Achtsamkeit und Mitgefuehl

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Trauma, Achtsamkeit und Mitgefühl
Luise Reddemann
Die Ausschnitte aus dem Film, den wir eben gesehen haben, zeigen ein
traumatisiertes Kind. Der Junge wurde von seinem Vater im Stich gelassen, der ihn
in einem Heim abgegeben hat mit dem Versprechen, sich zu melden. Das tat er aber
nicht. Man kann dem Jungen ansehen, wie massiv er unter Stress steht. Sein
Verhalten erscheint bizarr. Als Zuschauer hört man, dass er am Telefon eine Ansage
hört, aber der Junge kann das nicht glauben. Auch im weiteren Verlauf des Films
wird deutlich wie verstört dieses Kind ist und wie sehr es seine UMGEBUNG
HERAUSFORDERT:
Ich will zunächst darüber sprechen, was in der Psychotraumatologie als Trauma
verstanden wird, um anschließend darüber nachzudenken, welche Arten von
Achtsamkeit und Mitgefühl dem Umgang mit traumatisierten Menschen dienen
könnten. Ich spreche hier als Ärztin und Psychotherapeutin und bitte Sie das von mir
Beschriebene auf Ihre Gegebenheiten zu übertragen. Ich verstehe von Ihren
Gegebenheiten nicht genug.
Seit Freud versteht man unter einer traumatischen Erfahrung eine, die unsere
normalen Fähigkeiten zur Anpassung überfordert.
Weshalb sich vermutlich vor allem biologisch determinierte Schutzmechanismen
ereignen, die sich ihrerseits im Lauf der Zeit „problematisch“ auswirken können. Wir
sprechen u.a. von:
Intrusion, Konstriktion, Übererregung und Dissoziation. Das kann man im Film sehr
gut sehen: Der Junge ist einerseits fortwährend mit dem Verlust des Vaters
beschäftigt, gleichzeitig schottet er sich ab, steht unter einem sehr hohen
Stresspegel und ist „wie in einem anderen Film“, zumindest aus Sicht seiner
Betreuer.
Fischer und Riedesser sprechen von einem Diskrepanzerleben, das unsere
Erwartungen ans Leben übersteigt. Das Leben kann nach einer traumatischen
Erfahrung nie mehr sein, wie es vorher war. Hier im Film sahen wir ein Kind, das sich
nicht mehr beruhigen kann. Den Verlust des Vaters kann der Junge nicht verstehen
und nicht akzeptieren.
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Schließlich kann man auch sehen, dass es sich hier um eine Erfahrung handelt, die
gekennzeichnet ist von Ohnmacht und Panik und für Cyril geht es hier auf gewisse
Weise um Leben und Tod, zumal er von seinen Betreuern nicht verstanden wird.
Es ist klinisch wichtig, Folgen nach einmaligen und nach multiplen, komplexen
Traumata zu unterscheiden. Das wird leider auch in der wissenschaftlichen Literatur
nicht immer klar unterschieden.
Von Menschen zugefügte Traumatisierungen wirken sich in der Regel gravierender –
oft auch nachhaltiger! -aus als Naturkatastrophen u.ä.
Die häufig zitierte posttraumatische Belastungsstörung (engl. PTSD, deutsch PTBS)
beschreibt die Folgen einer Monotraumatisierung und sagt wenig oder nichts über
komplexe Traumafolgestörungen.
Somatisierung, Dissoziation und Affektdysregulation sind Hauptkomponenten der
komplexen Traumatisierungen und deren Folgen und stehen in einer Korrelation
zueinander. Im Film sind Affektdysreglation und Dissoziation erkennbar.
Wir können fragen, Welche Entwicklungsmöglichkeiten bleiben einem Kind in einer
Beziehungsmatrix, in der
-
Die Starken – aus Sicht des Kindes - tun, was sie wollen
-
Die Schwachen sich unterwerfen müssen
-
Wichtige Bezugspersonen sich absichtlich blind stellen
-
Das Kind bei niemandem – ausreichend - Schutz findet?
Die zu Grunde liegenden Erlebnisse manifestieren sich, wenn die Traumatisierung
von anderen Menschen zugefügt wurde, also hier vom Vater, innerhalb von
Beziehungen, hier also dann auch innerhalb der Beziehung zu den Betreuern.
Klinische Zuschreibungen und Diagnosen sollten stets mit Vorsicht vorgenommen
werden und mit einem kritischen Bewusstsein. Noch immer sollte gelten, dass
Reaktionen auf traumatische Erfahrungen nicht das Kranke sind, sondern die
Erfahrungen an sich bedeuten ein Herausfallen aus dem, was wir alle normalerweise
vom Leben erwarten. Ein Kind erwartet bewusst oder unbewusst, dass es von seinen
Bezugspersonen nicht im Stich gelassen wird, geschieht es doch, ist das eine
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seelische Katastrophe. Alles, was Cyril im Film anstellt, sind verzweifelte Versuche
mit dieser nicht erwartbaren Situation umzugehen.
Welche „inneren Modelle“ von Beziehung entwickelt ein so betroffenes Kind?
Vor allem tiefes Misstrauen gegenüber anderen Menschen
Durch traumatische zwischenmenschliche Erfahrungen in der Kindheit wird die
normale Fähigkeit zur Selbstregulation und zu autonomem Handeln je nach Resilienz
mehr oder weniger außer Kraft gesetzt und auch im weiteren Leben reduziert.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in jeglicher (!) therapeutischen oder therapeutisch
orientierten Beziehung alte Muster wiederholen, ist hoch!
Begleitenden Menschen sollte klar sein, dass derart geschädigte Pat.
