Durch die zugenagelten Fenster dringt nichts

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ПРЕДИСЛОВИЕ
Данное пособие подготовлено в соответствии с учебной программой
для дисциплины «Немецкоязычная литература на современном этапе» и
предназначено для студентов 2-го курса факультета иностранных языков,
изучающих немецкий язык как основную специальность. В рамках данного
курса студенты знакомятся с особенностями литературного процесса в
Германии, начиная с 80х гг. прошлого века и до наших дней.
Пособие содержит методический материал для практических занятий
по дисциплине. Основная цель пособия – привить студентам комплекс
необходимых навыков и умений для
глубокого понимания и
интерпретации художественных текстов разных жанров на немецком
языке.
Пособие состоит из трех разделов: «Читатель и текст»,
«Литературный текст и его структура», «Литературный текст и контекст».
Данная структура обусловлена коммуникативным своеобразием
литературного дискурса и учитывает при интерпретации художественного
текста такие аспекты как рецепция текста, внутренняя структура текста и
условия его возникновения.
Каждый раздел включает:
 базовые литературоведческие понятия, владение которыми
необходимо студентам для интерпретации художественных текстов;
 краткую характеристику соответствующего жанра;
 оригинальные тексты разных жанров, представляющие собой
типичные образцы современной немецкоязычной литературы;
 задания, предназначенные для программирования работы по
интерпретации содержания, а также задания для развертывания дискуссии
по проблемам, затронутым в текстах;
 вспомогательный аппарат в виде комментариев, указаний, важных
советов.
Тексты из соответствующих разделов связаны между собой общим
характером заданий. Первый блок послетекстовых заданий предназначен
для
обучения
студентов
простейшим
приемам
анализа
художественноготекста и его смысловой интерпретации. Основная цель
этих заданий заключается в выявлении художественного своеобразия
текстов посредством их комплексного анализа. Второй блок заданий носит
выраженный коммуникативный характер, поскольку предполагает
обсуждение проблемных вопросов, затронутых в тексте.
4
Предполагается, что работа над текстами может вестись как под
руководством преподавателя, так и внеаудиторно. На внеаудиторное время
рассчитан подготовительный этап, предваряющий комплексный анализ
текста, - чтение текста с достижением наиболее полного понимания
содержания, поскольку этот вид работы напрямую зависит от степени
сформированности лингвистической компетенции каждого студента.
После
усвоения
базовых
теоретических
понятий
возможна
самостоятельная работа студентов над формальными элементами текста,
выделение ими темы и идеи с последующим обсуждением в аудитории.
Умение изложить свои наблюдения в связной устной или письменной
форме является конечной целью работы с текстами.
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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur: Thematisches
Inhaltsangebot
Mit dem Begriff „Gegenwartsliteratur“ verbindet man immer noch
Autoren wie H. Böll, G. Grass, M. Frisch: D. h. alles, was nach 1945
veröffentlicht worden ist, wird zur „Gegenwartsliteratur“ gerechnet. Dabei sind
die genannten Autoren am Anfang des 20. Jh. geboren. Es haben auch „jüngere“
Autoren wie T. Bernhard, P. Handke, B. Strauß ihren Platz in der Literatur
gefunden. An der Spitze der Bestsellerliste steht auch heute P. Süskinds Roman
„Das Parfüm“ von 1985. Es gibt aber auch umfangreiche zeitgenössische
Literatur. Diese Literatur entsteht „zeitgleich mit unserem Leben als Leser, die
Autoren schreiben aus unserer Zeit für unsere Zeit». Diese Literatur ist noch
nicht überprüft, nicht in die Leserlisten für Schulen und Gymnasien
aufgenommen. Dabei schildern gerade diese literarischen Werke den Zeitgeist
der Epoche. Da es ziemlich problematisch ist, die in den letzten Jahrzehnten
veröffentlichte Literatur vollständig zu untersuchen, werden in der Fülle der
literarischen Produktion der letzten Jahrzehnte Schwerpunkte auf einzelne
Themen gesetzt. Die Anzahl der thematischen Zuordnungen ist begrenzt. Die
unten genannten Themen sind mit dem Kommentar versehen, der auf einige
Besonderheiten der Literaturentwicklung hinweist. Vor dem Kommentar wird
die Zeittafel angeboten, die die wichtigsten kulturellen und politischen
Ereignisse vorstellt.
Literatur der 80er Jahre in der BRD und der DDR.
Geschichtliche Daten
1982 CDU/CSU übernimmt die Regierung mit Bundeskanzler Helmut
Kohl
1985 In der UdSSR kommt der neue Parteichef Michail Gorbatschow an
die Macht. H. Böll stirbt.
1986 Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Etwa 50 000 Menschen
demonstrieren
in
Wackersdorf
gegen
die
geplante
atomare
Wiederaufbereitungsauflage.
1987 In der UdSSR fordert M. Gorbatschow tiefgreifende Veränderungen
in Wirtschaft und Gesellschaft, die Begriffe „Glasnost“(Offenheit) und
„Perestrojka“(Umgestaltung) wecken große Erwartungen.
1989 Im Januar beginnen in der Tschechoslowakei Demonstrationen für
die Meinungsfreiheit. Nach umfangreichen Protesten beschließt das Parlament,
die Führungsrolle der kommunistischen Partei aus der Verfassung zu streichen.
Im Februar beginnen in Polen am „Runden Tisch“ Gespräche zwischen der
kommunistischen Regierung und der um die Gewerkschaft „Solidarnost“
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gruppierten Opposition. Tausende DDR-Urlauber fliehen über Ungarn nach
Österreich und in die BRD. Im September öffnet die ungarische Regierung die
Grenze für alle Bürger der DDR; bis Ende Oktober verlassen über 50 000
Menschen das Land. Am 18. Oktober wird Erich Honecker von allen
Funktionen in Partei und Staat entbunden. Am 18. März finden in der DDR die
ersten freien Wahlen statt. Am 9. November fällt die Berliner Mauer.
3.10.1990 Tag der deutschen Einheit: DDR tritt der Bundesrepublik
Deutschland bei.
Die Literatur in der BRD
In den 80er Jahren wenden sich viele Autoren zu den gefährlichen
Konsequenzen der Nutzung der Kernenergie, zu der Verschmutzung und
Zerstörung der Umwelt. G. Grass veröffentlichte 1986 den Roman Die Rättin.
Das ist eine apokalyptische Satire auf den Untergang unserer Welt. Nach dem
Atomkrieg retteten sich nur die Ratten. Der Ich-Erzähler des Romans als „der
letzte Mensch“ führt Gespräche mit einer Rättin, die ihm die Gründe des
Menschlichen Verfalls darlegt.
Eine
neue
Entwicklung
bekommt
das
Thema
der
Vergangenheitsbewältigung. Unter diesem Begriff versteht man die Literatur,
die mit der Zeit des Faschismus auseinandersetzt. Die Diskussion der Frage der
Schuld und Mitschuld der Deutschen an den Verbrechen des NationalSozialismus begann in der Bundesrepublik in den 60ern. Seitdem geht sie wie
ein roter Faden durch die deutsche Nachkriegsliteratur. Aber in den letzten
Jahren sind auch die kritischen Stimmen hörbar: Da dieses Thema
jahrzehntelang behandelt worden ist, erscheint sie vielen gegenwärtig als nicht
unbedingt notwendig. Nichtsdestoweniger werden die weiteren Versuche
unternommen, den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart zu
zeigen. In den 80er Jahren schreiben Autoren über individuelle Schicksale, um
über die Vergangenheit Aufschluss zu bekommen. Jurek Becker, der zu dieser
Zeit mit dem DDR-Visum in West-Berlin lebte, veröffentlichte 1986 den Roman
„Bronsteins Kinder“. Der 19jährige Jude Hans entdeckt, dass sein Vater und
zwei weitere Juden ihren ehemaligen KZ-Aufseher in einem abgelegenen
Holzhaus gefangen halten. Aus dieser Entdeckung resultieren lang vermiedene
Gespräche zwischen Sohn und Vater, aber auch Gespräche zwischen Sohn und
dem Gefangenen.
1987/1988 erschienen einige aus ganz unterschiedlichen Perspektiven
unternommene Auseinandersetzungen mit dem „Deutschen Herbst 1977“, dem
Höhepunkt des Terrorismus in Deutschland. Rainhald Goetz erzählt in
Kontrolliert(1988) eine ganz konkrete Geschichte des Jahres 1977, von der
Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer bis zu seiner
Ermordung. Es wird die Frage erhoben, wie junge Menschen zu Terroristen
7
werden. Fridrich Christian Delius veröffentlichte den dokumentarischen Roman
Mogadischu Fensterplatz, der die Ereignisse von Mogadischu darstellt. 1977
war dort in Somalia ein von Terroristen entführtes Flugzeug gestürmt und
befreit worden, was Opfer auf beiden Seiten kostete.
M. Walser beschäftigt sich weiter mit mitmenschlichen Beziehungen.
1985 erschien sein Roman Brandung. Der Protagonist des Romans Helmut
Halm bekommt ein Angebot eines Gastsemesters in Kalifornien. Dort trifft er
die junge Studentin, verliebt sich in sie, aber kann sich zwischen Lebensgier und
Lebensangst nicht entscheiden.
Literatur in der DDR
DDR-Vergangenheit ist schon ein Teil der deutschen Geschichte. Nach
der Vereinigung entstand die Frage nach der ostdeutschen Literatur. Nach der
Wende wurden die Texte von den DDR-Autoren konsequent aus dem
Curriculum verdrängt. Man warf dieser Literatur Einfältigkeit und
Ideologisierung vor. Deswegen kann heute eine bestimmte literarische und
sprachliche Praxis verlorengehen, vor allem die für den Westen unübliche
Mehrdeutigkeit ostdeutscher Texte. In der DDR existierten eigentlich zwei
Literaturen – die mehrschichtige „offizielle“ und die zum Veröffentlichen
verbotene „unerwünschte“ Literatur.
Die oppositionelle Literatur setzte sich kritisch mit dem Land DDR
zusammen. Der bedeutendste Vertreter der oppositionellen Literatur war der
berühmte Liedermacher W. Biermann. Jahrelang war sein Schaffen in der DDR
verboten. 1976 wurde er aus der DDR ausgebürgert, was zu einem „Exodus“ der
Künstler (aus Solidarität mit Biermann) brachte. Ab 1979 wurde Kritik an DDRVerhältnissen als staatsfeindliche Aktivität bestraft. Die Kontrolle über
missliebige kritische Autoren oblag der Stasi (dem Staatssicherheitsdienst). Die
Stasi hatte einen eigenen Überwachungsapparat, der die Schriftsteller ausspähte.
Viele Dichter wurden verfolgt. Nah der Öffnung der Stasi-Akten ab 1990 zeigte
sich, dass es auch unter den Schriftstellern viele Informanten gab.
In der offiziellen Literatur kennzeichneten sich die 80er Jahre durch die
zunehmende Zuwendung zur Mythologie. Mythos – aus dem Griechischen – ist
eine sagenhafte Erzählung. Die Mythen erzählen und deuten bildhaft die
Ereignisse der Vorzeit. Sie veranschaulichen die Entstehung der Welt, der
Religionen, der Götter, aber auch drücken das Welt- und Selbstbild der
Menschen aus. Die ältesten europäischen literarischen Mythen stammen aus der
griechischen Antike. Im breiteren Sinn bezeichnet der Begriff auch die
legendären Personen und Ereignisse. Da man in der DDR über die aktuellen
Zustände oft nicht offen sprechen durfte, versuchten die Literaten in den Mythen
und Legenden Realität zu verbergen. 1983 wandte sich die renommierteste
8
Schriftstellerin der DDR Christa Wolf dem Mythos über Kassandra zu, die bei
ihr vergebliche Bemühungen veranschaulicht. Die Erzählung Kassandra stellt
die Erinnerungen der Tochter des Trojanischen Zaren dar, die voraussehen kann.
Die Schriftstellerin verknüpft den Mythos über den Trojanischen Krieg mit der
Gegenwart, wo auch keiner die Warnungen von Kassandra hören würde wie in
der Antike.
In den 80er Jahren schreibt man die prosaischen Werke, wo detailliert
individuelle Probleme geschildert werden. 1983 erschien die Novelle von
Christoph Hein Der fremde Freund (in der Bundesrepublik unter dem Titel
Drachenblut). Das Werk wurde stark beachtet und machte Hein einem
größeren Kreis bekannt. Hier wird die Geschichte einer Ärztin namens Claudia
erzählt, die in der Anonymität eines Hochhauses wohnt und auf eine ähnliche
Weise auch ihr Leben einrichtet. Sie verzichtet bewusst auf Beziehungen und
Gefühle, sogar wenn es um Beziehungen mit dem Architekten Henri geht. Der
Preis ist hoch: Einsamkeit und Isolation. Aber das ist der Ärztin lieber als die
Möglichkeit verwundet zu werden.
Als Dramatiker folgte C. Hein auch der Tendenz der Epoche, Aktuelles
durch Geschichte und Mythos zu zeigen. So ist z. B. sein Stück Die Ritter der
Tafelrunde (1986). Im Drama werden tiefere Gründe für rasches Verschwinden
des vierzigjährigen Staates DDR gezeigt. Im Stück geht es um die alt
gewordenen Artusritter. Die alten Werte der Ritter gelt nicht mehr: Niemand
will mehr etwas vom Gral hören, sogar die Ritter der Tafelrunde selbst. Keie,
einer der Ritter, sagt: „Wir haben ihnen ein Paradies auf Erden geschaffen“,
doch entgegnet ihm Mordred, der Sohn von Artus: „Und wolltet sie in dieses
Paradies hineinprügeln“. Mordred bezeichnet den Gral als ein Phantom, dem die
Ritter ein Leben lang hinterhergejagt seien, dabei sind sie nichts anderes als
verstörte Greise geworden. Keie sieht, welche Dummheiten die Ritter begangen
haben, doch weiß er nicht, was falsch war: „Wir haben unser Leben für die
Zukunft geopfert, die keiner haben will“. Die Parallelen zwischen den alten
Rittern und den die versteinerten Greisen im Politbüro der SED waren
offensichtlich. Die Aufführungsgeschichte des Stückes ist kennzeichnend für die
Zustände in den letzten DDR-Jahren:
o
1985/86 schrieb C. Hein das Stück „Die Ritter der Tafelrunde“
o
1988 überarbeitete er das Stück und übergab es dem Dresdner
Staatsschauspiel zur Uraufführung. Die Zensurinstanz hatte bestimmt: Die
Zuschauer seien „politisch noch nicht reif“ für den Text
o
1989 begannen trotz fehlender Genehmigungen die Proben; Mitte
März besichtigten Vertreter des Staates und der SED einen Durchlauf der
Inszenierung von Klaus Dieter Kirst, verordneten die Streichung einiger
Textstellen und erlaubten vier Voraufführungen, um die politische Wirkung zu
testen; am 12. April 1989 fand die offizielle Uraufführung statt. Die offizielle
9
Theaterkritik der DDR behandelte Die Ritter als weit zurückliegende Historie,
als Darstellung vergangener Geschehnisse; kritische DDR-Bürger sahen in
diesem Stück die Parallelen mit der Realität
o
Das Stück erlebte viele Inszenierungen, allerdings nur eine in den
alten Ländern der Bundesrepublik und eine in Wien.
Postmoderne Literatur
Der Begriff Postmoderne dient zur Bezeichnung des Zustands der
abendländischen Gesellschaft, Kultur und Kunst „nach“ der Moderne (die
Moderne umfasste die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts). Aber postmodernes
Denken ist eine kritische Denkbewegung. Das ist ein ganz besonderes Weltbild,
das in der Kultur in der zweiten Hälfte des 20. Jh. erschien. Besonders intensiv
war die Diskussion, was eigentlich postmodern sei, seit Anfang der 1980er
geführt. Die Entstehung der neuen Denkweise war durch die radikalen
Veränderungen in der Kultur und Gesellschaft bedingt. Das sind vor allem der
Zweite Weltkrieg (vernichtete den Glauben an Vernunft), ökologische
Katastrophen (Tschernobyl), neue Massenmedien (Fernsehen, Internet). In der
Postmoderne steht nicht Innovation im Mittelpunkt des künstlerischen
Interesses, sondern eine Rekombination oder neue Anwendung vorhandener
Ideen. Die Welt wird in der Postmoderne als etwas Chaotisches, Zufälliges,
Absurdes erlebt. Als Folge gibt es in dieser Welt keine allgemeingültige
Wahrheit, keine festen moralischen Regeln. Stattdessen – absolute Relativität
aller Werte, Mehrheit von Stilen und Bewertungen.
Das postmoderne Denken in der Literatur ist mit der Veränderung der
Vorstellungen von dem literarischen Werk verbunden. Die Rezeption des
literarischen Werkes wird als kommunikativer Akt betrachtet, eine Art
Kommunikation zwischen Autor, Text und Leser. Nur im kommunikativen Akt
der Rezeption bekommt der Text seinen Sinn. Postmoderne Erzählweisen
setzten sich in vielen Literaturen durch (Barns, Pelewin, Sorokin, Süßkind,
Ransmayr). Die häufigste Erscheinungsform der postmodernen Literatur ist der
postmoderne Roman. Im postmodernen Roman gibt es keine lineare
Erzählweise, die Erzählung wird fragmentarisch, unchronologisch, sodass der
Leser selbst das Geschehen konstruieren muss, es geht um den Sinn des Lebens
nicht. Außerdem sind für den postmodernen Roman folgende Kennzeichen
typisch:
 Intertextualität (postmoderne Autoren beziehen sich auf ältere, bekannte
Texte, die sie zitieren und kollagieren). Die Formen der literarischen
Intertextualität können ganz verschieden sein: Die Autoren können die Themen
oder die Fabeln der bekannten Werke verarbeiten, oder die Allusionen
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(Andeutungen) auf diese Werke verwenden. Die Intertextualität ist mit der
Erkenntnis verbunden, dass etwas Neues nicht mehr generieren lässt.
Problematisch wird die Analyse der Intertextualität, wenn ein Verweis auf
verwendetes Material für den Leser ausbleibt.
 Betonung des Spielerischen (Vernichtung der Grenze zwischen dem
Realen und dem Fiktiven, Vergangenheit und Gegenwart, Mystifizierungen).
Der Autor spielt mit den Texten, aus denen er seinen schafft, der Leser spielt mit
seinem Text, dem er den Sinn gibt. Als Folge hat das Werk mit der Wirklichkeit
nicht zu tun, es ist total ironisch.
 Mehrfache Codierung (postmoderne Literatur ist Massenliteratur mit
philosophischen Gedanken). Postmoderne Literatur ist eigentlich „gehobene“
Unterhaltungsliteratur, die zwischen der „ernsten“ und serieller Trivialliteratur
steht.
Das bedeutendste Beispiel der deutschsprachigen postmodernen Dichtung
bleibt auch heute der Bestseller von P. Süskind Das Parfüm. Die Geschichte
eines Mörders. Im Roman wird die Geschichte eines fiktiven Parfümeurs JeanBaptiste Grenouille erzählt. Der Erzähler bezeichnet ihn als „abscheuliches
Genie“. Er kommt zur Welt in elenden Verhältnissen in Paris 1738. Grenouille
ist hässlich und völlig geruchslos, deshalb ist er ein vollkommener Außenseiter
ohne Moral und Gefühle, er verfügt aber über eine seltene Gabe – er besitzt den
absoluten Geruchssinn. Nach einer Ausbildung als Parfümeur kann er Parfums
herstellen. Um geliebt zu werden, braucht er das „absolute“ Parfum, das er nur
aus dem Geruch junger Frauen gewinnen und konservieren kann, wenn er sie
getötet hat. Nach seinem 25. Mord wird er gefasst, entgeht aber mit Hilfe seines
Parfums dem Schafott. Aber dasselbe Parfum verursacht auch sein Ende. Im
Kontext der zeitgenössischen Literatur scheint der Roman fast anachronistisch
zu sein: er hat einen streng chronologischen Handlungsaufbau, die auktoriale
Erzählhaltung und keine inneren Monologe. Der Erfolg des Romans ist vor
allem durch seine sprachliche Virtuosität bedingt: Variation in der sprachlichen
Gestaltung, farbige Darstellung des historischen Hintergrunds, Anschaulichkeit
bei der Beschreibung der Gerüche, intertextuelle Bezüge zu Stil- und
Motivelementen anderer Autoren, besonders der „schwarzen Romantik“ (A.
Chamisso, E. T. A. Hoffmann). Der Roman hat aber auch den philosophischen
Hintergrund: es wird hier das Thema der Verführbarkeit und der Manipulierung
der Masse angedeutet.
In die Kategorie „postmodern“ kann man auch sehr erfolgreichen Roman
vom österreichischen Schriftsteller Christoph Ransmayr Die letzte Welt
einreihen (1988). „Postmodern“ ist hier die Auffassung von Geschichte als
bereits erzählter Geschichte. Hier gibt es intertextuelle Bezüge zu Ovids
Metamorphosen. Die fiktive Hauptfigur Cotta unternimmt eine Reise in den Ort
Tomi am Schwarzen Meer, wohin der Kaiser Augustus den berühmten
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römischen Dichter Ovid verbannte. In Rom kursieren Gerüchte über Ovids Tod,
so versucht Cotta, ein römischer Freund Ovids, auf seine Spuren zu kommen.
Cotta versucht auch Ovids Hauptwerk, „Die Metamorphosen“ wiederzufinden.
Der Roman kennzeichnet sich durch postmoderne Erzählweise: in Cottas
Realität leben auch Figuren aus Ovids Metamorphosen, es gibt keine scharfe
Trennung unterschiedlicher Zeitebenen (Cotta bewegt sich simultan in der
römischen Zeit und in der Gegenwart).
Literatur nach der Wiedervereinigung
Die Ereignisse im Herbst 1989 brachten zum Fall der Mauer am 9.
November und zur Wiederherstellung der deutschen Einheit am 3. 10. 1990.
