaubt also daran, was mittlerweile zahlreiche Verschwörungstheorien besagen (oder schließt es zumindest nicht aus). Unter den Bewältigungsversuchen der Anschläge vom 11. September 2001 teilen die Verschwörungstheorien die gemeinsame
Logik, ein Gegenmodell dazu entwerfen zu wollen, was sie „die offizielle Darstellung“
nennen. So finden sich Thesen wie die von der Sprengung der Türme des World Trade
Center durch die CIA oder diejenige, in Pennsylvania sei gar kein Flugzeug abgestürzt
(Wisnewski 2003), oder die These, der Mossad sei in die Anschläge verwickelt (Bülow
42003) sowie die von der Cruise Missile, die ins Pentagon eingeschlagen sei (Meyssan
22003). Diese in Buchform und zum größten Teil in seriösen Verlagen erschienenen
Varianten der Verschwörungstheorien sind im Folgenden Gegenstand meiner Untersuchung.1
Der ehemalige Bundesforschungsminister und Staatssekretär im Verteidigungsministerium Andreas von Bülow vertritt in seinem Buch „Die CIA und der 11. September. Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste“ die Auffassung, der amerikanische und
der israelische Geheimdienst hätten von den Anschlägen gewusst oder sogar selbst die
Sprengung der Türme des World Trade Center in Auftrag gegeben. Diese Einschätzung
begründet er damit, die als Flugzeugentführer genannten Personen seien zum Teil nach
den Anschlägen noch am Leben gewesen, außerdem hätte der durch die Flugzeuge ver1 Im Internet gibt es zahllose weitere; dass das Gesagte auch für sie gilt, kann hier nur behauptet,
aber nicht im Einzelnen belegt werden.
ursachte Brand nicht den Einsturz der Gebäude verursachen können – „Die Vorstellung,
dass die sich aus dem Kerosinbrand entwickelnde Temperatur die Konstruktion zum Einsturz gebracht
haben könnte, überzeugt nicht“ (Bülow 42003: 140) – und schließlich sei im World Trade
Center nur ein einziger Israeli ums Leben gekommen. Um die Rolle der Wahrheit oder
Falschheit der angegebenen Belege für die These soll es später noch gehen; zunächst
fällt bei der Lektüre auf, mit welcher Emphase Bülow betont, dass seine Version der
Ereignisse diejenige ist, die sich seriös um Vorurteilsfreiheit und Wahrheit bemüht. Sein
Ziel sei eine „kritische Überprüfung“ (ebd.: 75), eine „genaue Überprüfung der Fakten“ (ebd.:
109), er schreibt: „Es sind unendlich viele Details aufzuarbeiten und die Puzzles eines möglicherweise ganz anderen Blicks sachgerecht und ohne Vorurteile einzuordnen“ (ebd.: 148). Der Blick
soll erstens den Sachen entsprechen, wie sie sind, und zweitens vorurteilsfrei die einzelnen Elemente zu einer Erklärung zusammenordnen; dabei werden die Vertreter der
„offiziellen Version“ zu den „ganz anderen“, die sich der unwahren oder verzerrenden
Darstellung der Ereignisse schuldig gemacht hätten. Das heißt, die Beweislast wird verschoben weg von Bülows Theorie und hin zur „offiziellen Version“, der er „Schlampigkeit, Unvollständigkeit und Einseitigkeit der Ermittlung“ (ebd.: 132) vorwirft. Bülow
unterstützt sein Verfahren mit rhetorischen Fragen wie „Warum gehen sie den Ungereimtheiten dieser Spur nicht nach?“ (ebd.: 109) und beruft sich auf die Plausibilität oder Unplausibilität von Ermittlungsergebnissen: „Der Vorgang erscheint kaum glaubhaft“ (ebd.: 110). Die
Zweifel, die er an der „offiziellen Version“ äußert, verstärkt und rechtfertigt er, indem
er diese selbst unter Verdacht stellt:
„Weitere Zweifel, ob wir es bei den 19 Selbstmordmuslimen mit den eigentlichen Tätern zu tun
haben, oder nur mit Leuten, denen die Tat in die Schuhe geschoben wurde, um von der eigentlichen mörderischen Aktion abzulenken, ergeben sich aus dem Verhalten der amtlichen Stellen
der Stadt New York und dem Eifer der Bush-Regierung bei der Aufklärung der Taten. Der
Eifer, mit dem die Spur der Muslime nach anfänglich behaupteter Ahnungslosigkeit aus dem
Hut gezaubert und dann gegen jede andere mögliche Version nachdrücklich verteidigt wurde,
kontrastiert offensichtlich nachhaltig mit dem Ablauf der Ermittlungen am Tatort selbst.“
(ebd.: 154f.)
Auch hier liegt eine Verschiebung der Beweislast vor, wenn nun die „amtlichen Stellen“
zu den Verdächtigten werden. Bülows Rhetorik gipfelt schließlich in einer Manipulationsunterstellung:
„Sie feilen an Methoden, um zu gegebener Zeit mit gezielten Aktionen die öffentliche Meinung
des eigenen oder eines fremden Landes mit einer im Voraus berechneten Wirkung auf die Seite
der beabsichtigten Politik zu ziehen. Die Massen werden einer sorgfältig inszenierten Gehirnwäsche unterzogen. Öffentliche Empörung soll über eine inszenierte widerwärtige Tat, gezielte
Verdächtigung und Pressemanipulation auf den vermeintlichen Feind gelenkt werden.“ (Ebd.:
183)
Hier stehen „sie“ und die Massen einander gegenüber; „sie“, das sind „die anderen“,
und Bülow scheint im Interesse der Massen zu sprechen und die Manipulation aufdecken zu wollen. Den nebulösen „anderen“ unterstellt er, die öffentliche Empörung zu
instrumentalisieren – wobei er genau dasselbe tut, wenn er für seine eigene Einschätzung wirbt.