Schwierigkeiten haben,
sich eine Beziehung vorzustellen, die wirklich fürsorglich, frei gewählt und beiden
Beteiligten gegenüber fair ist,
damit zu rechnen, dass beide Partner aufeinander abgestimmt sind und die
Beziehung für beide erfüllend ist.
Wenn wir begleiten, ist der Aufbau einer sicheren Beziehung das Wichtigste.
Wir können sie ermöglichen, indem wir bereit sind freundlich, Halt gebend und
mitfühlend zu sein, zu erklären, wenn wir etwas tun, womit unser Gegenüber nicht
rechnen kann. Falls erforderlich sollten wir bereit sein, uns zu entschuldigen und
immer wieder zu zeigen, dass wir an einer tragfähigen Beziehung und deren
Fortbestand interessiert sind.
Eine hilfreiche Arbeitsbeziehung bedeutet, dass eine Verständigung über Ziele
erfolgt und dass das Recht des Patienten/der Patientin auf „nein“ respektiert wird, so
weit dies möglich ist.
Es geht schließlich auch um die Entwicklung einer vertrauensvollen und vom Geist
der Zusammenarbeit geprägten Arbeitsbeziehung. Dazu gehört die Entwicklung einer
Fähigkeit zu beobachten oder auch zu mentalisieren aus einer Haltung der
Achtsamkeit heraus. So lange wir selbst das nicht gut können und uns nicht ständig
darum bemühen, macht es wenig Sinn, das von unseren PatientInnen oder
KlientInnen zu fordern.
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Im Film werden die Betreuer als Menschen dargestellt, die nicht bösartig sind, aber
so gut wie nicht mitfühlend. Sie versuchen, die Dinge in den Griff zu bekommen,
gehen aber nicht auf die Not des Kindes ein.
Es lohnt sich immer, Stärken und Resilienz bei PatientInnen zu erkennen, weil dies
den Aufbau einer therapeutischen Allianz fördert. So könnte z.B. die anhaltende
Suche des Jungen nach seinem Vater durchaus auch als Stärke gewürdigt werden.
Aufbau innerer Stabilität, die für den Patienten die Entwicklung von
Selbstregulations- und Selbstberuhigungsfähigkeit bedeutet, wäre anzustreben und
könnte z.B. im Film für Cyril Mitgefühl mit sich selbst ermöglichen. Der Junge im Film
verhält sich allerdings in erster Linie panisch. Das hängt mit einem Phänomen
zusammen, das als traumatischer Stress beschrieben wird,
minimaler Stress wir als maximaler Stress erlebt und verarbeitet.
Traumatisierte Menschen reagieren mit einem Bündel psychophysiologischer
Reaktionen, die zunächst dazu dienen, dem Organismus zu helfen, mit einer
überwältigenden Erfahrung fertig zu werden.
Achtsamkeit im Fall eines solchen Kindes wie Cyril würde also zunächst bedeuten,
dass Betreuer das Verhalten des Kindes nicht als Unart interpretieren und zu
kontrollieren versuchen würden, sondern es einordnen könnten und womöglich erst
einmal mitfühlend beantworten.
Damit komme ich jetzt zum Stichwort Achtsamkeit.
Dass Achtsamkeit immer mehr „in“ ist, kann man begrüßen und gleichzeitig infrage
stellen. Warum? Weil das, was ursprünglich unter Achtsamkeit verstanden wird,
immer mehr verwässert. Unter Achtsamkeit wird inzwischen häufig Aufmerksamkeit
verstanden als einem Merken, was ist, ohne zu urteilen, das heißt, wir nehmen
Phänomene einfach wahr, beobachten sie und bewerten sie nicht. Nur bemerken,
was ist, ist manchmal hilfreich, aber selten heilsam in einem tieferen Sinn, schon gar
nicht, wenn man schweres Gepäck mit sich herumschleppt. Die tiefere aus dem
Buddhismus stammende Bedeutung bezieht sich auf Achtsamkeit aus einem
Wunsch heraus, mitfühlendes und freundliches Denken, Fühlen und Handeln immer
mehr – auch im Alltag- verfügbar zu haben.
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Buddhisten geht es vor allem um Achtsamkeit, die rechte Achtsamkeit genannt wird.
Hier geht es zwar auch um ein achtsames Wahrnehmen, aber eines das verbunden
ist mit Mitgefühl, Freundlichkeit, Warmherzigkeit, Offenheit und Freude. Also um
Achtsamkeit, die getragen ist von einer ethischen Grundhaltung und einem Bemühen
um das so genannte „rechte Leben“, wie es in entsprechenden Empfehlungen
beschrieben wird.
Paul Grossman führt als Achtsamkeitsforscher aus, dass es in der
Achtsamkeitsforschung momentan großen Enthusiasmus gebe, manchmal
Übereifer, der viele Forscher anziehe. Aus seiner Sicht berge die euphorische
Übernahme des Achtsamkeitskonzepts durch die westliche Psychologie eine Gefahr.
Denn im buddhistischen Kontext beinhalte der Begriff Achtsamkeit stets einen
ethischen Akt. „Es geht nicht nur um Aufmerksamkeit, sondern auch um die
Entfaltung von Mitgefühl und Offenheit. Diese ethische Komponente aber fällt in
psychologischen Studien leicht unter den Tisch, weil ethische Einstellungen in der
Psychologie sowieso kaum berücksichtigt werden und sie sich nur schwer
operationalisieren und objektiv messen lassen.“ Dies genau erscheint mir ein
wesentlicher Punkt: Man beschränkt sich auf das Messbare und lehrt und praktiziert
es auch so. Darüber hinaus wollen westliche Menschen schnell etwas machen, also
wird aus der Achtsamkeit dann etwas, was Stress reduzieren soll. Das ist natürlich
keinesfalls falsch, aber es hat mit buddhistischer Achtsamkeit nicht mehr viel zu tun.