Die überraschende politische Wende, der kurze Prozess der Eingliederung
(Beitritt der DDR) und der lange Prozess des „Zusammenwachsens“ schufen
einen Orientierungsbedarf. Es wurden Dokumente über Bespitzelung
„unzuverlässiger“ Autoren veröffentlicht, diese Akten wurden also auch den
Betroffenen zugänglich. So legte Reiner Kunze aus den Aktenauszügen sein
Werk „Deckname Lyrik“. Es kam die Zeit der Selbstbefragung, was ein jeder
während des DDR-Regimes gemacht hat. Seit 1989 bestimmt die Frage des
Verhältnisses des Schriftstellers zu Politik und Macht heftige Diskussionen. In
dieser Situation erschien die Erzählung von C. Wolf Was bleibt und löste sofort
heftige Debatten aus. C. Wolf war zu dieser Zeit die renommierteste
Schriftstellerin der DDR, die übrigens auch außerhalb der DDR hochgeachtet
und mit Preisen ausgezeichnet war. Diese Erzählung erschien kurz nach der
Wende, aber entstanden war sie noch 1979. Die Ich-Erzählerin, eine in der DDR
lebende Schriftstellerin berichtet von ihrer Überwachung durch die Stasi. Im
Text werden die Geschehnisse eines Tages gezeigt. Es geht darum, wie das
Gefühl der Angst ihr Leben, Denken und Handeln bestimmt. Der Titel ist
zugleich Feststellung und Frage nach dem, was von der sozialistischen Utopie
übrig geblieben ist. Die Erzählung wurde Anlass zu einer polemisch geführten
Mediendebatte. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war der Grund dazu, warum
eine Diskussion zu einem regelrechten Literaturstreit wurde, der die
Schriftsteller aus beiden Teilen Deutschlands in zwei Parteien teilte. Die
Erzählung erschien unmittelbar nach der Wende. Es wurde der Autorin
vorgeworfen, dass sie sich als privilegierte „Staatsdichterin“ der DDR als Opfer
der Stasi darstellte und es ihr an Mut fehlte, sich vom DDR-Regime zu
distanzieren. Der Streit weitete sich zu einer Abrechnung mit der DDR-Literatur
schlechthin. Ungeklärt blieb nach allen Diskussionen die Frage: Wie politisch
darf/ soll Literatur sein?
Das bedeutendste Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte – die
Wende - war noch lange Zeit in der Literatur nicht thematisiert. Die unverhoffte
12
Vereinigung der beiden Staaten schien zunächst die Menschen im Osten
Deutschlands allein zu betreffen. Die direkt Betroffenen – die DDR-Autoren –
reagierten auf die Geschehnisse eher emotionell: Einerseits beleuchteten sie den
Staat DDR kritisch, andererseits beharrten sie auf seinen sozialistischen
Traditionen und Hoffnungen. Erst später setzten sich vor allem ostdeutsche
Autoren mit den Voraussetzungen und Auswirkungen des Umbruchs
auseinander und beschrieben die Anpassungen, Widerstände und Brüche in
eigenen und erdachten Lebensgeschichten. Es entstand die sogenannte „PostDDR-Literatur“, die den kollektiven Identitätsumbruch in den neuen
Bundesländern zeigt. Von den Schriftstellern wurde der gültige „Wenderoman“
oder der „deutsche Einheitsroman“ gefordert. Am nächsten kam dieser
Forderung Ingo Schulze mit seinem Roman Simple Storys. Ein Roman aus der
ostdeutschen Provinz (1998). Die Kritiker nannten ihn „den langersehnten
Roman über das vereinigte Deutschland“. Der Roman besteht aus 29
Kurzgeschichten, in denen 14 Ich-Erzähler und 24 weitere Figuren aus den
Familien Meurer und Schubert und aus ihrem Umkreis auftreten. Es sind
lakonisch erzählte Episoden aus der Wendezeit, die den Alltag in der
sächsischen Stadt Altenburg zu Anfang der 1990er Jahre zeigen. Jede
Kurzgeschichte ist eine direkte Selbstaussage, die vom Autor nicht kommentiert
wird. Die Geschichten zeigen die untergegangene DDR, die Hoffnungen und
Enttäuschungen beim Ankommen im Westen nach 1989, den Identitätsverlust
und Ratlosigkeit vor dem Neuen (Kapitalismus, Arbeitslosigkeit, Warenwelt,
Stasi-Enthüllungen). Der Roman bietet einen genauen Überblick über die
ostdeutsche Wirklichkeit. Der Erfolg des Romans ist damit verbunden, dass es
dem Autor gelungen ist, die Position des unbeteiligten Beobachters
auszudrücken.
Westdeutsche Autoren beschäftigen sich aus einem anderen Blickwinkel
mit dem Zusammenbruch der DDR. Günter Grass stellte sich kritisch zu der
Wiedervereinigung, die er „den moralischen Ausverkauf“ nannte (er meinte,
dass nicht alles in der DDR schlecht war, solche Errungenschaften wie
Solidarität und soziale Leistungen könnte man bewahren). 1995 veröffentlichte
er seinen Roman Ein weites Feld. Das ist ein breit angelegter Roman über den in
der DDR lebenden Theodor Wuttke. Der Roman hat in Ost und West ein
heftiges und ganz anderes Echo hervorgerufen. Die Ostdeutschen sahen im
Werk ein genaues Porträt ihres DDR-Lebens, im Westen aber wurde der Roman
wegen der Verharmlosung der Methoden der Staatssicherheit kritisiert.
In den 90-ern wird die zunehmende Abneigung den postmodernen
Sprachspielen gegenüber unter den deutschen Intellektuellen deutlich. Der
traditionelle Roman wird wieder zu einer der bedeutendsten Gattungen der
Epoche. Die Thematik der Romane ist sehr bunt und vielfältig, sie lässt sich
nicht zu einem gemeinsamen Nenner führen. Die Klassiker der deutschen
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Literatur wie Grass und Walser wenden sich wieder zum Thema der
Vergangenheitsbewältigung. Martin Walser veröffentlicht 1991 seinen
Epochenroman Die Verteidigung der Kindheit. Dieser Roman ist auf
authentischem Material gebaut. Das private Schicksal verflicht sich hier mit
dem nationalen. Der Protagonist des Romans Alfred Dorn geht in der 50er
Jahren illegal von Dresden nach Westberlin, um dort Jura zu studieren. Er bleibt
auch im westlichen Teil ein Außenseiter. Der Roman notiert die Begebenheiten
des alltäglichen Lebens Deutschlands in 6 Jahrzehnten – von 1927 bis 1987.
Mit seinem Zeitroman Mein Jahrhundert (1999) hat Günter Grass die
umfassende Geschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Der Roman besteht
aus hundert Erzählungen, die einen Rückblick auf das 20. Jh. werfen. Diese
Erzählungen werden aus der Sicht von verschiedensten Menschen aus allen
Bereichen der deutschen Gesellschaft erzählt. Zu jedem Jahr des Jahrhunderts
gibt es eine Kurzgeschichte, deren Titel die Jahreszahl ist. In fast jeder
Kurzgeschichte gibt es einen anderen Erzähler, so dass sich die Perspektive
ständig wechselt: Den Kapiteln, die aus der Perspektive der KZ-Gefangenen
erzählt werden, folgen die Kapitel, wo Erzähler SS-Leute sind. Die historisch
wichtigen Ereignisse werden parallel zu den individuellen Schicksalen
beschrieben. Einige Kurzgeschichten sind autobiographisch geprägt, sie geben
die Perspektive von Grass selbst auf die beschriebenen Ereignisse wieder.
Spürbar ist kritische Stellung des Dichters bezüglich der Perspektiven der
deutschen Nation. Die Hauptaussage des Romans: Die Gegenwart und Zukunft
sind von der Vergangenheit abhängig. Die nicht gelösten und nicht
besprochenen Probleme von gestern tauchen auch heute auf wie z. B.
Ausländerfeindlichkeit. Mit seinem Roman wirft Grass die Frage auf, ob man
die Geschichte überhaupt bewältigen kann.
Jüngere deutschsprachige Gegenwartsliteratu
Geschichtliche Daten
1997 Es wird über Klon-Schaf Dolly berichtet
1998 In Berlin kommt die SPD an die Macht, es kommt zum
Regierungswechsel (G. Schröder wird zum Bundeskanzler)
1999 Kosowo-Krieg und Bombenangriffe auf Belgrad;
G.
Grass wird Literaturnobelpreis verliehen.
2001 Islamistischer Terroranschlag in den USA am 11.09.2001
2002 Einführung des Euro
2003 Gefangennahme Saddam Husseins nach dem Irak-Krieg
2004 Elf Oscars für den Film „Herr der Ringe“ – 3. Teil: „Die Rückkehr
des Königs“
14
Seit der Wende sind auch die Werke erschienen, die sich nicht mit den
Themen der Teilung und Vereinigung Deutschlands befassen. Es werden weiter
Formen und Inhalte der postmodernen Literatur erprobt. Auch deutschsprachige
Autoren aus der ehemaligen Tschechoslowakei, aus Rumänien, den ehemaligen
sowjetischen Saaten veröffentlichen in Deutschland. Mit der Entwicklung der
Medien und neuer Kommunikationsmittel erschienen neue Formen der Literatur
wie Pop-Literatur und digitale Literatur. Diese oben genannten Tendenzen sind
mit dem Oberbegriff „jüngere deutschsprachige Literatur“ gekennzeichnet. So
wird die Literatur derer bezeichnet, die ab 1960 geboren und ab den 1990er mit
markanten Werken hervorgetreten sind. Es sind Autor(innen), die zwar noch
keinen der großen Literaturpreise bekommen haben, jedoch schon viel
Aufmerksamkeit hervorgerufen haben. Diese neue Generation veränderte
wesentlich literarische Verhältnisse. Die junge deutsche Literatur bekam so
große Aufmerksamkeit wie nie zuvor. Die Bücher der Debütanten haben hohe
Marktpreise und große Auflagen. Mit den Namen der jungen Literaten ist das
neu erwachte Interesse an der Gegenwartsliteratur verbunden.
In den Neunzigern wird wieder die Literatur erzählenden Charakters
populär. Dabei überwiegen die prosaischen Kurzformen, eine neue Blüte erlebt
die Kurzgeschichte, die seit den Fünfzigern nie solche Präsenz in der Literatur
hatte. Der Kurzprosa der ostdeutschen Autoren, die ihre Jugend noch in der
DDR verbrachten, ist das Phänomen der „Ostalgie“ (einer Sehnsucht nach der
vergangenen DDR) zu verdanken. Sie erzählen über die DDR und alle Dinge,
Gewohnheiten und Lebensweisen, die mit ihr verschwunden sind. Nach 1989
fanden sich diese Autoren plötzlich in einem anderen Gesellschaftssystem
wieder, so können sie auf ihr früheres Leben jetzt wie mit den fremden Augen
sehen und die damaligen Absurditäten distanziert betrachten. Diesem
erfolgreichen Vorbild folgten bald auch die jungen westdeutschen Autoren: Sie
begannen damit, die Geschichte ihrer Jugend in der bundesrepublikanischen
Provinz zu erzählen. In den Kurzgeschichten junger Autoren steht das eigene
Leben im Vordergrund, deswegen sind es meist Ich-Erzählungen. Die IchErzählung gab es immer in der Literatur und immer galt es: Der Ich-Erzähler ist
nicht mit dem Autor identisch. Die jüngste Kurzprosa ist so gestaltet, dass der
Ich-Erzähler hier keine fiktive Konstruktion ist, sondern die Stimme des Autors
selbst. Einerseits erwecken solche Texte den Eindruck der vollen Authentizität,
andrerseits begrenzt sich der Blick auf die Wirklichkeit durch die subjektive
Wahrnehmung. Individuelle Erlebnisse stehen im Mittelpunkt dieser Literatur,
die Autoren verzichten bewusst auf die Schilderung der gesellschaftlichen
Probleme.
Die Lyrik der Neunziger trägt oft den experimentellen und spielerischen
Charakter. Ein häufiges Verfahren ist, im Geiste der Postmoderne, die
Anspielung auf bekannte literarische Texte und Formen. So führt das lyrische
15
Ich des Gedichtes von Robert Gernhardt den Dialog mit Günter Eichs
„Inventur“. Das experimentelle Moment ist im Multimediazeitalter beeinflusst
vom Umgang mit dem Computer und der Videotechnik. In den Vordergrund
treten die Verbindung von Text und Bild, von Gesprochenem und
Geschriebenem. Unter den jungen Lyrikern, die nach der Wende in die Literatur
kamen, hat Durs Grünbein eine große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. 1995
hat er den renommierten Georg-Büchner-Preis erhalten. Obwohl D. Grünbein in
Dresden geboren war, kommt seine Lyrik ohne direkte Ost-West-Polarisierung
aus. Seine Gedichte haben einen elegischen Charakter, sie befassen sich mit Tod
und Leben.
Popliteratur
Der Name „Popliteratur“ ist eine Analogiebildung zu „Pop-Musik“ oder
„Pop-Art“. Diese Begriffe erschienen in den USA und sind ab den 1990er
gebräuchlich. Popliteratur will nicht für Eliten da sein, deswegen ist sie an
populäre Gattungen orientiert (Kriminal-, Abenteuer-, Fantasyroman, Comic).
Diese Literatur verbindet das genaue Sachwissen und lehrreiche Absichten mit
Spannung. Popliteratur knüpft an die Sprache der Massenunterhaltung und der
Werbung an. Wie die postmoderne Literatur befindet sie sich zwischen der
„ernsten“ und der „unterhaltenden“ Literatur. Heute ist Popliteratur ein Bereich
im breiten Spektrum der Popkultur. Einerseits will sie für die Massen
verständlich sein und bei den Massen beliebt sein, andererseits nähert sie sich
wegen ihrer Unangepasstheit dem Underground und Protest. Sie parodiert
Gattungs-und Stilformen von Musik, Film, Fotografie, Comic, Mode und Chat
zu einer „Literatur light“. Sie ist sowohl hermetisch (nur für Fans bestimmt) als
auch offen für jedermann: das gilt für die neuartige Form von Dichterlesungen,
die seit1994 auch in Deutschland unter dem Namen „Poetry Slam“ verbreitet ist.
Poetry Slam ist ein öffentlicher Wettbewerb, jeder kann mitmachen, kreative
Performance ist angesagt, das Publikum ist die Jury.
Als Literatur „von unten“ trat die Popliteratur unter diesem Namen in
Deutschland erstmals in Verbindung mit der politischen Studentenbewegung der
späten 60er Jahre in Erscheinung. Ursprünglich war sie ein Teil der
Jugendkultur im Protest gegen die Erwachsenenwelt. Heute haben sich ihre
Inhalte, Formen und Intentionen stark verändert. Seit den 1980er/90er Jahren ist
es die trendige Literatur, die zum Teil der Unterhaltungsindustrie geworden ist.
Für diese Literatur wird mediale Selbstinszenierung immer wichtiger. Nicht
zufällig sind viele der Pop-Literaten in der Medienwelt beschäftigt. Florian
Illies, Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht sind oder waren als
Journalisten tätig. Ein Großteil der Texte in Remix und Deutsches Theater von
B. von Stuckrad-Barre sind vorab in den Zeitungen und Zeitschriften
16
veröffentlicht worden. Nach seinen Anfangserfolgen ist dieser Autor im
beachtlichen Ausmaß im Fernsehen präsentiert und moderiert sogar eigene
Shows. Die Medienwelt mit ihrer Tendenz, die Grenze zwischen Fiktion und
Wirklichkeit aufzuheben, bildet den Rahmen, in dem sich die Autoren der PopLiteratur bewegen.
Migrationsliteratur
Die seit den 1960er Jahren markante Zunahme von Arbeitsmigration,
Asylsuche, Einwanderung und Repatriierung hat schließlich dazu geführt, dass
neben der deutschsprachigen nicht nur eine polyphone Literatur mitgebrachter
Muttersprachen entstanden ist, sondern nun auch die Literatur der immigrierten
Autoren gesondert betrachtet wurde. Der zur Bezeichnung dieses literarischen
Phänomens am häufigsten genannte Begriff ist „Migrationsliteratur“ (auch:
„Literatur
der
Migration“,
„Migrantenliteratur“,
seltener:
„Immigrantenliteratur“). Definiert war diese „Migrationsliteratur“ ursprünglich
durch zwei Merkmale: durch ihre Autoren (Literatur von Immigranten oder von
deren Kindern) sowie durch ihre Thematik (Migrationserfahrung). Die noch
bestehende Debatte um den Status des behandelten Phänomens wirft viele
Fragen auf: Zählt man zu dieser Literatur sowohl Autoren, die ihre Heimat
freiwillig verlassen haben oder auch solche, die als politische Flüchtlinge in ein
fremdes Land kamen? Wie steht es um Schriftsteller der zweiten und dritten
Generation von eingewanderten Personengruppen? Handelt es sich um Literatur,
die sich mit den Prozessen der Migration und der Diaspora sowie des Exils
beschäftigt und diese als Thema aufnimmt? Oder entspricht dieser Bezeichnung
nur die Literatur, die beide Forderungen erfüllt - also die erstens von Migranten
geschrieben wurde und zweitens auch das Thema der Migration in allen
erdenklichen Formen behandelt?
Inzwischen ist die gegenwärtige deutschsprachige Kulturlandschaft ohne
„Ausländer“ nicht mehr komplett. Die Texte deutschsprachiger AutorInnen
ausländischer Herkunft sind in Deutschland längst zum Teil des kulturellen
Alltags geworden. Diese Werke zeigen, wie weit die Integration gehen kann. Sie
finden die Anerkennung nicht zuletzt bei den Muttersprachlern, denen sie die
Möglichkeit geben, sich selbst aus der Perspektive der Fremden zu sehen. Sie
zeigen aus einem besonderen Blickwinkel die aktuellen deutschen
Begebenheiten und Verhaltensweisen.
Besonders beeindruckend ist die Präsenz der türkischen Autoren auf dem
bundesrepublikanischen Buchmarkt. Schon aus der ersten Generation der
Einwanderer aus der Türkei traten einige bereits in deutscher Sprache
Schreibende hervor. Ab den 1980er Jahren stiegen die deutschsprachigen
Veröffentlichungen türkischstämmiger Autoren stark an. Aber nicht nur
17
türkische
AutorInnen
leisten
ihren
kulturellen
Beitrag;
im
bundesrepublikanischen Literaturbetrieb sind die Italiener, die Griechen oder
auch die Autoren mit russischer Muttersprache tätig. Sehr erfolgreich wurde der
deutschsprachige Autor russischer Herkunft Wladimir Kaminer. Im Jahre 2000
veröffentlichte er einen Band mit Kurzgeschichten unter dem Titel Russendisko,
der begeistert von der Leserschaft angenommen wurde. Die anekdotenhaften
Kurzgeschichten schilderten in selbstironischer Weise die Geschichte seiner
Emigration aus Russland, seine Anfangsjahre in Berlin wie auch den Versuch
anderer, teils illegaler Einwanderer in der deutschen Gesellschaft
zurechtzukommen.
Digitale Literatur
Seit es den Mikrocomputer für den Privatgebrauch (ab Mitte der 1980er
Jahre) und das frei zugängliche Internet (seit Anfang der 1990er Jahre) gibt, hat
sich eine spezielle Literatur entwickelt, die diese neuen technischen
Voraussetzungen zur Grundlage hat. Man bezeichnet diese Literatur mit dem
Oberbegriff „Digitale Literatur“. Diese Literatur muss man gegen traditionelle
Literatur abgrenzen, die für den schnelleren Zugang digitalisiert wird, d. h. über
digitale Medien verbreitet wird. Solche „digitalisierte“ Literatur ist ein Beispiel
der Anpassung der konventionellen Literatur an die Medienwelt: die Autoren
haben eine „Homepage“, auf der sie ihre Tagebücher präsentieren oder
Leseproben ihrer Werke geben; Werke mit freiem Copyright (70 Jahre nach dem
Tod des Verfassers) können aus dem Internet abgerufen werden; sogenannte EBooks (Leseapparate für digitale Texte) sind sehr verbreitet. Dieser
„digitalisierten“ Literatur steht die „digitale“ Literatur gegenüber. Oft wird sie
auch als „Netzliteratur“ bezeichnet. Das ist eine spezifische Literatur, die von
Anfang an digital codiert ist und nur im Netz funktioniert (ihre Produktion und
Rezeption außerhalb des Netzes ist ausgeschlossen). Das Spektrum der
Webliteratur ist sehr groß. Ihr wichtiges Kennzeichen ist das Angebot zur
Interaktivität. Es gibt z. B. auf öffentlich zugänglichen Internetplattformen
direkte
Formen
der
literarischen
Kommunikation
(Literaturcafes,
Schreibwettbewerbe, Chats). Ein weiteres Kennzeichen ist die Fähigkeit zur
„Nicht-Linearität“ (der literarische Text wird zum Hypertext): es gibt die
Möglichkeit, über Verweise (Links) verschiedene Textteile miteinander oder mit
anderen Medien zu vernetzen. Dadurch erlangen solche Texte die Intertextualität
und Multimedialität, die in einem traditionellen literarischen Text wegen seiner
linearen Struktur nicht möglich sind. Obwohl die digitale Literatur bis jetzt
keinen relevanten Status im Literaturbetrieb bekommen hat, gehen von ihrer
Existenz fruchtbare Impulse für die „Buchliteratur“ aus. So schrieb die
Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek mit einer virtuellen Handschrift vom 3. März
18
2007 bis zum 24. April 2008 an ihrem Roman-Projekt Neid. Beim Öffnen des
Menüs erscheint das Gemälde von Hieronymus Bosch „Sieben Todsünden“.
Durch das Anklicken der darauf abgebildeten Zahlen kann der Text geöffnet
werden. Im Todsündenkatalog von Bosch ist der Neid an letzter Stelle
dargestellt. Neid ist auch das zentrale Thema im Roman, der auf Jelineks
Homepage unter www.elfriedejelinek.com ständig verfügbar ist.
Autoren
Wolf Biermann
Wolf Biermann wurde am 15. 11. 1936 geboren. Sein Vater,
Maschinenbauer auf der Deutschen Werft, wurde 1942 wegen kommunistischer
Betätigung in Auschwitz umgebracht. Biermann wuchs bei seiner Mutter auf,
ebenfalls einer aktiven Kommunistin, ging dann in die DDR, studierte in OstBerlin politische Ökonomie. Für zwei Jahre ging er als Regieassistent zum
„Berliner Ensemble“. 1959 bis 1963 absolvierte er noch ein Studium der
Philosophie und Mathematik. 1960 begann er eigene Lieder zu schreiben und
vorzutragen. Nach dem Erscheinen des ersten Gedicht- und Liederbandes Die
Drahtharfe(1965) in West-Berlin wurde er zum Diskussionsgegenstand des 11.
Plenums des Zentralkomitees der SED. Man hat ihm „Skeptizismus“ und
„spießbürgerliches anarchistisches Verhalten“ vorgeworfen. Bis 1976 lebte
Biermann als sozialistischer Oppositioneller in Ost-Berlin, während seine
Bücher und Platten in der BRD veröffentlicht werden. In der DDR zirkulierten
sie als Samisdat-Gut; das Singen oder Weitergeben seiner Lieder zog
Sanktionen nach sich, wie z. B. den Ausschluss aus der Universität. 1976 erhielt
Biermann die Ausreiseerlaubnis zu einer Konzerttournee in der BRD; nach
seinem Auftritt in Köln wurde er aus der DDR ausgebürgert. Diese Maßnahme
löste nicht nur im Westen, sondern auch in der DDR eine breite
Solidaritätswelle aus. Es folgten Verhaftungen, Parteistrafen, weitere
Ausbürgerungen und genehmigte Ausreisen. Biermanns Hinauswurf wurde zum
Signal für einen Exodus der Künstler, der an Deutschlands düsterste Zeiten des
Nationalsozialismus erinnerte. Erst nach der politischen Wende in der DDR
konnte Biermann 1989 wieder in Leipzig und Berlin auftreten.