Dem Politikwissenschaftler und Journalisten Gerhard Wisnewski zufolge wurden
die Flugzeuge, die ins World Trade Center flogen, ferngesteuert, die beiden Türme seien zusätzlich gesprengt und in Pennsylvania sei nur eine Bombe abgeworfen worden,
das heißt die Attentate hätten „Kräfte aus den Vereinigten Staaten selbst“ (Wisnewski 2003:
283) inszeniert, um nach alten Geheimdienstplänen „die Rechtfertigung für einen Krieg gegen
ein anderes Land“ (ebd.: 265) zu liefern. Der Bezug auf „die Wahrheit“ und auf wahre
„Fakten“ nimmt auch bei Wisnewski einen auffälligen Platz ein. Schon die Dreigliederung des Buchs (Teil I: Das Attentat, Teil II: Was passierte wirklich?, Teil III: Die Hintergründe) suggeriert Aufklärung über die Wahrheit. Es ist sein erklärtes „Ziel, eine Lücke
zu füllen und den Versuch einer systematischen, kriminalistischen Aufarbeitung des Falles zu unternehmen“ (ebd.: 13) und die Angriffe „genau unter die Lupe zu nehmen [...], um die Wahrheit zu
verteidigen“ (ebd.: 19). Hier setzt er sich mit den zugehörigen Attributen an die Stelle der
Ermittlungsbehörden, denen er unzulängliches Vorgehen und Verschwörungen vorwirft. Wisnewski möchte nämlich selbst mit seinem Buch der „Mutter aller Verschwörungstheorien“ entgegenwirken, nämlich der „abenteuerlichen These, am 11. September 2001 sei es
einer Handvoll Arabern gelungen, im Herzen der Militärmacht Nr.1 das perfekte Verbrechen zu
verüben“ (ebd.: 14)2. Mit Hilfe von Aufzählungen und Formulierungen wie „wie wir gesehen haben“ (ebd.: 215), „Die Börsenmanipulationen zeigen, dass [...] folgendes feststand“ (ebd.:
26), „wir versuchen nun, die Frage zu klären“ (ebd.: 37) oder „Aber ist das auch wahr? Dieser
Frage will ich in den folgenden Abschnitten nachgehen. Erstes Ergebnis: [...]“ (ebd.: 122) wird der
Anschein von unbezweifelbaren Faktendarstellungen und unvoreingenommenen Untersuchungen erweckt. Und wie schon Bülow appelliert Wisnewski außerdem an den
Augenschein und die Plausibilität: Im Pentagon zum Beispiel war kein Flugzeugwrack
zu sehen (ebd.: 149-154).
Das im französischen Original 2002 erschienene Buch des politischen Jounalisten
Thierry Meyssan trägt das von Wisnewski gebrauchte Bild der überprüfenden Lupe
schon auf dem Titelbild der zweiten deutschen Auflage, erschienen in der Reihe „Akribisch“ des Verlags edition de facto. Meyssans Ausgangspunkt ist die auch auf dem Titel
genannte These „Kein Flugzeug traf das Pentagon“, die sich für ihn evident aus der Betrachtung der Fotografien des Attentats auf das Pentagon ergibt, und aus der er weiter ableitet, das World Trade Center sei von amerikanischen Geheimdienstkräften angegriffen
worden, da es „ein geheimes Militärziel“ (Meyssan 22003: 36) beherbergt habe, „einen Stützpunkt der CIA“ (ebd.: 37), der seinen Tätigkeitsbereich illegal auf das Gebiet der Wirtschaftsspionage erweitert habe und daher in der Folge so umstritten war, dass er
schließlich vernichtet werden sollte. Zugleich hätten die Anschläge als Rechtfertigung
des geplanten Kriegs dienen sollen. Meyssan spielt wie die anderen Verschwörungstheoretiker seine Theorie als Wahrheit gegen die „offizielle Version“ aus, indem er diese
zunächst als „wirr und widersprüchlich“ (ebd.: 13) bezeichnet, als eine „verrückte Lügengeschichte“ (ebd.: 25), die allmählich in den Stunden und Tagen nach dem Attentat konstruiert worden sei und einer „Analyse nicht stand“ halte (ebd.: 45), sowie als „reine
Propaganda“, die etwas „zu vertuschen versucht“ (ebd.: 26). Auch hier soll die eigene Theorie
dadurch aufgewertet werden, dass die amtlichen Stellen die Beweislast zugeschoben be2 Zur Bedeutung des Gegensatzes zwischen der „Handvoll“ Araber und der offensichtlich angenommenen Größe des „perfekten Verbrechens“ vgl. unten am Ende dieses ersten Abschnitts.
kommen, aufklärend und nicht verschleiernd gehandelt zu haben: „Wie oben nachgewiesen,
führte das FBI keineswegs eine Kriminaluntersuchung, sondern war bemüht, Indizien verschwinden zu
lassen und Zeugenaussagen zu unterdrücken.“ (ebd.: 65f.) Hier wird außerdem deutlich, dass
laut Meyssan durch „die offizielle Version“ die wirklichen Schuldigen im Dunkeln bleiben; im Kapitel „Die Veschwörung“ (ebd.: 161-178) stellt er die gleiche Theorie wie Wisnewksi auf, derzufolge den Attentaten ein Geheimdienstplan von 1962 zugrundelag, als
der militärische Gegner noch Kuba und nicht der Irak gewesen sei. Als Auftraggeber
beschreibt er in einer rheotorischen Frage suggestiv „eine besondere Gruppe, die sich innerhalb der Institutionen verborgen hält“ (ebd.: 52). Dieser Punkt wird unten noch von Interesse
sein: Das Motiv, dass die eigentlich Verantwortlichen verborgen sind.
Ein interessanter Beitrag ist die Theorie von Matthias Bröckers, einem ehemaligen
Redakteur der Frankfurter Rundschau, dessen Buch „Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.“ binnen 12 Monaten 35 Auflagen erreichte.
Bröckers’ Ausgangspunkt bildet die These, „dass von den angeblichen 19 Hijackern mindestens
sieben noch lebten“, weshalb auch er im Fall der „offiziellen Version“ von einer „fabrizierten
Beweiskette“ (Bröckers 352003: 132) ausgeht. Die Hysterie bezüglich möglicher Folgeattacken mit Biokampfstoffen könne „eine psychologische Operation“ (ebd.: 150) gewesen sein,
um von der unzureichenden Aufklärung der Anschläge durch die Ermittlungen abzulenken. Neben George W. Bush und den amerikanischen Geheimdiensten habe auch
die Rüstungsindustrie massiv vom Attentat profitiert (ebd.: 154f.). Die Terroristen hätten gut von staatlichen Stellen unterstützt worden sein können. Auch Bröckers identifiziert die „offizielle Version“ als Verschwörungstheorie (ebd.: 9/224) „der nahezu
gleichgeschalteten Medien“ (ebd.: 23) und stellt ihr als Opposition die skeptische Haltung
einiger Journalisten als die „letzte Oase“ eines „sauberen, unabhängigen Journalismus“ (ebd.:
21) gegenüber. Wegen vieler Widersprüche sei es „nachgerade unverantwortlich [...], die
Mainstreamversion der Realität zu akzeptieren“ (ebd.: 146).
