Text - Aeternitas eV

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DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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„Deutschland ist kein Einwanderungsland“ – eine Aussage, die historische
und gegenwärtige Entwicklungen scheinbar völlig unberücksichtigt lässt, sich
aber dennoch lange Zeit als Losung für den Themenkomplex Zuwanderung
behaupten konnte. Schon ein Blick in die jüngere Geschichte des Landes zeigt
ein völlig anderes Bild: seit dem zweiten Weltkrieg wurden hier rund 15
Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Aussiedler aufgenommen.
(OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 12) Hinzu kommen „Gastarbeiter“, die entgegen der
ursprünglichen Idee nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind, sowie
deren Kinder und mittlerweile auch Enkelkinder, die den Bezug zu den
Wurzeln ihrer Eltern verloren haben und Deutschland als ihre Heimat
ansehen. Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung im Inland zum einen
und weltweite Migrationsströme zum anderen machen deutlich, dass Einund Zuwanderung in Zukunft enorm an Bedeutung gewinnen wird. Die
Entwicklung zu einer pluralistischen Gesellschaft zeichnet sich deutlich ab. Die
bereits heute in vielen Städten ausgeprägte ethnische und kulturelle Vielfalt
wird sich in den nächsten Jahren noch stärker bemerkbar machen.
Verkannte Wirklichkeit
– Deutschland war,
ist und bleibt ein
Einwanderungsland
Doch daraus erwachsen nicht nur neue Möglichkeiten und Chancen,
sondern auch Konflikte und Spannungen. Das Miteinander von In- und
Ausländern wird zu einer der Schlüsselfragen dieses Jahrzehnts.
(TELTSCHIK/SPILKER, S. 5)
Es gilt kulturelle Barrieren abzubauen und das
gegenseitige Verständnis zu fördern. MEHRLÄNDER und SCHULTZE
bezeichnen
die
Integrationspolitik
als
eine
„gesellschaftliche
Querschnittsaufgabe“, die nahezu alle Politikbereiche - angefangen bei der
Sozialpolitik bis hin zur Städtebaupolitik - miteinbezieht. (MEHRLÄNDER/SCHULTZE S.
16) Die Gestaltungsmöglichkeiten sind vielseitig, doch vor allem die
Kommunen sind gefragt. Denn hier leben, arbeiten, wohnen und sterben
letzten Endes die Menschen, hier muss Integrations(hand)arbeit geleistet
werden. Der Friedhofsplanung als kommunales Handlungsfeld ist deshalb
eine nicht zu unterschätzende Bedeutung beizumessen. Es gilt, den Toten –
unabhängig von Konfession und individueller Lebenseinstellung - würdige
Ruhestätten und den Lebenden geeignete Räume für Begegnung und
kulturellen Austausch zu bieten. Was den Umgang sowohl mit dem Thema
Migration als auch mit dem Thema Tod und Bestattung betrifft, findet
momentan ein spürbarer Bewusstseinswandel statt, der die kommenden
Dekaden nachhaltig prägen wird.
Die Gestaltung des
Miteinanders von Inund Ausländern stellt
eine „gesellschaftliche
Querschnittsaufgabe“
dar
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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STATISTISCHE DATEN
Nur wer die Vergangenheit kennt, vermag die Gegenwart zu verstehen. Erst
der Blick auf bisherige Entwicklungen macht Aussagen über die Zukunft
möglich. Von diesem Gedanken getragen, sollen im Folgenden die
wesentlichen Stationen Deutschlands auf dem Weg zum Einwanderungsland
kurz nach-, auf- und vorgezeichnet werden.
RÜCKBLICK
Abb. 1: Deutsche Auswanderer bei der Ankunft in New York am Ende des 19. Jahrhunderts.
Bei der aktuellen Diskussion über Zuwanderungsbestimmungen für
Ausländer darf nicht vergessen werden, daß Deutschland in der
Vergangenheit nicht nur Ziel- sondern auch Herkunftsregion von Millionen
von Emigranten war. Vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit wurde durch
Wanderungen von West nach Ost das geschlossene deutsche
Siedlungsgebiet vorgeschoben. Es haben sich in ganz Süd- und Osteuropa bis
weit nach Russland hinein deutsche Sprach- und Volksinseln gebildet. In der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wanderten acht Millionen Deutsche
(HERRMANN, S. 64) aus politischen und ökonomischen Gründen nach Übersee
aus. (WIDGREN/STACHER, S. 454)
Deutsche Emigranten
in Ost und West
Die sehr schnell wachsenden Industrieregionen lenkten Ende des 19.
Jahrhunderts erstmals massive Zuwanderungsströme in das Deutsche Reich.
1910 machte die ausländische Wohnbevölkerung mit 1,26 Millionen
Personen zwei Prozent der deutschen Bevölkerung aus. Die Menschen
kamen vor allem aus Österreich-Ungarn, aus Polen sowie aus den
Niederlanden, Russland und Italien. Auch die Weimarer Republik beherbergte
trotz wirtschaftlicher Rezession 1925 noch eine Million Ausländer. Während
des Zweiten Weltkrieges hielten bis zu acht Millionen Zwangsarbeiter (ohne
Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge) die deutsche Kriegswirtschaft in Gang.
1951 war die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik auf 506.000
gesunken (und stellte damit ein Prozent der Bevölkerung). (FISCHER, P., S. 1)
Ohne die menschliche
Arbeitskraft aus
fremden Landen ging
es auch vor dem
Zweiten Weltkrieg nicht
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
Abb. 2: Zur Blütezeit der „Gastarbeiterperiode“ traf in München jeden Morgen ein
Sonderzug ein, der 500 italienische Arbeiter
nach Deutschland brachte.
Abb. 3: In dieser Montagehalle in Neckarsulm war jeder zweite Arbeiter Ausländer
16
Die dynamische wirtschaftliche Entwicklung in den Nachkriegsjahren sowie
der Wiederaufbau der Bundeswehr (wofür dem Arbeitsmarkt ab 1955 ca.
500.000 Wehrpflichtige und Zivilbeschäftigte entzogen wurden)
begründeten die so genannte „Gastarbeiterperiode“ (1955 bis 1973). Der
erste Anwerbevertrag wurde mit Italien geschlossen. Es folgten Spanien und
Griechenland. Als durch den Bau der Berliner Mauer 1961 der
Flüchtlingsstrom aus der DDR und den ehemals deutschen Ostgebieten
endgültig versiegte, wurde ein weiteres Anwerbeabkommen mit der Türkei
vereinbart. Darüber hinaus machten sich im Laufe der Zeit auch noch
Gastarbeiter aus Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien auf den Weg
nach Deutschland. Hielten sich anfänglich nur einige Hunderttausend
ausländische Vertragsarbeitskräfte (1960: ca. 330.000) hier auf, so waren es
1973 knapp 2,6 Millionen Gastarbeiter sowie 1,8 Millionen nachgereiste
Familienangehörige. (FISCHER, P., S. 2, 3) Nachdem sich Anfang der 70er Jahre des
20. Jahrhunderts eine wirtschaftliche Rezession abzeichnete und
Arbeitslosigkeit drohte, verfügte die Bundesregierung 1973 einen
Anwerbestopp für Arbeitskräfte außerhalb der EG (der bis heute Gültigkeit hat
und Ausländer aus Nicht-EU-Staaten im Regelfall an einer Einreise zur
Arbeitsaufnahme hindert). (HERRMANN, S. 4) Davon ausgenommen waren
Ehegatten und minderjährige Kinder von Gastarbeitern, die im Zuge der
Familienzusammenführung nach Deutschland kamen.
2,6 Millionen
Gastarbeiter für das
Wirtschaftswunder
Anfang der 80er Jahre begann eine neue Zuwanderungsphase, die
gekennzeichnet war durch den Prozess der Familienzusammenführung. Fast
gleichzeitig setzte ein starker Zustrom von Asylbewerbern aus Osteuropa und
ferneren Ländern Südostasiens und Afrikas ein. In den Mittelpunkt der
öffentlichen Aufmerksamkeit rückte das Phänomen Migration allerdings erst in
den 90er Jahren. In diesen Zeitraum fällt ein dramatischer Anstieg der Zahl
der Asylbewerber in Westeuropa. (WIDGREN/STACHER, S. 455) Nahmen von 1953
bis 1978 durchschnittlich 7100 Personen jährlich das Asylrecht in Anspruch,
weist die Statistik im Jahr 1992 einen Höchststand von 440.000 Menschen
auf, die sich um Asyl bewarben. Einen weitaus größeren Personenkreis
umfasst die Gruppe der Flüchtlinge: 1987 hielten sich 700.000 in Deutschland
auf, 1993 war das Maximum mit 1,9 Millionen erreicht. (FISCHER, P., S. 6, 7) „Die
starke Zunahme der ausländischen Bevölkerung in Westeuropa führte in den
meisten europäischen Staaten zu einer Neuorientierung und wesentlich
Massive
Zuwanderungsströme
verursachten eine
Neuorientierung in der
Migrationspolitik
Westeuropas
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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restriktiveren Gestaltung der Migrations- und Asylpolitik.“ (WIDGREN/STACHER,
S. 455) In Deutschland äußerte sich diese Entwicklung 1993 im sogenannten
„Asylkompromiss“, der als Reformpaket Asylbewerber, Flüchtlinge,
Spätaussiedler, Werkvertragsarbeitnehmer und andere Zuwanderer betraf.
Betrug die Anerkennungsquote für Asylbewerber 1980 noch 80 Prozent, so
waren es im Jahre 2000 nur noch drei Prozent. (FISCHER, P., S. 6)
Die geschichtlichen Entwicklungen in der ehemaligen DDR können an dieser
Stelle leider nicht so genau nachgezeichnet werden, da „die Zahl der in der
DDR lebenden Ausländer nie veröffentlicht worden ist.“ (HERRMANN, S. 26) „Das
Ausmaß der Zuwanderung war im Verhältnis zur Bevölkerungszahl relativ
gering und erreichte mit maximal 200.000 Personen über die Jahre rund ein
Prozent.“ (FISCHER, P., S. 5) Auch in der ehemaligen DDR wurden seit Mitte der
1960er Jahre ausländische Arbeitskräfte angeworben und beschäftigt. Grund
waren zum einen die chronische Arbeitskräfteknappheit in der DDR und zum
anderen entwicklungs- und außenpolitische Zielsetzungen. Die Arbeiter
stammten aus „befreundeten Ländern“, also sozialistischen Staaten.
Regierungsabkommen zur Anwerbung wurden unter anderem geschlossen
mit Vietnam, Mosambik, Kuba, China, Polen und Ungarn. Ende 1989 sollen
sich rund 91.000 Vertragsarbeitnehmer hier aufgehalten haben. (HERRMANN, S.
23) Im Gegensatz zur Bundesrepublik wurde in der DDR kein Anwerbestopp
verhängt. (FISCHER, P., S. 5)
In der DDR wurden
ausschließlich Arbeiter
aus „befreundeten
Ländern“ beschäftigt –
ihre Zahl ist unbekannt
MOMENTAUFNAHME
Nach Auskunft des STATISTISCHEN BUNDESAMTES in Wiesbaden lebten im Jahr
2000 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland. Das entspricht einem Anteil an
der Gesamtbevölkerung von ca. neun Prozent. Berücksichtigt man zudem die
schätzungsweise 3,2 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler – die im Sinne
von Artikel 116 Grundgesetz nicht zur Gruppe der Ausländer zählen - sowie
die rund eine Million im Inland eingebürgerten Ausländer, liegt der Anteil der
zugewanderten Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung bei fast 12 Prozent.
(BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN) Im europäischen Vergleich rangierte Deutschland
damit im Jahr 2000 auf Platz fünf – fast gleichauf mit Österreich - nach
Luxemburg mit 35 Prozent Ausländeranteil, Belgien (24 Prozent) und der
Schweiz (19 Prozent).
Zuwanderer stellen
heute rund zwölf
Prozent der
Gesamtbevölkerung
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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Die zweitgrößte Volksgruppe in Deutschland bilden Türken mit knapp zwei
Millionen Angehörigen. Sie stellen über ein Viertel aller Ausländer in der
Bundesrepublik. Die überwiegende Mehrheit (80 Prozent) aller hier lebenden
Ausländer stammt aus Europa, wobei 1,8 Millionen – also etwa ein Viertel –
dieser Menschen über den Pass eines EU-Landes verfügen. Bei der Auflistung
von Herkunftskontinenten steht Asien mit 11,5 Prozent auf Platz zwei, gefolgt
von Afrika mit 4 Prozent. Der Anteil von Ausländern an der Gesamtbevölkerung erreicht Spitzenwerte in Frankfurt/Main (33 Prozent), Offenbach
(31 Prozent), Stuttgart (24 Prozent) und München (24 Prozent). Die Statistik
macht zudem deutlich, dass die neuen Bundesländer wesentlich geringere
Ausländerdichten aufweisen. So beträgt der Ausländeranteil in Magdeburg
rund drei Prozent, in Erfurt zwei Prozent. (FISCHER, P., ERLÄUTERUNGEN ZUR KARTE)
Jeder dritte Frankfurter
Bürger hat keinen
deutschen Pass
Wie bereits erwähnt, finden eingebürgerte Ausländer keine Berücksichtigung
mehr in der Ausländerstatistik, doch auch sie zählen zum weiten Kreis der Zuund Einwanderer (neben Asylbewerbern, Flüchtlingen, Arbeitsmigranten,
Saisonarbeitern und anderen). So erhielten im Jahr 2000 – nach Inkrafttreten
des neuen Staatsangehörigkeitsgesetztes - über 180.000 Menschen die
deutsche Staatsbürgerschaft. In Deutschland geborene Kinder ausländischer
Eltern sind seither – unter bestimmten Voraussetzungen – ohne Umwege
Deutsche. (DIE BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, FLÜCHTLINGE UND
INTEGRATION, TAB. 14) Hinzu kamen im selben Jahr noch 95.000 Spätaussiedler, die
seit 1999 automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.
(BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN) Sie gelten deshalb nicht als eingebürgert und
bilden eine eigenständige Gruppe.
180.000
Einbürgerungen im
Jahr 2000
Was die Aufenthaltsdauer der Ausländer in der Bundesrepublik anbelangt, so
sind die Menschen aus den ehemaligen Anwerbestaaten führend. Ein
Großteil von ihnen hat vor mehr als 30 Jahren das Heimatland verlassen. So
können zum Beispiel über 40 Prozent der in Deutschland lebenden Türken
auf eine über 20jährige Migrationsgeschichte zurückblicken. (DIE BEAUFTRAGTE DER
BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, FLÜCHTLINGE UND INTEGRATION, TAB. 10) Der Anteil der
über 60jährigen Ausländer lag Ende 2000 bei knapp 9 Prozent. Von den
unter sechsjährigen Ausländern wurden fast 90 Prozent in Deutschland
geboren, bei den sechs- bis 15jährigen waren es knapp zwei Drittel. (DIE
Seit über 30 Jahren in
Deutschland – oder
hier geboren
BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, FLÜCHTLINGE UND INTEGRATION, TAB. 4)
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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Wie bereits festgestellt, kommen die Zuwanderer aus allen Kontinenten dieser
Erde. Die „Aktuelle Landkarte“ weist über 210 Herkunftsländer aus. (FISCHER, P.,
ERLÄUTERUNGEN ZUR KARTE)
Was die Glaubenszugehörigkeit der Migranten
anbelangt, so gibt es leider keine eigenständigen Erhebungen. Doch mit Hilfe
des RELIGIONSWISSENSCHAFTLICHEN MEDIEN- UND INFORMATIONSDIENSTES E.V.
(REMID) lassen sich zumindest die religiösen Schwerpunkte für alle Bewohner
der Bundesrepublik festmachen. REMID führt in einer Zusammenstellung von
2001 rund 3,2 Millionen islamische Religionsanhänger in Deutschland auf.
Diese bilden neben katholischen, evangelischen und sonstigen Christen mit
knapp 56 Millionen Mitgliedern eine deutliche Mehrheit in der deutschen
Religionslandschaft. Zum Judentum sowie zum Buddhismus bekennen sich
jeweils etwa 165.000 Menschen. Der Hinduismus zählt knapp 98.000
Anhänger. Darüber hinaus existieren noch zahlreiche weitere
Religionsgemeinschaften und religiöse Bewegungen, denen rund 130.000
Menschen angehören. (UNIVERSITÄT LEIPZIG) Aus dieser Aufstellung geht weiter
hervor, dass sich über 25 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik zu
keiner Religion bekennen.
Muslime bilden die
zweitgrößte
Religionsgruppe
Der hohe Anteil an Muslimen ist zum einen auf die starke Präsenz der
türkischen Gastarbeiter und ihrer Familienangehörigen zurückzuführen. Zum
anderen stammen viele Zuwanderer aus islamisch geprägten Ländern in
Afrika und Asien (z.B. Iran, Libanon, Afghanistan und Marokko). Deutliche
Akzente in der deutschen Glaubenslandschaft setzen aber auch die
zahlreichen Migranten aus buddhistisch und hinduistisch geprägten Ländern
wie China, Indien und Sri Lanka. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass
die zunehmende religiöse Pluralität in Deutschland nicht nur auf die
Zuwanderer zurückzuführen ist. Denn auch immer mehr Deutsche wenden
sich vom Christentum ab und Glaubensgemeinschaften zu, die in anderen
Kulturkreisen vorherrschen. REMID zählt 11.000 deutschstämmige Muslime,
7.500 deutsche Hinduisten sowie rund 45.000 deutsche Buddhisten.
Konvertierte Deutsche
fördern die religiöse
Vielfalt
(UNIVERSITÄT LEIPZIG)
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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ZUKUNFTSPROGNOSEN
„Europa, insbesondere Deutschland, braucht Einwanderer, will es seinen
wirtschaftlichen und sozialen Standard halten.“ (MEIER-BRAUN, S. 9) Einen ersten
Vorgeschmack auf die Bedeutung, die der Zuwanderungsfrage in Zukunft
beizumessen ist, lieferte im Jahr 2000 die Greencard-Diskussion. Für
Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie wurde damals
eine Sonderregelung erlassen, um den seit 1973 geltenden Anwerbestopp
für ausländische Arbeitnehmer umgehen zu können. Bis April 2001 wurden
ca. 7000 auf fünf Jahre befristete Arbeitserlaubnisse erteilt. (BUNDESMINISTERIUM DES
INNEREN)
Doch gesucht sind nicht nur die hochqualifizierten
Computerexperten. Bereits heute meldet sich die Wirtschaft immer lauter zu
Wort, dass der Mangel an Arbeitskräften durch ausländische Arbeitnehmer
auszugleichen sei. Vielerorts – vor allem in den Pflegeberufen – kann z.B. auf
die hier beschäftigten bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge nicht mehr
verzichtet werden. Doch das ist erst der Anfang einer Entwicklung, die
zwangsläufig auf eine Zunahme der Zuwanderung nach Deutschland
hinauslaufen wird, „will es sein Arbeitskräftepotential erhalten und damit
Wachstumsspielraum und Wohlstand sichern.“ (MEIER-BRAUN, S. 10)
Wenn Arbeitskräfte
knapp werden, sichern
Zuwanderer den
wirtschaftlichen und
sozialen Wohlstand
Ein Grund liegt laut STATISTISCHEM BUNDESAMT in der stetigen Abnahme der
deutschen Bevölkerung. Das Hauptproblem ist dabei in der niedrigen
Geburtenrate zu sehen. In Deutschland werden seit etwa 30 Jahren deutlich
weniger Kinder geboren, als zur zahlenmäßigen Nachfolge ihrer
Elterngeneration notwendig wäre. Statistisch gesehen müsste jede Frau
mindestens 2,1 Kinder auf die Welt bringen, um den Bevölkerungsbestand
aufrecht zu erhalten, die tatsächliche Rate liegt jedoch bei 1,3 Kindern. Bleibt
das Geburtenniveau auf Dauer so niedrig, hat das langfristig eine
schrumpfende und alternde Bevölkerung zur Folge. (STATISTISCHES BUNDESAMT
DEUTSCHLAND, S. 9)
Gemäß der „9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung“ wird die Bevölkerungszahl von heute 82 auf 65 bis 70 Millionen
im Jahre 2050 absinken (bei einer Nettozuwanderung von 100.000
Menschen jährlich; ohne Zuwanderung sogar auf 59 Millionen). Bereits im
Jahr 2010 werden 300.000 Deutsche mehr sterben als geboren werden.
Die deutsche
Bevölkerung
schrumpft...
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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Doch die deutsche Bevölkerung schrumpft nicht nur, sie wird auch
zunehmend älter. Zum einen rein rechnerisch, da durch den
Geburtenrückgang immer weniger Kinder auf immer mehr ältere Menschen
kommen. Zum anderen wird die Lebenserwartung von heute 77 Jahren bis
zum Jahre 2050 um mindestens vier Jahre zunehmen. Der Anteil der über
60jährigen an der Gesamtbevölkerung lag im Jahr 2000 bei 22 Prozent. In 50
Jahren wird sich dieser Wert auf 35 bis 40 Prozent erhöhen. (STATISTISCHES
...und wird zugleich
immer älter
BUNDESAMT DEUTSCHLAND, S. 9FF)
Abb. 4: Von der Pyramide zum Pilz – die
deutsche Bevölkerung wird immer älter.
In einer Studie zur Migration und Bevölkerungspolitik ging die UN unlängst
der Frage auf den Grund, ob in der sogenannten „Bestandserhaltungsmigration“ eine Lösung für abnehmende und alternde Bevölkerungen
gesehen werden könne (ein Problem, das nahezu alle westlichen
Industrienationen betrifft). Auch für Deutschland erstellte die UN mehrere
verschiedene Szenarien, die sich an unterschiedlichen Zuwanderungszahlen
orientieren. Um die Zahl der Bevölkerung bis zum Jahr 2050 konstant zu
halten, müssten demnach rund 18 Millionen Menschen einwandern, das
entspräche einer Nettozuwanderung von 324.000 Menschen jährlich. Um
das Arbeitskräftepotential konstant zu halten, bedürfe es bereits 458.000
Zuwanderern pro Jahr. Und um das Verhältnis von Erwerbstätigen zu
Rentnern auf dem Niveau von 1995 zu halten, wären sogar 188,5 Millionen
Einwanderer aufzunehmen, die Einwohnerzahl Deutschlands würde
dadurch auf 299 Millionen bis zum Jahr 2050 ansteigen. (MEIER-BRAUN, S. 15)
Dieses Szenario ist natürlich nur ein statistisches Rechenbeispiel und wird
niemals eintreten. Doch gerade durch seine Utopie zeigt es mehr als deutlich
die Notwendigkeit von Zuwanderung für die deutsche Gesellschaft.
In Zukunft 458.000
Zuwanderer pro Jahr?
Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Schrumpfung und Überalterung
der Bevölkerung wären verheerend. Bei einem Verzicht auf Zuwanderung
würden sie sich laut OBERNDÖRFER schon innerhalb der nächsten 20 bis 30
Jahre nachhaltig bemerkbar machen: unter anderem durch den
Zusammenbruch des Immobilienmarktes und damit den Verlust gigantischer
zur Alterssicherung erworbener Vermögenswerte, den massenhaften Verlust
von Arbeitsplätzen, die Schließung von Schulen und öffentlichen
Einrichtungen, der Zusammenbruch des Rentensystems bzw. die Anhebung
der Lebensarbeitszeit auf 74 Jahre. (OBERDÖRFER, S. 28)
Ein Verzicht auf
Zuwanderung hätte
verheerende Folgen
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
Abb. 5: Members only?
22
Kann durch weitere Zuwanderung das Geburtendefizit ausgeglichen
werden? „Nein! Der Bevölkerungsrückgang und der Alterungsprozess
können durch Zuwanderung nur zeitweise aufgehalten oder verzögert
werden.“ (OBERNDÖRFER, S. 30) Denn das Fertilitätsniveau der Zuwanderinnen
gleicht sich langfristig dem der deutschen Frauen an und auch die
Zuwanderer altern. Das zentrale Problem der demografischen Entwicklung
liegt nicht in der Zahl der Bevölkerung. Ausschlaggebend ist das Profil, also die
Altersstruktur – und diese verlagert sich immer mehr zugunsten der Älteren,
bildet im Schaubild (vorherige Seite) bis 2050 einen Pilz statt einer Pyramide.
„Dennoch würde durch Zuwanderung kostbare Zeit für eine sozial
verträgliche Gestaltung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der
Geburtendefizite und vor allem auch für das Wirksamwerden einer
energischen und innovativen Politik der Geburtenförderung gewonnen
werden.“ (OBERNDÖRFER, S. 32)
Migranten schaffen
einen Zeitvorsprung für
politische Maßnahmen
Doch nicht nur demografisch bedingte – und damit gesellschaftliche und
wirtschaftliche - Eigeninteressen Deutschlands begründen eine vermehrte
Zuwanderung in der Zukunft. Eine „Festung Europa“ wird einem sich
weltweit verstärkenden Migrationsdruck auf Dauer nicht standhalten können.
Auf der einen Seite wirkt die fortschreitende Globalisierung der Kapital-,
Waren- und Arbeitsmärkte als Triebfeder, auf der anderen Seite die Flucht vor
Armut, Krieg und Hunger. Um den Globus zirkulierende Manager und
Wissenschaftler zeichnen ebenso an diesem Bild wie Bootsflüchtlinge vor den
Küsten Italiens und immer professioneller operierende Schleuserbanden.
Druck auf die „Festung
Europa“
Laut WIDGREN und STACHER überschreiten in bisher nie gekanntem
Ausmaß nicht nur Kapital und Güter nationale Grenzen, sondern auch
Menschen. Laut Schätzungen der UN-Experten für Bevölkerungsfragen
betrug die Zahl der internationalen Migranten und Migrantinnen Ende des
20. Jahrhunderts mehr als 150 Millionen, was bedeutet, dass rund 2,5 Prozent
der gesamten Weltbevölkerung außerhalb des Geburtslandes oder dem Land
ihrer Staatsbürgerschaft leben. (WIDGREN/STACHER, S. 453) Binnenwanderungen
sowie illegale Migranten sind bei dieser Zahl noch unberücksichtigt. „Die
Bedeutung der geografischen Distanz ist verlorengegangen. Eine wichtige
Rolle spielen dabei die verbesserten internationalen Kommunikations- und
Transportmöglichkeiten. Das westliche Freiheits- und Lebensmodell und sein
150 Millionen
Migranten weltweit –
geografische Distanz
spielt keine Rolle mehr
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
Glücksversprechen werden durch Fernsehbilder, Warenströme
Ferntourismus in alle Welt getragen.“ (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 10)
Abb. 6: Hunger, Kriege und das über moderne Kommunikationsmedien in alle Welt
verbreitete westliche Glücksversprechen lassen die Migranten-Ströme weiter anschwellen.
23
und
Als wichtiger Antrieb der Migration kann die beschleunigte Verstädterung
angesehen werden. Denn vor dem Verlassen des Landes steht meist eine
Binnenwanderung vom Land in die Stadt. Dieser Trend wird sich nach UNPrognosen auch in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen. „Die
Megastädte der Entwicklungs- und Schwellenländer sind die Wartesäle für die
Weiterwanderung zu den Wohlstandsländern.“ (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 10) So
wird allein für China angenommen, dass sich in den nächsten Jahren 26
Millionen Menschen jährlich auf den Weg in die boomenden
Wirtschaftsgebiete des Landes machen werden. (WIDGREN/STACHER, S. 454)
„Die Megastädte der
Entwicklungs- und
Schwellenländer sind
die Wartesäle für die
Weiterwanderungen
zu den
Wohlstandsländern“
Die Wanderungsbewegungen in die Industrieländer werden nach
Expertenmeinung aber keine unerwarteten Massenwellen sein, sondern sich
nach bekannten, vorhersagbaren regionalen Mustern entwickeln. Als Beispiel
sei an dieser Stelle die Flüchtlingsmigration genannt, bei der es sich vor allem
um eine Süd-Süd-Migration handelt. Neun von zehn Flüchtlingen bleiben in
den Herkunftsregionen der Dritten Welt, Europa erreicht nur ein kleiner
Bruchteil dieser Menschen. Mit dem Ende des stabilisierenden Ost-WestGegensatzes werden jedoch auch in Ost- und Südosteuropa
bürgerkriegsträchtige Konflikte freigesetzt, die zu einem innereuropäischen
Flüchtlingsproblem führen können. Wie stark die Wanderungs- und
Flüchtlingsströme aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion anschwellen
werden, ist ungewiss. Aber wiederaufbrechende und eskalierende
Nationalitätenkonflikte sowie Schwierigkeiten bei der Umstellung auf ein
marktwirtschaftliches System könnten einen großen Schub auslösen.
Wanderungsbewegungen in die
Industrieländer folgen
vorhersagbaren
Mustern
(OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 10, 11)
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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BEGINNENDER BEWUSSTSEINSWANDEL
„Die meisten Industrieländer stehen mit der Einwanderungsfrage vor einem
neuen sozialen Thema, mit dem sich gravierende gesellschaftliche
Veränderungen anbahnen.“ (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 7) Ein entsprechender
Bewusstseinswandel
ist
bereits
deutlich
spürbar:
eine
neue
Zuwanderungsgesetzgebung versieht das Thema mit anderen Vorzeichen
und stellt eine vom Abstammungsprinzip getragene Gesellschaft in Frage.
Auch die Mehrheit der Zuwanderer sieht ihren Aufenthalt in der
Bundesrepublik aus einer veränderten, dauerhaften Perspektive; die Rückkehr
ins Heimatland verliert an Bedeutung. Die Abkehr von traditionellen
Sichtweisen lässt In- wie Ausländer nach neuen Formen der Lebens- und
Trauerkultur suchen.
Menschen und
Gesellschaft im
Umbruch
...IN DER GESELLSCHAFT
Abb. 7: Deutschland ist doch ein
Einwanderungsland – der viel diskutierte
Entwurf für ein neues Zuwanderungsgesetz
steht für einen Wechsel in der politischen
Blickrichtung.
Das Thema Zuwanderung war in Deutschland lange Jahre tabuisiert und
politisch unpopulär. Es galt die Maxime: Deutschland ist kein
Einwanderungsland. Doch die Greencard-Diskussion gab den Impuls für
einen Wechsel der Blickrichtung. Im Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz
(2002) wurde schließlich erstmals ein neues Bild gezeichnet: „Deutschland ist
ein Einwanderungsland geworden“, stellte die mit der Erarbeitung eines
Zuwanderungsgesamtkonzeptes für Deutschland beauftragte unabhängige
Kommission
„Zuwanderung“
in
ihrem
Abschlußbericht
fest.
Wanderungsbewegungen hätten die Entwicklung der deutschen
Gesellschaft und ihre heutige Zusammensetzung tiefgehend und nachhaltig
beeinflusst. Laut der Zuwanderungskommission sei es eine „wirtschaftliche,
gesellschaftliche und politische Notwendigkeit, die künftige Zuwanderung zu
akzeptieren und zum Wohle unseres Landes zu bejahen und aktiv zu
gestalten.“ (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN)
Aufkeimendes
Selbstverständnis als
Einwanderungsnation
Die positiven Effekte von Einwanderung stehen in jüngster Zeit im
Vordergrund. „Typische Ausländerprobleme“ – wie Kriminalität, Gettobildung,
Extremismus - vermögen nicht mehr die Diskussion zu dominieren. Es wird
nach der Notwendigkeit und dem Nutzen einer gezielten Einwanderung
gefragt, nach dem Potential, das der Einzelne in die Gesellschaft einbringen
Es entsteht ein
Wettbewerb um
besonders qualifizierte
Einwanderer –
attraktive Bedingungen
schaffen Marktvorteile
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
25
kann. „Heute findet weltweit ein neuer Wettbewerb um Einwanderung statt.
Hierbei steht Deutschland in Konkurrenz zu den USA, die auf eine lange
Tradition von Einwanderung zurückblicken kann.“ (MEHRLÄNDER/SCHULTZE, S. 13)
Will Deutschland im internationalen Wettbewerb um besonders qualifizierte
Einwanderer nicht leer ausgehen, so muss es nicht zuletzt attraktive
Lebensbedingungen schaffen und Möglichkeiten bieten, hier heimisch zu
werden. Das Wohlstandsversprechen einer Industrienation allein ist hierfür
nicht ausreichend.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung vollzieht sich derzeit in der langsamen
Abkehr vom sogenannten Abstammungsprinzip, „einem veralteten
Staatsverständnis“, das die Zugehörigkeit zu einem ‚Volk’ vor allem an
ethnischen Kriterien festmachte. (MEHRLÄNDER/SCHULTZE, S. 10) Maßgeblich sind
gemäß dieser Weltanschauung also die Vorfahren, nicht die Bindung an ein
Staatsterretorium und an eine für die Demokratie vorauszusetzende Kultur.
Genau dies zeichnet jedoch Einwanderungskulturen aus: jedem
Neuankömmling wird zuerkannt, bei entsprechendem Bekenntnis zu Staat
und Verfassung, ein gleichberechtigter Staatsbürger zu werden, mit allen
Rechten und Pflichten. Dort geborene Kinder erhalten automatisch die
Staatsbürgerschaft des Einwanderungslandes, unabhängig von der Herkunft
der Eltern. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht wurde auch in
Deutschland ein entsprechendes Zeichen gesetzt, doch sowohl in politischen
Verfahrensweisen wie in den Köpfen der Menschen ist die ethnisch-kulturelle
Ideologie immer noch präsent: „Das Abstammungsprinzip kann grundsätzlich
den Sonderstatus der Zugehörigkeit zur Ausländerminorität über
Generationen hinweg auf Dauer stellen.“ (NAUCK, S. 253) Daraus sind jedoch
schwerwiegende Integrationsprobleme erwachsen (vgl. Kapitel II „Integration als Zukunftsaufgabe“). Denn eine derartige Sichtweise verhindert,
dass Mehrheit und Minderheiten in einem Land ein Wir-Gefühl entwickeln.
Dieses fehlende Gemeinschaftsdenken führt wiederum zu einer
Mosaikgesellschaft. (WELT, S. 33) Eine Identifikation mit dem Aufnahmeland ist so
nur schwerlich möglich.