Und wenn einem die Stressreduktion wichtiger ist als mitfühlende Anteilnahme, die ja
auch eine Alternative sein kann, kann man traumatisierten Menschen nicht optimal
helfen. Letztendlich beinhaltet Achtsamkeit eine bestimmte Lebenshaltung, die man
schwer mit Fragebögen messen kann.….“ Paul Grossman beschreibt Achtsamkeit
folgendermaßen und ich schließe mich seiner Beschreibung an: „Achtsamkeit heißt,
… sich der Realität mit Offenheit, Mitgefühl, Toleranz, Geduld und Akzeptanz
zuzuwenden– so gut es eben geht.“
„Es geht darum, das Leben in der Tiefe anzunehmen; sich den unvermeidbaren
Aspekten des Lebens zuzuwenden. Diese Zuwendung zu oft schwierigen,
schmerzlichen Erfahrungen kann nicht gelingen, ohne dabei ein gewisses Maß an
Geduld, Gleichmut, Mitgefühl und sogar Mut zu entwickeln. Vor allem diese
ethischen Qualitäten sind es, die dazu beitragen, sich selbst und anderen Menschen
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offener und freundlicher zu begegnen. Und das kann sehr heilsam sein.“
(P.Grossman, Interview in die ZEIT, 22.10.2013)
Auch der Dalai Lama hebt hervor, dass die ethische Dimension der Achtsamkeit im
Buddhismus bei uns verloren gehe;bei uns habe die Achtsamkeit oft das Ziel,
effizienter zu werden wie z.B. der Manager, der sich durch Achtsamkeitsübungen
besser konzentrieren kann, wogegen wiederum nichts einzuwenden ist, aber der
Dalai Lama weist darauf hin, dass auch ein Terrorist achtsam sei, ja, er müsse sogar
achtsam sein in der Ausübung seiner Tätigkeit, und da sei Achtsamkeit natürlich
auch nicht verbunden mit einer ethischen Dimension.
Es dürfte nach dem bisher Gesagten klar sein, dass Achtsamkeit als
Stressbewältigungsweg vermittelt, wenn man Heilsames bewirken will, nicht genügt.
In meiner klinischen Praxis bin ich etlichen Menschen begegnet, die seit Jahren ja
sogar Jahrzehnten Achtsamkeitsmeditation praktizierten, die aber immer, wenn das
Leben ihnen schwierige Erfahrungen zumutete, völlig hilflos waren. Dies gilt vor allem
für Menschen, die eine Traumageschichte haben. Jack Engler (2005, S.44f), der sich
seit Jahrzehnten intensiv mit den buddhistischen Lehren beschäftigt, ist
Gründungsmitglied der „Insight Meditation Society“ in Massachusetts und schreibt,
dass spezifische Probleme wie z.B. früher Missbrauch und daraus folgende
Persönlichkeitsstörungen spezifische Zuwendung sowie fortgesetzte persönliche,
professionelle und sozialtherapeutische Unterstützung erfordern und nicht dadurch
gelöst werden können, dass man die von Moment zu Moment auftauchenden
Gedanken, Gefühle und das Körpererleben beobachtet. In der systematischen
Buddhistischen Psychologie würden Depressionen oder psychiatrische
Erkrankungen gar nicht erwähnt. Für buddhistische Lehrer aus Asien sei es vor
Jahren neu gewesen, mit psychologischen Problemen von westlichen
Praktizierenden in Kontakt zu kommen. Der Dalai Lama zeigte sich bei seinem ersten
Besuch im Westen schockiert darüber, wie viel niedrigem Selbstwert und wie viel
Selbsthass er bei westlichen Menschen begegnete. Meine Vermutung ist, dass die
asiatischen buddhistischen Lehrer sich gar nicht vorstellen konnten, dass mit
belasteten Menschen Achtsamkeit praktiziert wird und ohne Bezugnahme auf
andere Übungen wie die der „Liebenden Güte“ oder für Mitgefühl, sowie
Kräutermedizin, Massagen und Körperübungen. So betont der Dalai Lama in einem
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Gespräch mit Paul Ekman, dass reguläre Achtsamkeitspraxis für Traumatisierte nicht
geeignet sei.
Denn das geduldige Erforschen immer tieferliegender Bewusstseinsinhalte, die uns
daran hindern oder es uns auch ermöglichen, uns gemäß buddhistischer, aber
sicher auch christlicher Ethik zu verhalten, ist das Ziel der Achtsamkeitspraxis. Dabei
gehen Buddhisten von sehr feinen Bewußtseinszuständen aus, die die westliche
Psychologie nicht kennt. Buddhisten würden das Erreichen normalen Elends anstatt
neurotischen Elends, wie Freud das anstrebte, erst als Beginn der Reise ansehen.
Dennoch kann ich mir vorstellen und habe es auch schon erfahren, dass wir
PatientInnen erst dabei helfen, in sich mehr zur Ruhe zu kommen, sich nicht mehr
vor innerem Schmerz zu fürchten, so dass dann auch Achtsamkeit im buddhistischen
Sinn praktiziert werden kann.
Ich will hervorheben, dass z.B. psychodynamische und humanistische Therapien
ein relativ gutes Leben ermöglichen können. Ein sich freier fühlender Mensch mag
selbst darauf kommen, dass ein „gutes Leben“ ohne ethische Grundhaltung nicht
gelingt.