Interessant an Bröckers’ Beitrag ist darüber hinaus der von ihm selbst beanspruchte Status seiner eigenen Theorie: Als einziger der hier untersuchten Autoren bekennt er
sich explizit zum „konspirologischen Blick“, denn es sei geradezu naiv, „hinter der Wirklichkeitssimulation der Medien keine Drahtzieher und Interessen zu vermuten“. Gleichzeitig betont er
jedoch, er wolle „keine eigene Verschwörungstheorie zum 11. September verkaufen“, keine „einfachen Lösungen“ anbieten. Deshalb bezeichnet er seine Haltung als „Gegen-VerschwörungsVerschwörung“3 (alle Zitate ebd.: 10f.). Und insofern beansprucht er für sich, sowohl
vom Spinner-Verdacht befreit zu sein als auch gleichzeitig eine Art Verschwörungstheorie auf höherer Ebene äußern zu können. Implizit unterscheidet er dabei zwischen
solchen Verschwörungstheorien, die zu verwerfen seien, weil sie Komplexität reduzierten und einfache kausal-lineare Lösungen anböten4 (ebd.: 10/64/145), und seinem eigenen verschwörungstheoretischen Blick, den er im Dienst der Aufklärung wähnt.
In seinem gemeinsam mit Andreas Hauß veröffentlichten Folgebuch nimmt Bröcker aber diesen komplizierten und mit den Etiketten kokettierenden Gestus zugunsten
Und deshalb ist es auch gerechtfertigt, sie hier eben doch als Variante der Verschwörungstheorien zu behandeln. Darüber hinaus wird diese Perspektive auf seine Theorie durch Bröckers’ Folgebuch
bestätigt.
4 Auf diese Merkmale wird weiter unten noch näher eingegangen.
3
eines direkteren Bekenntnisses zum Dokumentarismus zurück. Es geht ihm nun nicht
mehr um die Logik von Verschwörungen, sondern um die „Fakten, Fälschungen und die
unterdrückten Beweise“ (Bröckers und Hauß 82003: 13 und Untertitel). Die Verfasser
kämpfen nun in vertrauter Weise gegen die „Lüge“ (ebd.: 16) der „offiziellen Version“,
die „nur ein dürftiges Konstrukt“ (ebd.: 15) sei, und beanspruchen, wahre Fakten zu präsentieren, ohne selbst eine Verschwörungstheorie aufzustellen. Wieder sind die noch
lebenden Flugzeugentführer der Ausgangspunkt, und am Ende des Buchs werden sogar
drei „Szenarien“ entworfen (vgl. ebd.: 251-262), nach denen letztlich amerikanische Militärs in ihrer Unterstützung des Dschihad in Afghanistan gegen den Kommunismus die
Attentate mit verursacht hätten, oder amerikanische Agenten gezielt in Terrorgruppen
eingeschleust worden seien, oder aber die US-Geheimdienste aktiv eine Operation nach
dem Vorbild der Pläne aus den 1960er Jahren durchgeführt hätten.
Nach diesem Kurzdurchgang durch die Verschwörungstheorien lassen sich diverse gemeinsame erzählerische und argumentative Merkmale der Theorien erkennen und
einige typische Mechanismen und Motivationen von Verschwörungstheorien werden
sichtbar, wenn man sie im Überblick betrachtet: Erstens berufen sich alle auf irgendeine
Form der Skepsis wegen in der „offiziellen Version“ ungeklärter Fragen, und sie appellieren in suggestiver Weise an die Plausibilität möglicher Erklärungen als Kriterium ihrer Angemessenheit. Zweitens berufen sich alle dargestellten Theorien auf die „wahren
Fakten“. Dies geschieht in unterschiedlich starker Weise, aber als wichtiges Mittel benutzen sie alle ausführliche Anhänge mit Quellenmaterial, das jeweils am Ende des
Buchs oder in typographisch abgesetzter Weise in den Text eingelassen für sich selbst
sprechen soll. Drittens arbeiten alle Verschwörungstheorien mit dem Vorwurf der Verschleierung an „die anderen“; die „offizielle Version“ ist ihnen zufolge durch Verzerrungen, gezieltes Weglassen oder Wegerklären von Widersprüchen und Hinzufügen
fiktiver Elemente gekennzeichnet. Viertens haben sie (außer Bröckers 352003, der sich ja
gerade von diesem Merkmal absetzen will,) die strukturelle Eigenschaft, dass in ihnen
alles passend gemacht wird. Die Alles-wird-passend-gemacht-Struktur der Verschwörungstheorien hat dabei zwei Aspekte: a) Den Wunsch nach der „vollständigen“ Erklärung:
Die Motivation dafür oder der Vorteil dieser Struktur liegt in der Abwehr der narzißtischen Kränkung, keinen vollständigen Überblick über die Ereignisse und ihre Hintergründe zu haben und an den schrecklichen Attentaten nicht alles verstehen zu können.