Abkehr vom
Abstammungsprinzip
erleichtert die
Identifikation mit dem
Aufnahmeland
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
...BEI
DEN
26
MIGRANTEN
Zu Beginn der Gastarbeiterperiode in Deutschland stand für Deutschland fest,
dass es sich bei der Ausländerbeschäftigung um ein vorübergehendes
konjunkturelles Phänomen handelt. Die Menschen wurden gerufen und
kamen in der Absicht, ein paar Jahre hier zu arbeiten und dann wieder in die
Heimat zurückzukehren. Doch aus vielen Gastarbeitern sind mittlerweile
Dauereinwanderer geworden, auch wenn sie im Herzen häufig immer noch
den Wunsch nach der Rückkehr tragen. Die Gründe dafür sind vielschichtig:
zum einen politisch bedingt – nach dem Anwerbestopp war eine erneute
Einreise nicht mehr möglich, was viele Gastarbeiter zum Bleiben bewog. Zum
anderen gaben natürlich auch wirtschaftliche und menschliche Gründe – wie
die Verbesserung des Lebensstandards sowie die zunehmende Entfremdung
von der Heimat - den Ausschlag.
Aus Gastarbeitern sind
Dauereinwanderer
geworden
Eine im Jahr 2000 durchgeführte Repräsentativbefragung kommt zu dem
Ergebnis, dass die Hälfte der Migranten aus den ehemaligen Anwerbeländern
dauerhaft in Deutschland bleiben will. (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN) Etwa ein
Drittel der türkischstämmigen Migranten, die sich seit mehr als 20 Jahren in
Deutschland aufhalten, hegt noch die Absicht, in die Türkei zurückzukehren.
Von den in Deutschland geborenen Türken sind es rund 17 Prozent. Die
Bundesrepublik wird zunehmend als neue Heimat angesehen, wovon auch
das steigende Interesse an einer Einbürgerung Zeugnis ablegt. Knapp 22
Prozent Der Migranten aus den ehemaligen Anwerbeländern geben an,
„sehr interessiert“ an einem deutschen Pass zu sein, weitere 36 Prozent sind
„etwas interessiert“. Ein Drittel der Angehörigen der zweiten Generation
begreifen sich laut des Statistischen Bundesamtes bereits als Deutsche. „Es
zeigt sich, dass ein großer Teil der Zuwanderer bereits heute über
Bleibeabsichten verfügt und daher einen dauerhaften Bestandteil der in
Deutschland lebenden Bevölkerung ausmachen wird.“ (BUNDESMINISTERIUM DES
Weniger als 20 Prozent
der in Deutschland
geborenen Türken sind
an einer Rückkehr ins
Heimatland der Eltern
interessiert
INNEREN)
Auf die ehemaligen Gastarbeiter – und dabei insbesondere die Türken - wird
in diesem (und auch im folgenden) Abschnitt deshalb in besonderer Weise
eingegangen, da sie die größte Gruppe unter den Ausländern in
Deutschland bilden und zudem eine sehr markante Wandlung im Laufe ihrer
Die meisten
Zuwanderer streben
einen dauerhaften
Aufenthalt an
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
27
Migration vollzogen haben. Für viele anders motivierte Zuwanderer stand
und steht bereits von vorneherein fest, dass sie sich nach Möglichkeit
dauerhaft in der Bundesrepublik niederlassen wollen. Dies gilt vor allem auch
für zukünftige Migranten, die im Zeichen einer neuen Zuwanderungspolitik
ins Land kommen werden.
...IM UMGANG
MIT DEM
TOD
IN DER
FREMDE
Als „Migrationsproblem par excellence“ beschreiben HÖPP und JONKER den
Tod in einem fremden Land. „Die Entscheidung für das Begräbnis in fremder
Erde ist ein entscheidender, vielleicht der entscheidenste Schritt im langen
Prozeß, sich an das neue Land zu gewöhnen. Wer sich entscheidet, den
eigenen Körper darin zu betten, bindet die nachfolgenden Generationen an
dieses Stück Erde. Wer die Wahl trifft, seine Toten in einem fremden Land bei
sich zu bestatten, erschafft sich endgültig eine neue Heimat und lockert die
Bindung an die alte. Schließlich zwingt dieser Schritt zu einer Neuordnung
der Vergangenheit: Mit der Eröffnung eines Grabes schlagen die
Überlebenden gewissermaßen einen neuen Abschnitt ihrer Geschichte auf,
die nunmehr dem neuen Land gehört.“ (HÖPP/JONKER, S. 7)
„Wer die Wahl trifft,
seine Toten in einem
fremden Land bei sich
zu bestatten, erschafft
sich endgültig eine
neue Heimat“
Wie bereits erwähnt, wurde und wird die Migration von vielen Gastarbeitern
der ersten Generation als „Provisorium“ angesehen, das sich erst mit der
Rückkehr ins Heimatland auflöst. Dieser Sachverhalt wird in der
Migrationsforschung als „Rückkehrillusion“ bezeichnet. Dabei handelt es sich
um eine psychische Verdrängung, um mit der Realität fertig zu werden, daß
die Migrationsziele – die eine Rückkehr miteinschließen – nicht erreicht
wurden. „Wenn es aber etwas gibt, das durch die ‚Rückkehrillusion’ am
meisten aus dem Bewusstsein getilgt wird, dann ist es die Vorstellung, daß
man eines Tages in der Fremde sterben könnte, und zwar sterben, ohne sein
Migrationsziel erreicht zu haben. Denn der Tod macht jede noch so
illusionäre Vorstellung von der Rückkehr zunichte. Er bringt bei den
Hinterbliebenen auf geradezu dramatische Weise die verdrängte Angst zum
Vorschein, dass es jedem von ihnen so ergehen könnte.“ (TAN, S. 126, 127)
„Rückkehrillusion“
verdrängt den Tod aus
dem Bewusstsein
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
28
Diese Illusion zum einen und die mangelnden Chancen zu einer Identifikation
mit dem Aufnahmeland zum anderen, lassen die Migranten an
kulturspezifischen Verhaltensweisen in der Fremde festhalten. In besonderer
Weise gilt dies für die Traditionen im Bestattungsbrauchtum. (BLACH, S. 71) Das
begründet die heute noch sehr gängige Praxis, verstorbene Migranten in ihr
Heimatland rückzuüberführen und dort bestatten zu lassen, wie dies vor allem
bei türkischen Muslimen der Fall ist. Der Verstorbene und die Hinterbliebenen
verstehen darin einen Versuch, die Migration wenigstens symbolisch noch zu
einem Abschluss zu bringen. Außerdem sind die Möglichkeiten für eine
Beisetzung nach islamischen Vorschriften in der Bundesrepublik nur
beschränkt gegeben. Obwohl die Rücküberführung des Leichnams ebenfalls
im Widerspruch zu den Bestattungsvorschriften steht und zudem hohe
Kosten verursacht, wählt ein Großteil der Türken in Deutschland diesen Weg.
Durch die Überführung
der Verstorbenen ins
Heimatland wird die
Migration wenigstens
symbolisch
abgeschlossen
Es gibt keine genauen Zahlen, wieviele türkische Muslime sich derzeit auf
deutschen Friedhöfen bestatten lassen, doch der Anteil liegt momentan bei
maximal zehn Prozent. (KOKKELINK, S. 63) In erster Linie Kinder und finanziell
schlechter Gestellte finden ihre letzte Ruhe fern der Heimat. Doch auch hier
macht sich langsam ein Bewusstseinswandel bemerkbar. Die sozialen und
verwandtschaftlichen Bindungen zum Heimatland werden immer brüchiger
oder fehlen ganz – was vor allem für im Aufnahmeland geborene Migranten gilt.. Die Lebensorientierung verlagert sich infolge dessen zunehmend
nach Deutschland. Starke verwandtschaftliche Bindungen geben ebenfalls
häufig den Ausschlag für eine Beisetzung „vor Ort“, um den räumlichen
Bezug zu den Verstorbenen zu wahren. (BLACH, S. 71)
Der räumliche Bezug
zwischen Lebenden
und Toten gewinnt an
Bedeutung
Von der enormen Bedeutung des kulturspezifischen Bestattungsbrauchtums
in der Migration war bereits die Rede. Auf die Einhaltung der aus der Heimat
mitgebrachten Traditionen wird oftmals großer Wert gelegt. Dies geschieht
nicht nur, um den Toten eine würdige Beisetzung und letzte Ruhestätte zuteil
werden zu lassen, sondern auch, um die gemeinsamen Wurzeln und damit
die eigene Identität zu betonen. Selbst bei Migranten, die sich bewusst dafür
entschieden haben, für immer in Deutschland zu bleiben, behalten die
vertrauten Bestattungsbräuche ihre Gültigkeit. (BLACH, S. 71) Aber
Assimilierungsprozesse bleiben auch in dieser Hinsicht nicht aus. Denn nicht
alle Traditionen bezüglich der Trauerrituale, der Bestattungspraxis und der
Bestattungstraditionen
lassen sich nicht ohne
weiteres in ein anderes
Land übertragen
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
29
Grabmalgestaltung lassen sich 1:1 in ein anderes Land übertragen, oftmals
sind Anpassungen an die dort geltenden Vorschriften und Verfahrensweisen
notwendig. Gerade die Professionalität, die im deutschen Bestattungswesen
vorherrscht, steht im starken Widerspruch zu vielen Kulturen, in denen der
Einzelne und die Gemeinschaft wesentlich intensiver in den Ablauf eines
Todesfalles und der Beisetzung eingebunden sind. Doch nicht nur die
unumgängliche Kompetenzverlagerung auf Institutionen steht der
mitgebrachten Tradition im Weg, meist fehlen vor Ort auch die in der Heimat
gegebenen sozialen und organisatorischen Strukturen, was wiederum
veränderte Verhaltensweisen im Trauerfall nach sich zieht. (BLACH, S. 15)
Abb. 8: Dieses muslimische Grab in
Frankfurt am Main macht deutlich, dass das
Bestattungsbrauchtum in der Migration
Wandlungen durchläuft. Die
vorherrschenden Gestaltungsmuster – wie
Grabstein und Blumenschmuck – wurden
hier weitgehend übernommen.
Als Beispiel sei an dieser Stelle das bei türkischen Muslimen übliche Tragen der
Bahre bzw. des Sarges als Zeichen der Ehrerbietung (der Sarg selbst stellt
bereits eine Anpassung an die Aufnahmegesellschaft dar, da die Vorschriften
eigentlich ein - in Deutschland meist nicht zulässiges – Leichentuch zur
Bestattung vorsehen). Durch die Migrationssituation fällt diese Handlung weg.
„Die Verschiebung des Sterbens und des Trauerns hinter die Kulissen von
Institutionen, die typisch für die postmodernen Wohlfahrtsgesellschaften ist,
überträgt ihren Geltungsbereich nunmehr auch auf die Migranten.“ (TAN, S.
119) Hindus sehen sich wiederum mit dem Problem konfrontiert, dass es in
Deutschland nicht zulässig ist, die Asche der Verstorbenen - gemäß ihrer
religiösen Weltanschauung und Tradition - in ein Fließgewässer zu streuen.
Die Urnen werden deshalb meist in Kolumbarien bestattet oder in das
Herkunftsland überführt (auf die kulturellen Konflikte, die sich aus der
Konfrontation mit dem deutschen Bestattungsrecht ergeben, wird in Kapitel
VI, „Theoretische Planungsgrundsätze“, noch detaillierter eingegangen).