W. Biermann ist mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet.
Wegen seines markanten politischen Stellenwertes werden literarische
Qualitäten Biermanns Werks oft vernachlässigt. Das Hauptgewicht seiner
dichterischen Arbeit liegt auf den Liedern, die davon ausgehen, dass sich der,
der sie gemacht hat, direkt damit an die Zuschauer wendet. Direktheit der
Sprache, Klarheit der Formulierungen bilden das Hauptkennzeichen seiner
Lieder. Die Einfachheit seiner Verse macht sie auch volkstümlich. Biermanns
lyrische Produktion nach seiner Ausbürgerung aus der DRR zeichnete sich
nicht so sehr durch die politische Schärfe als durch die poetischen Qualitäten
19
aus. Auffällig in den letzten Gedichten und Liedern bleibt die selbstkritische
Abrechnung mit seiner jüngsten politischen Vergangenheit, der distanzierte
Blick auf die Politik Westeuropas. Sehr oft werden in seinen Gedichten das
Politische mit dem Privaten sowie der lyrischen Einfachheit verschmolzen. In
seinem Schaffen versteht sich Biermann als Heine des 20. Jahrhunderts, von
seinem innigen Verhältnis zu diesem Dichter zeugen auch seine Werke: so
schrieb er 1972 ein Versepos mit dem Heine-Titel „Deutschland. Ein
Wintermärchen“.
Christoph Hein
Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf, Schlesien geboren.
C. Hein ist ein ostdeutscher Schriftsteller, Übersetzer und Essayist. Er wuchs in
der Kleinstadt Bad Düben bei Leipzig auf. Da er als Sohn eines Pfarrers kein
klassisches Arbeiterkind war, ging er bis zum Mauerbau auf ein Westberliner
Gymnasium. Ab 1960 lebte er in Ost-Berlin. Er arbeitete nach seinem Abitur als
Montagearbeiter, Buchhändler, Kellner, Journalist, Schauspieler und
Regieassistent. In Berlin und Leipzig studierte er zwischen 1967 und 1971
Philosophie und Logik. Danach wurde er Dramaturg und Autor an der
Volksbühne in Ost-Berlin. Seit 1979 arbeitet er als freier Schriftsteller.
C. Hein gilt als Vertreter der „mittleren Generation“ in der Literatur der
DDR. Das heißt, er gehört nicht mehr zu der Generation, die den Zweiten
Weltkrieg und Nationalsozialismus erlebte, und noch nicht zu der Generation,
die im realen Sozialismus geboren wurde und keine Möglichkeit sah, im
totalitären Staat den eigenen Neigungen zu folgen. Auch zählt C. Hein zu einer
Gruppe von Schriftstellern, die sich erst nach der Ausbürgerung von Wolf
Biermann und der nachfolgenden Übersiedlerwelle in der Literatur
durchsetzten. Hein blieb bewusst in der DDR, um dort seine Erfahrungen,
Vorstellungen, Empfindungen literarisch zu äußern.
Bekannt geworden ist Christoph Hein durch seine sehr erfolgreiche
Novelle Der fremde Freund, die 1982 in der DDR veröffentlicht wurde und in
Westdeutschland 1983 aufgrund des Titelschutzes als Drachenblut erschien. In
seinen Stücken (Cromwell, Lassale) greift Hein zum historischen Material,
aber immer versteht er die Geschichte als Jetztzeit. Sein erfolgreichstes Stück
Die wahre Geschichte des Ah Q. wurde 1983 publiziert. Auch in den Rittern
der Tafelrunde (1989) treibt Hein sein Spiel mit Geschichte und Gegenwart: Es
geht im Stück um eine Umbruchsituation in einer Zeit, wo die alten Werte
nicht gelten. Als Übersetzer bearbeitete er Werke von Jean Racine und
Moliere.
Hein hat seine Stellung in der DDR bis zum November 1989 immer als
die Position innerhalb der DDR gesehen: kritisch, aber doch parteiisch. Das
heißt, er bezog sich auf die DDR wie auf sein Land, dessen Probleme und
Schwierigkeiten er als seine eigenen sah. Von 1998 bis 2000 war Christoph
20
Hein erster Präsident des gesamtdeutschen PEN-Clubs. Er ist Mitherausgeber
der Wochenzeitung «Freitag». Christoph Hein hat zwei Söhne, der jüngere ist
der Schriftsteller Jakob Hein. Hein ist Mitglied der Sächsischen Akademie der
Künste. Er hat zahlreiche Auszeichnungen: Heinrich-Mann-Preis der
Akademie der Künste (1982), Erich-Fried-Preis (1990), Peter-Weiss- Preis
(1998), Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (2002), SchillerGedächtnispreis des Landes Baden-Württemberg (2004).
Günter Grass
Günter Grass wurde am 16. 10. 1927 als Sohn polnisch-deutscher Eltern
in einem Vorort von Danzig geboren. Sein Vater war Kolonialwarenhändler. Er
besuchte die Volksschule und das Gymnasium in Danzig. In den letzten
Monaten des Zweiten Weltkrieges wurde er zum Kriegsdienst einberufen. Er
war Luftwaffenhelfer, dann Panzerschütze. Nach der Verwundung 1945 geriet
er in die amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 zurückkehrte.
Von 1948 bis 1951 studierte er Bildhauerei und Graphik in Düsseldorf. Das
Studium setzte er in Berlin fort. 1955 stieß er zur „Gruppe 47“ (ein Verband,
das die meisten bedeutenden Schriftsteller der Nachkriegszeit der BRD
vereinte). 1959 erschien der Roman Die Blechtrommel, der den Autor mit
einem Schlage berühmt machte. Durch die Veröffentlichung der Blechtrommel
gewann die deutsche Nachkriegsliteratur eine bis dahin nicht erlebte
internationale Beachtung. Das allgemeine Aufsehen verdankte der Roman der
ungewöhnlich kraftvollen Sprache und der epischen Darstellungstechnik, aber
vor allem der Themenauswahl. Der Zwerg Oskar Matzerath erzählt in einer
Pflegeanstalt rückblickend sein Leben. Dabei greift er über eigene Biographie
hinaus und gibt einen umfassenden Bericht über die erste Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Der Blechtrommel folgten die Novelle Katz und Maus und der
Roman Hundejahre, die zusammen den Zyklus Danziger Trilogie bilden.
Die weiteren Romane des Dichters behandeln unterschiedliche Themen.
Sie verarbeiten Autobiographisches und Persönliches wie Der Butt und Beim
Häuten der Zwiebel, thematisieren den apokalyptischen Untergang der
Menschheit im Roman Die Rättin, versuchen die deutsche Vergangenheit zu
bewältigen wie Im Krebsgang und im Mein Jahrhundert.
G. Grass ist Mitglied der Akademie der Künste (Berlin) und des PENZentrums. Er wurde international mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit
dem angesehenen Büchner-Preis (1965), dem Premio Internationale Mondello,
Italien (1977), der Alexander-Majakowski-Medaille, Danzig (1979), mit der
Goldenen Palme des Filmfestspiels in Canne (1979). 1999 wurde ihm der
Nobelpreis verliehen.
21
Patrick Süskind
Patrick Süskind wurde am 26. 3. 1949 in Ambach am Starnberger See
geboren. Sein Vater war Schriftsteller und Journalist. Von 1968 bis 1974
studierte er Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität München. Über
seine Biographie ist nur weniges bekannt. Schon seit mehr als 20 Jahren zeigt
sich P. Süskind nicht mehr in der Öffentlichkeit. Er lebt zurückgezogen in
München. 1989 erhielt er den Gutenberg-Preis. Seine dichterische Laufbahn
begann Süskind zuerst mit den Drehbüchern, die nicht verfilmt waren. 1981
veröffentlichte er den Einakter Der Kontrabaß, der ein großer Bühnenerfolg
wurde. Dieses Drama verhalf Süskind zum Durchbruch als Bühnen- und
Drehbuchautor. Den Welterfolg hatte er mit dem Roman Das Parfum – die
Geschichte eines Mörders. Im Roman wird von einem fiktiven Mörder aus dem
18. Jahrhundert erzählt, der geniale olfaktorische Fähigkeiten besitzt.
Besonders gelungen ist Süskind die verbale Umsetzung von Gerüchen in
Sprache und deren auffällig detaillierte Schilderung. Sprachbegabung und
Erzähltalent des Autors machten Das Parfum zu einem der meistgelesenen
deutschsprachigen Romane. Dabei sind die Vorwürfe hörbar, dass der Roman
auf den Grenzen zu gut erzählter Unterhaltungsliteratur balanciert.
Christa Wolf
Christa Wolf wurde am 18. 3. 1929 als Tochter eines Kaufmannes in
Landsberg an der Warthe geboren. 1945 übersiedelte sie nach Mecklenburg.
1949 schloss sie nach dem Aufenthalt im Lungensanatorium ihr Abitur ab. Im
selben Jahr trat sie der SED bei. Das anschließende Studium der Germanistik
in Jena und Leipzig beendete sie mit der Diplomarbeit über Hans Fallada. Seit
1962 lebt sie als freie Schriftstellerin, seit 1976 hat sie ihren Wohnsitz in
Berlin. Von 1963 bis 1967 war sie die Kandidatin des Zentralkomitees der
kommunistischen SED. Sie ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Außer
den DDR-Preisen erhielt sie den Bremer Literaturpreis (1977), den GeorgBüchner-Preis (1980), den Schiller-Preis (1983), den Österreichischen
Staatspreis für Europäische Literatur (1985) u. a. Sie empfing auch die
Ehrendoktorwürden der Ohio State University und der Universität Hamburg.
C. Wolf ist Prosaistin und Essayistin. In ihrem Schaffen versucht sie
bewusst Stellung zu ihrer Zeit zu nehmen. In der sozialistischen DDR schrieb
sie die Prosa, die persönliche Erfahrungen mit historischen Ereignissen
verband. Deshalb war sie oft in der DDR wegen des „Subjektivismus“ und
„Weltflucht“ kritisiert. So ist schon ihr erster Erfolgstext Der geteilte Himmel
(1963). In dieser Erzählung wird über ein Liebespaar erzählt, das an den
sozialistischen Verhältnissen in der DDR und dem Bau der Berliner Mauer
scheitert. 1976 erschien das umfangreiche und formal anspruchsvolle Buch
Kindheitsmuster. In diesem Werk wendet sich C. Wolf einem neuen Thema zu
22
- dem Nationalsozialismus der Jahre 1933 – 1945. Als Grundlage dienen hier
die autobiographischen Elemente aus ihrer kleinbürgerlichen Kindheit. In der
Erzählung Kassandra sind Frieden und Frauen die zentralen Themen. C. Wolf
interpretiert hier ein Mythos über die trojanische Weissagerin, an deren
Voraussagen niemand glaubt. Nach der Wende hat C. Wolf eine heftige
Mediendebatte ausgelöst. Anlass dazu wurde die Veröffentlichung 1991 ihrer
Erzählung Was bleibt?, wo sie über die Überwachung von Stasi erzählte. Man
hat ihr vorgeworfen, dass sie mit diesen Enthüllungen zu spät kam: als von den
DDR-Machthabenden respektierte Staatsdichterin könnte sie gegen Missstände
im Lande laut protestieren. Als Folge verstummte C. Wolf für einige Jahre als
Dichterin.
Ingo Schulze
Ingo Schulze war 1962 in Dresden geboren. Als ausgebildeter Philologe
arbeitete er zuerst als Dramaturg und Journalist. In der Wendezeit machte er
sich mit einer Zeitung selbstständig. Im Auftrag eines russischen Kaufmannes
ging er 1993 nach Sankt-Petersburg, um dort ein Anzeigenblatt auszubauen.
Diese Erfahrungen schilderte er in seinem Erstlingswerk 33 Augenblicke
Glücks (1995). Den Durchbruch hatte er mit dem Wenderoman Simple Storys,
wo er die Widervereinigung des Landes am Beispiel der ostdeutschen Provinz
exemplarisch zeigte. Für den Roman erhielt er zahlreiche Preise.
Benjamin von Stuckrad-Barre
Benjamin von Stuckrad-Barre wurde am 27. 01. 1975 als viertes Kind in
der Pastorenfamilie geboren. Nach dem Abitur zog er nach Hamburg zum
Studium der Germanistik, das er abgebrochen hat. Seit 1993 ist er
schriftstellerisch tätig. B. von Stuckrad-Barre war als Journalist und freier
Mitarbeiter solcher Zeitungen wie FAZ, Die Woche, Stern, taz, als Redakteur
der deutschen Ausgabe der Rolling Stone tätig. Bekannt wurde er mit seinem
Debütroman Soloalbum. Durch den Erfolg des Romans entwickelte er sich zu
einem der bekannten Jungliteraten Deutschlands der 1990er Jahre. B. von
Stuckrad-Barre ist auch als Moderator bekannt: Zu seinen erfolgreichen
Fernsehauftritten gehört z. B. die Literatursendung bei MTV. Seit 2006 lebt er
in Berlin.
Florian Illies
Florian Illies wurde 1971 in Schlitz in Hessen geboren. Nach dem
Studium der Geschichte und der Kunstgeschichte arbeitete er als Journalist bei
der FAZ und bei der ZEIT. 2004 gründete er eine Zeitschrift für Kultur, Kunst
und Lifestyle. Als Schriftsteller wurde Illies bekannt durch seinen Bestseller
23
Generation Golf (2000), in dem er in heiter-anekdotischer Weise und doch
kritisch seine Generation beschrieb.
Robert Gernhardt
Robert Gernhardt wurde am 13. 12. 1937 in Reval (Estland) geboren.
Nach dem Abitur in Göttingen studierte er Malerei und Germanistik in
Stuttgart und Berlin. Seit 1964 lebt er in Frankfurt am Main, seit 1965 arbeitet
freiberuflich als Maler, Zeichner, Karikaturist und Schriftsteller. In seinen
lyrischen Texten bedient sich Gernhardt der tradierten Formen (z. B. des
Sonettes, der Liedstrophe), die er perfekt beherrscht und häufig parodiert und
transformiert, um zu komischen Resultaten zu gelangen. So bekommen die
klassischen Texte bei ihm neue Ausdrucksmöglichkeiten.
Milena Moser
Milena Moser war 1963 in Zürich geboren. Sie absolvierte eine
Buchhändlerlehre und schrieb danach für Schweizer Rundfunkanstalten. Ihr
erster Roman Die Putzfraueninsel (1991) wurde ein Riesenerfolg. Ihr letztes
Buch heißt Sofa, Joga, Mord (2003). Seit 1998 lebt sie mit ihrer Familie in San
Francisco.
Wladimir Kaminer
Wladimir Kaminer stammt aus Moskau, dort studierte er nach der
Ausbildung zum Toningenieur Dramaturgie am hiesigen Theaterinstitut. 1990
wanderte er im Rahmen der jüdischen Immigration in die noch bestehende
DDR ein. Im vereinten Deutschland wurde W. Kaminer mit einem Schlage
durch sein Buch Russendisko berühmt. In kurzen Abständen folgten die
weiteren Bücher, deren Thema sowjetische Vergangenheit und das
Immigrantenleben in Deutschland sind. Kaminers Bücher verbinden Humor
mit überraschenden Alltagsbeobachtungen. W. Kaminer lebt mit seiner Familie
in Berlin, wo er auch als DJ und Moderator beim Radio tätig ist.
24
Materialien zur Textinterpretation
Interpretationsgesichtspunkte: Leser und Text – Autor und
Text – der Text selbst
Bei der Interpretation der literarischen Texte treten drei
Gesichtspunkte hervor: die Textrezeption, die Bedingungen der
Textproduktion und der Text selbst. Dementsprechend kann die Deutung
des Textes leserorientiert oder autorbezogen sein sowie sich auf den Text
selbst konzentrieren. Die unterschiedlichen Deutungsweisen sind keine
voneinander isolierten Methoden, sie ergänzen einander, wenn man nach
möglichst vollständiger Interpretation strebt. Häufiger bekommen
bestimmte Gesichtspunkte besonderes Gewicht je nach dem literarischen
Werk.
Leser und Text
Die Deutung des literarischen Textes hängt von der allgemeinen
geschichtlich-gesellschaftlichen Situation des Lesers. Das beweist die
unterschiedliche Aufnahme und Bewertung der Texte zu verschiedenen
Zeiten. Aber auch die individuell-biographische Situation des Lesers –
sein Alter, seine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse beeinflusst
sein Textverständnis.
Aufgabe: Stellen Sie schriftlich Ihre „Lesebiographie“ dar,
indem Sie folgende Fragen beantworten:
1. Lesen Sie gern in der Freizeit?
2. Welche Art von Literatur (Comics, Krimis, Märchen, Novellen,
Frauenromane ...) lesen Sie am liebsten?
3. Was haben Sie in der letzten Zeit gelesen? (Titel, Autor, Art der
Literatur, kurze Beschreibung dieser Literatur)
4. Wann und in welcher Situation lesen Sie die Bücher auf Deutsch?
(Hauslektüre, Semesterlektüre, aus eigenem Interesse...)
5. Was haben Sie auf Deutsch in der letzten Zeit gelesen? (Titel, Autor,
Art der Literatur, kurze Beschreibung dieser Literatur)
6. Was fällt Ihnen zum Begriff „ Deutsche Gegenwartsliteratur“ ein?
Das Leseprotokoll
Um seine eigene Einstellung zu einem literarischen Text und die
Auswirkungen dieser Einstellung auf die Deutung des Textes besser zu
verstehen, ist es sinnvoll, ein sogenanntes Leseprotokoll anzufertigen. Das
Leseprotokoll ist ein Protokoll des eigenen Verstehensprozesses. Es sollte
während oder unmittelbar nach der Textlektüre angefertigt werden. An den
25
Anfang kann man (in Form einer Frage) eine Hypothese über die Hauptaussage
des Textes stellen. Das Leseprotokoll hilft dem Leser beobachten, wie er sich
auf den Text bezieht. Folgende Fragen tragen dazu bei, sich in der Leserrolle
besser zu verstehen:
 Mit welcher Erfahrung bin ich an die Lektüre gegangen?
 Wie wirkte die Geschichte auf mich? (fremd, vertraut, anziehend,
spannend, interessant, langweilig, zu weit weg, …)
 Konnte ich die Geschichte leicht und flüssig lesen?
 Wie finde ich die Personen und ihr Verhalten? (fremd, vertraut,
sympatisch, unsympatisch, gleichgültig)
 Welche Assoziationen haben einzelne Figuren und ihr Verhalten
bei mir hervorgerufen?
 Welche Textstellen sind mir unklar geblieben?
 Hat die Thematik des Textes mich angesprochen?
 Gibt es in diesem Text Anknüpfungspunkte an meine
Erfahrungswelt?
 Gibt es einzelne Inhalte und Themen, die ich gerne im Unterricht
diskutieren würde?
26
Der biographische und gesellschaftlich-politische Hintergrund von
Texten
Oft wird die Interpretation des Textes erleichtert, wenn man sich über den
Autor und seine biographische Situation, die geschichtlich-gesellschaftlichen
Gegebenheiten, den literarischen Zusammenhang, in dem der Text steht,
informiert. Legen Sie also den Schwerpunkt Ihrer Arbeit darauf, den Text in
den Kontext, dem er entstammt, einzubinden. Dabei sind folgende
Gesichtspunkte zu beachten:
1. Sie können den Text im Rahmen der Lebensgeschichte des Autors
deuten.
2. Sie können den Text im literarischen Kontext – also z. B. im Rahmen
der Literaturgeschichte, des Bezugs auf literarische Traditionen – interpretieren.
In der Gegenwartsliteratur sind z. B. postmoderne Schreibweisen verbreitet, die
ein besonderes Herangehen an Texte bedingen. Auch die neuen Richtungen wie
Popliteratur, Migrationsliteratur haben ihre spezifischen Kennzeichen
3. Sie können den Akzent aber auch darauf legen, wie die politischgesellschaftliche Situation im Text zum Ausdruck kommt. Literarische Texte
haben nicht nur ästhetische Bedeutung. Über sie hinaus lassen sie sich als
kulturhistorische Dokumente zu einem bestimmten Moment verstehen. Sie
geben Auskunft über die Befindlichkeit, die Wertvorstellungen, kurz: die
Bewusstseinsformen und Verhaltensstandards einer Gesellschaft im historischen
Prozess.
Für die Kontextanalyse benötigt man die Nachschlagewerke wie
Literaturgeschichten, Literatur- und Schriftstellerlexika.
Literarischer Text – seine Struktur (Form und Inhalt)
Im Mittelpunkt jeder Interpretation steht der Text selbst – seine
inhaltlichen und formalen Merkmale. Die Deutung versucht dann, die poetische
Substanz des Textes zu erklären und die Fragen, die der Text selbst aufwirft, zu
diskutieren.
In Literatur gibt es unterschiedliche Textsorten, die in drei
Grundgattungen gruppiert sind – Lyrik, Drama, Epik/Prosa. Die Gattungen sind
die Schemata, die der Klassifikation und Beschreibung der literarischen Texte
dienen. Die Schematisierung berücksichtigt die Sprechsituation, die Sprache
und den Zweck der Äußerung. Für jede Gattung gilt also eine spezifische
Deutungsweise.
Interpretation des lyrischen Werks
27
Zur Großgattung der Lyrik zählen alle Gedichte in gebundener und
ungebundener, gereimter und ungereimter Art. Die Aufgabe des lyrischen
Textes ist die Beschreibung von Momenten. Lyrische Texte unterscheiden sich
optisch von den prosaischen und dramatischen Texten. Der lyrische Text ist
auch ein akustisches Phänomen – der Lyriker wählt und kombiniert seine Worte
absichtlich so, dass lautliche Äquivalenzen und rhythmische Einheiten
entstehen. Am Anfang des 20. Jh. erschienen die innovativen Gedichtformen,
die neue Themen verarbeiten und intensiv an der Sprache experimentieren.
Da die formalen Merkmale eine große Rolle für die Deutung des
Gedichtes haben, beginnt man gewöhnlich mit der genauen Auswertung der
Form und Struktur des Gedichtes. Bei der Formanalyse sind phonetische und
semantische Ebene des Gedichtes zu untersuchen. Die phonetische Ebene des
Gedichtes ist seine Klanggestalt, die semantische Ebene des Gedichtes bilden
unterschiedliche Stilmittel der poetischen Sprache.
Phonetische Ebene des Gedichtes
1. Metrum. Die meisten Gedichte sind metrisch geregelt. Das Metrum –
auch Versmaß genannt – bezeichnet die Abfolge von betonten und unbetonten
Silben in einer Verszeile. Der Begriff Metrum meint also eine regelmäßige
Verteilung der Betonungen im lyrischen Text. Diese Betonungen bestimmen den
Rhythmus des Gedichtes.