Wie wenig Achtsamkeit, bei der es ausschließlich um Entspannung geht, bewirkt, will
ich an einer Vignette erläutern. Eine Patientin berichtet mir emotional stark
aufgewühlt von ihrer schwierigen Kindheit und wie sie diese auch jetzt noch stark
belaste. Im Lauf des Gesprächs frage ich sie, ob es ihr möglich sei, dieses kindliche
Ich in sich achtsam wahrzunehmen. Sie fragt, wie in der Meditation, und ich meine:
ja. Da bricht es aus ihr heraus: Sie meditiere seit langer Zeit, während des
Meditierens gehe es ihr gut, aber es helfe ihr im Alltag überhaupt nicht, außer, dass
sie sich mit ihrer Meditation vorübergehend etwas beruhigen könne. Tatsächlich wirkt
sie auf mich so, als stünde sie unter höchstem Stress. Solche und ähnliche
Erfahrungen habe ich oft mit traumatisierten Menschen gemacht; bestenfalls können
sie sich mit Achtsamkeitsarbeit vorübergehend beruhigen, aber sie hat keine
nachhaltigen Folgen. Aus Sicht der buddhistischen Psychologie kann das so
verstanden werden, dass sich in der von ihr praktizierten Art der Achtsamkeitspraxis
kein Mitgefühl und keine Freundlichkeit mit ihr selbst entwickeln konnten.
Vermutlich ist es so, dass Menschen, die relativ stabil sind, nicht zuletzt deshalb weil
sie gute frühe Bindungserfahrungen gemacht haben, durch traditionelle
Achtsamkeitspraxis ihr Mitgefühlspotential entdecken können. Menschen, die
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traumatische Erfahrungen gemacht haben, vor allem in der frühen Kindheit, kommen
eher im Umgang mit sich selbst – und später der Welt – weiter, wenn sie mit einer
expliziten Praxis des Mitgefühls mit sich selbst beginnen.
Sylvia Wetzel, meine buddhistische Lehrerin, spricht davon, dass westliche
Menschen alles immer „richtig“ machen wollen und sich gerade deshalb viel zu viel
anstrengen. Es gibt übrigens einen schönen relativ aktuellen Film, der das auf
humorvolle Weise, ohne auf Buddhismus Bezug zu nehmen, thematisiert: „Ziemlich
beste Freunde“. Da ist der gebildete Europäer mit seinen Verkrampfungen und
andererseits der einfache Mann mit afrikanischen Wurzeln, der sehr unbekümmert
meist Dinge tut, wie sie aus seinem Herzen kommen und auf raue Art mitfühlend ist.
Damit komme ich zum Mitgefühl. Es ist jedenfalls nicht Empathie; dass die beiden
Begriffe ständig synonym verwendet werden, trägt nicht zur Klarheit bei. Empathie ist
Einfühlung, Mitgefühl hingegen Einfühlung und der Wunsch, etwas Heilsames zu
bewirken. Man kann sich durchaus in andere einfühlen und nicht den Wusch haben,
etwas Heilsames zu bewirken. Man kann sogar den Wunsch haben, dadurch dass
man sich einfühlt, einem anderen zu schaden. Mit anderen Worten Einfühlung, also
Empathie, ist nicht gerichtet, manche sagen auch, sie sei neutral. Diesen Begriff
verwende ich nicht gerne, eben weil man mit Einfühlung sogar Unheil anrichten kann.
Mitgefühl hingegen will etwas Heilsames und Liebevolles bewirken, also vielleicht
z.B. Hoffnung im Sinn von Vertrauen und Zuflucht finden zu bewirken versuchen.
Gänzlich fremd sind uns westlichen Menschen solche Gedanken natürlich
nicht. So dachte der amerikanische Philosoph Richard Rorty über die
Notwendigkeit des Mitgefühls nach. Er ist meint, dass Harriet Beecher Stowe
mit „Onkel Tom’s Hütte“ und andere das Leiden von Menschen aufzeigende
Künstler auf der Basis von Mitgefühl mehr zur Entwicklung der
Menschenrechte beigetragen haben als alle Moralphilosophie. Man denke an
Pablo Picassos Guernica. Ich verstehe Rorty so, dass wir nur durch Vernunft
allein, die z.B. Kant ins Feld führte, nicht mitfühlend werden können. Das war
nämlich Kants Idee, dass man die Würde anderer „Vernunftwesen“
respektieren solle. Aber was sind andere Vernunftwesen? Frauen gehörten zu
Kants Zeit nicht dazu, Kinder auch nicht, Schwarze nicht. Arme? Wohl auch
nicht.
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Mitgefühl hat daher etwas mit Vernunft und Herzensgüte zu tun. Wenn Buddhisten
von Citta sprechen, das meist mit Geist übersetzt wird, meinen sie etwas anderes,
nämlich Herz-Geist, also beides zusammen. Das ist unserem Denken eher fremd.
Die buddhistische Nonne Aya Khema, eine der bekanntesten buddhistischen
LehrerInnen in Deutschland, hat den Paulus Brief sehr sensibel mit Texten des
Buddha verglichen. Aya Khema war eine deutsche Jüdin, die während des 3. Reichs
als 13-jährige mutterseelenallein nach England emigrieren musste. Sie erzählt davon
in ihrer Autobiographie. Neben ihrem Humor fiel mir auf – und es machte mich traurig
- dass sie sehr wenig Mitgefühl mit ihrem Leiden als Kind zu haben schien. Es
schien die – vielleicht sehr deutsche? – Härte jener Zeit durchzuschimmern. Es
drängte sich mir der Eindruck auf, dass sie auf gar keinen Fall Selbstmitleid zeigen
wollte, und dass sie diesem „nahen Feind“ des Mitgefühls so sehr auswich, dass die
alten Überlebensmuster der Zeit des Grauens wieder die Oberhand gewannen.