Gesetzliche
Vorschriften
versus Brauchtum
Dass das Bestattungsbrauchtum in der Migration Wandlungen durchläuft
und z.T. auch freiwillig Elemente der vorherrschenden Kultur aufnimmt, zeigt
sich am deutlichsten in der Grabmalgestaltung. Sowohl jüdische wie
islamische Gräber weisen hierzulande oftmals Blumenschmuck auf, obwohl
dies die Tradition nicht vorsieht. Grabinschriften gleichen sich an, Insignien
der Trauer werden einfach übernommen oder ein wenig überformt und
somit der eigenen Kultur angepasst. Doch Beeinflussung und Inspiration von
Kulturen ist kein einseitiger Vorgang. Dies zeigt sich beispielsweise momentan
im noch zaghaft vernehmbaren Ruf im deutschen Bestattungswesen nach
Kulturen beeinflussen
sich gegenseitig
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
30
der allgemeinen Bestattung in Leinentüchern anstatt in Särgen – der besseren
Zersetzung und damit Verkürzung der Ruhezeiten willens. (KOKKELINK, S. 72)
...IN DER
DEUTSCHEN
TRAUERKULTUR
Das Bestattungsbrauchtum einer Kultur ist also nichts Statisches, es unterliegt
der Veränderlichkeit und folgt dabei dem Zeitgeist. Allein der Vergleich
zwischen dem mittelalterlichen Kirchhof und einem modernen Friedhof
macht deutlich, wie stark sich die Sepulkralkultur in Deutschland gewandelt
hat. Das 20. Jahrhundert war – was die Friedhofskultur anbelangt – noch in
den bürgerlichen Strukturen des. 19. Jahrhunderts verhaftet, die Trauerriten
glichen sich den rasch voranschreitenden gesellschaftlichen Entwicklungen
an. Der Anfang des 21. Jahrhunderts steht im Zeichen eines gewaltigen
geistigen Wandels, der gravierende Auswirkungen auf die Spulkralkultur der
kommenden Jahrzehnte haben wird.
Auch das
Bestattungsbrauchtum
folgt dem Zeitgeist
Gehörte das Erleben von Sterben und Tod noch vor wenigen Generationen
zu den grundlegenden Erfahrungen eines jeden Menschen, so wurde die
zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts entscheidend geprägt von einer
Verdrängung und Tabuisierung dieses Themas. Der Tod wird verschwiegen
und aus dem Leben verbannt, die Trauer um Verstorbene zunehmend zur
„Privatsache“ erklärt. Die verbesserte medizinische Versorgung und die damit
gestiegene Lebenserwartung der Menschen haben den Tod zu einem
Ausnahmefall werden lassen, mit dem der Einzelne z.T. jahrelang nicht in
Berührung kommt.
Tod und Sterben ist
„Privatsache“
Mit dieser Entwicklung ging eine Bürokratisierung und Rationalisierung des
Bestattungswesens einher, getragen vom Effizienzdenken der Moderne. Die
Abläufe bei Tod und Bestattung wurden in funktionale Einzelelemente
zerlegt und zwischen Bestattungsunternehmern und Friedhofsverwaltungen
aufgeteilt. FISCHER spricht in diesem Zusammenhang von „einer Art
Enteignung, die den modernen Umgang mit dem Tod prägt.“ (FISCHER, N., S. 92,
93) Die Rolle der Gemeinschaft in der Bewältigung eines Trauerfalles
übernehmen fremde Menschen. Das Bestattungsbrauchtum wird
institutionalisiert, Riten und Traditionen verlieren an Bedeutung.
Im Bestattungswesen
zählt Effizienz
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
31
Der Geist dieser Zeit findet auch auf den Friedhöfen Einzug.
Kommerzialisierung, Trivialisierung, Konsum sind die Schlagworte einer Ära, in
der religiöse Zeichen immer mehr ersetzt werden durch massenmedial
übermittelte Symbole. Die Bestattungsriten passen sich an die Alltagskultur
und die Alltagsästhetik der Menschen an. (SCHINDEHÜTTE, S. 8) Schränkte bereits
die Friedhofs- und Grabmalsreform des frühen 20. Jahrhunderts die
Individualität des Totengedenkens auf den Begräbnisplätzen stark ein (FISCHER,
N., S. 92, 93), so beherrschen Uniformität und Trostlosigkeit die Grabmäler und
Friedhöfe des ausgehenden letzten Jahrhunderts. Am Ende dieser – bzw. am
Anfang einer neuen – Entwicklung steht die sich deutlich abzeichnende
Tendenz zur Urnenbestattung sowie zur freiwilligen anonymen
Rasenbeisetzung, die keinen Ort der Erinnerung, des Gedenkens und der
Trauerverarbeitung zurücklässt.
Kein Platz für
Individualität
Die Abkehr vom Grabmalkult, der auf die klassische, individuelle
Gedächtniskultur des bürgerlichen Zeitalters im 19. Jahrhundert zurückgeht
(FISCHER, N., S. 84) zeigt deutlich, dass Erstarrtes in der Sepulkralkultur in
Bewegung gerät. RICHTER und NOHL interpretieren in einer Studie über
friedhofskulturelle Entwicklungstendenzen den Trend zu bescheideneren und
sachlicheren
Bestattungsformen
folgendermaßen:
das
Verdrängungsverhalten der Menschen lässt zumindest ansatzweise nach. Tod
und Sterben werden wieder mehr als Teil des Lebens aufgefasst. Die Autoren
sehen darin die mentalen Voraussetzungen für eine Erneuerung der
Friedhofskultur. (RICHTER/NOHL, 2001, S. 20) „Die gesellschaftlichen, kulturellen und
technischen Veränderungen im postindustriellen Zeitalter haben alte, über
Jahrzehnte hinweg eingeschliffene Denk- und Verhaltensmuster aufgelöst.
Neben und abseits der gewohnten Institutionen sind neue Lebenswelten
entstanden, die mit Stichwörtern wie Individualität, Flexibilität, Pluralität und
ziviles Engagement charakterisiert werden.“ (FISCHER, N., S. 83)
Erstarrtes gerät in
Bewegung – der Tod
wird wieder als
Bestandteil des Lebens
anerkannt
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
Abb. 9: Eine unwirtliche „Steinwüste“ –
hervorgegangen aus dem Grabmalkult des
bürgerlichen Zeitalters.
32
Zwischen Leben und Tod werden wieder mehr Bindeglieder geschaffen, z.B.
durch AIDS-Selbsthilfebewegungen und die – in Form von lokalen Gruppen
bereits vielerorts anzutreffende – Hospizbewegung. Diese „Vermittler“
brechen Tabus und betrachten das Thema Sterben, Tod und Trauer als
ganzheitliches Phänomen. Sie legen durch ihre meist ehrenamtliche Arbeit
aktives Zeugnis ab für eine Gesellschaft, in der sich eine neuartige Humanität,
Solidarität und Selbstbestimmung bemerkbar macht. „Eben diese Aspekte
zählen zu den wichtigsten Bausteinen eines neuen Umgangs mit dem Tod.
Sie speisen jene Fantasie und Kreativität, die zu veränderten kulturellen
Mustern führt.“ (FISCHER, N., S. 94 - 95)
Neue Humanität bricht
mit alten Tabus
FISCHER führt in diesem Zusammenhang neue Formen praktischer Trauer an,
die momentan jenseits der Leichenhallen, Krematorien und Friedhöfen
entstehen. Gemeinschaftliche Trauer- und Erinnerungsfeiern finden in eigens
dafür eingerichteten Privaträumen statt. Persönliche Texte und Musik statt
christlicher Liturgie bei Trauerfeiern und selbst angemalte Särge sind nur
einige Beispiele für diese Entwicklung. (FISCHER, N., S. 95) Das Bedürfnis der
Menschen nach mehr Mit- und Selbstbestimmung und Kreativität in der
Trauerkultur (RICHTER/NOHL, 2001, S. 20) macht sich also bereits deutlich bemerkbar.
Bedürfnis nach mehr
Mitbestimmung in der
Trauerkultur
Die veränderte Geisteshaltung hat natürlich auch Auswirkungen auf die
Grabmäler und Friedhöfe. Wie bereits erwähnt, entscheiden sich immer mehr
Menschen für die Feuerbestattung. Dies gilt vor allem für städtisch geprägte
Regionen sowie für die östlichen Bundesländer (wo das anonyme Rasengrab
aus ideologischen Gründen gefördert wurde) und die skandinavisch
beeinflusste Gebiete Norddeutschlands, wo einfache Rasengräber
vorherrschend sind. (FISCHER, N., S. 86) In den Fluchten der Reihen- und
Wahlgrabstätten auf den Zentralfriedöfen klaffen stellenweise große Lücken,
die Bestattungsfläche pro Einwohner reduziert sich stetig. Andernorts
entstehen dafür Friedwälder nach schweizerischem Vorbild, in denen Bäume
statt Grabsteine an die Verstorbenen erinnern. Der Ruf nach einer Aufhebung
des Friedhofszwanges für Aschenbeisetzungen wird lauter. Der Friedhof als
klassischer Ort des Todes steht zur Diskussion. (FISCHER, N., S. 95) Zudem erfährt
auch das stark reglementierende Bestattungsrecht, insbesondere die
Friedhofssatzungen, immer heftigere Anfeindungen.
Wiesen und Wälder
beleben die
Steinwüsten
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
Abb. 10: Immer mehr Menschen wünschen
sich schlichte Ruhestätten anstatt pompöser
Grabanlagen. Das Foto zeigt eine
Urnenwiese auf einem holländischen
Privatfriedhof.
33
Denn diese Vorschriften stehen im direkten Widerspruch zu einer heterogen
strukturierten Gesellschaft, in der Pluralisierung und Individualisierung weiter
voranschreiten werden. RICHTER und NOHL rechnen in nächster Zukunft mit
einer deutlichen Anreicherung und Ausdifferenzierung der Trauerkultur.
(RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 20) Die mit den vielfältigen Lebensstilen verbundene
Optionsfülle – Spielräume, die die Menschen auch im Umgang mit Tod und
Trauer
nutzen
wollen
–
setzen
deshalb
bürgerfreundliche
Verwaltungsstrukturen voraus. „Die Verwaltungen der Beisetzungsstätten
werden den friedhofskulturellen Aktivitäten einzelner Gruppierungen
wohlwollend gegenüberstehen und den Gestaltungswillen der Betroffenen
bezüglich des Friedhofsraumes wie der Bestattungs, Trauer- und
Erinnerungsrituale aktiv unterstützen müssen.“ (RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 21)
Verwaltungen müssen
auf Veränderungen in
der Trauerkultur
reagieren
Für die Herausbildung von neuen Organisations- und Verwaltungsstrukturen
spricht nicht nur der sich weiter ausprägende Selbst- und
Mitbestimmungswille der Menschen, sondern auch die zunehmende Präsenz
von ethnischen Gruppen, die sich in Deutschland im Sinne ihrer Religion und
ihres eigenen Bestattungsbrauchtums beisetzen lassen möchten. Hinzu
kommen anderweitig – also weder ethnisch noch religiös – motivierte
Gruppen, die ebenfalls ihrer individuellen Orientierung in den
Beisetzungsräumen Ausdruck verleihen wollen. „Ob dabei die vielen großen
und kleinen Gruppen, die einheimische Majorität, die ethnischen
Minderheiten, die traditionellen und die ‚modernen’ Gruppierungen so etwas
wie einen gemeinsamen Bestattungsort aufbauen können, hängt davon ab,
wie die Gruppen miteinander umgehen.“ (RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 20) RICHTER
und NOHL warnen in diesem Zusammenhang davor, dass sich desintegrative
Tendenzen auch auf den Friedhöfen ausbreiten können. Für das
Friedhofswesen der Zukunft schlagen sie deshalb vor, „dass die jeweiligen
Betroffenen die kulturellen Angelegenheiten in ihren Beisetzungsstätten
derart miteinander aushandeln, dass alle Beteiligten sich in ihrer kulturellen
Eigenart aufgehoben fühlen.“ (RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 21) Dies ließe sich z.B.