Das Metrum des Gedichtes hängt von den
Betonungseigentümlichkeiten der Sprache. Die Betonung in der deutschen
Sprache wird allgemein so bestimmt:
a) durch den Wortakzent: jedes zweisilbige deutsche Wort hat die
Betonung auf der ersten Silbe. Einsilbige Wörter tragen meist Betonung, aber
nicht obligatorisch.
b) durch den Satzakzent: Wörter mit eigenständiger Betonung, meist
Substantive, werden stärker betont, als z. B. Artikel.
c) durch den Sinnakzent: dieser ergibt sich aus dem Kontext
Das Metrum zeigt man schematisch mit den Zeichen: ͜ ̲ Die gängigsten
Metren in der deutschsprachigen Lyrik sind Trochäus (' ̲ ͜ ), Jambus (͜ ̲'),
Anapäst (͜ ͜ ͟ '), Daktylus ('͟ ͜ ͜ ):
- Wenn einer betonten Silbe eine unbetonte folgt, dann besteht das
Metrum aus Trochäen (Goethe: Sah ein Knab' ein Röslein stehen)
- Wenn auf eine unbetonte Silbe eine betonte folgt, dann handelt es sich
um Jambus (Goethe: Es schlug mein Herz geschwind zu Pferd / es war getan
fast eh gedacht)
- Wenn einer betonten Silbe zwei unbetonte folgen, dann herrscht ein
Daktylus (Herz nun so alt und noch immer nicht klug)
- Von Anapäst ist die Rede, wenn der Vers mit zwei unbetonten Silben
beginnt, auf die eine betonte folgt (Schiller: Und es wallet und siedet und
brauset und zischt, / wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt)
28
In den meisten Gedichten der Moderne ist kein Metrum zu erkennen,
dann spricht man von freien Rhythmen.
2. Reimform. Unter dem Reim versteht man den Gleichklang der letzten
vollbetonten Wörter der Verszeile. Vers-Enden, die sich reimen, erhalten die
gleichen Kleinbuchstaben des lateinischen Alphabets. Die gängigsten
Reimformen sind der Paarreim (aabb), der Kreuzreim (abab), der umarmende
Reim (abba), der verschränkte Reim (abcabc), der Schweifreim (aabccb) und der
Kettenreim (ababcbcdc). In modernen Gedichten wird oft auf den Reim
verzichtet.
3. Gedichtform. Es gibt unterschiedliche lyrische Untergattungen. Zum
Beispiel, das Lied – sangbares Gedicht, das aus regelmäßig gebauten Strophen
besteht; in seinen Versen sind oft Jambus oder Trochäus gebraucht; als
Reimformen herrschen der Kreuzreim oder der umarmende Reim. Die Ballade –
ein Erzähllied, das ein außergewöhnliches Ereignis, eine Heldentat oder Untat
darstellt, dabei den Dialog benutzt und das Stimmungshafte schildert.
Semantische Ebene des Gedichtes
1. Der Wortgebrauch im Gedicht unterscheidet sich von dem in der
gewöhnlichen Alltagsrede und in anderen Textsorten:
- er weicht von der normalen Syntax (z. B. die Wortfolge) ab, weil die
Anordnung der Worte vor allem den rhythmischen Absichten folgt;
- die Wirkung eines Gedichtes wird oft durch die bewusste Wortwahl
bestimmt. Insbesondere ist auf die Wahl der Substantive (Konkreta, Abstrakta),
der Verben und der Adjektive zu achten. Sie drücken Farben (vor allem
Adjektive), Töne, Bewegungen (Verben), beschreiben Jahreszeiten und andere
Zustände.
2. Lyrik verwendet oft Redefiguren (vorgegebene sprachliche Schemata).
Ihre Entstehung reicht bis in die antike Rhetorik zurück. Man gebrauchte sie in
der Gerichtsrede, in Politik, später in Predigten. Es gibt die Wortfiguren und die
Gedankenfiguren. Unter den Wortfiguren versteht man verschiedene Arten
wiederholter Setzung von Wörtern und Wortgruppen wie :
- Anapher – Wiederkehr desselben Wortes zu Beginn zweier oder
mehrerer aufeinander folgender Sätze (O Mutter! Was ist Seligkeit? / O Mutter!
Was ist Hölle?)
- Epipher – Wiederholung eines Wortes oder einer Wortgruppe am Ende
aufeinander folgender Verse (Ihr überrascht mich nicht, / erschreckt mich
nicht)
Unter den Gedankenfiguren werden folgende besonders oft verwendet:
- Vergleich - entsteht, wenn man zwischen zwei Erscheinungen,
Gegenständen die Beziehung durch Vergleichspartikel „wie“ herstellt, dabei soll
zwischen diesen Erscheinungen eine Gemeinsamkeit bestehen („der Himmel ist
wie eine blaue Qualle“).
29
- die Antithese – Gegenüberstellung von einzelnen Wörtern,
Wortgruppen, Sätzen („wahr und falsch“, „Jener darf und soll scheinen, dieser
soll nur sein“).
- Leitmotiv – eine in denselben oder ungefähr gleichen Worten
wiederkehrende Aussage, die einer Figur, Situation, einem Gegenstand, auch
einer Idee zugeordnet ist. Das Leitmotiv tritt im Gedicht mehrfach auf, seine
Funktion ist Gliederung oder Betonung bestimmter Zusammenhänge. Eine
Erscheinungsform des Leitmotivs ist Refrain – eine am Ende jeder Strophe
wiederkehrende Wortgruppe.
3. Zu den Stilmitteln der poetischen Sprache gehören auch die Tropen –
sprachliche Ausdrucksmittel, Begriffe, die in einer anderen als in ihrer
eigentlichen Bedeutung zu verstehen sind. Die Tropen schaffen beim Leser
bildliche Vorstellungen. Besonders oft trifft man im Gedicht eine Metapher. Die
Metapher entsteht aufgrund Übertragung der Bedeutung, wenn ein gemeinsames
semantisches Merkmal vorhanden ist („der Fuß des Berges“). Die gängigste
Abart der Metapher ist die Personifikation: Abstrakte Begriffe (Welt, Liebe,
Zeit, Tod), Naturerscheinungen (Flüsse, Tageszeiten), Tiere werden als
handelnde und redende menschliche Figuren dargestellt. Noch ein Mittel der
sprachlichen Stilisierung ist das Symbol. Das Symbol ist ein bildhaftes Zeichen,
ein Sinn-Bild, das über sich hinaus auf höhere geistige Zusammenhänge weist:
Goethes Heidenröslein ist z. B. ein symbolisches Bild (Röslein symbolisiert ein
Mädchen: Das Mädchen und das Röslein haben ein gemeinsames Sem – „jung
und schön“)
Bei der Inhaltsanalyse des lyrischen Textes untersucht man folgende
Kriterien:
1. Wer spricht? Im Gedicht gibt es einen Sprecher. Wenn ein Ich spricht,
so wird dies das lyrische Ich genannt. Beachten Sie! Das lyrische Ich bedeutet
nicht unbedingt den Autor des Gedichtes.
2. Wie ist das Thema des Gedichts? Es gibt Naturgedichte,
Liebesgedichte, Großstadtgedichte, politische Gedichte usw.
3. Wie ist die Intention des Gedichtes? Es gibt die Gedichte, die ein
Beispiel der „reinen Poesie“ darstellen, sie haben ausschließlich ästhetischen
Wert. Andere lyrische Texte zielen darauf, das Denken und Verhalten der Leser
zu verändern. Sie haben den appellativen Charakter. Das ist typisch für die
politische Lyrik, die auf gesellschaftspolitische Fragen reagiert, und für die
Gedankenlyrik, die bestimmte Ideen als allgemein gültig vertritt.
4. Welche Funktion kommt den beschriebenen formalen Merkmalen und
Auffälligkeiten zu? Die Verwendung eines bestimmten Metrums, einer
bestimmten Reimform, bestimmter sprachlicher Ausdrucksmittel ist mit der
Gesamtaussage des Gedichtes verbunden.
30
5. Nicht zuletzt spielen Text-Kontext-Beziehungen eine gewichtige Rolle
bei der Deutung des Gedichtes.
Interpretation des Dramas
Das Drama ist ein Handlungs-sprach-schau-spiel, d.h. das Drama ist
eine zusammenhängende Folge menschlicher Tat- und Sprachhandlungen. Die
beherrschende Art des Handelns im Drama ist das Reden. Hauptsächlich enthält
das Drama die dialogische Rede, das Denken der Personen kann aber auch als
Selbstgespräch – Monolog – dargestellt werden. Das Drama findet seine
vollständige Verwirklichung erst in der Inszenierung auf der Bühne. Das
dramatische Werk hat einen besonderen Aufbau: Mehrere Szenen bilden einen
Handlungsabschnitt – Akt. Die dramatische Handlung hat eine feste Gliederung:
Es gibt die Einleitung (Exposition), den Höhepunkt und eine Katastrophe. Zum
Höhepunkt bringt das Konflikt unvereinbarer Positionen. Mit den
Regieanweisungen gibt der Autor dem Regisseur und den Schauspielern
Anweisungen, auf welche Weise das Stück aufgeführt werden soll.
Tragödie und Komödie: Das sind seit der Antike wichtige Formen des
Dramas. Die Tragödie konfrontiert den Menschen mit letzten Fragen nach
Freiheit, Schuld, Ordnung und Verantwortung in einem tragischen Konflikt. Die
Tragödie zielt bei dem Rezipienten auf Mitleid (mit dem tragischen Helden) und
Furcht (davor, dass man selbst in eine ähnliche Situation gerät). Die Komödie
soll durch das Verlachen der komischen Figuren die Zuschauer in die Position
der heiteren Überlegenheit versetzen. Sie zeigt die Menschen im Konflikt von
Schein und Sein, Anspruch und Wirklichkeit. Die Auflösung des Konfliktes im
Lachen entlarvt die Schwächen des Menschen. In der Gegenwartsliteratur
entfernt sich das Drama immer mehr von diesen traditionellen Typen, sehr
verbreitet wird die Tragikomödie als Mischtyp.
Bei der Analyse der dramatischen Texte sind folgende Aspekte zu
berücksichtigen:
1. Beobachtung der Nebentexte: Deckblatt, Personenverzeichnis,
Bühnenanweisungen.
2. Fabel formulieren: Worum geht es im Stück?
3. Raumgestaltung:
der
Raum
wird
entweder
durch
die
Bühnenanweisungen oder durch die Worte der Figuren – was sie sehen und wie
sie es sehen – angegeben.
4. Figurengestaltung: Es gibt Haupt- und Nebenfiguren, sie befinden
sich in bestimmten Beziehungen zueinander. Ihr Tun und Sprechen
charakterisiert sie auf eine ganz besondere Weise.
5. Handlungsgestaltung: Konflikte, Intrigen.
31
6. Thema abstrahieren und Bedeutungshypothese nennen. Figuren und
Vorgänge dienen im Drama meist als Zeichen für bestimmte soziale und
kulturelle Begebenheiten.
7. Extratextuelle
Informationen
zur
Autorenbiographie,
Entstehungsumstände
Interpretation prosaischer Werke
Unter dem Sammelbegriff Prosa ist eine Menge von Untergattungen
gesammelt wie ein Roman, eine Novelle, eine Erzählung, eine Kurzgeschichte,
ein Märchen usw. Alle diesen Gattungen haben ein gemeinsames Merkmal – sie
haben einen erzählenden Charakter.
Der Interpretation des prosaischen Textes geht die Textanalyse voran, die
zwei wesentliche Ebenen umfasst. Einmal ist es die Formanalyse, die die
Erzählsituation und die Erzählperspektive betrifft. Zum anderen ist es die
Analyse der literarischen Darstellung wie Gestaltungsmittel, sprachliche
Mittel, Motive, Themen.
Für die Interpretation der prosaischen Texte sind also folgende Aspekte zu
berücksichtigen:
Formale Struktur des prosaischen Textes
1. Erzählsituation wird durch die Begriffe Ort, Zeit und Handlung
charakterisiert.
- Ort: dazu gehören sowohl geographische Lokalisierung, die meist in
den Toponymen ausgedrückt wird, als auch lokale Adverbien und
Adverbialbestimmungen.
- Zeit: unter diesem Begriff versteht man vor allem die wirkliche
Zeitepoche, die im Text gezeigt wird. Für den Aufbau des Textes ist aber die
Zeitstruktur von besonderer Bedeutung. Die Zeitstruktur des Textes wird durch
die Relation von erzählter Zeit und Erzählzeit charakterisiert. Erzählte Zeit –
das ist Zeitraum, über den sich die erzählte Handlung erstreckt, Erzählzeit ist die
Zeitspanne, die für das Lesen des Textes benötigt wird. Aus dieser Relation
ergibt sich das Erzähltempo. Die wichtigste und häufigste Technik der
Zeitgestaltung wird mit der Formel beschrieben: Erzählzeit < erzählte Zeit. Im
Text wird dieses Verhältnis durch verschiedene Formen der Zeitraffung erzielt.
Die häufigste Raffungsart ist der Zeitsprung (z. B. „Zwei Jahre später“). Dazu
gehört auch fortschreitende Aufreihung von Begebenheiten in mehr oder
weniger großen Schritten oder Sprüngen (Grundformel: „Dann… und dann …
und…“). Bei der Analyse der Zeitstruktur sind auch Umstellungen in
erzählerischer Chronologie von Bedeutung. Es gibt zwei Arten solcher
Umstellungen: Rückwendungen und Vorausdeutungen. Rückwendungen dienen
der näheren Begründung der Ereignisse in der Erzählgegenwart.
32
Vorausdeutungen nehmen einen späteren Punkt innerhalb der erzählerischen
Chronologie vorweg oder greifen über den Endpunkt der Erzählung voraus.
Schon der Titel oder Teilüberschriften dienen oft als Anspielung auf das
Kommende. Als Vorausdeutungen können auch die Aussagen der Figuren über
ihre Zukunft, ihre Zukunftsträume, Weissagungen dienen.
- Handlung: der Handlungsverlauf setzt sich aus einzelnen
Geschehensmomenten.
2. Erzählperspektive: Wenn man den literarischen Text liest, muss man
sich selbst immer fragen: „Wer spricht?“ Die Unterscheidung zwischen der
Autorrede, Erzählerrede und Figurenrede ist wichtig. Sowie im Gedicht die
Figur des fiktiven Sprechers – das lyrische Ich – zum Vorschein kommt, gibt es
auch in den prosaischen Texten die Figur des fiktiven Erzählers. Beachten Sie,
dass der Erzähler des Prosatextes mit dem wirklichen Autor des Textes nicht
immer zusammenfällt. Je nach der Rolle des Erzählers unterscheidet man drei
Erzählperspektiven:
- Der Ich-Erzähler erzählt in der ersten Person Singular, meist aus der
Perspektive der Hauptperson.
- Der Er-Erzähler oder der personale Erzähler erzählt den Text in der
dritten Person Singular wie ein neutraler oder zumindest distanzierter
Beobachter.
- Der auktoriale Erzähler ist der allwissende Erzähler. Er kennt auch das
Innenleben aller seinen Figuren genau, er weiß, was sie fühlen und was sie
denken.
Literarische Gestaltungsmittel
1. Bedeutung des Titels/Untertitels: Bei der Interpretation des
prosaischen Textes beginnt man immer mit der exakten Beobachtung der
Informationen zum Titel und zum Untertitel. Die Bedeutung des Titels kann bei
der späteren Deutung des Gesamttextes oder der einzelnen Textstellen von
außerordentlicher Wichtigkeit sein.
2. Figurengestaltung: Dazu gehört deren äußerliche und psychische
Charakterisierung. Für die Analyse der Figurengestaltung sind folgende
Leitfragen zu beantworten:
- Welche Merkmale der Figuren werden dargestellt oder hervorgehoben?
- In
welchem
Verhältnis
stehen
direkte
und
indirekte
Charakterisierungen?
- In welchem Verhältnis stehen die Figuren zueinander?
- Verändert sich die Figurenkonstellation im Verlauf der Geschichte?
3. Erzählweise: Der Erzähler hat grundsätzlich zwei Verfahrensweisen
zur Darbietung der erzählten Wirklichkeit: den Erzählerbericht (in
beschreibender oder kommentierender Form) und die Figurenrede (die Rede der
Personen in der Erzählung). Die Figurenrede erscheint in Form der direkten und
33
indirekten Rede nach dem Modell „Redeeinleitung + direkte / indirekte Rede“.
Indirekte Rede bedient sich meist des Konjunktivs. Daneben existieren in
Literatur auch besondere Formen der Figurenrede: „erlebte Rede“
(Gedankenwiedergabe in der Er-Form im Präteritum), „innerer Monolog“
(Gedankenwiedergabe in der Ich-Form im Präsens) und der Bewusstseinsstrom
(unmittelbare protokollierte Wiedergabe von Gedanken, Gefühlen, sinnlichen
Wahrnehmungen einer Person).
4. Sprachliche Mittel: Wortwahl und Satzbau, Redefiguren, Tropen
(sehen Sie „Die Interpretation der lyrischen Werke“!).
5. Motive, Themen, Leitmotive
Die Kurzgeschichte
Bei der Interpretation des prosaischen Werks orientiert man sich an seiner
Gattung. Es ist sehr wichtig, die Textsorte richtig zu erkennen, weil jede
Textsorte ihre eigenen spezifischen Merkmale hat. Eine der populärsten
prosaischen Gattungen der modernen Literatur ist die Kurzgeschichte.
„Kurzgeschichte“ ist eine Lehnübersetzung aus dem Amerikanischen („Short
Story“). Das ist eine relativ neue Gattung der Kurzprosa. In deutscher Literatur
setzte sich die Kurzgeschichte erst nach dem Kriegsende durch. Eine enorm
große Popularität genoss die Kurzgeschichte in den 50-60er Jahren. In der
Gegenwartsliteratur erlebt die Gattung eine neue Blüte, sie ist besonders beliebt
bei den jungen Autoren.
Die Kurzgeschichte hat ihre charakteristischen Merkmale, die sie von den
anderen prosaischen Gattungen unterscheiden:
Die Struktur der Kurzgeschichte wird durch den offenen Beginn und den
offenen Schluss gekennzeichnet: das Geschehen beginnt unmittelbar ohne
Einleitung und endet abrupt. Den Handlungsverlauf bestimmt eine deutliche
Steigerung, d. h. alle Geschehensmomente führen zu einem Höhepunkt. In den
Kurzgeschichten werden oft moderne Erzähltechniken verwendet: z. B. die
Auflösung der zeitlichen Chronologie durch inneren Monolog. Die Handlung
wird also in die äußere (in bestimmten zeitlichen und räumlichen Kulissen) und
innere Handlung (im Bewusstsein) gespalten.
Die literarische Gestaltung der Kurzgeschichte ist auch einzigartig.
Thematik der Kurzgeschichten stammt aus dem Alltagsleben. Es wird ein
Ausschnitt aus dem Alltag gezeigt, das sich zu einer ungewöhnlichen Situation
zuspitzt. Der Höhepunkt der Kurzgeschichte ist in der Regel ein schicksalhaftes
Ereignis, das oft mit der Verhaltensänderung endet. Die Figuren in der
Kurzgeschichte sind Durchschnittsmenschen oder Außenseiter, sie werden nicht
idealisiert und nicht heroisiert.
Die Sprache der Kurzgeschichte ist sachlich, nüchtern, knapp. Es wird
auf die Erklärungen, Reflexionen, Beschreibungen verzichtet.
34
Für die Kurzgeschichten ist eine andeutende, verkürzende
Darstellungsweise typisch. Dadurch entstehen viele Leerstellen. Die
Kurzgeschichten haben also eine besondere Intention: Sie lassen den Leser über
den weiteren Verlauf reflektieren, regen zum kritischen Nachdenken an.
Hinweise zum Herangehen an literarische Texte
Lesen und Verstehen literarischer Texte in einer Fremdsprache
Es ist nicht immer leicht, literarische Texte auf Deutsch zu verstehen.
Bevor Sie an den Text herangehen, müssen Sie den passenden Lesestil wählen.
Die Wahl des Lesestils hängt davon ab, mit welcher Absicht man den Text liest.
- Überblick verschafft, man „überfliegt“ den Text.
- Globales oder überfliegendes Lesen: So liest man, wenn man sich nur
den ersten Selektives oder suchendes Lesen: Man sucht nach bestimmten
Informationen aus dem Text. Dieser Lesevorgang ist auch relativ rasch.
- Detailliertes oder genaues Lesen: Man will alle Einzelheiten und
Nuancen des Textes verstehen.
Für die nachfolgende Interpretation der literarischen Texte benötigt man
meist detailliertes Lesen. Dazu braucht man hohe Konzentration, Zeit und
Hilfsmittel wie Wörterbücher. Außerdem verwendet man vielleicht auch Stifte
zum Markieren und Unterstreichen und macht man Notizen.
Oft enthält der fremdsprachige literarische Text bestimmte Signale, die
das Verständnis des Textes lenken und erleichtern. Folgende Tipps helfen Ihnen
möglichst viel Information dem Text zu entnehmen, ohne jedes Mal zum
Wörterbuch zu greifen.
a) Die Überschriften und Untertitel sagen schon auf den ersten Blick
etwas über den Text. Das erste, was Sie von einer Geschichte erfahren, ist die
Überschrift (der Titel). Sie steht wie ein Schild am Eingang, das Ihnen sagt, was
Sie drinnen zu erwarten haben. Sie kann neugierig machen, sie kann sagen,
worum es in der Geschichte geht, was dem Dichter wichtig war.
b) Bestimmen Sie, welche Textsorte vorliegt. Ist es ein Gedicht, eine
Kurzgeschichte oder ein Dramenausschnitt. Stellen Sie sich folgende Frage:
Worum könnte es inhaltlich bei dieser Textsorte gehen? In Gedichten geht es z.
B. meistens um Gefühle und Erlebnisse, in prosaischen Texten wird gewöhnlich
eine Geschichte erzählt.
c) Finden Sie im Text „Schlüsselwörter“. Das sind Wörter, die mehrmals
im Text wiederkehren, auch in Form synonymer Ausdrücke. In den
Schlüsselwörtern stecken die Hauptinformationen. Oft findet man sie schon in
der Überschrift.