Dagegen setzt eine Verschwörungstheorie die Möglichkeit, alles perfekt verstehen und
einordnen zu können. Wisneweski zitiert zum Beispiel „Vertreter der kritischen 9/11Bewegung in den Vereinigten Staaten“: „Die US-Regierung hat den Menschen in der Welt keine vollständige Erklärung gegeben“ (Wisnewski 2003: 121). Dieser Vorwurf klagt die vollständige
Erklärung als Recht geradezu ein. Und Meyssan möchte „daran erinnern, daß die Freiheit
nicht darin besteht, an eine vereinfachende Sicht der Welt zu glauben, sondern vielmehr darin, Zusammenhänge zu verstehen“ (Meyssan 22003: 10) Hier wird eine interessante Opposition
hergestellt; gegen „Vereinfachung“ steht „Freiheit“, und zwar die zum Herstellen von
Zusammenhängen! Und schließlich fügt sich auch noch die von Verschwörungstheorien sowieso beliebte Ermordung John F. Kennedys in Meyssans Bild, weil Kennedy
1962 gegen den Geheimdienstplan gewesen sei, einen Krieg gegen Kuba durch ein in
Auftrag gegebenes Attentat zu rechtfertigen (ebd.: 170). b) Der zweite Aspekt der Alles-
wird-passend-gemacht-Struktur ist der folgende: Vor den Attentaten geschehene Ereignisse erscheinen nachträglich als „von hinten“ motiviert. Der Literaturwissenschaftler
Clemens Lugowski promovierte 1931 mit einer Arbeit mit dem Titel „Die Form der Individualität im Roman“, in der er eine Unterscheidung einführte zwischen der uns vertrauten psychologischen Motivation der Handlungen literarischer Figuren und der von ihm
so genannten „Motivation von hinten“. Ein Beispiel für psychologische Motivation wäre es, wenn eine Romanfigur weint, weil sie zuvor etwas sehr Trauriges erlebt hat. Im
Falle der Motivation von hinten ist eine Handlung nicht von daher motiviert, woher sie
kommt, sondern vielmehr von daher, wohin sie führt: Eine Handlung geschieht, damit
anschließend etwas anderes begründet werden kann. Eine Figur leidet beispielsweise
nach dem Maßstab der psychologischen Motivation unbegründet heftig, damit gemäß
der Motivation von hinten ihre Erlösung um so beglückender ausfallen kann. Lugowski
fasst folgendermaßen zusammen: „nicht das Ergebnis ist durch die Prämissen der Handlung bestimmt, sondern die Einzelzüge der Handlung durch das nur seine Enthüllung fordernde Ergebnis“
(Lugowski 1976: 75). Bei dieser Analyse handelt es sich um fiktionale literarische Texte,
die mit den beiden Motivationskategorien angemessen betrachtet werden können.
Wenn nun aber wirkliche Ereignisse so betrachtet werden, dass sie die Struktur der Motivation von hinten aufweisen, heißt das, dass sie durch diese Interpretationen als Narrationen angesehen werden! Wisneweski nimmt solche Interpretationen vor und
schreibt zum Beispiel:
„Die Börsenmanipulationen zeigen, dass zu diesem Zeitpunkt [am 10. September, S.H.]
folgendes feststand:
- Sämtliche Vorbereitungen für die Anschläge waren abgeschlossen,
- die Attentate würden in unmittelbarer Zukunft stattfinden,
- Jets von American und United Airlines würden die Waffen und
- das World Trade Center das Ziel sein.“ (Wisnewski 2003: 26)
Hier werden aus der Perspektive der Ereignisse vom 11. September die Börsenaktivitäten der Vortage so interpretiert, als hätten sie die aufgezählten Punkte schon vorher, also am 10. September, zeigen können. Dass die Börsenereignisse möglicherweise noch
anders interpretierbar wären, kommt nach dieser deterministischen Lesart „von hinten“
gar nicht mehr in den Blick. Ein zweites Beispiel: Hollywoodproduktionen wie Airforce
One oder Independence Day werden für Wisnewski nachträglich lesbar5 als Teile einer umfassenden Vorbereitung durch „psychologische Operationen“ (Wisnewski 2003: 306).
Fünftens arbeiten alle Verschwörungstheorien mit der Unterstellung: Ein großes
Verbrechen braucht große Ursachen. Auch dieser Punkt hat zwei Aspekte: a) Gegen die
Wahrnehmung moralischer Ambivalenzen und die Vorstellung, einzelne, ziemlich normal erscheinende Menschen könnten Böses tun, setzt eine Verschwörungstheorie in
projektiver Weise das unbekannte Böse, das immer „die anderen“ verkörpern: Der Un5 Zum Zusammenhang, der sich zwischen solchen Hollywoodproduktionen und den Anschlägen
darüber hinaus herstellen lässt, schreibt Slavoj Zizek, man könne Osama Bin Laden als lebensechtes
Gegenstück zu Ernst Stavro Blofeld, dem Bösen in mehreren James-Bond-Filmen verstehen: Bond besiegt jeweils den Bösen und stellt damit die artifizielle Scheinexistenz wieder her, aus der alle realen
weltpolitischen Probleme ausgeklammert sind. Und „das Bewusstsein, in einem isolierten artifiziellen Universum zu leben, erzeugt die Vorstellung, ein ominöser Agent bedrohe uns ständig mit totaler Vernichtung“ (Zizek 2001).
tertitel von Wisneskis Buch lautet: „Angriff auf den Globus“, und er schreibt demzufolge:
Die „Tat war vielmehr an den gesamten Erdball adressiert“ (ebd.: 23). Und ein Verbrechen
von solchen Ausmaßen, so hat Wisnewski in einer schon zitierten Passage suggeriert,
„das perfekte Verbrechen“ könne unmöglich „von einer Handvoll Arabern“ (ebd.: 14) vorbereitet und duchgeführt worden sein. Fast gleichlautend formuliert Bröckers: „Der Anschlag auf das WTC war ein Jahrtausendereignis, das noch Generationen von Historikern und
Forschern beschäftigen wird. Noch weniger als am ersten Tag glaube ich heute, dass es sich dabei um
einen „normalen“ Terrorakt gehandelt hat“ (Bröckers 352003: 15). Und einer von Mohammed
Attas Kommilitonen schildere „einen völlig normalen, zurückhaltenden, sensiblen Mitstudenten,
der der Chef der Selbstmordpiloten gewesen sein soll“ (ebd.: 129); „ein derart komplexes Unternehmen [...] [hätte] ohne geheimdienstliche und militärische Unterstützung nicht [...] ausgeführt werden
können“ (ebd.: 287). b) Aber die große Erklärung vermeidet nicht nur die Wahrnehmung
von Ambivalenzen, sie tritt auch häufig bei Ereignissen von mythischen Ausmaßen auf
(vgl. Cziesche u.a. 2003: 60), die mit einer gewöhnlichen Erklärung ihre Größe einbüßen würden: Auch im Fall des (noch lebenden) Elvis, der Ermordung John F. Kennedys (durch Mafia und CIA), der (in der Wüste Nevadas fingierten) Mondlandung und
des (herbeigeführten) Todes von Lady Diana erscheinen Verschwörungstheorien interessant.