Mitgefühl erkennt Leiden und erkennt es an und will handeln, um Leiden zu
verringern. Ein Wunsch den sicher viele hier haben.
Bernard Lown, ein bedeutender kardiologischer Forscher und engagierter
Menschenrechtler, der „Ärzte gegen den Atomkrieg“ mitgegründet hat, weist in
seinem Buch „The Lost Art of Healing: Practicing Compassion in Medicine“, was auf
Deutsch bedeutet „Die verlorene Kunst des Heilens: Mitgefühl in der Medizin
praktizieren“, darauf hin, wie wichtig die therapeutische Beziehung sei und legt Wert
darauf zu betonen, wie wichtig das von Mitgefühl getragene ärztliche Gespräch sei und ich nehme an, dass das ebenso für pädagogische gilt. Es dürfte wohl
unbestreitbar sein, dass sich PatientInnen nicht nur denkende, sondern mitfühlende
Ärzte und ÄrztInnen wünschen, die sie in ihren Nöten anhören und ernst nehmen
und die gewillt sind, sich auf eine heilende Beziehung einzulassen.
Gerade in der Psychiatrie und Psychotherapie war es lange geradezu verpönt,
mitfühlend oder gar tröstend auf PatientInnen einzugehen. Das verstieß angeblich
gegen die Abstinenz. Bedürfnisbefriedigung war unerwünscht. Man wusste lange Zeit
nicht, dass die Befriedigung von Grundbedürfnissen lebenslang für sichere
Bindungserfahrungen, die wir auch ein ganzes Leben lang benötigen, wichtig ist.
Heute können wir das wissen!
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Ende des 19. Jahrhunderts gab der Ordinarius für Innere Medizin Naunyn die Devise
aus: „Medizin muss Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein.“ (zitiert bei Gottstein,
Vorwort zu Lown,S. 10) Was aber ist hier unter Wissenschaft gemeint? Evelyn Fox
Keller beschreibt in ihrem Buch "Reflections on Gender and Science" die Angst, vor
der Natur, vor der Frau, vor weichen Gefühlen und was daraus folgte. U. a. eben
unsere angeblich objektive (Natur-) Wissenschaft, die Verleugnung des Subjektiven
im Wissenschaftler und damit auch in der Wissenschaft.
Auch Machtansprüche
verhindern Mitgefühl. Die Anthropologin Emily Martin hat z.B. den Mangel an
Achtsamkeit der Forscher gezeigt, die negieren, dass das Gehirn von Blut versorgt
ist und sein muss, d.h. auch hier dominiert das Denken über das Denken, dass das
Gehirn besonders dringend auf Genährtwerden, also einer weiblich konnotierten
Tätigkeit, angewiesen ist, wird verleugnet. (Martin 2013)
Nicht zuletzt unter Mitgefühlsaspekten gehe ich davon aus, dass hinter all diesen
Theorien sich sehr viel Angst verbirgt: Angst, vom Schmerz der PatientInnen
überwältigt zu werden, oder von Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts der
Erfahrung, dass wir als ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen häufig nur sehr wenig
tun können. Eine bittere Erfahrung, die keinem Arzt und keiner Psychotherapeutin
erspart bleibt. (s. Elissa Ely 2012).
Und doch: Dass es heute möglich ist, über Mitgefühlsaspekte und mitfühlendes
Handeln in der Psychotherapie laut zu sprechen und nicht hinter vorgehaltener Hand,
erscheint mir nach 46- jähriger ärztlicher Tätigkeit wie ein kleines Wunder.
Eine von Lowns Krankengeschichten geht mir immer wieder sehr zu Herzen. Sie
handelt von einer extrem übergewichtigen Patientin mit erheblichen Herzproblemen,
von der er wohl recht barsch forderte, sie möge nun endlich abnehmen. Darauf geriet
die Patientin in einen Zustand, den wir heute dissoziativ nennen würden, schrie ihn
an, sie lasse sich von ihm nicht gefallen, auf seinen Befehl hin verhungern zu
müssen. Lown erfuhr, dass die Patientin eine Auschwitz Überlebende war und
bedauert in seinem Buch zutiefst seinen Mangel an Mitgefühl mit der Patientin. Er
mahnt uns, uns Zeit zu nehmen, um unsere Patienten gut zu verstehen. Die
Bereitschaft zu verstehen erscheint mir eine tragende Säule für Mitgefühl.
Hier ein Beispiel aus meiner Arbeit:
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In dieser Behandlung ging es lange Zeit darum, eine Beziehung zu etablieren, die es
dem Patienten erlaubte, überhaupt Hoffnung in Bezug auf die gemeinsame Arbeit zu
entwickeln. Dem stand die - zunächst unbewusste - Furcht entgegen, auch die
Therapeutin könne so gleichgültig und entwürdigend sein wie die Eltern. Diese
Befürchtung wurde zu Beginn der Behandlung von ihm nicht geäußert, sondern zu
einem viel späteren Zeitpunkt thematisiert. Zunächst rechnete der Patient jederzeit
damit, dass das, was er wollte, plante und sich wünschte, zunichte gemacht würde.
Auch das sagte er mir viel später. Ich konnte aber empathisch seine Vorsicht und
Zurückhaltung mir gegenüber spüren, und es war mir wichtig, sie mitfühlend zu
respektieren. Hier wird noch einmal der Unterschied zwischen Empathie und
Mitgefühl deutlich: zunächst die Einfühlung, dann aber eine handlungsorientierte
Konsequenz, nämlich die Zurückhaltung des Patienten als Manifestation
traumatischer Angst zu respektieren. Jedoch war es sein Wunsch, mehr fühlen zu
können.