über Friedhofsbeiräte erreichen, die zwischen den Gruppen – die sich als
kooperative und solidarische Partner einbringen können - vermitteln und zu
gemeinsamen Aktionen motivieren. (RICHTER/NOHL, S. 2001, S. 22)
Wo verschiedene
Kulturen aufeinander
treffen, muss vermittelt
werden
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
34
Und wie wird nun der „Friedhof der Zukunft“ aussehen? Fest steht vor allen
Dingen eines: in einer Gesellschaft, in der es keine einheitliche Trauer- und
Bestattungskultur gibt, wird keine Einheitlichkeit hinsichtlich Form, Stil und
Gestalt der Beisetzungsplätze herrschen. Nachdem sich die Trauerkultur
derzeit im Umbruch befindet, die Tradition bei vielen Menschen als überholt
gilt und sich neue Formen der Beisetzung, der Trauer und des Gedenkens
erst noch herausbilden müssen, werden die künftigen Friedhöfe auch
Experimentier- und Versuchscharakter besitzen. Zudem stehen die
Beisetzungsstätten im Spannungsfeld zwischen kulturellem Beharren und
kulturellem Wandel in den verschiedenen Gruppierungen. (RICHTER/NOHL, S. 2001,
S. 22) Diese Spannungen abzubauen, sollten alle am Bestattungswesen
Beteiligten als Herausforderung und Aufgabe für die Zukunft ansehen. Denn
die Beisetzungsplätze sollen nicht Austragungsort von ideologischen
Konflikten sein, sie sollen den Toten eine würdige Ruhestätte bieten und den
Lebenden die Möglichkeit zum Gedenken sowie zur gegenseitigen
Annäherung.
Die Friedhöfe der
Zukunft haben
Experimentiercharakter
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
35
ZUSAMMENLEBEN NEU GESTALTEN
Wenn in einem Land Menschen aus über 210 Staaten der ganzen Welt
zusammen leben, so kann man wohl zurecht von einer multiethnischen und
damit auch multikulturellen Gesellschaft sprechen. Gerade in den Städten ist
die durch Zuwanderung entstandene ethnisch-kulturelle Vielfalt deutlich
wahrnehmbar. Doch was für den einen eine willkommene Bereicherung
darstellt, ist in den Augen des anderen eine Bedrohung der eigenen
Existenzgrundlage. Da in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mehr
Zuwanderer nach Deutschland kommen und diese häufiger als bisher aus
Ländern mit größerer „kultureller Distanz“ und anderen Religionen stammen
werden, (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 27) sind neue Wege für ein friedvolles
Zusammenleben zu suchen und einzuschlagen. Die aktive Integration von
Zuwanderern ist als Zukunftsaufgabe anzusehen, zu deren Bewältigung ein
jeder – Einheimischer wie Fremder – etwas beitragen kann und muss.
Andernfalls werden sich bereits deutlich spürbare Verstimmungen im
Umgang miteinander zu unüberwindbaren Konflikten auswachsen, die das
Potential besitzen, den inneren Frieden des Landes empfindlich zu
beeinträchtigen.
DAS WESEN
Abb. 11: Die durch Zuwanderung
entstandene ethnisch-kulturelle Vielfalt ist
vor allem in den Städten deutlich
wahrnehmbar.
DER MULTIKULTURELLEN
Kulturelle Distanzen
lassen sich nur
gemeinsam
überwinden
GESELLSCHAFT
Wenn die Autoren im folgenden den Begriff „multikulturell“ verwenden, so
steht dieser einzig für den kulturellen Pluralismus, wie er in modernen
Gesellschaften typisch ist. Dies ist nicht zu verwechseln mit „Multikulturalismus“
– einem gedanklichen Konstrukt zur Organisation des Zusammenlebens.
Nach OBERNDÖRFER und BERNDT ist die Kernvorstellung des sogenannten
„Multikulturalismus“ eine positive Bewertung der ethnischen und kulturellen
Vielfalt, „verbunden mit der moralisch-normativen Forderung nach Toleranz“.
(OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 27) Hinter dem Begriff „multikulturelle Gesellschaft“
verbergen sich verschiedene Konzepte, die auf einem gemeinsamen
Grundgedanken basieren: Integration statt Assimilation. Unter Assimilation ist
in diesem Zusammenhang die völlige Angleichung an den im Aufnahmeland
vorherrschenden Lebensstil zu verstehen, einhergehend mit der Aufgabe der
eigenen kulturellen Identität. Eine Integration unter multikulturellen
Vorzeichen sieht eine schrittweise Eingliederung von Migranten in die
Was verbirgt sich
hinter dem Begriff
„multikulturell“?
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
36
Aufnahmegesellschaft vor, unter Beibehalt von kulturellen bzw. religiösen
Eigenheiten – insofern diese nicht gegen die grundgesetzliche Ordnung
verstoßen (vgl. auch „Integration als Zukunftsaufgabe“ in diesem Kapitel).
Durch Überstrapazierung, Fehlinterpretationen und Instrumentalisierung
durch rechtsgerichtete Gruppen hat der Begriff „multikulti“ jedoch in den
letzten Jahren eine negative Besetzung erfahren. Während sich die einen
einer allzu romantischen Vorstellung des konfliktfreien Neben- und
Miteinanders verschiedener Kulturen hingaben, wuchsen bei den anderen
die Ängste vor „Überfremdung“ und Verlust der eigenen kulturellen
Indentität. Denn die Mehrheit der deutschen Bevölkerung orientiert sich nach
wie vor am „Leitbild einer angeblich homogenen endogenen Kultur“.
(OBERNDÖRFER, S. 42) Doch dieses ist trügerisch, da die westlichen
Industriegesellschaften – selbst wenn Ethnien unberücksichtigt blieben derart stark ausdifferenziert sind und einen kulturellen Pluralismus aufweisen,
der die Definition einer einheitlichen „Mehrheits-Kultur“ unmöglich macht. Das
„große Ganze“ setzt sich zusammen aus zahlreichen Teilkulturen und Milieus
mit eigenen Werthaltungen und Verhaltensweisen, deren Uneinheitlichkeit
eine bruchlose Kommunikation verhindert. Die Kulturen der eingewanderten
Minderheiten sind überdies ebensowenig geschlossen und einheitlich wie die
der einheimischen Bevölkerung. (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 28)
Eine homogene
Mehrheitskultur gibt es
nicht
Hinzu kommt, dass die Kultur eines Volkes – also seine Werte, Einstellungen
und Verhaltensweisen im weitesten Sinne - nicht als statisch und normiert
angesehen werden kann, sondern der stetigen Veränderung unterliegt.
„Kultur entwickelt sich nicht im luftleeren Raum, sondern stets durch
Begegnung, Rezeption und Konflikt.“ (OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 28) Mithin sind auch
die Zuwanderer Mitgestalter und Träger dieser Kultur. So wird beispielsweise
der Islam noch mehr als bisher Bestandteil der deutschen Kultur, wenn die
Zahl muslimischer Bürger weiter zunimmt. Und allen Bürgern steht das
Grundrecht auf kulturelle Freiheit zu - unberücksichtigt ihrer ethnischen
Herkunft, ihrer Religion oder Weltanschauung. Die Grenzen dieser Freiheit
werden durch die Verfassung und die Rechtsprechung festgelegt.
Die Kultur eines Landes
entwickelt sich aus der
Kultur seiner Bürger
(OBERNDÖRFER, S. 38, 39)
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
37
Doch die alltäglichen interkulturellen Kontakte sind zumeist von Unwissenheit,
Ängsten und Vorurteilen geprägt – dies gilt für beide Seiten gleichermaßen.
OBERNDÖRFER fordert deshalb die Aneignung von kultureller Toleranz. Sie
sei das Fundament des modernen Verfassungsstaates und die Voraussetzung
für den von ihm geschützten kulturellen Pluralismus. Vorurteile zwischen den
christlichen Konfessionen und gegen fremde Religionen und Kulturen
würden heute im säkularisierten Teil der Gesellschaft weitaus tiefer sitzen als
innerhalb der christlichen Kirchen selbst. (OBERNDÖRFER, S. 42)
Toleranz bildet das
Fundament des
modernen
Verfassungsstaates
Wer Toleranz fordert, muss erst einmal Ängste abbauen und Akzeptanz
fördern. Bei der einheimischen Bevölkerung ist Aufklärungsarbeit
dahingehend zu leisten, dass die verstärkte Zuwanderung in Zukunft aus
wirtschaftlichen und demografischen Gründen unabdingbar und damit im
eigenen Interesse eines jeden Bürgers ist. Zudem müssen möglichst stabile
soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit
Zuwanderer nicht als Bedrohung wahrgenommen werden. (OBERNDÖRFER, S. 42)
Denn der Kampf um Arbeitsplätze, Wohnraum und Leistungen des
Sozialstaates ist bestimmt von Konkurrenzdenken und Verdrängungsängsten,
die einen von Respekt und gegenseitigem Interesse getragenen
interkulturellen Dialog blockieren.
Am Anfang steht die
Angstbewältigung
Laut einer Untersuchung der „Europäischen Stelle zur Beobachtung von
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ nehmen rund 18 Prozent der
Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland eine „sehr negative Haltung
gegenüber Minderheitengruppen“ ein. Im Bericht der Zuwanderungskommission wird weiter ausgeführt, dass 1996 fast die Hälfte der
Ostdeutschen forderte, den Zuzug von Arbeitnehmern aus Nicht-EU-Staaten
zu unterbinden. In den alten Bundesländern vertrat etwa ein Drittel der
Bevölkerung diese Meinung. Zu bestimmten Einbürgerungsbedingungen
befragt, hielten knapp 60 Prozent der Deutschen die deutsche Abstammung
und die Geburt in Deutschland für wichtig. (BUNDESMINISTERIUM DES INNEREN)
60 Prozent der
Bundesbürger halten
die deutsche
Abstammung für ein
wichtiges
Einbürgerungskriterium
Bei der Betrachtung und Beurteilung dieser Umfrageergebnisse muss
berücksichtigt werden, dass die allgemeine Stimmungslage gerade beim
Thema Zuwanderung stark von konjunkturellen Schwankungen und
Wahlkampfauseinandersetzungen abhängig ist. Dennoch ist festzustellen,
Eisiges Klima
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
38
dass das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik momentan noch in
allzu großem Widerspruch steht zum langsam aufkeimenden neuen
Selbstverständnis als Einwanderungsnation. Sollen sich Ausgrenzungs- und
Rückzugstendenzen in Zukunft nicht noch verschärfen, müssen
Voraussetzungen geschaffen werden, die die Verständigung – auch zur
Konfliktaustragung – zwischen Einheimischen und Migranten möglich
machen und fördern.
INTEGRATION
Abb. 12: Ziel der Integration ist die
gleichberechtigte Teilhabe von
Zuwanderern am ökonomischen, sozialen,
politischen und kulturellen Leben.
ALS
ZUKUNFTSAUFGABE
Eine Schlüsselrolle in der Gestaltung des Zusammenlebens spielt die
Integration. Laut DUDEN ist darunter Vervollständigung, Eingliederung und
Vereinigung zu verstehen. (DROSDOWSKI, S. 362) In einer Gesellschaft, die das
Thema Integration mit multikulturellen Vorzeichen versieht, zielt die
Eingliederung von Zuwanderern auf die gleichberechtigte Teilhabe am
ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Leben ab und damit
letztendlich auf eine Identifikation der Zuwanderer mit ihrer neuen Heimat.