35
d) Finden Sie im Text auch die weiteren „Informationsträger“ wie Zahlen
und Zahlwörter, Internationalismen und Eigennamen. Durch diese Wörter erhält
man oft wichtige sachliche Informationen zum Textinhalt.
e) Lesen Sie den Text in größeren Abschnitten und achten Sie auf die
Konnektoren, die Satzteile, Sätze und Textteile miteinander verbinden. Die
Teile des Textes verknüpfen z. B. solche Konnektoren wie dann, daher,
anschließend u. a. Als Satzverknüpfer dienen die Konjunktionen wie bevor, als,
und u. a. Fragen Sie sich immer: Welcher Art ist die Verbindung? Sie kann
zeitlich (dann, nachdem, bevor usw.), kausal (da, deshalb, nämlich usw.) sein,
Ziel oder Zweck angeben (damit, um..zu), Bedingungen ausdrücken (wenn, im
Falle, sonst usw.).
f) Achten Sie auf die weiteren Elemente, die Sätze verknüpfen können.
Dazu zählen z. B. Personalpronomen, Demonstrativpronomen und synonyme
Ausdrücke. Sie verweisen häufig auf ein Substantiv im letzten Satz zurück.
g) Beim Verstehen unbekannter Wörter gibt es zwei Strategien: aus dem
Kontext erraten oder aus den bekannten Teilen des Wortes verstehen. Um das
fehlende Wort aus dem Kontext zu verstehen, müssen Sie seine Umgebung
genau lesen und erkennen. Versuchen Sie das Wort aus dem Satzzusammenhang
zu erraten. Überprüfen Sie dann sich: Bekommen Sie dann einen sinnvollen
Satz? Die zweite Strategie benötigt bestimmte Kenntnisse auf dem Gebiet der
Wortbildung. Man muss das Wort in Stamm und Vor- oder Nachsilbe
aufgliedern. Wenn Sie die Bedeutung der Vor- und Nachsilben kennen, dann
können Sie sie in neuer Kombination erkennen. Z. B., das Adjektiv
„unauffällig“ kann man so aufgliedern: un – auffäll – ig. Un- ist ein Präfix mit
der Bedeutung der Negation, -ig - ein Suffix, mit dem man Adjektive von den
Substantiven oder Verben bildet. Der Stamm kommt vom Verb auffallen
(«бросаться в глаза»). Von diesem Verb bildet man also das Adjektiv auffällig
(«броский»), das Adjektiv unauffällig hat also die Bedeutung «неброский,
незаметный».
h) Nur wenn es Ihnen auch jetzt etwas Wichtiges zum Verständnis fehlt,
schlagen Sie im Wörterbuch nach. Man muss aber auch mit dem Wörterbuch
richtig arbeiten können. Es kann passieren, dass Sie solche Verben wie z. B.
hinausklettern, wegbringen in den Wörterbüchern nicht finden. Die
Wörterbücher deuten ausführlich die Präfixe hinaus-, heraus-, herum-, wegusw. Man muss also die Bedeutung der Verben klettern, bringen finden und in
der Kombination mit der Vorsilbe übersetzen. Dasselbe gilt auch für die
Zusammensetzungen, die für die deutsche Sprache typisch sind. Wenn Sie die
Zusammensetzung im Wörterbuch nicht finden, versuchen Sie ihre Bedeutung
aus den einzelnen Wörtern zu verstehen. Merken Sie sich: In den
Zusammensetzungen trägt das zweite Wort die Hauptbedeutung, das erste
berichtet die zusätzliche Information (Schreib-tisch – «письменный стол»).
36
Die Erarbeitung eines Referats
Bevor man an die Interpretation des Textes geht, braucht man häufig
zusätzliche Informationen über den Lebensweg des Dichters, gesellschaftliche
und politische Situation im Lande, literarische Tendenzen und Stile. Diese
sachlichen Informationen können im Unterricht in Form des Referats dargestellt
werden. Das Referat ist ein ausführlicher Beitrag, zumeist fachlicher Art, über
ein genau begrenztes Thema. Es liegt in der Regel schriftlich vor, wird aber
mündlich vorgetragen. Bei der Vorbereitung des Referats muss man also zwei
Aufgaben erfüllen:
 Die schriftliche Ausarbeitung
 Der mündliche Vortrag
Die schriftliche Ausarbeitung
In der einfachsten Form gibt das Referat die wesentlichen Inhalte und
Sachverhalte zum Thema wieder und bedient sich dabei einer Quelle, z. B. eines
Lehrbuchabschnitts oder eines Lexikonartikels, als Grundlage. Dabei bedient
man sich der Arbeitstechniken des Exzerpierens und des Anstreichens. Es ist
auch möglich, dass mehrere Quellen die Grundlage Ihres Referats bilden. Ihre
Aufgabe wird dann schwieriger: Eine einfache Inhaltswiedergabe genügt nicht
mehr. Die Materialien, deren man sich bedient, muss man dann vergleichen und
den Kernpunkt der Fragestellung deutlich herausarbeiten. Das Referat beginnt
gewöhnlich mit dem kurzen Überblick, dann folgt die Behandlung der
Einzelheiten. Das Referat muss klar gegliedert werden. Die Folien, die die
Gliederung oder den Inhalt des Referats in Thesenform enthalten, sind wichtige
Hilfsmittel.
Der mündliche Vortrag
Beim Vortrag kommt sehr viel auf die Darbietung an, vor allem auf die
Betonung der wichtigen Momente und den Blickkontakt zwischen Referent und
Zuhörern. Die meisten Referate werden aufgeschrieben und vorgelesen. Der
Idealfall ist der freie Vortrag, bei dem sich der Redner zwar auf die Notizen
stützt, im Übrigen aber frei spricht.
Die Erarbeitung eines Interpretationsaufsatzes
Wenn Sie die Ergebnisse der Deutung des Textes in Form eines
schriftlichen Aufsatzes darlegen müssen, beachten Sie folgende Hinweise. Diese
Arbeitsschritte gelten übrigens auch für die umfassende mündliche
Interpretation.
Arbeitsschritte:
1. Beschäftigung mit dem Textmaterial
37
 Lesen Sie den zu interpretierenden Text gründlich durch.
 Schlagen Sie unbekannte Wörter sofort nach oder erschließen Sie sie
aus dem Kontext. Vergewissern Sie sich, dass Sie den Inhalt des Textes
verstanden haben.
 Fertigen das Leseprotokoll an.
 Markieren Sie im Text, was Ihnen besonders auffällt. Das können
wichtige Textstellen, Begriffe oder interessante Aussagen sein.
 Versuchen Sie den Text, in kleinere Einheiten zu untergliedern.
 Schreiben Sie eine kurze Inhaltsangabe.
2. Analyse des Textes
 Arbeiten Sie systematisch inhaltliche und formale Struktur des Textes
heraus. Beachten Sie dabei die für jede Gattung typischen Gesichtspunkte.
 Deuten Sie alle Ihnen auffallenden sprachlich-stilistischen
Besonderheiten. Erläutern Sie ihre Funktion im Mitgeteilten.
 Formulieren Sie die Hypothese für die Deutung des allgemeinen
Themas.
3. Nutzung von Zusatzinformationen
 Verschaffen Sie sich, wenn es nötig ist, zusätzliche Kenntnisse über
den Autor, literarische Tradition, zeitspezifische Problemstellung.
 Überlegen Sie, wie Sie diese Kenntnisse für ein vertieftes Verständnis
des Textes nutzen können
4. Ausarbeitung des Plans des Aufsatzes
 Beginnen Sie mit der Einleitung.
 Für den Hauptteil erarbeiten Sie die Gliederung. Bei der Gliederung
können Sie sich nach den Schritten 1 – 3 orientieren, Sie können sich aber auch
nach Ihrer individuellen Lesart richten.
 Beenden Sie Ihre Interpretation einer Darstellung der Ergebnisse Ihrer
Deutung. Das kann Ihre eigene Wertung des Textes sein oder die Einordnung
des Textes in ein bestimmtes Problemfeld.
5. Hinweise für die sprachliche Gestaltung
 Verwenden Sie bei Hausaufgaben sowie beim Anfertigen des
Aufsatzes Wörterbücher und Grammatiken, um Fehler in Rechtschreibung und
Grammatik zu vermeiden.
 Schreiben (sprechen) Sie in einer sachlich-distanzierten Sprache.
Ahmen Sie nicht die Sprache des Ausgangstextes nach. Vermeiden Sie auch
umgangssprachliche und betont „mündliche“ Wendungen.
 Verwenden Sie die Begriffe genau. Prüfen Sie sich, ob Sie die
Begriffe richtig gebrauchen.
38
 Achten Sie, dass Ihre subjektive Meinung die objektiven
Informationen und Thesen aus dem Text nicht ersetzt. Belegen Sie alle Ihren
Thesen mit Beispielen aus dem Text, benutzen Sie also Zitate.
39
Interpretationen mit unterschiedlichem Schwerpunkt
Leser und Text
Lesen Sie den folgenden Text. Während oder unmittelbar nach
der Lektüre fertigen Sie das Leseprotokoll an.
Christoph Hein: Auszug aus dem Roman „Der fremde Freund“
Ich kannte Henry ein Jahr. Er wohnte in der gleichen Etage des
Hochhauses, in der ich auch noch heute meine Wohnung habe. Es ist ein
Gebäude mit Einzimmerwohnungen. Man nennt sie jetzt Appartements. Als
Kind, ich meine als Halbwüchsige, hatte ich mir unter Appartements etwas
ganz anderes vorgestellt. Sie kamen viel in den Romanen vor, die ich damals las.
Das waren Zimmer mit kostbaren Gardinen und goldenen Leuchtern, einer
Dame im Abendkleid und einem Herrn im Frack oder korrekten Anzug.
Unsere Appartements sind anders. Hier wohnen nur Alleinstehende,
Unverheiratete wie ich und alte Leute. Im Sommer stinkt es nach dem
Müllschlucker und manchmal nach Klo. Radiomusik dudelt den ganzen Tag
durchs Haus. Selbst am Sonntagmorgen. Überhaupt steckt das Haus voller
Geräusche. Sie dringen durch die Wände ein, über die Rohrleitungen. Ein
undeutliches, gleich bleibendes Gemisch von Stimmen. Man gewöhnt sich
daran, hört es nicht mehr. Still ist es hier nur spät nachts.
Ich weiß nicht, wann Henry hier einzog. Die Mieter in diesem Haus
wechseln sehr häufig. Die Jungen heiraten und die Alten sterben. Man wohnt
hier nur auf Abruf. Zwischenstation. Es lohnt nicht, Bekanntschaften zu machen,
was ich ohnehin nicht schätze. Bekannte, die im gleichen Haus wohnen, haben
immer etwas Aufdringliches. Ich will nicht mehr Tag für Tag in fremde
Gesichter starren, die nur deswegen zu mir gehören sollen, weil es immer die
gleichen sind. Unveränderliche Vertrautheit, der ich ausgeliefert bin. Ich ziehe
das diskretere Verhältnis zu den Möbeln in meiner Wohnung vor. Sie sind
unaufdringlicher. Ihre Anwesenheit hat den Charme von Noblesse. Aber auch
das ist mir gleichgültig.
Damals, im April oder Mai, stand ich vor dem Fahrstuhl und wartete. In
diesem Haus wartet man immer auf den Fahrstuhl. Vielleicht weil die alten
Leute zu oft auf die falschen Knöpfe drücken. Aber vielleicht sind zwei
Fahrstühle für ein Haus mit einundzwanzig Stockwerken und so vielen Mietern
einfach zu wenig.
Ich sah, wie am Ende des Gangs Frau Rupprecht erschien, meine
Nachbarin. Die alte Dame kam einige Schritte auf mich zu, ihr Kopf zitterte.
Dann kam Frau Luban, die die Wohnung neben dem Müllschlucker hat.
Ich wartete noch immer auf den Fahrstuhl. Frau Luban ist gehbehindert und
40
läuft den ganzen Tag durchs Haus. Sie hat in jedem Stockwerk Bekannte, mit
denen sie Kaffee trinkt.
Sie stellte sich neben mich und klagte über den Hausmeister, der
überhaupt nichts tun würde. Auch sei er unverschämt und gebe freche
Antworten.
Die alte Dame kam dicht an mich heran und fragte, ob mir der Mieter aus
dem Appartement sieben nicht aufgefallen sei. Es sei ein merkwürdiger Mensch.
Ich schüttelte den Kopf und sagte, dass ich anderen Leuten nicht nachspioniere.
Davon ist überhaupt keine Rede, erwiderte sie gekränkt.
Frau Luban berührte meinen Arm. Sie hielt den Kopf gesenkt, als sie
flüsterte: Sehen Sie.
Ich drehte mich um. Den Korridor entlang kam ein Mann mit einem
Filzhut auf uns zu. Das ist er, zischelte Frau Luban und wandte sich ab.
Der Mann stieß mit dem Fuß die Glastür auf und stellte sich neben uns
vor den Fahrstuhl. Er betrachtete mich eingehend. Ich starrte ihn ebenso
schweigend an. Sein Gesicht war unregelmäßig, als wäre es aus zwei
verschiedenen Hälften zusammengesetzt. Der Filzhut wirkte lächerlich.
Vielleicht aber war es nur die herausfordernde Art, wie er ihn trug.
Der Fahrstuhl kam, und wir stiegen ein. Ich stand an der Fahrstuhltür. Die
alte Frau drängte sich dicht neben mich, was mir unangenehm war. Ich schob
meine Tasche zwischen uns. Der Mann stand hinter mir. Plötzlich ertönte ein
Jaulen. Ein kurzer, aufheulender Schrei, als habe man einen Hund getreten. Frau
Luban griff fest nach meinem Arm. Ich schüttelte sie ab, während ich mich
umdrehte. Der Mann mit dem Filzhut stand an die Rückwand gelehnt und
betrachtete gelangweilt die elektrische Anzeige der Stockwerke. Wir lächelten
uns an. Als wir unten ankamen, sagte er sehr freundlich guten Tag zu mir und
hielt die Tür auf.
Am Abend erschien Henry bei mir. Ich lag im Bett, als es klingelte. Im
Bademantel öffnete ich. Er stand mit einem qualmenden, stinkenden Topf vor
der Tür und fragte, ob ich ihm helfen könne. Ich sagte, es sei zu spät, und ich
hätte bereits im Bett gelegen. Er erwiderte, er habe noch nichts gegessen, und
das hier, und dabei deutete er auf den Topf, sei ungenießbar. Dann ging er an
mir vorbei ins Zimmer. Er setzte sich in einen Sessel und sah die Fotos an, die
an den Wänden hingen. Ich blieb an der Tür stehen und sagte ihm, dass ich
müde sei, dass ich schlafen müsse. Er meinte, er würde nicht lange bleiben, er
wolle nur etwas essen, dann würde er gehen. Ich ging in die Küche. Er blieb im
Sessel sitzen und redete weiter mit mir.
Später setzte er sich an den Tisch und aß. Er wollte, dass ich mich zu ihm
setze. Ich sagte, dass ich schlafen wolle. Er fragte, ob ich die Fotos selbst
gemacht habe und auch selber entwickle. Ich hörte ihm mit geschlossenen
Augen zu. Er sprach noch immer über meine Fotos und die Landschaften, die
41
ich aufgenommen hatte. Dann redete er über das Zimmer, sagte, dass alle Leute
in diesem Haus ihre Wohnung auf gleiche Art eingerichtet hätten. Das kleine
Zimmer, die Türen machen es erforderlich, dass jeder sein Bett dahin, seinen
Tisch dorthin zu stellen habe. Möglich sei nur eine einzige Variation, und auch
sie ergebe sich zwangsläufig: Wenn jemand Bücher besitze und dafür ein Regal
benötige, so müsse dieses neben der Tür aufgestellt werden und das Bett folglich
am Fenster. Und wenn er dann noch sehe, dass in den Regalen auch noch die
gleichen Bücher zu finden seien, so habe er Lust, sich eine Kugel in den Kopf zu
schießen. Er stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Er starrte aus dem Fenster
und ging dann wieder zum Tisch, um etwas zu trinken. Und ich sah ihm dabei
zu. Dann setzte er sich in den Sessel, rauchte und starrte aus dem Fenster. Er
fragte mich, ob ich gern auf dem Balkon stehe. Er vertrage es nicht.
Haben Sie Höhenangst? fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. Nein, sagte er, es ist etwas anderes.
Ich fürchte ganz einfach davonzufliegen, sagte er sehr heiter, oder, wenn
du es prosaischer haben willst, herunterzustürzen. Etwas sollte doch passieren:
Ich lebe, aber wozu. Der ungeheuerliche Witz, dass ich auf der Welt bin, wird
doch eine Pointe* haben. Also warte ich.
Texterläuterungen:
das Appartement – komfortable Wohnung aus einem Zimmer, Bad und
Küche bzw. Kochnische
die Alleinstehenden – die Leute, die ohne den Lebenspartner, d. h. ohne
Mann oder Frau, leben
auf Abruf wohnen – жить до вызова, до востребования
starren – jmdn. angucken
der Charme von Noblesse – благородное обаяние
…unveränderliche Vertrautheit, der ich ausgeliefert bin – неизменная
близость, на произвол которой я отдана
gehbehindert sein – nur mit Mühen gehen
der Hausmeister – jmd., der vom Hauseigentümer für Ordnung und
Sauberkeit beauftragt wurde
die Pointe – Hauptsache, Schlusseffekt, überraschendes Ende eines
Witzes
Grammatischer Kommentar
Achten Sie auf die Sätze mit der Konjunktion als. Nicht alle als-Sätze
haben temporale Bedeutung. Wenn nach der Konjunktion als das finite Verb
geht, ist es ein irrealer Wunschsatz. In den irrealen Wunschsätzen steht das Verb
im Konjunktiv. Merken Sie sich, wie man solche Sätze übersetzt:
…,als wäre er aus zwei verschiedenen Hälften zusammengestellt –…, как
будто оно было сложено из двух разных половин
42
…, als habe man einen Hund getreten - …, словно наступили на собаку
Zur Diskussion
1. Wie verstehen Sie die Worte von Henry, er habe manchmal „Lust,
sich eine Kugel in den Kopf zu schießen“? Suchen Sie im Text Abschnitte
oder Sätze, die die Eintönigkeit, Gleichgültigkeit oder Fremdheit
beschreiben.
2. Lesen Sie den Romanauszug noch einmal durch. Finden Sie die
Textstelle, wo die Erzählerin behauptet, dass es sich nicht lohnt, wenn man
in einem Hochhaus wohnt, Bekanntschaften zu machen. Wie begründet sie
das? Sind sie mit ihren Argumenten einverstanden? Äußern Sie Ihre
Meinung dazu.
Interpretation der Lyrik
Lesen Sie das Gedicht von Wolf Biermann. Für die erfolgreiche
Interpretation des Gedichtes muss man jedes einzelne Wort verstehen!
Außerdem fehlt hier die Zeichensetzung am Ende der Sätze. Markieren Sie
also die Grenzen der einzelnen Sätze!
W. Biermann: Ballade vom letzten Wunsch eines alten Zirkuspferdes
1
Ich bin ein altes Zirkuspferd
Und lauf schon blind im Kreis
Und meine hohe Kunst hab ich
Bezahlt mit Pferdeschweiß
Ich hab die ganze Welt gesehen
Mich sah die halbe Welt
Ich laufe, stehe, leg mich lang
Ganz wie es euch gefällt
Ich kann auch machen wie der Mensch
Ich steige hoch, und knallt
Die Peitsche, gibt`s auch Zucker für
Die menschliche Gestalt
Hoppe hoppe Reiter
Wenn er fällt, dann...
Halt die Luft an!
Leben geht doch weiter
2
Auf meinem Hintern ritten schon
Artisten aller Art
Die starken Jungs im Flitterkleid
Die bringen mich in Fahrt
Sie machen Salto, vor-zurück
Und hängen mir am Bauch
Bloß wenn es sechs auf einmal sind
Dann stehe ich auf dem Schlauch
Ich brauch die Jungs, die brauchen
mich
Ja, das ist meine Welt
Manege! Und mein Himmel ist
Das hohe Zirkuszelt
Hoppe hoppe Reiter
43
3
Der Mensch, der Mensch frißt
Pferdewurscht
Herrgott, bald bin ich dran
Bald komm ich in die Schlachterei
Bloß, weil ich nicht mehr kann
Erst hat das Pack sich sattgesehen
An meiner Kunstdressur
Dann fressen sie sich satt an
Meiner Pferdefleischfigur
Da bin ich gegen! – was ich will
Wenn ich bald sterben werd:
Im Zirkus will ich sterben, als
Ein altes Zirkuspferd
Hoppe hoppe Reiter...
4
Das ist mein letzter Wille, und
Das wäre mein schönster Spaß
Den starken Zirkuslöwen will
Ich sein ein Sonntagsfraß
im Raubtiermagen möchte ich
so gern begraben sein
und bringt der Wärter dann mein
Fleisch
in Löwenkäfig rein
Dann soll er sagen: Da! Für Euch!
Vom Pferd ein Souvenir
Es war ein Pferd mit Löwenherz
Und wollte sein wie ihr
Hoppe hoppe Reiter
Wenn er fällt, dann...
Halt die Luft an!
Leben geht doch weiter
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Texterläuterungen
auf dem Schlauch stehen – туго соображать, «тормозить»
(фамильярно-разговорный стиль)
Pferdewurscht – umgangssprachliche Form von Pferdewurst
das Pack – сброд
Grammatischer Kommentar
In diesem Gedicht gibt es einige Bedingungssätze. Merken Sie sich: Es
gibt Bedingungssätze ohne wenn. In solchen Nebensätzen steht das finite Verb
am ersten Platz: …und knallt die Peitsche, gibt' s auch Zucker für die
menschliche Gestalt (дословно: …и если щелкает кнут, имеется также и
сахар за человеческую позу), … und bringt der Wärter dann mein Fleisch in
Löwenkäfig rein, dann…(…и когда смотритель внесет мое мясо в клетку
львов,…).
Aufgaben zur Interpretation
1. Analysieren Sie die Form des Gedichtes in folgenden Schritten.
Schritt 1:Klanggestalt
a) Markieren Sie die Betonungen in einer Verszeile. Je nach der
Verteilung der betonten und unbetonten Silben bestimmen Sie das Metrum;
b) Markieren Sie die Enden jeder Verszeile in einer Strophe und
bestimmen Sie die Reimform.
Schritt 2: Semantische Ebene
a) Wortwahl. Was fällt Ihnen an der Sprache des Gedichtes ein? Welche
„Kraftausdrücke“ verwendet der Autor? Welche Synonyme kann man zu diesen
Wörtern finden?
b) Der Literaturwissenschaftler M. Gasparow schlägt für die Analyse der
Wortwahl in einem Gedicht folgendes Verfahren vor: man muss aus dem
Gedicht alle Substantive, alle Adjektive und alle Verben schreiben. Die
Substantive zeigen, aus welchen Gegenständen und Begriffen die Welt des
Gedichtes besteht, die Adjektive geben die Eigenschaften und emotionelle
Charakteristiken dieser Welt an, die Verben charakterisieren die Bewegungen
und Zustände. Versuchen Sie so zu vergehen. Was ergibt sich aus solcher
Analyse?
c) Welcher Redefiguren und Tropen bedient sich der Autor?