Die Geschichte dieses Patienten steht beispielhaft für viele ähnliche von Kindern der
„Kriegskinder“ bzw. der KriegsteilnehmerInnen. Er erzählte, wie die extrem
belasteten Eltern völlig unfähig waren, sich auf die Bedürfnisse ihrer Kinder
einzustimmen und diese angemessen zu beantworten. Die Lebensgeschichte von
Herrn C. ist daher durch die Interaktionen mit den primären Bezugspersonen von
Gleichgültigkeit einerseits und mangelndem Mitgefühl, und massiver Abwertung bis
hin zu Demütigungen und Beschämungsszenarien andererseits geprägt. Beide
Eltern waren - wie das bei sehr vielen Patienten der Fall ist und erst in letzter Zeit
mehr berücksichtigt wird – durch Krieg, Flucht und Vertreibung traumatisiert, so dass
es verständlich wurde, dass sie unfähig waren, den Sohn angemessen emotional zu
spiegeln. An dieser Stelle war es in der Behandlung wichtig, dass ich nicht deutete,
sondern Mitgefühl für das Kind zeigte, und indem ich dann den Patienten einlud,
sich zu fragen, wie schlimm es für den Jungen war, so behandelt zu werden. Viele
TherapeutInnen meinen, sie müssten Partei ergreifen für die Eltern, darauf kommen
Patienten aber selbst, wenn sie es sind, die Mitgefühl erfahren.
Erst viel später in der Therapie, als Herr C. mehr Vertrauen zu mir gefasst hatte,
konnte er davon berichten, wie er als Kind, weil er sich so unglücklich gefühlt habe,
beschlossen habe, nicht mehr fühlen zu wollen und von da an jegliches Gefühl
unterdrückt habe. So konnten wir erst nach vielen Stunden besser verstehen, wie die
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Gefühlskälte zum Schutz des Kindes entstanden war. Das Abwehrsystem, das dem
Patienten bis dahin Halt gegeben hatte, wäre gefährdet gewesen, hätte er zu früh
darüber gesprochen. Schließlich berichtete der Patient davon, dass er sich als Kind
sichere Orte vorgestellt hatte und auch andere, liebevolle Eltern. Seine Augen
begannen zu leuchten, als er erzählte, dass er sich vorgestellt habe, wie er mit
diesen anderen Eltern an schöne Orte reiste. Diese Mitteilung erlebte ich wie ein
Geschenk, das der Patient sich selbst und mir machte. Und es war ein Wendepunkt
in der Behandlung. Nun konnte der Patient, verbunden mit seiner früheren
Imagination und vielleicht auch Hoffnung, mit Vergnügen Bilder von guten, heilsamen
Orten für seine kindlichen, verletzten Ichs erschaffen, das heißt er begann, mit sich
selbst mitfühlend und tröstend zu werden. Darüber konnten wir uns gemeinsam
freuen.
Ich gehe davon aus, dass PatientInnen sich danach sehnen, bewusst oder
unbewusst, dass wir mitfühlend auf sie eingehen. Wenn ihnen dieses Mitgefühl
begegnet und sie es annehmen können, können sie eingeladen werden, sich selbst
mitfühlend zu begegnen. Im Film kann sich Cyril durch die Begegnung mit einer
mitfühlenden Bezugsperson langsam öffnen. Allerdings lässt er sich auch dazu
verführen, sich einem älteren kriminellen Jugendlichen, einem Vaterersatz,
anzuschließen. Doch Samantha gibt nicht auf, so dass es Hoffnung für Cyril geben
kann.
Für manche PatientInnen besteht eine Schwierigkeit, dass sie sich genau dadurch,
dass sie sich ihren lange unterdrückten Schmerzen öffnen, von Schmerz überwältigt
fühlen. Das bedeutet, die Begegnung mit Schmerzlichem sollte nicht forciert werden,
sondern, wie Peter Levine das beschreibt, tröpfchenweise – titriert, nennt er das –
geschehen. – Was nicht ausschließt, dass manche Patienten auch einen großen
Schwall von Schmerz ertragen können und wollen, aber wir sollten das jedenfalls
nicht forcieren wollen. – Es sei erwähnt, dass zu viel Schmerz - ebenso wie zu viel
Angst - nicht geeignet ist, Hoffnung zu ermöglichen, sondern eher Hoffnungslosigkeit,
ja Verzweiflung. Hoffnung aber ist nach Fabrizio Benedetti das, was PatientInnen am
meisten hilft zu gesunden und dafür benötigen sie nach Benedetti das Mitgefühl des
Arztes/ der Ärztin. Benedetti ist Hirnforscher und belegt diese Erkenntnisse mit
naturwissenschaftlichen Mitteln, u.a. in seinem Buch „The patients brain“(Benedetti
2011). Mitgefühl bedeutet also im therapeutischen Prozess, so viel vom Patienten zu
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wissen und zu verstehen, dass wir in der Lage sind einzuschätzen, was ihm
zuzumuten ist. Daher ist ein Ingredienz des mitfühlenden Begleitens aus meiner
Sicht Geduld und Zeit haben, so dass der richtige Moment sich einstellen kann. Ich
weiß, dass das in Zeiten von „immer schneller, immer kürzer“ schwierig ist. Und ich
meine, wir sollten immer wieder mit Nachdruck vertreten, dass es für viele der
schwer belasteten PatientInnen notwendig ist, Zeit zu haben für ihre Entwicklung.