WELT setzt für die Integration voraus, dass sich die Aufnahmegesellschaft für
die kulturellen Wurzeln der Migranten interessiert und im Sinne einer offenen
Gesellschaft bereit ist, sich damit auseinander zu setzen. (WELT, S. 34)
Hinsichtlich der deutschen Verfassung kann sich die Eingliederung nur auf
eine politische Integration beziehen, die nicht mit kultureller Assimilation
verwechselt werden darf. (OBERNDÖRFER, S. 39) Integration erfolgt in erster Linie
über die Eingliederung in das Bildungswesen, den Arbeitsmarkt und die
zentralen Institutionen der Aufnahmegesellschaft. Das Durchlaufen der
Bildungseinrichtungen ist laut ESSER notwendige Bedingung, um einen
adäquaten Platz in der Gesellschaft zu finden. (MEHRLÄNDER/SCHULTZE, S. 14)
Darüber hinaus sollen integrationspolitische Maßnahmen sowohl
ausländische Minderheiten wie die deutsche Mehrheitsbevölkerung dazu
befähigen, Konflikte zu vermeiden und eine kulturübergreifende
Verständigung zu praktizieren. (JOHN, S. 27)
Integration setzt auf
Gleichberechtigung –
auch im kulturellen
Leben
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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Der Eingliederungsprozess ist mit seinen wirtschaftlichen, sprachlichen,
sozialen, psychischen und kulturellen Aspekten so komplex, dass er selbst bei
günstigen Rahmenbedingungen viele Jahre andauert und zum Teil mehrere
Generationen benötigt. Unter den Bedingungen einer industrialisierten,
säkularisierten und individualisierten Mehrheitsgesellschaft ist jedoch langfristig
eine weitgehende Assimilierung der Einwanderer zwangsläufig.
(OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 53)
Integrationsmaßnahmen im Sinne des
Multikulturalismus sind darauf ausgerichtet, sanfte Übergänge zwischen der
ersten und den folgenden Einwanderergenerationen zu schaffen. Auf
Dauer verhilft aber nur eine weitgehende Anpassung an die
vorherrschenden Lebensformen und Verhaltensnormen – insbesondere der
Landessprache – zu wirklicher Gleichberechtigung und Chancengleichheit.
Der
Eingliederungsprozess
zieht sich über
Generationen hin
(OBERNDÖRFER/BERNDT, S. 29)
Integration ist ein Prozess, der nur gelingen kann, wenn sich alle Beteiligten
aktiv daran beteiligen. Einwanderer müssen bereit sein, sich gute Kenntnisse
der deutschen Sprache anzueignen, sich zu Verfassung und Verfassungstreue
zu bekennen sowie gewachsene kulturelle und historische Tatbestände der
Aufnahmegesellschaft zu akzeptieren. Diese wiederum muss Angebote an die
Zuwanderer machen, administrative Voraussetzungen schaffen und
Instrumentarien bereitstellen und dadurch Strukturen errichten, die es den
Zuwanderern möglich machen, in Deutschland gleichberechtigt zu leben.
(WENDT, S. 19, 20) Je ernster Fremde mit ihren besonderen Schwierigkeiten und
Nöten genommen werden, desto größer ist die Chance für ihre Integration.
Dies fängt bei einer Neuordnung der Erzieherausbildung an, erstreckt sich
über alle Lebensbereiche bis hin zur Ausweisung von Grabfeldern für
nichtchristliche Bestattungen. (JOHN, S. 28)
Auf die aktive Mitarbeit
aller Beteiligten kommt
es an
Im Gegensatz zu den „klassischen Einwanderungsländern“ wurde es in
Deutschland lange versäumt, die Akzeptanz der Einheimischen gegenüber
Zuwanderern zu fördern. Gastronomie und Kunst konnten zwar Akzente
setzen, darüber hinaus bestand allerdings wenig Bereitschaft, das kulturelle
Erbe der Migranten auch als befruchtendes Element für die eigene Kultur
anzuerkennen. (WELT, S. 34) Eingliederung kann jedoch nur gelingen, wenn die
Mehrheit die neu gewachsene gesellschaftliche Wirklichkeit akzeptiert und
respektiert, dass Menschen andere Sichtweisen haben, einen anderen
Mangel an Respekt und
Akzeptanz
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
40
Lebensstil, eine andere Religion oder andere kulturelle Traditionen. Diesen
Lernprozess müssen Einheimische wie Migranten in gleicher Weise
durchlaufen, um Respekt und Verständnis für den jeweils anderen zu
entwickeln und um zu erkennen, dass sich Menschen nicht über einen Kamm
scheren lassen. (HÄUßERMANN, S. 31)
Abb. 13 + 14: Kultureller Pluralismus – für
viele Deutsche ist dies allenfalls im kulinarischen Bereich willkommen.
Soziale Distanz und Vorurteile wirken sich sehr negativ auf die
Integrationsbereitschaft aus. Anhaltende Diskriminierungen können den
Prozess völlig zum Erliegen bringen. Dies gilt in besonderem Maße für
Migranten in der zweiten und dritten Generation, die ein anderes
Selbstverständnis über die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft besitzen
als beispielsweise ihre Eltern, die vielfach noch den Gedanken an eine
Rückkehr in sich trugen und zudem weniger Kontakte zu Einheimischen
unterhielten. Junge Ausländer reagieren sensibler auf Ungleichbehandlung
und stellen höhere Ansprüche an Akzeptanz und Toleranz in dem Land, das
für sie eigentlich genauso Heimat sein sollte wie für Deutsche. (BUNDESMINISTERIUM
DES INNEREN) Werden diese auf Dauer nicht erfüllt, so kann dies einen Rückzug
aus der Aufnahmegesellschaft zur Folge haben.
Wer nicht toleriert wird,
zieht sich zurück
Laut ESSER besteht in multikulturellen Gesellschaften die Tendenz, dass
zahlenmäßig große Gruppen von Migranten ethnische Gemeinden bilden, in
denen dann hauptsächlich die sozialen Kontakte erfolgen und die täglichen
Angelegenheiten erledigt werden. Im Extremfall entwickeln sich diese zu
eigenständigen Subgesellschaften, die Konflikttendenzen verstärken können.
(MEHRLÄNDER/SCHULTZE, S. 14) Angesichts der unvermeidlichen massiven
Zuwanderung in Zukunft und ihrer Konzentration in den städtischen
Ballungsräumen warnt OBERNDÖRFER davor, dass sich die bereits heute
spürbaren Probleme mit Gettoisierung und Helotisierung der zweiten und
dritten Generation noch verschärfen werden. (OBERNDÖRFER, S. 41)
Gefahr der
Gettoisierung
Die negativen Auswirkungen von Separation und Abschottung sind vor allem
in den Ballungsgebieten deutlich erkennbar: Konzentration ethnischer Milieus
in bestimmten Stadtteilen, Berichte über die zurückgehende Kompetenz und
Bereitschaft, die deutsche Sprache zu sprechen oder zu erlernen, erhöhter
Anteil von Ausländern und Aussiedlern unter Arbeitslosen und
Sozialhilfempfängern, Ausgrenzungen und Stigmatisierungen. Es besteht die
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
41
Gefahr, dass sich aus dieser Ausgrenzung und verringerten
Chancengleichheit, aus diesem Nebeneinander ein Gegeneinander
entwickelt, das gerade in den Ballungsgebieten mit ihren schwierigen sozialen
Rahmenbedingungen verheerende Folgen haben kann. (WELT, S. 33) Türkische
Jugendbanden, die unter Waffengewalt ganze Straßenzüge unter ihre
Kontrolle zu bringen versuchen, geben dafür ebenso ein erschreckendes
Beispiel ab wie durch Skinhaeds zu Tode geprügelte Asylbewerber.
Abb. 15: Gettos - die Folge von Separation
und Abschottung.
Das Phänomen der freiwilligen Selbstausgrenzung muss jedoch auch noch
von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet werden. Räumliche
Segregation geht nicht zwangsläufig einher mit sozialer Absonderung von
der Aufnahmegesellschaft. Ethnische Kolonien bieten gerade für Zuwanderer
in der ersten Generation vertraute soziale Beziehungen und Stabilisierung in
den verunsichernden Erfahrungen der Migration. Die Entstehung von
„Ausländer-Vierteln“ ist eine weltweit zu beobachtende Reaktion auf die
spezifischen Bedürfnisse von Migranten in einer Minderheitensituation. Wenn
eine ethnische Gemeinde diese Außenseitersituation nicht längerfristig festigt
und damit Differenzen verstärkt, kann sie durchaus als notwendige Zwischenphase auf dem Weg zur Integration betrachtet werden. (CYPRIAN, S. 440)
Ethnische Kolonien sind
ein weltweites
Phänomen...
Solange ethnische Kolonien die individuelle Integration des Einzelnen nicht
verhindern, sich nach außen abschotten oder sich zu Brutstätten von
politischem oder religiösem Extremismus entwickeln, sind sie durchaus positiv
zu bewerten. Hinzu kommt, dass sich Zuwanderer in solchen Stadtvierteln
meist in eigenen Vereinen und Gruppen organisieren. Dies beinhaltet zwar
wiederum eine Selbstausgrenzung, ermöglicht es aber andererseits, die
eigenen Interessen zu artikulieren, politischen Druck auszuüben, Bedürfnisse
durchzusetzen und so die Außenseiterposition allmählich abzubauen.
Außerdem bilden diese Vereine und Organisationen wichtige
Ansprechpartner
und
Verbindungsglieder
für
die
praktische
Integrationsarbeit. (CYPRIAN, S. 442)
...und können sich
sogar vorteilhaft auf
den Integrationsprozess
auswirken
Wie bereits mehrfach festgestellt, bildet die Integration von Zuwanderern eine
tragende Säule in der Gestaltung des zukünftigen Zusammenlebens in einer
multiethnischen Gesellschaft. Um diesem Anspruch gerecht werden zu
können, muss Integration als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Auf die
Zusammenarbeit
kommt es an
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
42
angesehen werden. Die bisherige Praxis, dass Ausländerpolitik und
Integration
als
Randgruppenarbeit
verstanden
wird,
die
von
Sozialorganisationen und Ausländerbeiräten zu bewältigen ist, kann den
Erfordernissen der Zukunft nicht gerecht werden. Staatliche und
nichtstaatliche Organisationen dürfen nicht isoliert voneinander wirken,
sondern müssen ihre Arbeit untereinander abstimmen und vernetzen. Die
Bevölkerung Deutschlands – Einheimische wie Migranten – ist unbedingt
miteinzubeziehen. WELT sieht in der Zuwanderungs- und Integrationspolitik
eine gesellschaftliche Querschnittsaufgabe, die nahezu alle Politikbereiche –
angefangen von der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bis hin zur
Städtebaupolitik – miteinbezieht. Bund, Länder und Kommunen hätten
demnach einen Konsens für ein gesamtstaatliches Konzept zu entwickeln. Der
Schwerpunkt der Integrations- und Akzeptanzarbeit liegt jedoch zweifelsfrei
bei den Städten und Gemeinden, die durch eine abgestimmte Politik von
Bund und Land zu unterstützen sind. (WELT, S. 34, 35)
HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN
EBENE
AUF KOMMUNALER
Integration geschieht nicht in den Sitzungssälen der Bundesregierung oder
der Länderparlamente, Integration passiert in den Städten. Hier wird gewohnt
und gearbeitet, hier treffen Menschen unterschiedlichster Herkunft und
sozialen Ranges aufeinander, hier entstehen Konflikte und hier müssen
Lösungen für ein friedvolles Zusammenleben gefunden werden. Im Zuge der
Landflucht am Beginn des 20. Jahrhunderts und der großen
Bevölkerungsbewegungen am Ende des 20. Jahrhunderts haben sich die
Städte als Integrationsmaschinen erwiesen. Enorme Mengen an
Zuwanderern sind in die Stadtgesellschaft integriert worden. Laut
HÄUßERMANN haben sich unter sozialstaatlichen Bedingungen relativ
homogene Stadtgesellschaften entwickelt (im Vergleich zur Stadtentwicklung
in den USA). Tiefgreifende Spaltungen und Fragmentierungen konnten
soweit abgemildert werden, dass alle einigermaßen gut damit leben konnten.