2. Analysieren Sie den Inhalt des Gedichtes in folgenden Schritten:
Schritt 1: Die Ballade ist ein Erzählgedicht. Versuchen Sie das Geschehen
des Gedichtes nachzuerzählen.
Schritt 2: Wer spricht in diesem Gedicht? Wie kann man das lyrische Ich
des Gedichtes charakterisieren? Wessen Empfindungen sind es in Wirklichkeit?
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Schritt 3: Was erfahren Sie aus dem Gedicht über das Leben des
Zirkuspferdes? Wie ist dem Pferd zumute? Wie will das Pferd das Leben
beenden? Warum?
Schritt 4: Tragen Sie das Gedicht ausdrucksstark vor. Suchen Sie die
richtige Sprechgestalt. Wie müssen Sie sprechen: freudig, erstaunt, traurig,
nachdenklich?
Schritt 5: Thema des Gedichtes: Im Gedicht werden in Form des
Monologs eines Pferdes Aussagen über Zeit und Tod, Vergänglichkeit des
menschlichen Lebens, Beziehungen des Künstlers mit seinem Publikum
gemacht. Versuchen Sie eines dieser Themen mit Form und Inhalt des Gedichtes
zu verknüpfen und Ihre Meinung dazu zu äußern.
3. Legen Sie Ergebnisse Ihrer Recherche zu Form und Inhalt des
Gedichtes in einem Interpretationsaufsatz dar.
Kreative Aufgabe: Schreiben Sie das Gedicht in eine Narration um.
Die Arbeitsschritte:
- Ziehen Sie die sachlichen Informationen aus dem Gedicht heraus.
- Schreiben Sie die Gedanken des Autors in einem ungebundenen Text
auf.
Interpretation des Dramas
Lesen Sie den ersten Akt aus dem Stück von Christoph Hein
abschnittsweise. Protokollieren Sie die Antworten auf die gestellten Fragen.
Christoph Hein: „Die Ritter der Tafelrunde“
Personen
Ginevra
Jeschute
Kunneware
Artus
Keie
Orilus
Parzival
Mordret
Lancelot
Ort
Halle der Artusburg
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Was fällt Ihnen zum Titel, Personenverzeichnis und Ort der
Handlung ein? Auf welche Epoche verweisen sie? Sind Ihnen die Legenden
über König Artus bekannt? Was wissen Sie über Artus und seine Ritter?
Anmerkung
Der britannische Heeresführer Artus sollte im 6. Jh. gelebt haben. Die
Artuswelt wurde zum wichtigen Stoffkreis des höfischen Romans des
Mittelalters. Artus galt als das große ethische Vorbild des Rittertums: Er wurde
zum Mittelpunkt der Ritterschar (Artusrunde, Tafelrunde). Der Artusritter
vereinigt in sich die ritterlichen Idealvorstellungen, er lebt im Einklang mit der
Welt und mit Gott und besteht ohne Schaden seine märchenhaften Abenteuer.
Oft werden die Legenden über Artus mit der christlichen Legende über den
heiligen Gral vereinbart. Als den Gral (Gefäß) bezeichnete man in der
mittelalterlichen Dichtung geheimnisvollen, Wunder bringenden Stein oder
geheimnisvolle, Leben spendende Schale (in der Christi Blut aufgefangen
wurde).
Erster Akt
Halle der Artusburg mit dem Tisch der Tafelrunde; Ginevra sitzt am Tisch
und liest in einem Buch.
JESCHUTE (tritt auf) Da habe ich nun so lange geschlafen, aber müde bin ich
noch immer. Guten Morgen, meine Liebe. Wie spät ist es denn?
GINEVRA Ich weiß es nicht. Guten Morgen, Jeschute. (Sie küssen sich.).
JESCHUTE Hast du einen Kaffee für mich übrig?
GINEVRA Bitte, nimm dir. Du kannst dir auch das Hörnchen nehmen.
JESCHUTE Was liest du?
GINEVRA Ach, nichts. Einen dummen Roman. Er ist so dumm, dass ich schon
alles vergessen habe. Aber vielleicht bin ich zu dumm dafür. Wie hast du
geschlafen?
JESCHUTE Gut. Sehr gut und traumlos. Ich war viel zu besoffen, um noch
etwas zu träumen.
GINEVRA Es ist gestern spät geworden?
JESCHUTE Ja. Sehr spät.
GINEVRA Ihr wart sehr laut. Ich habe euch streiten hören.
JESCHUTE Tut mir leid, Ginevra. Die Männer sind wieder aneinandergeraten
und haben herumgebrüllt.
GINEVRA Wie immer.
JESCHUTE Ja. Wie immer. Jahraus, jahrein, die gleichen Gespräche, die
gleichen unsinnigen Streitereien. Was ist nur aus uns geworden, Ginevra.
GINEVRA Wir sind alt geworden.
JESCHUTE Ich bin alt geworden, wolltest du sagen, wie? Schon gut, du hast ja
recht. Ich sah vorhin in den Spiegel, mein Gott -. Als ich ein junges Mädchen
war, wollte ich sehr früh sterben. Nur nicht alt werden, hatte ich mir
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vorgenommen. Und dann wurde ich dreißig und vierzig und schließlich fünfzig.
Ist das nun besser? Wär ich jung gestorben, dann würde heute alles nur von der
jungen Jeschute, von der schönen Jeschute sprechen. Stattdessen - weißt du, wie
die Männer über mich reden?
GINEVRA Lass sie doch. Die sind auch alt geworden.
JESCHUTE Na, ich weiß nicht, ob das ein Trost ist. Was für schöne Männer
waren das. Wir hatten schöne Verehrer, Ginevra. Und selbst unsere Ehemänner
waren einmal schön. Und heute? Traurige, alte Streithammel. Man hat nicht
einmal Lust, mit ihnen zu reden.
GINEVRA War Mordred gestern Abend dabei?
JESCHUTE Natürlich. Und er hat mitgetrunken und hat herumgeschrien ...
GINEVRA Der Junge tut mir leid.
JESCHUTE Ach was. Er ist ein hübscher Junge, aber langweilig und
nervtötend.
GINEVRA Er ist ratlos.
JESCHUTE Du musst ihn nicht immer verteidigen, Ginevra. Er ist zwanzig
Jahre, er sieht gut aus, er hat das Leben noch vor sich. Wie kann man da
immerfort herumgreinen wie ein alter Mann.
GINEVRA Die Jungen haben es heute schwerer. Für uns war es einfach und
klar, wie zwei und zwei. Bei den jungen Leuten heute gilt nichts mehr. Sie
stellen alles in Zweifel. Nichts hat für sie Wert, es gibt nichts, was sie
anerkennen. Sie sind alle so klug, sie durchschauen alles, und ihre ganze
Klugheit macht sie ratlos und unglücklich.
JESCHUTE Sie tun nichts, sie wollen nichts, sie leiden, das ist alles. Und sie
machen die Welt für ihr Unglück verantwortlich, die Umstände, uns. Nicht sehr
einfallsreich, wie. Natürlich kann man sich hinter den Ofen setzen und klagen.
Aber man könnte vielleicht auch etwas tun.
GINEVRA Du willst sie nicht verstehen ...
JESCHUTE Schluss, Ginevra, wir wollen uns nicht streiten. Wenigstens wir
zwei wollen Frieden halten. (Sie setzt sich neben Ginevra, Keie tritt auf,
Jeschute erhebt sich rasch.)
1. Wann und wo beginnt die Handlung des Stücks?
2. Welche handelnden Figuren erscheinen am Anfang? Was haben
Sie von ihnen aus dem Text erfahren? In welcher Beziehung stehen sie
zueinander? Wie sehen sie aus? Versuchen Sie sie zu beschreiben.
3. Notieren Sie kurz, was die Frauen besprechen.
KEIE Sag mal, hast du auf diesem Stuhl gesessen?
JESCHUTE Wie?
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KEIE Ich habe dich gefragt, ob du auf diesem Stuhl gesessen hast. Hier auf
diesem Stuhl. (Er zeigt auf den Stuhl, auf dem Jeschute saß.)
JESCHUTE Natürlich nicht. Ich bin weder auserwählt noch verrückt oder
besonders mutig. Natürlich habe ich auf diesem Stuhl nicht gesessen. Frag
Ginevra.
KEIE Schon gut. Es kam mir nur so vor...
GINEVRA Guten Morgen.
KEIE Guten Morgen, Ginevra. Guten Morgen, Jeschute. Entschuldige, ich habe
wohl Halluzinationen. Habt ihr noch Kaffee?
GINEVRA Nein, du musst dir selber welchen kochen. Und mach für uns eine
Tasse mit, bitte
KEIE Bist du schon lange auf? Wie spät haben wir es? Was liest du da, darf ich
mal sehen? (Er nimmt Ginevras Buch.)
GINEVRA Es ist ein Roman. Leg ihn wieder hin, Keie. Er interessiert dich
sowieso nicht.
KEIE Sag das nicht, Ginevra. Früher habe ich viel gelesen. Es ist ein angenehmer Zeitvertreib, und man konnte immer etwas lernen. In Maßen genossen, ist
es sehr unterhaltsam. Und sogar nützlich. Und für Frauen und Kinder ist es
allemal besser, als Löcher in die Luft zu starren. - Jetzt habe ich dich gekränkt?
GINEVRA Nein. Ich kenn dich doch, Keie.
KEIE (lacht) Na schön, ich mach uns jetzt Kaffee. (Er will gehen.) Du kennst
mich, das soll heißen, auf mich musst du nicht hören, nicht wahr? Dann sag mir
doch bitte, was das Bücherlesen dir einbringt. Da gibt es schönere Menschen,
ein schöneres Leben, - und was hast du davon? Du willst das alles auch haben,
und da das unmöglich ist, wirst du ärgerlich und verzweifelst. Du machst dich
selbst unglücklich, das ist das Ergebnis deiner Lektüre. …
JESCHUTE Na, und davon zumindest verstehst du etwas.
GINEVRA Lass ihn ausreden.
KEIE Natürlich, du kannst es dir leisten. Artus' Frau kann selbstverständlich
ihren Tag auf dem Kanapee verbringen und ihre ach so schöne, unglückliche
Seele pflegen. Bedauerlicherweise wird dieser Seelenschmalz in viel zu hohen
Auflagen auch unter das Volk gebracht und vergiftet normale, völlig gesunde
Leute, die darauf angewiesen sind, ihrer Arbeit nachzugehen oder sich um ihre
Kinder zu kümmern.
JESCHUTE (lacht auf) Was für eine Kanaille!
KEIE Jeschute, du bist eine dämliche Kuh. Beweis mir das Gegenteil oder halt
deine Schnauze.
JESCHUTE Ein galanter Ritter, unser Keie.
KEIE Ich lass mich von keinem beleidigen, auch nicht von einer Frau. Frauen
haben neuerdings alle möglichen Sonderrechte, weil sie ja so unterdrückt sind.
Aber entschuldige, beleidigen lasse ich mich nicht. – (Zu Ginevra) Ich sagte,
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diese Bücher vergiften das Volk, weil sie ihnen eine verlogene, aber angenehme
Welt vorgaukeln. Da werden ein, zwei Helden hingestellt, sehr sauber, sehr
tapfer, sehr ehrlich und sehr sensibel, und die Umgebung, in der sie zu leben
gezwungen sind, ist finster, geldgierig, gefühllos, egoistisch. Mit einem Wort:
Sie leben unter Schurken und leiden. Nach diesem Rezept sind deine Romane
gestrickt, und der Leser kann sich nun einfühlen.
………
JESCHUTE Du bist eine Kanaille, Keie. Aber wer so abgestumpft ist wie ein
Rindvieh, kann natürlich nicht verstehen ...
KEIE Ich hätte Lust, dir ein paar runterzuhauen. Aber ich denke, das wird dir
ohnehin dein Mann besorgen. - Ich mach uns Kaffee. (Er geht ab.)
JESCHUTE Dreckstück.
GINEVRA Hör damit auf, Jeschute, bitte.
JESCHUTE Schnüffler. Schweineschnauze.
GINEVRA Jeschute.
JESCHUTE Ach, ist doch wahr. Was geht ihn das an.
GINEVRA Hab ich dir schon erzählt, dass Artus von Gawain Nachricht hat?
JESCHUTE Von Gawain? Kommt er zurück?
GINEVRA Ich weiß es nicht. Artus hat kein Wort gesagt. Er nahm den Brief
und steckte ihn ungelesen in die Tasche.
JESCHUTE Und Lancelot?
GINEVRA Nichts. Artus hat keine Nachricht von ihm.
JESCHUTE Auch kein Briefchen für dich?
GINEVRA (zündet sich eine Zigarette an)
Ich rauche zuviel. Es bekommt meiner Haut nicht. Eigentlich musste es mir
leicht fallen, aufzuhören. Ich rauche nur aus Langeweile.
JESCHUTE Es wird nie mehr so, wie es war. Auch wenn sie zurückkommen,
selbst wenn alle zurückkommen würden. Die Tafelrunde existiert nicht mehr.
GINEVRA Aber das kann nicht das Ende sein.
JESCHUTE Warum nicht? (Sie schweigen.)
1. Sammeln Sie alle möglichen Assoziationen zum Wort „Ritter“. Wie
soll der echte Ritter sein? In welcher Epoche gab es Ritter? Was versteht
man heute unter ritterlichem Benehmen?
2. Welche Rolle spielt die Figurensprache bei der Charakteristik der
Figuren? Schreiben Sie aus dem Text alle „Kraftausdrücke“. Wie
charakterisieren sie Keie? Entspricht er Ihren Vorstellungen vom echten
Ritter?
3. Lesen Sie noch einmal das Rededuell von Kaie und Ginevra.
Worüber sprechen sie? Was hält Keie von den Büchern? Fassen Sie seine
Meinung in einigen Sätzen zusammen. Stimmen Sie ihm zu?
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4. In welcher Zeit spielt sich die Handlung ab? Finden Sie im Text
alle möglichen Hinweise darauf, dass es kein Mittelalter ist.
ORILUS (tritt auf) Ah, was für ein schöner Tag. Einen wundervollen guten
Morgen euch beiden. Rauch nicht so viel, Ginevra.
GINEVRA Du bist durch den Wald gelaufen?
ORILUS Ja. Fast eine Stunde. (Zu Jeschute) Hast du meine Milch fertig?
JESCHUTE Nein.
ORILUS Dann geh und mach sie warm. Und bring mir ein Hörnchen mit.
(Jeschute geht ab.)
ORILUS Wann ist Jeschute aufgestanden?
GINEVRA Ich weiß es nicht.
ORILUS Das glaub ich dir nicht. Du musst sie nicht in Schutz nehmen. Ich
fresse sie ja nicht. Alles, was ich will, ist, dass sie sich nicht gehen lässt.
GINEVRA Sie macht nicht mehr und nicht weniger als ich.
ORILUS Mag sein. Aber ich bin nicht mit dir verheiratet.
GINEVRA Allerdings.
ORILUS Ja. Und ich bin nicht so generös wie Artus. Ich kann nicht wie Artus
die Augen verschließen, nur um nicht ansehen zu müssen, wie meine eigene
Frau ...
GINEVRA Warum sprichst du nicht weiter?
ORILUS Es geht mich nichts an.
GINEVRA Ja. Es geht dich nichts an, aber du kannst es nicht unterlassen,
darüber zu reden. Es geht euch alle nichts an, aber ihr zerreißt euch unentwegt
das Maul über mich. Über mich und Artus. Artus soll seine Ehre verteidigen,
seine Mannesehre. Ihr wollt Blut fließen sehen wie die Tiere, wie blutrünstige
Tiere.
ORILUS Es gibt Dinge, über die man mit einer Frau nicht reden kann.
GINEVRA Wie langweilig du bist.
ORILUS Ich bin konservativ, wenn du das als langweilig bezeichnest, bitte. Im
übrigen werden wir uns über diesen Punkt nicht einig werden. Für mich gibt es
etwas wie Pflicht und Ehre. Und es gibt zwischen den Geschlechtern trotz allem
modischen Gerede ein paar Unterschiede. Und darum werde ich mich über die
Pflichten und die Ehre eines Mannes nicht mit einer Frau unterhalten.
GINEVRA Aber meine Pflichten und meine Ehre, darüber hast du zu befinden?
ORILUS Ja, weil du Artus" Ehre kränkst. Vergiss bitte nicht, wir sind nicht
irgendwelche Kleinbürger. Wenn wir nicht mehr unsere Pflicht erfüllen, wenn
dieses Haus verfällt und die Tafelrunde sich auflöst, dann wird keiner den
Zusammenbruch mehr aufhalten können.
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GINEVRA Wo ist denn deine Tafelrunde, für die ich geopfert werden muss?
Wo ist die herrliche, hochgerühmte Burg? Wo sind die Ritter geblieben? Ich
sehe nur einen alten vergilbten Mann.
ORILUS Ich habe dich nie gekränkt, Ginevra. Wenn du nicht Gleiches mit
Gleichem vergelten kannst, schweig bitte.
GINEVRA Hinfällige Männer, alt gewordene Frauen. Ach, Orilus, was ist von
der Tafelrunde geblieben?
1. Wer ist Orilus? Zu welcher der beiden Frauen hat er Beziehung?
2. Welche Vorwürfe macht Orilus Ginevra? Wie reagiert Ginevra
auf diese Vorwürfe?
3. Gibt es im Text direkte Hinweise, wie Ginevra die Mannesehre
von Artus verletzen könnte? Haben Sie Ihre eigene Hypothese?
4. Wie meinen Sie, was ist mit der Tafelrunde passiert?
(Nach einer Pause treten Jeschute und Keie auf.)
KEIE (zu Jeschute) Ganz im Gegenteil, meine Liebe, ich verehre dich. (Zu
Orilus) Du wirkst erschöpft. Übernimm dich nicht mit deinen Waldläufen.
JESCHUTE Deine Milch.
ORILUS Danke. Ich esse auf meinem Zimmer. Ist Artus auf?
GINEVRA Ja. Er arbeitet.
ORILUS Das werde ich auch tun.
KEIE (stößt an den Tisch, eins der Tischbeine fällt um) Vor wie vielen Jahren
ist dieses Tischbein abgebrochen? Weiß das überhaupt noch jemand? Dabei
haben wir zwei Tischler. Aber denen darf man ja nichts sagen.
ORILUS Es würde auch nichts helfen. Artus müsste ihnen nur ein Wörtchen
sagen, aber das wagt er nicht. Er hat Angst vor ihnen.
JESCHUTE Dann sag du es ihnen doch.
ORILUS Na, auf mich werden die hören.
(Kunneware, Parzival und Mordret treten auf.)
KEIE Ein fauliger Krautkopf zwischen unreifem Gemüse. Eine prächtige
Auslage.
PARZIVAL Was murmelst du, Keie?
KEIE Ich warf einen trüben Blick in eine noch trübere Zukunft. Nichts für dich,
da du es nicht verstehen willst.
PARZIVAL Deine ewige Leier, Keie? Alte Tugenden sind ein gutes
Schlafkissen. Mach die Augen auf.
KEIE So schwätzen Verräter.
MORDRET Blablabla.
GINEVRA Mordret, ich bitte dich.
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JESCHUTE Es ist zwecklos, Ginevra. Komm, wir gehen. Ich kann mir das nicht
anhören. (Geht mit Ginevra ab.)
KEIE Du bist ein grüner Junge, Mordret, und ich will dir um deines Vaters
willen viel nachsehen. Aber hüte dich vor Parzival. Er ist verzweifelt, und
Verzweifelte verbreiten ein lähmendes Gift, das süße Gift der Schwermut und
Zerstörung.
MORDRET Ich bin kein Kind, alter Mann, und wenn Artus deine ledernen
Ratschläge hinnimmt, ich nicht. Gieß mir Kaffee ein.
KEIE Bitte.
KUNNEWARE Wir wollen Tennis spielen. Ihr habt mir versprochen, wir gehen
Tennis spielen.
ORILUS Es ist empörend.
KEIE Reg dich nicht auf.
ORILUS Vor dir stehen Männer, die gekämpft haben. Keie und ich haben ihr
Blut geopfert für Artus, für das Königreich, für den Gral.
PARZIVAL Ich habe auch gekämpft, Orilus, vergiss es nicht.
ORILUS Ich habe es nicht vergessen, Parzival. Aber du scheinst es vergessen zu
haben. Was bedeutet dir noch der Gral? Was bedeutet dir noch, wofür du Jahrzehnte gekämpft hast?
MORDRET Blutige Schlachten, ein unbarmherziger Feind. Das ist alles so lange her, dass es fast nicht mehr wahr ist. Und der hoch berühmte Gral! Ich
glaubte, es sei wunder was Großartiges. Dabei wisst ihr überhaupt nicht, was
das ist. Kein Mensch vermag zu sagen, was das ist: der Gral.
ORILUS Es ist etwas sehr Schönes, Mordret.
MORDRET Etwas Schönes, von dem kein Mensch sagen kann, ob es das
überhaupt gibt.
ORILUS Es ist etwas sehr, sehr Schönes, mein armer Junge, was du nie besitzen
wirst.
MORDRET Ja, weil`s nicht existiert. Euer Gral ist ein Fantom, dem ihr ein
Leben lang hinterhergejagt seid. Sieh dir deine Gralsritter an. Verstörte,
unzufriedene, ratlose Greise, die das Leben verklagen. Was, glaubst du, sollte
mich dazu bringen, auch so zu werden?
KEIE Dann sei Gott uns gnädig. Wir werden dem Feind schutzlos ausgeliefert
sein, wenn Artus geht und unser Land an diese Leute fällt. Deine Saat, Parzival,
ist aufgegangen.
KUNNEWARE Mordret, Parzival, kommt. Ihr habt es mir versprochen.
PARZIVAL Du irrst dich, Keie. Den Boden für diese Saat haben Leute wie du
vorbereitet. Ihr habt die Kinder verschreckt und die Jugend entmündigt.
Uneinsichtig habt ihr auf unseren alten Tugenden beharrt. Aber auch Tugend
will geprüft sein, sie schimmelt leicht.
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ORILUS Parzival, der Tugendwächter. Und was hast du dafür anzubieten? Und
du, Mordret? Nur Klagen, nur Unzufriedenheit. Ihr langweilt mich. Auf
Wiedersehn. Ich habe zu tun.
MORDRET Deine Memoiren schreiben.
ORILUS Ja, Mordret. Das ist eine gute, sinnvolle Beschäftigung.
MORDRET Wer soll das lesen, Orilus? Wir kennen eure Heldengesänge bis
zum Erbrechen. Das will kein Mensch mehr hören.
ORILUS Vielleicht ist es nichts Weltbewegendes, was ich mitzuteilen habe,
aber es ist tausendmal besser als herumzugreinen. (Geht ab)
KUNNEWARE Und ich geh auch. Ich habe es satt, euch zuzuhören.