Das ist ein Akt mitfühlenden Handelns.
PatientInnen dabei zu helfen, dass sie mit sich selbst mitfühlender umgehen,
erscheint mir eine sinnvolle und notwendige Aufgabe zu sein. Dafür brauchen sie
unsere Anregungen, nicht selten uns als Vorbild.
Mitgefühl kann man nicht erzwingen, jedoch gehe ich davon aus, dass Sie alle
solche Momente des Mitgefühls schon erlebt haben, und ich wünsche Ihnen, dass
Sie durch Achtsamkeit die Weisheit in sich entdecken und entwickeln, das Mitgefühl
in sich immer mehr zum Klingen und zum Ausdruck zu bringen. Das ist in meinen
Augen etwas anderes als eine ausschließlich an Störungen und Manualen orientierte
Therapeutik – oder vielleicht auch Pädagogik - und die beiden, also Mitgefühl und
Manualorientierung sollten zusammen praktiziert werden.
Tanja Singer hat mit wissenschaftlichen Mitteln gezeigt, dass man Mitgefühl erlernen
und trainieren kann. Sie erforschte was geschieht, wenn Menschen mit einer
Achtsamkeitspraxis beginnen und danach zum Mitgefühl übergehen oder das
umgekehrt machen. Allerdings handelt es sich bei ihren ProbandInnen um gesunde
Menschen. Meine Vermutung aufgrund klinischer Erfahrung ist, dass bei unseren
PatientInnen der Weg vom Mitgefühl zur Achtsamkeit geeigneter ist. Sie können sich
übrigens im Internet über ihre Forschung informieren.
Mitfühlende ÄrztInnen vermitteln ihren PatientInnen für Momente die Erfahrung,
dass diese sich sicher und geborgen fühlen können. Dies wiederum wirkt Stress
reduzierend, und erst so kann der Patient mit uns gemeinsam Lösungen finden. Der
durch seine Erkrankung gestresste Patient kommt ja mit Angst. Mitgefühl kann
helfen, wieder – wie man so schön sagt - zu sich zu kommen, wieder
handlungsfähiger zu werden und auch wieder nachdenken zu können.
Ich nehme an, dass wir alle ziemlich genau wissen, dass wir Mitgefühl oder
Barmherzigkeit brauchen, da aber die aktuelle westliche Philosophie und
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Wissenschaft diesbezüglich nicht allzu viel zu bieten hat, verwundert es nicht, dass
immer mehr Menschen Interesse an dem buddhistischen Mitgefühlskonzept zeigen.
In dieser Kultur gibt es eine ausgefeilte Praxis, es zu entwickeln. Ein weiterer
wichtiger Aspekt ist dabei der, dass auch das Mitgefühl für sich selbst dort
eingeschlossen ist, als Basis für Mitgefühl mit anderen. Und nicht zuletzt, dass es
immer um Verbundenheit geht.
Freud habe die Welt so sehr entzaubert und so stark das autonome Ich betont, dass
die Beschäftigung mit buddhistischen Gedanken es Psychoanalytikern erst wieder
ermögliche, Verbundenheit zu erkennen und anzuerkennen, meint der amerikanische
Psychoanalytiker Jeremy Safran in seinem Buch „Psychoanalysis and
Buddhism“(Safran 2005). Aus meiner Sicht gilt dies genauso für die Väter der
Verhaltenstherapie und die Wissenschaft insgesamt. Vor Safran hat schon Erich
Fromm Ähnliches erkannt. Fromms Buch über Zen-Buddhismus und Psychoanalyse
war ebenso wie seine „Kunst des Liebens“ ein Bestseller in den 70er Jahren, heute
fast vergessen. Man sollte ihn wiederentdecken! Fromms Gedanken über das, was
Liebe ist, hat viel mit Mitgefühl zu tun, wenngleich er das Wort nicht benutzt, er
nennt vier Grundelemente, die für ihn zum Lieben und meines Erachtens auch zum
Mitgefühl dazu gehören können, nämlich: Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung
vor dem anderen und Erkenntnis. Es geht aus meiner Sicht vor allem um die Achtung
vor der Andersheit des Anderen, so dass wir manchmal auch Mitgefühl mit uns selbst
benötigen, um das ertragen zu können. Fromm illustriert seine Vorstellung von Liebe
am Beispiel des Jona aus der Bibel:
Jona ist ein Mann mit einem starken Gefühl für Gesetz und Ordnung. Gott erklärt
Jona, dass das Wesen der Liebe darin besteht, für etwas „zu arbeiten“ und „etwas
aufzuziehen“. Es handle sich um eine Antwort auf die ausgesprochenen oder
unausgesprochenen Bedürfnisse eines anderen menschlichen Wesens. Das ist in
anderen Worten Mitgefühl! Sich für jemand verantwortlich fühlen, heiße fähig und
bereit zu sein zu antworten. Der liebende Mensch antworte. So weit Fromm. Und
ich meine, dass wir, um uns an Fromm anzuschließen, Achtsamkeit und Mitgefühl
benötigen.
PatientInnen, die Mitgefühl erfahren, beschreiben das auch oft als ein
Beantwortetwerden. Liebe und Mitgefühl bedeuten auch, zu verstehen, dass der
andere um seiner selbst Willen und auf seine eigene Weise wächst und sich entfaltet.
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Wie können wir dahin kommen? Mitgefühl, ein Begriff, von dem Buddhisten wie
erwähnt, viel verstehen, wird im Buddhismus zusammen gesehen mit anderen
„himmlischen Verweilungen“.