(HÄUßERMANN, S. 33)
Die Stadt als
Integrationsmaschine
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
43
Dass dies gelingen konnte, lag unter anderem an der Struktur und
Funktionsweise von Stadtgesellschaften. Denn der Prototyp des Städters ist
der Fremde. Erst durch Zuwanderung können Städte entstehen und nur
durch Zuwanderung aus dem Ausland werden sie vor dem Schrumpfen
bewahrt. Für eine Stadt sind Fremde und der Umgang mit Fremdheit
demnach selbstverständlich. Nach CYPRIAN sind soziale Differenzen für eine
Stadt konstitutiv – neben Merkmalen wie Größe, Dichte der Bebauung,
funktionale Arbeitsteilung und ihre Heterogenität. Das Gefühl von Urbanität
wird durch die wahrgenommene und akzeptierte Unterschiedlichkeit der
Bewohner vermittelt. Die Selbstverständlichkeit des Fremden unterscheidet die
Stadt vom Dorf. Der alltägliche Umgang miteinander wird beherrscht von
einer „lässigen Toleranz“ bzw. einer Gleichgültigkeit, die es dem Einzelnen
möglich macht, weigehend nach seinem eigenen Entwurf zu leben.
Doch diese urbane Haltung ist nicht voraussetzungslos. Der Differenz muß
nach CYPRIAN ein notwendiges Maß an sozialer Integration
gegenüberstehen. Und Integration beruht wiederum auf handfesten
ökonomischen Bedingungen, auf wirtschaftlichen Wachstum, einem
aufnahmefähigen, funktionierenden Arbeitsmarkt und einem haltbaren Netz
sozialer Absicherung. (CYPRIAN, S. 433, 434)
Der Prototyp des
Städters ist der Fremde
Doch zu Beginn des 21. Jahrhundert scheint das natürliche
Integrationspotential vieler Städte erschöpft. Der Anteil der als deutsche
Staatsbürger Geborenen nimmt ständig ab, die Gruppe der Zuwanderer
wächst hingegen noch leicht an und wird immer heterogener. Eine noch
relativ junge Erscheinungsform sind die Pendler-Migranten, die im Tages-,
Wochen-, Monats- oder Saisonrhythmus die Grenzen überschreiten und an
einer Eingliederung nicht interessiert sind. Andererseits nimmt die Zahl der
Arbeitsplätze in der Produktion stetig ab, was durch den langsamen Wandel
zur Dienstleistungsgesellschaft nicht kompensiert werden kann. Besonders
von Arbeitslosigkeit betroffen sind die oftmals geringer qualifizierten
Zuwanderer. Dies trägt zu einer zunehmenden sozialen Spaltung innerhalb
der Städte bei. Eine Unterteilung zwischen gut Verdienenden mit sicheren
Arbeitsplätzen und einen wachsenden Teil von schlecht Verdienenden mit
wechselhaften und unsicheren Beschäftigungsmöglichkeiten ist die Folge. In
den Großstädten wächst das Risiko, dass diese Spaltung wiederum zu
räumlicher Segregation und Gegensätzen führt – als Folge des freien
Wenn sich die
ökonomischen
Bedingungen
verschlechtern, kommt
es zu einer sozialen
Spaltung
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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Wohnungsmarktes, der sich an ökonomischen Gesichtspunkten orientiert,
nicht an sozialen. Die schlechten Arbeitsmarktchancen und die hohe
Sozialhilfebedürftigkeit unter den Migranten stellt für viele Städte eine
große finanzielle Belastung dar und schürt darüber hinaus soziale Probleme.
(CYPRIAN, S. 435, 436)
Abb. 16: Das AmkA in Frankfurt am Main
vermittelt zwischen Zuwanderern und
Behörden – auch in Bestattungsfragen.
Als Folge des wachsenden Konkurrenzdruckes und der vielfältigen
Ausschließungsprozesse in ökonomischer und sozialer Hinsicht haben sich die
Städte für viele Menschen – Ausländer wie Einheimische – vom Ort der
toleranten Indifferenz zu Orten der alltäglichen Bedrohung entwickelt. (CYPRIAN,
S. 436) Angesichts der nachlassenden Integrationsfähigkeit der Städte ist der
aktiven Integrationsarbeit vor Ort deshalb enorme Bedeutung beizumessen.
Großstädte wie Frankfurt am Main und Berlin haben dies bereits vor Jahren
erkannt und entsprechende Maßnahmen in die Wege geleitet.
Als
prominentes Beispiel für multikulturelle Konzepte auf städtischer Ebene ist
Frankfurt zu nennen. Das seit 1989 bestehende Amt für multikulturelle
Angelegenheiten (AmkA) setzt dabei vor allem auf eine Politik der Vermittlung
und des Dialogs. In Form eines Ausländerbeirates wurde ein beratendes
Gremium für Ausländer geschaffen. Innerhalb der Stadtverwaltung vertritt das
AmkA die Belange der Migranten und bei Konflikten interveniert es als
Schlichtungsinstanz. (MAHNIG, S. 179)
Aktive
Integrationsarbeit ist in
Zukunft unerlässlich
Institutionen wie das AmkA können sehr wertvolle Beiträge für eine
erfolgreiche Umsetzung von integrationspolitischen Grundsätzen und
Vorhaben leisten. Denn sie bilden das Bindeglied zwischen Bürger und
Verwaltung, zwischen Einheimischen und Zuwanderern, zwischen Theorie
und Praxis. Wird Integrationsarbeit als Querschnittsaufgabe verstanden, die
staatliche und nichtstaatliche Organisationen Hand in Hand angehen, so
können hier die Fäden des Netzwerkes zusammenlaufen. Entscheidend für
das Gelingen der Bemühungen ist die Förderung des interkulturellen
Dialoges, durch den erst Verständnis und Akzeptanz für die Belange des
jeweils anderen erzeugt werden können.
Bindeglieder für den
interkulturellen Dialog
Und dies gilt für das öffentliche Leben genauso wie für den Privatbereich.
Kommunikation ist ein entscheidendes Element im Integrationsprozess. Erst
durch direkte Annäherung lassen sich Distanzen zwischen Menschen
Kommunikation und
zwischenmenschliche
Kontakte schaffen Nähe
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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abbauen. Nach ESSER stellt sich für die aufnehmende Gesellschaft die
Aufgabe, Gelegenheiten für alltägliche interethnische Kontakte zu bieten.
(MEHRLÄNDER/SCHULTZE, S. 14) Ein weiteres wichtiges Kriterium für die Schaffung
von günstigen Integrationsbedingungen ist das Vorhandensein von
langfristigen Perspektiven für Zuwanderer. Denn nur dann werden sie sich
mit ihrer neuen Heimat identifizieren. (OBERNDÖRFER, S. 26) Doch wie und wo
lassen sich solche Bedingungen herstellen?
Wird Integration als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe verstanden, so
muss in allen Bereichen des öffentlichen Lebens nach Möglichkeiten zur
Bewältigung dieser Aufgabe gesucht werden. Eine Konzentration auf den
Sektor „Soziales“ ist bei weitem nicht ausreichend. Mithin stehen auch die
Grünflächen- bzw. Friedhofsämter sowie die Landschaftsarchitekten in der
Pflicht, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu werden und
entsprechend zu agieren. Gerade auf dem Gebiet der Friedhofsplanung
besteht ein enormes Potential an Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten,
die es weiter als bisher zu erschließen und zu nutzen gilt.
Die Friedhofsplanung
bietet ein enormes
Potential an
Handlungs- und
Gestaltungsmöglichkeiten
Städtische Friedhöfe dienen schon lange nicht mehr einzig der Bestattung der
Toten. Sie haben eine ganze Palette von Funktionen zu erfüllen. Die großen
zentralen Begräbnisstätten wie auch kleinere Stadtteilfriedhöfe bilden ein
tragendes Element der Grünstrukturen in den Städten. Menschen besuchen
diese Orte nicht nur, um den Verstorbenen zu gedenken, sondern auch, um
dort spazieren zu gehen und sich zu erholen. Unter dem Gesichtspunkt der
Integration betrachtet, spielt die Sozialfunktion des Friedhofs eine
entscheidende Rolle. Hier treffen Menschen aufeinander, werden über mehr
oder minder zufällig zustande kommende Kommunikation Kontakte geknüpft.
Weitaus mehr als „nur“
Bestattungraum
Darüber hinaus sollten Friedhöfe auch aufgrund ihrer Funktion als Kulturraum
in das weitgespannte Netz von integrativen Maßnahmen miteingebunden
werden. Denn in den Bestattungsräumen treten die kulturellen Eigenheiten
von Menschen am deutlichsten zu Tage. In der Art und Weise, wie Gräber
und Grabfelder angelegt und wie Trauerrituale durchgeführt werden, wie
man sich auf den Friedhöfen verhält und wie man diese gestaltet, legen
Menschen Zeugnis ab über ihre Herkunft, ihre Normen und Überzeugungen,
ihre Werte und Einstellungen – kurzum: über ihre Kultur.
Im Umgang mit ihren
Toten legen Menschen
Zeugnis ab über ihre
Kultur
DIE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR MULTIKULTURELLEN GESELLSCHAFT
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Wie bereits unter dem Punkt „Bewusstseinswandel in der Gesellschaft“
festgestellt, lässt sich für eine moderne Gesellschaft keine einheitliche Kultur
definieren. Dies gilt auch für die Friedhofskultur. Altersbedingte,
berufsbedingte, ethnische Subkulturen, Alternativkulturen und neue soziale
Bewegungen haben ihre ganz individuelle Sinngebung im Hinblick auf Tod
und Sterben, durch die sie sich von der dominierenden Kultur abheben. Auch
wenn sich diese neuen Orientierungen oftmals noch in keinem formalen
Rahmen manifestiert haben, so wollen sie künftig in den Beisetzungsräumen
Berücksichtigung finden. (RICHTER/NOHL, 2001, S. 41)
Vielfalt statt Einheit
Der Friedhof kann mithin als Spiegelbild der Gesellschaft verstanden werden.
Auf engstem Raum stehen sich hier die unterschiedlichsten Interessen und
Weltanschauungen gegenüber – ein kultureller Mikrokosmos innerhalb des
großen Stadtkörpers, der trotz seiner besonderen Bestimmung niemals über
Differenzen und Auseinandersetzungen erhaben sein wird. Derart
komprimiert und komplex bietet der Friedhof wie kaum ein anderer Ort
Möglichkeiten, interkulturelle Distanzen abzubauen, Verständnis zu fördern
und Lösungen für Konflikte zu finden. Die künftige Gestaltung von
Beisetzungsräumen ist Chance und Herausforderung zugleich, die von allen
am Bestattungswesen Beteiligten wahrgenommen werden sollte, um das
Zusammenleben über den Tod hinaus aktiv mitzugestalten.
Ein Mikrokosmos im
Stadtkörper
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