Allerdings funktionieren sie nur dann, wenn ihnen die Wirklichkeit ein Stück weit
entgegenkommt. Bei den Ereignissen vom 11. September ist das definitiv der Fall. Präsident Bush hatte vorher bekanntermaßen zur Legitimation des Krieges gegen den Irak
Bedrohungsszenarien entworfen, die sich als falsch heraustellten; den Geheimdienstplan aus den sechziger Jahren zum Abschuss eines Flugzeugs mit dem Ziel der Rechtfertigung eines Krieges gegen Kuba gab es wirklich; Amerika hat den Dschihad in
Afghanistan gegen die Kommunisten erst unterstützt und später fallengelassen, und bei
den Ermittlungen und den Zeugenaussagen nach dem 11. September gab es tatsächlich
Ungereimtheiten.
In der Fernsehserie „Akte X“ erlebt Agent Fox Mulder überall die Auswirkungen
einer umfassenden Verschwörung. Damit reagiert die Figur auf derartige im realen Alltag immer wieder vorkommenden Erfahrungen: dass Menschen konspirieren, dass
Falschaussagen zur Rechtfertigung von etwas benutzt werden, dass wir in bestimmten
Fällen von anderen nicht die ganze Wahrheit gesagt bekommen und später feststellen,
wie es wirklich war, und dass wir getäuscht wurden. Soweit ist das der gewöhnliche und
alltägliche Ausgangspunkt verschwörungstheoretischen Denkens, das insofern kein
vollkommen verrücktes und unangemessenes Verhalten ist. Im Fall von Mulder liegt allerdings eine paranoide Immunisierung gegen die Auseinandersetzung mit anderen vor,
denn alle angeblichen Gegenbeweise bestätigen für Mulder nur die Realität der Verschwörung und seine Wahrheit bleibt „irgendwo da draußen“, prinzipiell unangetastet.
Wer nun trotz der Anbindung an tatsächliche Verdachtsmomente den Verschwörungstheorien mit guten Gründen nicht glaubt, geht häufig davon aus, dass es im Fall
des 11. September im Gegensatz zu den „Darstellungen“ der Verschwörungstheorien
im Prinzip klar ist, „wie es wirklich war“. Cziesche u.a. beschäftigen sich zum Beispiel
mit dem von Bröckers/Hauß und Bülow vorgebrachten Verdacht, mindestens sechs
der Flugzeugentführer hätten sich nach den Anschlägen als lebendig zu erkennen gege-
ben. Die Verschwörungstheoretiker hätten, so das Gegenargument, die Fakten selbst
nicht ausreichend geprüft. „Dabei reichen ein paar Anrufe“ oder „Mit den Fotos war der Unsinn [...] schnell erledigt“ (Cziesche u.a. 2003: 61) lauten die Formulierungen, die nahelegen
sollen, die Verschwörungstheorien seien durchs sorgfältige Prüfen der Fakten zu widerlegen. „Des Rätsels Lösung“ wird gegen die „Geheimsniskrämer“ angeführt (ebd.: 62) und
damit unterstellt, „die Wahrheit“ sei einfach und man könne mit einem genauen Blick
auf die Tatsachen die irrigen Verschwörungstheorien widerlegen. Durch diese scheinbar
klare Oppostion ist der gesamte Text organisiert. Gegen Meyssan führen die Verfasser
an, er zeige seine Pentagon-Fotos vor „wie einen Schatz. Wie Beweise. Fakten. Wahrheit.
Aber: Welche Fotos fehlen? Welche hat Meyssan übersehen? Und welche hat er weggelassen?“ (ebd.:
68) Was den grundsätzlichen Anspruch und Bezug auf „die Wahrheit“ betrifft, unterscheiden sich Vertreter und Gegner der Verschwörungstheorien in nichts. Um sich von
den Verschwörungstheorien aufklärerisch zu unterscheiden, legen die Kritiker nahe, die
Lösung liege im vollständigen Aufdecken der Fakten. Aber genau das hatten die Verschwörungstheoretiker auch in Anspruch genommen.
Fakten, Zweifel, Erzählungen
Ein Gegenentwurf zu den Verschwörungstheorien ist – zumindest vom Selbstanspruch
her – das von Stefan Aust und Cordt Schnibben herausgegebene Buch „11. September.
Geschichte eines Terrorangriffs“ mit Beiträgen von weiteren 17 AutorInnen, die alle MitarbeiterInnen des Spiegel sind. Wie Cziesche u.a. (2003) beziehen sie sich auf die Fakten
und beanspruchen, nur das zu rekonstruieren, was tatsächlich geschehen ist. Laut Klappentext haben sie „die Geschichte des 11. September 2001 in monatelanger Arbeit recherchiert. Sie
beschreiben die Vorbereitung des Attentats und schildern minutiös die Entführung der vier Flugzeuge“. Der Hinweis auf die akribische Recherche bekräftigt, dass es sich hier um seriösen
Journalismus handelt; implizit könnte man den nicht ausgesprochenen Vorwurf an die
Verschwörungstheorien lesen, vorschnell und ohne ausreichende Recherche ein unzutreffendes Bild des Geschehens zusammenzubasteln. Interessant ist der genauere Blick
auf die Struktur des Buchs: Es beginnt im 6-seitigen Vorwort mit der Erklärung des
journalistsichen Anspruchs und der Formulierung der These des Buchs, die darin besteht, was die Verschwörungstheoretiker die „offizielle Version“ nennen würden. Zwischen dem Vorwort und einem 40-seitigen Anhang mit Dokumenten wie Zeitplänen,
biographischen Angaben zu den Attentätern, Ausweiskopien und Bin-LadenÄußerungen erstreckt sich der Hauptteil des Buchs über 230 Seiten. Es handelt sich um
eine chronologische Darstellung der Ereignisse in Form von ein- bis mehrseitigen Abschnitten, teils minutengenau angegeben, mit dokumentarisch klingenden Überschriften
wie „„Panther Motel“, Deerfield Beach, Florida, 26. August 2001“ (Aust und Schnibben
52003: 36), „An Bord von United Airlines 175, 8.54 Uhr“ (ebd.: 74) oder „Südturm, 61.