PARZIVAL Ja, Kunneware, gehen wir.
(Geht mit Kunneware und Mordret ab)
1. In dieser Szene erscheinen die neuen Figuren. Was kann man von
ihnen sagen? Wie alt sind sie?
2. Wie verhalten sie sich Orilus und Keie gegenüber? Was sagt
Mordret von ihnen?
3. Was sagen die Figuren über den Gral? Finden Sie im Text alle
Erwähnungen vom Gral. Wie stellt sich zum Gral Orilus einerseits und
Mordret andererseits?
KEIE Gnade uns Gott.
ARTUS (tritt auf) Keie. Bist du allein?
KEIE Ja.
ARTUS Wie geht`s dir? Ach, da liegt wieder das Tischbein. Wie oft habe ich
das in den letzten Monaten aufgestellt. Ich wollte den Tischlern Bescheid sagen.
Habe es immer wieder vergessen. (Er stellt das Tischbein auf) Das ist eigentlich
unverzeihlich. Der Tisch der Tafelrunde, der sollte immer in Ordnung sein. Das
ist ja schließlich nicht irgendein Möbelstück.
KEIE Gnade uns Gott. Ich weiß nicht, was wir falsch machten, aber wir müssen
offenbar entsetzliche Dummheiten begangen haben, wenn solche Leute das
ganze Ergebnis unserer Bemühungen sind. Nichts bedeutet ihnen etwas, sie
spucken auf den Gral, sie spotten über unsere Ideale, sie lachen über uns. Und
wir? Wir haben unser Leben für eine Zukunft geopfert, die keiner haben will
ARTUS Was ist denn, Keie?
KEIE Ich habe Angst, Artus. Ich habe Angst zu sterben.
ARTUS Ja, das ist natürlich.
KEIE Ich habe Angst, in die Grube zu fahren und unsere Welt Leuten wie
deinem Sohn zu hinterlassen.
ARTUS Du hattest schlechte Träume?
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KEIE Sagen wir, schlimme Vorahnungen. Denn ich habe nicht geschlafen.
Ich sah dein Grab, Artus. Ich sah Mordret, deinen Sohn, auf deinem Thron.
Ich sah die Tafelrunde zerbrochen, ich sah ein verwüstetes Land.
ARTUS Was soll ich tun? Ich kann nichts dagegen tun.
KEIE Du kannst nicht die Augen schließen und es einfach hinnehmen. Du
bist Artus. Du hast die Macht, und du trägst die Verantwortung.
ARTUS Was soll ich tun, Keie?
KEIE Haben wir Fehler gemacht?
ARTUS Ich weiß nicht.
KEIE Nein, wir haben keine Fehler gemacht. Keinen einzigen. Schritt für Schritt
blieben wir unbeirrt. Wir haben schmerzliche Entscheidungen treffen müssen,
wir haben sogar Blut vergießen müssen, das uns teuer war. Aber jeder Schritt
war notwendig und richtig.
ARTUS Vielleicht, Keie, vielleicht haben wir keine Fehler gemacht. Aber wir
sind einsam geworden. Keiner kommt zu uns, man meidet die Tafelrunde. Wir
haben nur noch wenige Freunde.
KEIE Unsere Geschichte ist makellos, es gab keine fehlerhaften Entschlüsse.
ARTUS Ja, es waren große Jahre. Und viel erreichten wir von dem, was wir uns
vorgenommen hatten. Wir haben Recht und Gesetz in die Welt gebracht, wir
haben eine gerechtere Ordnung errichtet. Die Menschen wurden wohlhabend,
die Häuser und Straßen sicher. Wer weiß denn heute noch, was Hunger ist! Aber
sind die Menschen glücklich geworden? Wir hatten es erwartet. Doch jetzt sehe
ich nur noch unzufriedene Gesichter um mich. Wir haben unser Bestes getan,
wir haben unser Leben eingesetzt, um den Gral zu finden. Wie viele Ritter
haben dabei ihr Leben verloren. Und jetzt soll alles umsonst gewesen sein?
KEIE Ich trau deinem Sohn nicht, Artus. Wenn es uns nicht gelingt, den Gral zu
finden, bevor diese Leute an die Macht kommen ... Du hast von Lancelot
Nachricht? Was schreibt er?
ARTUS Und du hast wirklich mein Grab gesehen?
KEIE Ja.
ARTUS Wie sah es aus? Hast du ein Datum gelesen? Nein, nein, nein, sag es
nicht. Ich will's nicht wissen. Ich glaub nicht an Traumbilder. Wir verstehen sie
nicht. Behalte dein Wissen.
KEIE Meine Vorahnungen haben mich nie betrogen.
ARTUS Ich will's nicht wissen, Keie.
KEIE Ich sah nicht nur dein Grab. Ich sah ein zerstörtes Land. Willst du das
auch nicht wahrhaben?
ARTUS Nein. Es könnte mir nur helfen, zu verzweifeln. Es ist merkwürdig,
Keie, so sehr wir zu wissen wünschen, was uns der nächste Tag bringt, wir
könnten mit diesem Wissen nicht leben. Es würde uns lähmen.
KEIE Unsinn
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ARTUS Werd nicht böse, Keie. Du bist klug, du hast einen scharfen Verstand,
aber auch du weißt nichts von dem, was uns die Zukunft bringt.
KEIE Du redest wie ein Kind. Wir haben ein Land zu regieren, wir haben die
Zukunft zu gestalten.
ARTUS Ja, gewiss.
KEIE Ich fürchte um unser Reich, Artus.
ARTUS Nicht du allein. - Es ist ein schöner Tisch. Er gefällt mir noch immer.
Und es war eine schöne Idee. Wir haben viel erreicht. Wenn ich zurückdenke ...
Weißt du, was mir da zuerst einfällt?
KEIE Nein.
ARTUS Das ist Ginevra. Ich liebe sie noch immer. Sie war ein wunderschönes
Mädchen, nicht wahr? Und sie ist noch immer eine wunderbare Frau. Ich habe
allen Grund, zufrieden zu sein. Was immer auch war und was immer auch
kommen wird, ich hatte ein glückliches Leben. Warum bist du ärgerlich? - Hast
du Ginevra gesehen?
KEIE Ja. Wir haben Kaffee getrunken.
ARTUS Und wo ist sie jetzt?
KEIE Ich weiß es nicht. Und es interessiert mich auch nicht. Und ich halte sie
auch nicht für eine wunderbare Frau. Denn die erste Tugend einer Frau ist ihre
Treue, Artus, ihre eheliche Treue ...
ARTUS Schweig, Keie, ich bitte dich.
KEIE Sie ist eine Beleidigung der gesamten Tafelrunde ...
ARTUS Schweig. - Ich liebe sie. Ich liebe sie über alles und trotz allem
KEIE Ja nun, gefrühstückt habe ich. Gehen wir an die Arbeit. Ach, weißt du, als
ich vorhin hier hereinkam, war mir, als ob Jeschute auf dem Freistuhl gesessen
hätte.
ARTUS Wo?
KEIE Auf dem Freistuhl hier.
ARTUS Jeschute? Das ist unmöglich.
KEIE Es kam mir so vor.
ARTUS Jeschute kann doch nicht der Auserwählte sein, der, auf den wir so
lange warten. Du musst dich getäuscht haben.
KEIE Sicher. Sie hat auch geschworen, dass sie nicht auf dem Stuhl gesessen
hat.
ARTUS Sie wäre elend umgekommen. Wie die anderen.
KEIE Gewiss.
ARTUS Keiner außer dem Erwählten kann sich auf den Freistuhl setzen. Du
hast merkwürdige Träume.
KEIE Jaja, aber früher haben die Frauen auch nicht an der Tafelrunde gesessen.
Und jetzt, es ist alles so gewöhnlich geworden.
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ARTUS Früher. Da waren hier jeden Tag hundert Ritter. Wir mussten Bänke
aufstellen lassen, und dennoch reichte es nicht. Lass die Frauen sich hinsetzen,
wo sie wollen. Wir haben jetzt so viel Platz. Ich will nicht leeren Stühlen
gegenüber sitzen.
1. In dieser Szene tritt Artus auf. Wie können Sie ihn
charakterisieren? Welchen Eindruck macht er auf Sie?
2. Welche Rolle spielt das abgebrochene Tischbein im Stück? Kann
das etwas symbolisieren?
3. Welche Vorahnungen hat Keie? Wie reagiert Artus darauf?
4. Hat Jeschute auf dem Freistuhl gesessen? Warum ist es so
wichtig? Finden Sie im Text eine Erklärung.
Texterläuterungen
Die Männer sind wieder aneinandergeraten und haben herumgebrüllt –
мужчины снова сцепились и орали
alte Streithammel – старые забияки
nervtötend – действующий на нервы
herumgreinen – ныть, хныкать, жаловаться
sich hinter den Ofen setzen – отсидеться за печкой
Ich bin weder auserwählt noch verrückt – я не избранная и не
сумасшедшая
ein angenehmer Zeitvertreib – приятное времяпрепровождение
… in Maßen genossen, ist es sehr unterhaltsam – при умеренном
использовании это очень занимательно
Löcher in die Luft starren – ничем не заниматься, бездельничать,
дословно: уставиться отсутствующим взглядом,
Lass ihn ausreden – дай ему договорить
Bedauerlicherweise wird dieser Seelenschmalz in viel zu hohen Auflagen
auch unter das Volk gebracht – к сожалению, это слащавое чтиво
распространяется слишком большими тиражами среди народа
j-m etwas vorgaukeln – морочить, дурачить, вводить в заблуждение
Es bekommt meiner Haut nicht – это не идет на пользу моей коже
in Schutz nehmen – защищать
Alles, was ich will, dass sie sich nicht gehen lässt – все, чего я хочу,
чтобы она не распускалась
generös – великодушный
… du kannst es nicht unterlassen, darüber zu reden – ты не упустишь
возможности поговорить об этом
Ihr zerreißt euch unentwegt das Maul über mich – вы постоянно
злословите обо мне
blutrünstige Tiere – кровожадные звери
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sich einig werden – договариваться
trotz allem modischen Gerede – несмотря на всю модную болтовню
Darüber hast du zu befinden – это тебе решать
Gleiches mit Gleichem vergelten – платить той же монетой
Du wirkst erschöpft, übernimm dich nicht mit deinen Waldläufen – ты
кажешься сильно уставшим, не перенапрягайся со своими пробежками по
лесу
um deines Vaters willen – ради твоего отца
deine ledernen Ratschläge – твои нудные советы
Wir haben unseren Mann gestanden – мы справились, не ударили в
грязь лицом
Du scheinst es vergessen zu haben – кажется, ты это забыл
Sie schimmelt leicht – она легко покрывается плесенью
Was hast du dafür anzubieten – что ты можешь вместо этого
предложить
bis zum Erbrechen – до тошноты
Gnade uns Gott - горе нам!
…wir müssen offenbar entsetzliche Dummheiten begangen haben –
очевидно, мы совершали ужасные глупости
in die Grube fahren – сойти в могилу
Wir haben unser Bestes getan – мы сделали все возможное
Was immer auch war und was immer kommen wird … - что бы ни было
раньше и что бы ни было в будущем…
…war mir, als ob sie auf dem Freistuhl gesessen hätte – мне показалось,
будто она сидела на стуле
Sie wäre elend umgekommen – она погибла бы жалкой смертью
Lass die Frauen sich hinsetzen, wo sie wollen – пусть женщины садятся,
куда хотят
Aufgaben zur Interpretation.
1. Lesen Sie Ihre Aufzeichnungen und versuchen Sie sie nach dem
Schema für die Interpretation der dramatischen Werke zu systematisieren.
2. Versuchen Sie das Thema des Stückes zu abstrahieren. Um den
Themenkreis zu bestimmen, erinnern Sie sich an die Problematik der
Gespräche.
3. Muss man das Stück buchstäblich lesen und verstehen oder hat es
den doppelten Boden? Warum versetzte der Autor die Helden der
mittelalterlichen Sage in die Gegenwart? Was oder wen können die
Figuren personifizieren?
4. Ohne extratextuelle Informationen bleibt Ihre Interpretation
nicht voll. Machen Sie sich mit der Aufführungsgeschichte des Stückes „Die
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Ritter der Tafelrunde“ bekannt. Wie schilderte sich die gesellschaftliche
Situation in der DDR kurz vor der Wende?
Zur Diskussion
Lesen Sie folgende Äußerungen über das Stück und nehmen Sie die
Stellung dazu.
W. Schulze-Rumpel: „Das Stück scheint wie kein anderes den Untergang
nicht nur der DDR, sondern darüber hinaus das Ende der marxistischen Utopie
antzipatorisch zu kommentieren... Hein zeigt das Land in geistiger Agonie, aber
auch die Tragik alt gewordener Politiker, die sich überlebt haben und die neue
Zeit nicht mehr verstehen...“
A.А. Гугнин: «Все пьесы Хайна написаны не столько об истории,
сколько для современности и для современников, и он очень осторожно
дает понять это, вводя в реплики своих персонажей новейшие реалии,
которые корректируют восприятие читателя и зрителя. Впрочем, и
переходные эпохи Хайн выводит в трагикомическом виде. В драме
«Рыцари Круглого Стола» «рыцари» изображаются на последней стадии
деградации: никто из них не хочет даже и слышать о Чаше Святого Грааля,
да и сама Чаша предстает как некий фантом, за которым «рыцари»
бессмысленно гонялись всю свою жизнь, постепенно перестав понимать
смысл и цели своих подвигов».
Kreative Aufgabe: Schreiben Sie eine Kritik zum Drama von C. Hein
„Die Ritter der Tafelrunde“
Kritik ist die Wertung unterhaltender oder künstlerischer Ereignisse (z. B.
Kritik von Fernsehsendungen, Filmen, Theaterstücken, dazu gehören auch die
Bücherbesprechungen).
Schrittfolge zum Schreiben einer Kritik:
 Nennen Sie den Titel des Stücks.
 Informieren Sie über den Autor und Regisseur.
 Fassen Sie den Inhalt in einigen Sätzen zusammen.
 Sagen Sie etwas zur Bedeutung der Handlung.
 Erläutern Sie abschließend, warum Sie das Stück gut oder nicht gut
finden
Verwenden Sie beim Schreiben einige der folgenden Redemittel:
Titel / Autor: Das Drama heißt…; … schrieb es im Jahr …; das Stück
wurde im Jahr … aufgeführt.
Inhalt: Es handelt von…; die Hauptfiguren sind …; außerdem kommen
darin… vor; die Handlung könnte man in wenigen Sätzen so zusammenfassen:
…
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Bedeutung: Das Drama könnte im Zusammenhang mit … stehen; das
Drama hat eine symbolische Bedeutung, d. h…
Eigene Meinung: Das Stück ist meiner Meinung nach (nicht) sehr
gelungen, spannend, lehrreich, denn…; besonders interessant finde ich …; …
hat mir weniger gut gefallen; kurz gesagt halte ich das Stück (nicht) für …
Die Interpretation eines prosaischen Textes
Interpretation des Romanauszugs
Lesen Sie den Anfang des Romans von P. Süskind Das Parfum. Die
Geschichte eines Mörders
Schritt 1: Die Funktion des Titels
Lesen Sie den Titel des Romans. Woran denken Sie, wenn sie ihn
lesen? Passen die Wörter „Parfum“ und „Mörder“ zueinander?
Schritt 2: Der erste Abschnitt
Den Anfang einer Geschichte muss man besonders aufmerksam lesen.
Hier sagt sie Ihnen, an welchem Ort und in welcher Zeit sich die Handlung
abspielt. Der Anfang verrät, wem Sie in der Geschichte begegnen, ob sie heiter
oder ernst sein wird.
Lesen Sie den ersten Absatz des Auszugs und notieren Sie alles, was
Sie daraus erfahren haben.
P. Süskind: Das Parfum
Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den
genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen
Gestalten nicht armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll hier erzählt
werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz zu
den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouches,
Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten ist, so sicher nicht deshalb,
weil Grenouille diesen berühmteren Finstermännern an Selbstüberhebung,
Menschenverachtung, Immoralität, kurz an Gottlosigkeit nachgestanden hätte,
sondern weil sich sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet
beschränkte, welches in der Geschichte keine Spuren hinterlässt: auf das
flüchtige Reich der Gerüche.
Texterläuterungen
Jean-Baptiste Grenoille – Жан-Батист Гренуй
De Sades – де Сад
Saint-Just – Сен-Жюст
Fouche – Фуше
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j-m nachstehen – уступать в чем-либо
das flüchtige Reich der Gerüche – летучее царство запахов
Schritt 3: Jetzt lesen Sie den Auszug weiter zu Ende. Beim Lesen des
ersten Abschnittes ist Ihnen sicher eingefallen, dass Sie einen langen Atem
brauchen. Wie meinen Sie, welche Lesegeschwindigkeit zu diesem Text
passt? Dem Erzähler kommt nicht darauf, möglichst schnell die
Begebenheiten zu erzählen. Also beeilen Sie sich auch beim Lesen nicht.
Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Städten ein für uns
moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen nach
Mist, es stanken die Hinterhofe nach Urin, es stanken die Treppenhäuser nach
fauligem Holz und nach Rattendreck, die Küchen nach verdorbenem Kohl und
Hammelfett; die ungelüfteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die
Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem
stechend süßen Duft der Nachttöpfe. Aus den Kaminen stank der Schwefel, aus
den Gerbereien stanken die ätzenden Laugen, aus den Schlachthäfen stank das
geronnene Blut. Die Menschen stanken nach Schweiß und nach ungewaschenen
Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach verrotteten Zähnen, aus ihren Mögen
nach Zwiebelsaft und an den Körpern, wenn sie nicht mehr ganz jung waren,
nach altem Käse und nach saurer Milch und nach Geschwulstkrankheiten. Es
stanken die Flüsse, es stanken die Plätze, es stanken die Kirchen, es stank unter
den Brücken und in den Palästen. Der Bauer stank wie der Priester, der
Handwerksgeselle wie die Meistersfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der
König stank, wie ein Raubtier stank er, und die Königin wie eine alte Ziege,
sommers wie winters. Denn der zersetzenden Aktivität der Bakterien war im
achtzehnten Jahrhundert noch keine Grenze gesetzt, und so gab es keine
menschliche Tätigkeit, keine aufbauende und keine zerstörende, keine Äußerung
des aufkeimenden oder verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet
gewesen wäre.
Und natürlich war in Paris der Gestank am größten, denn Paris war die
größte Stadt Frankreichs. Und innerhalb von Paris wiederum gab es einen Ort,
an dem der Gestank ganz besonders infernalisch herrschte, zwischen der Rue
aux Fers und der Rue de la Ferronnerie, nämlich den Cimetiere des Innocents.
... … …
Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs, wurde am
17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der heißesten Tage
des Jahres. Die Hitze lag wie Blei über dem Friedhof und quetschte den nach
einer Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem Horn riechenden
Verwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles Mutter stand, als
die Wehen einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux Fers und schuppte
61
Weißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die Fische, angeblich erst am
Morgen aus der Seine gezogen, stanken bereits so sehr, dass ihr Geruch den
Leichengeruch überdeckte. Grenouilles Mutter aber nahm weder den Fischnoch den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen Gerüche im höchsten
Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr Leib, und der Schmerz tötete
alle Empfänglichkeit für äußere Sinneseindrücke. Sie wollte nur noch, dass der
Schmerz aufhöre, sie wollte die eklige Geburt so rasch wie möglich hinter sich
bringen. Es war ihre fünfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude
absolviert, und alle waren Totgeburten oder Halbtotgeburten gewesen, denn das
blutige Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem
Fischgekröse, und lebte auch nicht viel mehr, und abends wurde alles
mitsammen weggeschaufelt und hinübergekarrt zum Friedhof oder hinunter zum
Fluss. So sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter, die noch eine junge
Frau war, gerade Mitte zwanzig, die noch ganz hübsch aussah und noch fast alle
Zähne im Munde hatte und auf dem Kopf noch etwas Haar und außer der Gicht
und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine ernsthafte Krankheit;
die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht fünf oder zehn Jahre lang, und
vielleicht sogar einmal zu heiraten und wirkliche Kinder zu bekommen als
ehrenwerte Frau eines verwitweten Handwerkers oder so... Grenouilles Mutter
wünschte, dass alles schon vorüber wäre. Und als die Presswehen einsetzten,
hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und gebar dort, wie schon vier Mal
zuvor und nabelte mit dem Fischmesser das neugeborene Ding ab. Dann aber,
wegen der Hitze und des Gestanks, den sie als solchen nicht wahrnahm, sondern
nur als etwas Unerträgliches, Betäubendes - wie ein Feld von Lilien oder wie ein
enges Zimmer, in dem zu viel Narzissen stehen -, wurde sie ohnmächtig, kippte
zur Seite, fiel unter dem Tisch hervor mitten auf die Straße und blieb dort liegen,
das Messer in der Hand.
Geschrei, Gerenne, im Kreis steht die glotzende Menge, man holt die
Polizei. Immer noch liegt die Frau mit dem Messer in der Hand auf der Straße,
langsam kommt sie zu sich.
Was ihr geschehen sei?
«Nichts.»
Was sie mit dem Messer tue?
«Nichts.»
Woher das Blut an ihren Rücken komme?
«Von den Fischen.»
Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.
Da fängt, wider Erwarten, die Geburt unter dem Schlachttisch zu schreien
an. Man schaut nach, entdeckt unter einem Schwärm von Fliegen und zwischen
Gekröse und abgeschlagenen Fischköpfen das Neugeborene, zerrt es heraus.
Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen. Und
62
weil sie geständig ist und ohne weiteres zugibt, dass sie das Ding bestimmt
würde haben verrecken lassen, wie sie es im übrigen schon mit vier anderen
getan habe, macht man ihr den Prozess, verurteilt sie wegen mehrfachen
Kindermords und schlägt ihr ein paar Wochen später auf der Place de Greve den
Kopf ab.
Texterläuterungen
Rue aux Fers, Rue de la Ferronerie, Cimetiere des Innocents, Place de
Greve – die Pariser Straßenbenennungen (русс.: улица О-Фер, улица
Ферронри, кладбище Невинных, Гревская площадь)
die Seine – Сена (der Fluss, an dem Paris steht)
das aufkeimende und verfallende Leben –зарождающаяся или
погибающая жизнь
…, die nicht vom Gestank begleitet gewesen wäre – …, которая не
сопровождалась бы вонью
infernalisch – адский, дьявольский
der Verwesungsbrodem – запах тлена, разложения
…, als die Wehen einsetzten – …, когда начались схватки
Weißlinge schuppen – чистить рыбу
die Totgeburt – выкидыш
die Gicht – подагра (болезнь)
ihre Nase war gegen Gerüche abgestumpft – ее обоняние было
нечувствительно к запахам
vorhergehend – предыдущий
… wünschte, dass alles schon vorüber wäre – … хотелa, чтобы все уже
закончилось
etw. hinter sich bringen wollen – хотеть покончить с чем-либо
ohnmächtig werden – потерять сознание
die glotzende Menge – толпа зевак
wider Erwarten – вопреки ожиданию
geständig sein – признавать себя виновной, сознаваться
…, dass sie das Ding bestimmt würde verrecken lassen – …, что она
наверняка бросила бы его подыхать
Schritt 4:
Schreiben Sie das Leseprotokoll, um Ihre erste Wahrnehmung zu
sichern.