Und in jedem Augenblick – wenigstens gelegentlich - ist die Zeit für alle himmlischen
Verweilungen, das sind neben Mitgefühl Freundlichkeit, auch „liebende Güte“
genannt, (Mit-)Freude und Gleichmut. Als ich Mitgefühl immer genauer zu verstehen
und zu leben versuchte – was natürlich nicht immer gelingt – entdeckte ich, wie
wichtig es für mich ist, mich zu freuen und dankbar zu sein, und dass dies wiederum
Mitgefühl begünstigt. Gleichmut entwickelt sich durch eine Fähigkeit, die Dinge des
Lebens zu betrachten, ohne sich dauernd mit ihnen zu identifizieren, da scheint mir
eine wie auch immer geartete Praxis der Achtsamkeit sehr nützlich.
Viele unserer PatientInnen lehnen sich dafür ab, ja hassen sich sogar dafür, dass sie
das, was sie sein sollten, nicht erreichen. Sie bezahlen einen hohen Preis dafür,
dass sie fühlen. Die „ersten Pfeile“, die ihnen das Leben zugemutet hat, führen dazu,
dass sie immer neue „zweite Pfeile“ gegen sich richten. Sie wünschen sich von ihrer
Not befreit zu sein und hoffen, wenn sie nur genügend gut, sprich: angepasst sind,
dann…PatientInnen praktizieren Achtsamkeit und meditieren, was manchen hilft zu
überleben, manche allerdings so sehr belastet, dass sie es schnell wieder aufgeben.
Deshalb empfehlen in Mediation und Achtsamkeit geschulte TherapeutInnen mit der
traditionellen Achtsamkeitspraxis vor allem bei traumatisierten PatientInnen
zurückhaltend zu sein, einige raten sogar völlig davon ab. PatientInnen suchen
Frieden und meditieren deshalb, aber sie fühlen sich häufig überall von Dämonen
umstellt. Dämonen der Vergangenheit, die sie nicht loslassen. Und dabei hilft ihnen
ihre Achtsamkeitspraxis in der Regel nicht, viele werden dadurch noch unruhiger und
ängstlicher, ich nehme an, weil diese Praxis sie nicht dabei unterstützt, mit sich
selbst mitfühlend zu werden. Häufig weil innere Dämonen, die wir Introjekte nennen,
das Mitgefühl nicht erlauben. Hier scheint es notwendig zu sein, dass wir zunächst
Mitgefühl aufbringen für die verletzten und vernachlässigten Anteile in ihnen, um sie
einzuladen, sich selbst mit Mitgefühl zu begegnen. Und sie andererseits dazu
ermutigen können, auch den Dämonen mitfühlend zu begegnen und anzuerkennen,
dass diese früher helfen wollten und genauso wie verletzte Anteile in der
Vergangenheit feststecken also nicht wissen, dass jetzt eine andere Zeit ist.
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Es geht also darum, die „Schreie der Welt zu hören“, wie die buddhistische Lehrerin
Pema Chödrön lehrt. Der Buddhismus sieht den Menschen als potentiell aus Liebe,
Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut heraus lebend. Also von seinem Potential her
ressourcenvoll ohne Bezug auf theistische Konzepte, was heute viele Menschen
anzieht. Christliche Werte sind ähnlich, aber eben mit theistischem Bezug.
Und genau hier ist die Stelle, wo es Mitgefühl braucht, aber eben auch
Selbstmitgefühl. Die Schreie der Welt tagein, tagaus mit offenen Ohren und offenem
Herzen zu hören, das ist nicht leicht. Der Buddha war weise, deshalb stellte er dem
Mitgefühl drei weitere an die Seite: liebende Güte, Gleichmut und, für mich das
Wichtigste: Mitfreude. Ohne Freude im Leben und bei der Arbeit kann man nicht
mitfühlend sein. Ich fand einen schönen Vergleich bei einer psychoanalytischen
Kollegin vom William Allison White Institut in New York, Sandra Buechler: Die
Analytikerin müsse es halten wie eine Mutter im Flugzeug, erst müsse sie selbst die
Sauerstoffmaske anlegen, und dann dem Kind. Wir sollten viel tun, dass wir Freude
im Leben, in der Therapie und am Leben haben. Ich stelle mir Mitgefühl als den
tragenden Grund vor und Freude als den Sauerstoff der Arzt-Patient Beziehung.
Ich möchte daher auch einen Weg des Sichfreuens empfehlen sowie der
Dankbarkeit. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es dann leichter fällt, mitfühlend zu
sein, und das mag unsere Fähigkeit zu hoffen ermöglichen und diese wiederum an
unsere PatientInnen zu vermitteln.
Aus der Sicht von Patienten sind die meisten positiven Veränderungen im
Therapieprozess weder durch strategische Interventionen noch durch kluge
Deutungen des Therapeuten zustande gekommen, sondern durch Momente der
Begegnung. Aus meiner Sicht gibt es eine Chance, solche Momente zu
unterstützen, das ist eine achtsame und mitfühlende Haltung. Wenn man
Achtsamkeit aber als eine neue Technik verwendet, ist damit wenig gewonnen. Dann
hat die Seele wieder keinen Platz, weil es das Herz nicht hat. Was wir brauchen ist
mehr Mut, uns auf die angeblich unspezifischen Faktoren einzulassen, sie sind
möglicherweise viel spezifischer als uns die Forschung bisher sagen konnte. Der/die
achtsame und mitfühlende Therapeut/Therapeutin ist gefragt, und ich bin mir sicher,
dass alle hier das bereits sind. Wir müssten nur ein bisschen mehr öffentlich dazu
stehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Copyright: Dr. Luise Reddemann – Weitergabe bitte nur nach Rücksprache mit der
Autorin
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