Stock, 9.03 Uhr“ (ebd.: 77) und „Kairo, im „Nadi-Sid-Schützenclub““ (ebd.: 208). Solche
Überschriften, die genauen Zeitangaben und das Wort „Geschichte“ im Buchtitel zeigen, wie sehr sich das Buch um Abgrenzung von den Verschwörungstheorien und um
dokumentarische Authentizität bemüht. Aber trotz dieses dokumentarischen Anspruchs teilt es sehr viele Merkmale mit den Verschwörungstheorien: Es arbeitet mit
denselben literarischen Mitteln, so dass es auf Grund der oben dargestellten Merkmale
nicht mehr möglich ist, eine Verschwörungstheorie als solche zu identifizieren und sie
von dokumentarischen Rekonstruktionen zu unterscheiden. Schon die grundlegende
These wird folgendermaßen formuliert: „Das Attentat ist ein Angriff auf unser Denken, in
den Trümmern des World Trade Center liegen neue Wahrheiten und Fragen: Eine Horde unauffälliger, intelligenter, todessüchtiger Islamisten zieht um die Welt“ (ebd.: 9). Die Terroristen werden
zwar als unauffällige Menschen beschrieben, aber das schreckliche Attentat erfährt wie
in den Verschwörungstheorien eine große Erklärung durch die Einordnung der Täter in
den Kontext des Islamismus, so dass auch in dieser Perspektive eine „Sorte Menschenfeind
uns bedroht“ (ebd.: 11). Das Vorwort zeichnet das Bild dieses Islamismus: „dass der Islam
taugt zur Weltanschauung der Verdammten dieser Erde und die Islamisten die Enttäuschung über
das Versagen der islamischen Eliten in Anklagen gegen den Westen umzuleiten verstehen, haben wir
nicht bemerkt“ (ebd.: 8). Und im Klappentext wird das Buch angekündigt als „eine beeindruckende Sammlung von Fakten, die viele Fragen über das Motiv der schrecklichen Tat beantworten,
aber auch ein Buch, das an Dramaturgie und Spannung kaum zu überbieten ist“. Hier wird mit
dem Hinweis auf Dramaturgie und Spannung auf die narrativen Elemente hingewiesen,
die in eigentümlicher Differenz zum dokumentarischen Anspruch stehen und den Text
stark bestimmen. Die Kapitelgliederung und die Kapitelinhalte folgen deutlich der am
aristotelischen Drama orientierten fünf-Akt-Struktur, und die hergestellte Chronologie
der Ereignisse mit den Minutenangaben inszeniert nicht nur so etwas wie dokumentarische Authentizität, sondern stellt auch eine narrative Einheit der Zeit her. Die Erzählung in der rekonstruierten chronologischen Folge erzeugt darüber hinaus durch die
häufige Verwendung von Varianten einer personalen Erzählperspektive psychologische
Spannung. Die Informationen beruhen dabei auf Zeugenaussagen von Überlebenden
und wurden in die spannungserzeugende erzählerische Form gebracht. Die Überlebenden werden dabei geradezu zu literarischen Figuren. Ein Beispiel dafür ist der Versicherungsangestellte Mooney aus einem Büro im 38. Stock des Südturms des World Trade
Center: „Mooney fallen sofort die riesigen Generatoren ein. So war es. So muss es gewesen sein. Sie
sind angesprungen, und deshalb hat der Turm gewackelt. Mooney beruhigt die weinenden Frauen. Nur
die Generatore, nur die Generatoren“ (Aust und Schnibben 52003: 81). Wie in einem Roman
wechselt hier der Erzähler aus einer Bewusstseinsstromsperspektive in den darstellenden Satz, in dem Mooney die Frauen beruhigt, und dann wieder zurück. Ein weiteres
Beispiel, diesmal mit einer einheitlichen personalen Erzählperspektive, liefert der folgende Textausschnitt:
„Pilipiak geht ein paar Schritte, er hört Frauen schreien, und dann sieht er Rafael Kava. Der
alte Mann steht mit seiner Tasche und dem Hut im Flur, als würde er auf einen Zug warten.
Der Hut erinnert Pilipiak an seinen Schwiegervater, der stammt aus Italien und hat immer
solche Hüte getragen. Pilipiaks Wurzeln liegen in Weißrussland“ (ebd.: 88).
Diese Gestaltungselemente erweisen auch Aust und Schnibbens Darstellung als eine
narrative Fassung der Ereignisse und lassen eine doppelte Lektüre des Ausdrucks „Geschichte“ im Titel zu. Es ist nicht nur die Geschichte des Geschehens im Sinne einer
historisch genauen Wiedergabe, sondern zugleich eine Geschichte im Sinne einer Erzählung, einer Narration. Bevor es nun darum gehen soll, ob nicht alle historisch genauen Wiedergaben von Ereignissen immer narrative Gestaltungen sind, ist also
festzuhalten, dass diese Version mit dokumentarischem Anspruch sich sowohl narrati-
ver Gestaltungselemente bedient als auch selbst als eine Verschwörungstheorie beschreibbar ist, die „den Islamismus“ als große Bedrohung zur Erklärung der Anschläge
heranzieht und – wie die Verschwörungstheorien – den Anspruch auf eine vollständige
Erklärung erhebt.
Interessant ist hierbei, dass es auch den sozusagen umgekehrten Fall gibt: Im Internet gibt es einige Varianten eines scheinbaren „Spiels“ oder „Quiz“, in dem zahlreiche Fotos vom Pentagon zusammen mit Fotomontagen, die ein Flugzeug in passender
Größe enthalten, gezeigt werden und die Betrachter aufgefordert werden, Fragen zu
beantworten wie „Passt eine Boeing in diese Öffnung?“. Und Meyssans zweites Buch
„Das Pentagate“ funktioniert in genau derselben Weise. Die Verlagsankündigung bezeichnet es als „Fragenkatalog mit Fotoalbum“. Hier wird explizit so etwas wie ein Spiel
angekündigt und dann ein scheinbarer Bezug auf „die Fakten“ stark gemacht und unterstellt, dass „jeder sehen kann“, dass die „offizielle Version“ nicht stimmt. Wie in den
anfänglich dargestellten Verschwörungstheorien wird ein aufklärerischer Gestus benutzt und zur Skepsis gegenüber den offiziellen Darstellungen aufgerufen. Wie im klassischen erkenntnistheoretischen Skeptizismus wird man zum Beispiel dazu aufgefordert, seine Sinneswahrnehmungen zu überprüfen: „test your perceptions!“. Hier wird
die Skepsis, die ja gegenüber bestimmten Wahrnehmungen und manchen Erklärungen
und Darstellungen gelegentlich durchaus motiviert ist und dann aber nach prinzipieller
Gewissheit sucht, angeblich in den Dienst einer aufklärerischen Unternehmung gestellt.
Ähnliche Formulierungen gibt es in den zu Beginn dargestellten Verschwörungstheorien, so etwa bei Meyssan (22003: 10): „wir fordern ihn [den Leser, S.H.] zur Skepsis auf. Er
möge nur seinem eigenen kritischen Geist vertrauen“, oder bei Bröckers (352003: 12), wenn er
eigenen Angaben zufolge „eine nüchterne Methode, ein Werkzeug der Realitätswahrnehmung, eine skeptische Wissenschaft“ verfolgt.
Michael Rutschky beschreibt eine solche Aufforderung zur Skepsis als „umfassende
Widerstandsmaßnahme“ (Rutschky 2003), die durch keine Antwort entkräftet werden
könne. Der Satz „ich bleibe skeptisch“ sei eine „richtige Wunderwaffe“ (ebd.), die dadurch
in die Nähe zum Wahn gerate, dass sie immun gegen Realitätsprüfungen sei. Die Verwandtschaft von Verschwörungstheorien und paranoiden Strukturen, von Skeptizismus
und Wahn ist sicher eine richtige Beobachtung, aber Rutschky stellt die Sache etwas zu
einfach dar, weil er Skeptizismus und Verschwörungstheorien nicht ernst genug nimmt.
Wie oben dargestellt, brauchen und haben Verschwörungstheorien Anhaltspunkte in
der Realität, um zu funktionieren, und hier sitzt der richtige Punkt an der Skepsis. Als
zusätzliches Beispiel nennt Rutschky die „Nachweise, Videospiele brutalisieren arglose Konsumenten so wenig wie Bücher“; angeblich sei die Skepsis gegenüber solchen Nachweisen bloß
durch die „Leidenschaft fürs Verbieten“ motiviert. Dass es kompliziertere Zusammenhänge
geben könnte als einfache kausale Wirkungsrelationen, hat Rutschky nicht im Blick und
stellt damit die Skeptizisten ganz grundsätzlich als Fanatiker dar, die sich gegenüber
„Fakten“ wie den genannten „Nachweisen“ immunisieren und im Grunde wahnhaft
denken. Beide Seiten könnten sich hier aber auf Fakten berufen und kämen doch zu
keiner Klärung. Zum Fall der Verschwörungstheorien zum 11. September schreibt
Rutschky: „Die hermeneutischen Künste, die sie dabei anwenden, imponieren ungemein. Es entsteht
geradezu Schönheit in dem Gewebe von verdächtigen Einzelheiten und widersprüchlichen Informatio-
nen, wie sie es auslegen.“ Hier wird sichtbar, wie er die Verschwörungstheorien und ihren
skeptischen Impuls im Ganzen nicht ernst nimmt und sich zudem mit den Ausdrücken
„Schönheit“ und „hermeneutische Künste“ auf ihre Fiktionalität und bestenfalls ästhetische Qualität bezieht, wogegen er die Wahrheit der „Nachweise“ ausspielt. Wenn
Rutschky die Verschwörungstheorien auf diese Weise kritisiert, bezieht er sich jedoch
auf Merkmale, die beiden „Seiten“ zukommen. Verschwörungstheoretiker und ihre
Gegner berufen sich jeweils auf „Nachweise“, beide werfen ihren jeweiligen Opponenten die Konstruktion fiktiver Gebäude vor, beide Seiten bedienen sich der gleichen narrativen Strukturen. Und auch der Kritiker der Verschwörungstheorien entkommt der
skeptischen Logik nicht: Eine Verschwörungstheorie als solche zu kennzeichnen, hat
selbst verschwörungstheoretische Merkmale. Bröckers hat dieses Problem in seinem
ersten Buch mit eingebaut: „Jede Kritik an ihnen wird automatisch zum weiteren Beweis für die
Realität der unterstellten Verschwörung“ (Bröckers 352003: 66) – das ist einerseits eine Formulierung mit dem Ziel, die paranoide Logik aufzudecken, aber die Verschwörungstheoriekritik ist selbst auch immer verschwörungstheoretisch, wie Bröckers ausführt. Das
ist die Kehrseite der paranoiden Prädominanz der Interpretation. Und dass die Kritik
an den Verschwörungstheorien sich deren Logik bedienen muss, bedeutet auch, dass
jede Version der Ereignisse eine Narration darstellt.
Wie aber entkommt man dann diesem paranoiden System? Oder: Gibt es überhaupt noch einen qualitativen Unterschied zwischen Verschwörungstheorien und „seriösen Darstellungen“? Ist der Wald der Narrationen ein Dickicht, aus dem man nie
wieder herauskommt?
Einige methodische Überlegungen aus den Debatten über Ereignisse und Narrationen im Rahmen der Geschichtswissenschaften könnten hier hilfreich sein. In den
neunziger Jahren gab es unter angelsächsischen und kontinentalen Geschichtswissenschaftlern eine Debatte um das Wesen historischer Erkenntnis, das heißt um den Status
des Gegenstands der Geschichtswissenschaften und um angemessene Formen der Darstellung gewesener Ereignisse. Das eine Lager betonte den fiktionalen und narrativen
Charakter jeglicher Vergangenheitsdarstellung und lief dabei Gefahr, den Unterschied
zwischen Faktum und Fiktion gänzlich einzuziehen und keine Darstellung mehr als unzutreffend benennen zu können, das andere Lager betonte den objektiven FaktenCharakter des Gegenstands der Historiker und kümmerte sich zu wenig um die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis „der“ Vergangenheit. Otto Gerhard Oexle hat
zutreffend darauf hingewiesen, dass dieser Streit eine schlechtere Neuauflage des Streits
zwischen Rankeanern und Nietzscheanern und historisch bereits differenzierterer Positionen des 19. Jahrhunderts sei; Oexle findet schon bei Droysen Formulierungen der
Auffassung, es könne keine Erkenntnis der Vergangenheit geben, und es sei naiv zu
denken, es könnten die Tatsachen zu uns sprechen. Das Material, das man in Archiven
finden könne, sei so wenig die Geschichte wie einzelne Farbpunkte bereits ein Gemälde
seien. Also sei das Gegebene der historischen Forschung weder das bloße Archivmaterial, noch „das Vergangene“ – denn das ist ja vorbei –, sondern das noch Unvergangene
der Vergangenheiten in Form von Erinnerungen und Überresten des Gewesenen und
Geschehenen. Das heißt, es geht um „Systeme von Zeichen, [...] eine Welt von Vorstellungen“
(Oexle 2000: 95). Und Oexle fasst zusammen: „Die Fakten-Fiktionen-Diskussion ist eine
„Falle““ (ebd.: 97).
Und in genau diesem Sinne ist die Anwendung eines korrespondenztheoretischen
Wahrheitsbegriffs ungünstig, wenn es um die Verschwörungstheorien zum 11. September geht. Es ist eine Falle, den Verschwörungstheorien mit der Suche nach den „richtigen Fakten“ zu begegnen. Weder spricht das Archivmaterial in Form von Ausweiskopien oder Testamenten von selbst zu uns und besagt, welche Darstellung der
Ereignisse richtig ist (wie es die Anhänge sowohl der verschwörungstheoretischen Bücher als auch seriösere Texte suggerieren), noch lässt sich überhaupt eine nichtnarrative Darstellung geben. Und wer die verschwörungstheoretische Skepsis komplett
abweist, nimmt ihre gewisse Berechtigung und ihre realen Anlässe nicht ernst oder beruft sich in naiver Weise auf die Fakten und bleibt hinter den Verschwörungstheorien
zurück. Anzuerkennen, dass alle Darstellungen Narrationen sind, muss aber nicht heißen, die Suche nach angemessenen (Re-)konstruktionen gar nicht nach der Wahrheit
auszurichten.
Kriterien für die Seriosität einer erklärenden Theorie finden sich also nicht durch das
Anschauen von Fotos oder Texten allein, sie könnten stattdessen aber durch Fragen
ausgedrückt werden wie: Welche Darstellung ermöglicht einen angemessenen Umgang
mit den Ereignissen und der Erinnerung, den Überlebenden, den Zeugen und den Tätern? Welche erklärt möglichst wenig Widersprüche weg? Welche nimmt möglichst wenig Komplexitätsreduktion vor? Welche erlaubt die Wahrnehmung möglichst vieler
Ambivalenzen? Man muss nicht so weit gehen wie Hayden White, wenn er formuliert,
dass „die Ereignisse selbst eine ‚erzähl’artige Form“ (White 2000: 147) haben, aber die Tatsache, dass die „Relativität der Darstellung [...] eine Funktion der zur Beschreibung vergangener Ereignisse benutzten Sprache“ (ebd.: 142) ist, muss auch nicht bedeuten, dass wir alle
Paranoiker oder lügnerische Schriftsteller sind, sondern stärkt die Kategorie der Verantwortung und die Freiheit: Es geht darum, welche Art von Geschichte „verantwortungsbewußt über diese Ereignisse erzählt werden kann“ (ebd.: 143). Und gegen Meyssans oben
zitierte Auffassung (Meyssan 22003: 10), dass im Herstellen von Zusammenhängen ausgerechnet Freiheit besteht, wäre es ein Zeichen von Freiheit und Verantwortung, gerade nicht immer nach großen und vollständigen Zusammenhängen „da draußen“ zu
suchen. Ohne noch auf eine naiv realistische Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen bauen zu können, lässt sich das Umschlagen der berechtigten Skepsis in wahnhafte Verschwörungstheorien nur dann verhindern, wenn die jeweiligen SprecherInnen
verantwortungsvoll mit der Macht der Sprache umgehen und die Ambivalenzen und
Widersprüche in politischen Entscheidungen, in Erklärungsversuchen des Geschehens
und vor allem in den jeweils eigenen Einstellungen thematisiert werden.
Literatur
Aust, Stefan und Cordt Schnibben (52003): 11. September. Geschichte eines Terrorangriffs, München:
Deutscher Taschenbuch Verlag.
Bröckers, Matthias (352003): Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.,
Frankfurt am Main: Zweitausendeins.
Bröckers, Matthias und Andreas Hauß (82003): Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des
11.9., Frankfurt am Main: Zweitausendeins.
Bülow, Andreas von (42003): Die CIA und der 11. September. Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste, München: Piper.
Cziesche, Dominik, Jürgen Dahlkamp, Ullrich Fichtner, Ulrich Jaeger, Gunther Latsch, Gisela
Leske, Max F. Ruppert (2003): Panoptikum des Absurden, in: Der Spiegel 37/2003, S. 58-76.
Lugowski, Clemens (1976): Die Form der Individualität im Roman, Frankfurt am Main: Suhrkamp
(zuerst Berlin, 1932).
Meyssan, Thierry (22003): 11. September 2001. Der inszenierte Terrorismus, Kassel: editio de facto.
Meyssan, Thierry (2003): Das Pentagate, Kassel: editio de facto.
Oexle, Otto Gerhard (2000): Im Archiv der Fiktionen, in: Rainer Maria Kiesow und Dieter Simon (Hg.): Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in den Geschichtswissenschaften, Frankfurt am Main: Campus, S. 87-103.
Rutschky, Michael (2003): Ich bleibe skeptisch. Falscher Zweifel, Politikverachtung und Verschwörungstheorien, in: Süddeutsche Zeitung 01.10.2003.
White, Hayden (2000): Historische Modellierung (emplotment) und das Problem der Wahrheit,
in: Rainer Maria Kiesow und Dieter Simon (Hg.): Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum
Grundlagenstreit in den Geschichtswissenschaften, Frankfurt am Main: Campus, S. 142-167.
Wisnewski, Gerhard (2003): Operation 9/11. Angriff auf den Globus, München: Knaur Taschenbuch
Verlag.
Zizek, Slavoj (2001): Willkommen in der Wüste des Realen, in: Die Zeit 20.09.2001.
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