Schritt 5:
Schreiben Sie eine kurze Inhaltsangabe zum gelesenen Abschnitt. Die
Inhaltsangabe muss Auskunft über folgende Gesichtspunkte geben:
 Zeit (Zeitangaben)
63
 Raum(Milieu, Schauplätze)
 Figuren(kurze Charakterisierung, Figurenkonstellation)
 Handlungsverlauf (einzelne Geschehensmomente)
Zu jedem Punkt schreiben Sie die einzelnen Angaben aus dem Text.
Das sieht ungefähr so aus:
Zeit: das 18. Jahrhundert, den 17. Juli 1738
Raum: Paris, die Straßen …, die Plätze…
Figuren: Grenouilles Mutter,…
Handlungsverlauf:
1. Grenouilles Mutter gebar unter dem Tisch ihr fünftes Kind.
2. …
3. …
Beachten Sie! Der Erzähler beginnt nicht sofort mit der eigentlichen
Handlung. Wo genau?
Mit Hilfe dieser schriftlichen Inhaltsangabe geben Sie den Inhalt des
Auszugs wieder.
Schritt 6.
Untersuchen Sie die formalen Merkmale des Textes. Sie müssen noch
einmal den Text lesen, um die Antworten auf diese Fragen zu finden.
1. Raum. Welche Landschaft dient als Schauplatz für den
Handlungsverlauf? Welche Bewohner besiedeln diese Landschaft? Wie
beschreibt der Autor die Straßen und Häuser?
2. Zeit. Welche Epoche ist hier geschildert? Was haben Sie über das
Leben der Leute in dieser Zeit erfahren? Welche ausdrücklichen Merkmale
dieser Epoche kann man im Text finden?
3. Untersuchen Sie die Zeitstruktur des Textes. Achten Sie auf die
Zeitformen des Verbs. Warum sind sie verschieden? Wird hier erzählerische
Chronologie verletzt? An welchen Textstellen?
4. Die Erzählperspektive. Die Rolle des Erzählers kann ganz verschieden
sein. Manchmal teilt er nur das mit, was eine der Figuren denkt, sieht, weiß;
manchmal teilt er uns mit, was in allen Personen vorgeht, der Autor ist dann wie
einer, der in seine Personen gleichsam hineinschlüpfen kann. Und manchmal
beobachtet er überhaupt nur von außen, er weiß von keiner einzigen Person, was
sie denkt, fühlt. Wie ist die Erzählperspektive in diesem Text?
Schritt 7
Untersuchen Sie die literarischen Gestaltungsmittel.
1. Figuren. Welche Figuren erscheinen in diesem Ausschnitt? Wie
werden sie im Text charakterisiert? Unter welchen Umständen kommt zur Welt
der Hauptheld des Romans?
64
2. Figurenrede. Sprechen die Figuren in diesem Abschnitt? Wer spricht
mit wem? Welche Rolle spielt dieses Kurzgespräch?
3. Können Sie schon in diesem Text die einzelnen Themen, Motive
feststellen? Wie meinen Sie, warum wird hier so viel über Gerüche gesprochen?
Wie könnte aus Ihrer Sicht der weitere Lebensweg des Menschen sein, der unter
solchen Umständen geboren war?
4. Sprachliche Mittel. Was können Sie über die Wortwahl sagen? Der
Autor versucht hier, den Duft sprachlich spüren lassen. Wie verbalisiert er
Gerüche? Markieren Sie die Textstellen, wo Gerüche beschrieben werden.
Interpretation der Kurzgeschichte
Milena Moser : Der Hund hinkt
Sonntagmorgen. Spaziergang. Mutter, Vater, der Hund und ich. Und Rob
natürlich auch. Der Hund hinkt. Der Vater hinkt. Die Mutter geht voran, dann
kommt die hinkende Fraktion und zuletzt ich. Rob immer irgendwo dazwischen.
Mutter streckt der Welt das Kinn entgegen: Wag es, etwas zu sagen! Wag
es nur! Etwas zu sagen über das Hinken. Bevor der Hund zu hinken begann,
war er schon ein Windhund, also dünn.
„Kriegt der Hund denn nichts zu essen?“, fragten die Spaziergänger aus
der Gegenrichtung.
„Schon“, antwortete meine Mutter bissig. „Aber mein Mann frisst ihm
alles weg.“ Und sie zeigte mit dem Kinn nach hinten auf Vater, der einen
gemütlichen runden Bauch von hundert Kilo vor sich her trug und schüchtern
lächelte. Dann verunfallte der Hund, und Vater begann Squash zu spielen. Jetzt
hinkt der Hund, sein Bein ist krumm, dass er dünn ist, fällt niemandem mehr
auf. Vater ist, na ja, nicht gerade dünn, aber ohne Bauch und hundert Kilo.
Ich lasse meine Haare wachsen. Vorne über die Augen. Lange Fransen
sind Mode und Dauerwellen, schwere Locken auf der Stirn, darunter Pickel,
Locken bis über die Augenbrauen. Ich schaue auf den Boden vor mir, auf den
Spazierweg. Ich sehe nicht, wer mir entgegenkommt. Harry hat mir einen Zettel
zugesteckt: „Ich liebe dich. Ich will mit dir gehen. Liebst du mich auch?“
Vermutlich handelt es sich um einen Scherz. Ein Scherz-Liebesbrief. Das
wird manchmal gespielt in der Schule. In der Pause kann man dann zuschauen,
wie das Mädchen nervös auf den völlig ahnungslosen Jungen zusteuert, so
haben alle was zu lachen. Manchmal wird aus dem Scherz aber auch Ernst und
aus der Peinlichkeit wahre Liebe. Alles schon dagewesen.
Der Hund wurde vom Auto überfahren. Mein Vater hat ihn gefunden, auf
dem Weg zur Arbeit, er hat angehalten mitten auf der Straße, hat den Hund
aufgehoben und auf die Rückbank gelegt. Ist zum Tierarzt gefahren, in seinen
Armen hat er den blutenden Hund in die Praxis getragen. Kein Gedanke an den
65
guten Anzug. Das hat den Tierarzt so beeindruckt, dass er den Hund gerettet
hat. Eigentlich müsste man das Tier einschläfern in so einem Zustand. Aber vor
Rührung hat er den Hund gerettet, und erst dann hat Vater daran gedacht, seine
Sekretärinnen anzurufen. So etwas hat der Tierarzt noch nicht erlebt.
Als wir den Hund abholten, Mutter und ich, hat er die Tür zum
Wartezimmer aufgemacht und gesagt: „Sehen Sie? Nicht ein Mann im
Wartezimmer, nicht ein Mann, der sich um sein Tier kümmert, das ist doch
nicht normal, in was für einer Zeit leben wir eigentlich, ist der Hund nicht der
edelste Freund des Menschen?“ Jetzt hat der Hund ein krummes Bein und die
Leute regen sich auf. Vater hat auch ein krummes Bein. Einen schwachen Fuß,
der die Belastung nicht mehr trägt. Bänderriss, beim Squashspielen, viermal
operiert. Vater hat die Zeit nicht, stillzuliegen, ist immer viel zu früh
aufgestanden, Nachthemd ausgezogen, Anzug an und ist zur Arbeit gefahren.
Die Sekretärinnen, Frau Hänggi und Frau Huber, eigentlich beide Fräulein, aber
das sagt man heute nicht mehr, haben die Hände über dem Kopf
zusammengeschlagen und Mutter angerufen. Aber da kann man nichts machen.
Der Mann muss einfach arbeiten. Irgendwann ist das Gelenk steif geblieben, das
Bein dünn geworden, das Hinken Teil von Vater. „Den Frauen gefällt so was ja,
Gott sei Dank“, sagt Vater, „eine kleine Schwachstelle an einem starken Mann.
Hahaha!“ Mutter findet das nur mäßig lustig. Sie hat eine tiefe Falte zwischen
beiden Augenbrauen, sie sieht auch böse aus, wenn sie es gar nicht ist, wenn sie
eigentlich lustig ist.
Ich lasse die Haare wachsen. Unter den Fransen denke ich über eine
Anzeige nach, die ich auf der letzten Seite einer Illustrierten gefunden habe: Der
Sauna-Anzug! Schmilzt Ihren überflüssigen Körper einfach weg! Eine
glänzende Tonne, oben und unten zugeschnürt. Eine Stunde pro Tag und alles
schmilzt weg. Ich denke darüber nach, wie ich den Sauna-Anzug bestellen soll,
ohne dass meine Mutter etwas merkt. Wie ich ihn bezahlen soll, ohne dass
meine Mutter etwas merkt. Wie ich ihn benutzen soll, ohne dass meine Mutter
etwas merkt.
„Das ist doch absoluter Blödsinn“, sagt sie mit ihrer scharfen Falte
zwischen den Brauen.“Fang bloß nicht so einen Blödsinn an!
Wenn du abnehmen willst“, sagt meine Mutter, „dann iss vernünftig: von
allem nur noch die Hälfte! Gemüse! Früchte! Und beweg dich mal ein bisschen!
So lahm hinter uns herschlürfen und dann in die Saunatonne kriechen, ich bitte
dich!“ Was weiß denn sie, sie ist klein und zierlich, aber nicht zu dünn, genau
das, was man „eine weibliche Figur“ nennt, niemand würde behaupten, sie
nähme zu viel Platz ein. Ich hingegen bin groß und dick und überall im Weg.
„Ach was“, sagt Vater, „du bist genau richtig. Die Brüste vielleicht etwas
zu klein im Vergleich zum Bauch, aber das kann ja noch kommen, du bist ja
noch jung!“
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Der Sauna-Anzug geht bis zum Hals. Vielleicht schmelzen die Brüste
auch weg, das Wenige. Das wäre nicht gut. „Sieh, der Hund hinkt!“
„Na und?“ Mutter reckt das Kinn. „Mein Mann hinkt auch, was sagen Sie
dazu?“
Nichts, sagen die Spaziergänger. Irritiert gehen sie weiter, in die
Gegenrichtung, an uns vorbei, sie haben es ja nur gut gemeint. Warum wir jeden
Sonntag einen Spaziergang machen? Der Hund muss raus. Ich muss raus.
Frische Luft, in meinem Alter das Beste. Auch Vater muss raus, der arbeitet
nämlich zu viel, jeden Tag von früh bis spät, und wann würde ich ihn denn mal
sehen, wenn nicht sonntags beim Spaziergang. Wann würden wir Rob denn mal
sehen.
Meine Mutter geht voraus in sauber geputzten beigen Laufschuhen mit
Keilabsatz, die Fußspitzen nach außen gedreht, eine gebügelte, karierte Bluse,
den Kragen unter dem Pullover hochgestellt, dehnbare Hose, Jacke ohne Fleck.
In der Jackentasche frisch gebügeltes Taschentuch, Hundekuchen, Lippenstift,
Kleingeld. Für alles vorgesorgt. Von früh bis spät arbeitet Mutter an sich,
vermutlich härter sogar als Vater, jedenfalls ohne die Hilfe zweier Sekretärinnen. Deshalb die Falten um den Mund, der Mund kräuselt sich vor
Anstrengung.
Wir gehen immer einen anderen Weg. Aber das Ziel ist immer dasselbe:
Rob. Mein Bruder. Und dann das Essen. Mutter kann böse werden, wenn kein
Tisch frei ist in dem Landgasthof, oder nur ein Tisch, der ihr nicht gefällt, wenn
die Speise, auf die sie sich gefreut oder besser eingestellt hat, nicht auf der
Karte steht.
Dann blinzelt Vater mir zu, er nimmt den Sonntag ganz gelassen hin, am
Montag fährt er dann wieder zur Arbeit und ist ein großer Mann. Am Sonntag
fügt er sich meiner Mutter. Den Rest der Woche verbringt er im Büro. Und lässt
mich mit ihr. Und Rob.
Ich frage mich manchmal schon, was er sich dabei denkt. Viele Leute
haben Angst vor meinem Vater. Seine Sekretärinnen zum Beispiel. Frau Huber
und Frau Hänggi. Die zucken immer zusammen, wenn er seinen Kopf durch die
Tür streckt, die sehen immer aus, als fragten sie sich, was sie wieder falsch
gemacht haben. Irgend etwas fällt einem ja immer ein.
Die sollten Vater mal am Sonntag sehen. Da macht er genau so ein
Gesicht. Wie Frau Huber und Frau Hänggi unter der Woche.
Papa fällt ein wenig zurück, geht etwas langsamer, das Tempo, das Mama
anschlägt, ist ihm zu viel. Mit seinem Bein.
„Wie läuft's denn so?“, fragt er. „In der Schule und so. Alles cool?“
„Ich habe einen Liebesbrief bekommen“, erzähle ich. „Von Harry.“
„Harry wie noch?“ „Harry Schneebeli.“ „Kenn ich nicht.“
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Vater kennt alle Leute im Ort, oder zumindest alle, die er für wichtig hält.
Wen er nicht kennt, kann nicht wichtig sein. „Du bist ohnehin viel zu jung, um
einen Freund zu haben. Mach bloß deinen alten Vater nicht eifersüchtig!“ Er
drückt mich kurz an sich, so heftig, dass ich das Gleichgewicht verliere, dann
geht er wieder schneller. Nach vorn zum Hund, zu Mutter. Ich stelle mir vor,
wie er im Geist seine Liste abhakt: Mit Kind gesprochen - Interesse gezeigt Zuneigung demonstriert. „Lieber Harry, vermutlich erlaubt sich jemand einen
Scherz mit uns. Aber ich mag dich trotzdem. Ja, ich will mit dir gehen. Jetzt
gerade.“
Jetzt läuft Vater hinter Mutter her. Einen halben Schritt hinter ihr.
Versucht sie einzuholen. Sie geht schnell, sportlich, gleichmäßig. Sie beachtet
ihn nicht. Ihr Rücken ist schon wieder wütend. Wütend auf ihn vermutlich.
Daher die Falten zwischen den Augen.
Mutter ist das Produkt harter Arbeit. Arbeit und Mühe. Die Haare getönt,
das Gesicht gcschminkt, die Figur geturnt, die Wäsche gebügelt, jeden Tag alles
neu gebügelt, nur warme, frisch gebügelte Wäsche kommt an ihre Haut. Das
alles braucht Zeit. Nach einem genauen Plan putzt sie das Haus, legt alles an
seinen Platz, alles ist in Ordnung, alles ist sauber, alles ist vorgeplant. Nichts
kann passieren.
Vater hinkt hinter ihr her. Sie schüttelt ihn ab. Schon wieder hat sie eine
Wut auf ihn im Rücken, im Nacken, im Haar, die ganze Frisur starrt vor Wut.
Sie bleibt plötzlich stehen und dreht sich nach mir um.“Schau doch!“ ruft sie.
„Wie schön das alles ist!“ Ich bleibe ebenfalls stehen. „Nun schau doch!“
Ich puste meine Franse aus der Stirn und schaue höflichkeitshalber in die
richtige Richtung. Als ich noch kleiner war, hat Mutter ihre Hand wie eine
Klammer auf meinen Kopf gelegt und in die Richtung gedreht, die sie meinte,
die Natur meistens. „Ja, schön“, sage ich, ohne genau zu wissen, was sie meint.
Ich habe mir angewöhnt zu sagen, was sie hören will, das ist am einfachsten so.
Für alle am einfachsten.
Links der Eingang zum Friedhof. Jeden Sonntag kommen wir aus einer
anderen Richtung, gehen einen anderen Weg. Dann stehen wir vor dem Grab.
Mutter steht ganz vorn, ganz nah am Grab, sie atmet heftig. Sie schaut böse.
Schaut den Grabstein böse an. Als wäre sie auf ihn böse, meinen Bruder.
Robert Röthlisberger
Zehn Jahre alt.
Gott hat ihn zu sich geholt.
Ich glaube nicht, dass Gott etwas damit zu tun hatte. Es war der Krebs.
Das kann man aber nicht auf den Grabstein schreiben. Aber was weiß ich denn.
Ich kann mich auch nicht richtig erinnern. Ich war zu klein. Noch ein Kind. Rob
war im Krankenhaus, Mutter war im Krankenhaus, Vater war im Büro. Ich bei
Oma, die den ganzen lag weinte und sagte: „Wenigstens haben sie noch dich!“
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Daran erinnere ich mich. Leider hatte ich dann nicht sehr viel zu bieten.
Keinesfalls genug.
Mutter bückt sich und rupft ein paar Unkrautstengel aus. „Aber den
Hund!“, zischt sie plötzlich, „den Hund“, stößt sie durch die fest geschlossenen
Zähne. „Den Hund hast du gerettet! Das dann schon! Dafür hast du wieder Zeit
gehabt!“
Der Landgasthof hat Betriebsferien.
„Dass du das nicht gewusst hast“, sagt Vater, recht gehässig für einen
Sonntag, „du weißt doch sonst immer alles.“ Mama steht und starrt auf die
Schiefertafel, auf der mit Kreide angeschrieben steht: Betriebsferien. Sie weint.
Sie sucht das Taschentuch. Ein dickes Schwein ist auch auf der Tafel. Glück für
wen? Für die, die Betriebsferien haben. Der Hund rennt schon wieder weg. Auf
die große Straße zu. Das lenkt uns dann ab und dieser Sonntag geht auch
vorbei.
Texterläuterungen
der Sauna-Anzug – ein spezieller Anzug zum Abnehmen
…niemand würde behaupten, sie nähme zu viel Platz – никто не сказал
бы, что она занимает много места
der Keilabsatz – танкетка (форма каблука)
cool – круто (молодежный сленг)
die Liste abhaken – поставить галочку в списке
höflichkeitshalber – из вежливости
Unkrautstengel ausrupfen – выдергивать стебли сорняков
Dass du es nicht gewusst hast – Чтобы ты этого и не знала!
Aufgaben zur Interpretation
1. Schreiben Sie das Leseprotokoll. Notieren Sie darin auch Ihre
Antworten auf folgende Fragen:
- Wer ist die Hauptperson der Erzählung?
- Was ist der Hauptkonflikt?
- Um welches Hauptproblem geht es?
2. Machen Sie eine Inhaltsangabe. An welchen Textstellen wird die
äußere Handlung durch die innere Handlung aufgelöst? Markieren Sie die
Grenzen im Text. Wenn Sie über den Handlungsverlauf berichten,
unterscheiden sie zwischen diesen zwei Handlungsebenen.
3. Analysieren Sie die Erzählsituation und die Erzählperspektive.
Wer ist nach Ihrer Meinung der Ich-Erzähler der Kurzgeschichte?
4. Wie werden in der Kurzgeschichte die Figuren charakterisiert?
Finden Sie die passenden Textstellen. Untersuchen Sie die Beziehungen, die
zwischen den Figuren der Erzählung bestehen. Wie sieht der Erzähler die
Figuren – kritisch, distanziert, wohlwollend, positiv, negativ, liebevoll,
69
ironisch, interessiert, mit Sympathie, mit Abstand usw.? Begründen Sie
ihre Meinung. Worin drückt sich die Einstellung des Erzählers gegenüber
den Figuren aus? In welchen direkten Aussagen und in welchen
sprachlichen Formulierungen?
5. Untersuchen Sie die Rolle des Titels. Markieren Sie die Textstellen,
wo der hinkende Hund erwähnt wird. Welche Einstellung betont dieses
Leitmotiv?
6. Untersuchen Sie die Sprache der Kurzgeschichte. Was finden Sie
im Satzbau auffällig? Wie verstehen Sie die Textstelle „Ein dickes Schwein
ist auch auf der Tafel. Glück für wen?“ Sehen Sie hier eine Allusion?
7. Wie finden Sie den Schluss der Geschichte? Ist der Schluss auffällig
für Sie? Waren Sie überrascht? Haben Sie dieses Ende erwartet?
8. Untersuchen Sie die formalen Merkmale des Textes. Welche
Gattungsmerkmale der Kurzgeschichte weist dieser Text auf?
9. Arbeiten Sie Ihre Untersuchungsergebnisse zu
einem
Interpretationsaufsatz aus. Beachten Sie dabei folgende Arbeitsschritte:
- Leseprotokoll
- Inhaltsangabe und Handlungsstruktur (innere und äußere
Handlung)
- Beziehung der Figuren zueinander
- formale Merkmale
- Intention
Der biographische Hintergrund von Texten
W. Biermann
Auf dem Friedhof am
Montmartre (1979)
Auf dem Friedhof am Montmartre
Weint sich aus der Winterhimmel
Und ich spring mit dünnen Schuhen
Über Pfützen, darin schwimmen
Kippen, die sich langsam öffnen
Kötel von Pariser Hunden
Und so hatt' ich nasse Füße
Als ich Heines Grab gefunden.
Unter weißem Marmor frieren
Im Exil seine Gebeine
Mit ihm liegt da Frau Mathilde
Das Hölderlin-Lied (1972)
„So kam ich unter die Deutschen“
In diesem Lande leben wir
Wie Fremdlinge im eigenen Haus
Die eigene Sprache, wie sie uns
entgegenschlägt, verstehen wir nicht
noch verstehen, was wir sagen
die unsre Sprache sprechen
In diesem Lande leben wir wie
Fremdlinge
In diesem Lande leben wir
70
Und so friert er nicht alleine.
Doch sie heißt nicht mehr Mathilde
Eingemeißelt in dem Steine
Steht da groß sein großer Name
Und darunter bloß: FRAU HEINE
Und im Kriege, als die Deutschen
An das Hakenkreuz die SeineStadt genagelt hatten, störte
Sie der Name HENRI HEINE!
Und ich weiß nicht wie, ich weiß nur
Das: er wurde weggemacht
Und wurd wieder angeschrieben
Von Franzosen manche Nacht.
Wie Fremdlinge im eigenen Haus
Durch die zugenagelten Fenster dringt
nichts
nicht wie gut das ist, wenn draußen
regnet
noch des Windes übertriebene
Nachricht
vom Sturm
In diesem Lande leben wir
Wie Fremdlinge
In diesem Lande leben wir
Wie Fremdlinge im eigenen Haus
Ausgebrannt sind die Öfen der
Revolution
Auf dem Friedhof am Montmartre
früherer Feuer Asche liegt uns auf
Weint sich aus der Winterhimmel
den Lippen
Und ich sprang mit dünnen Schuhen kälter, immer kältre Kälten sinken in
Über Pfützen, darin schwimmen
uns
Kippen, die sich langsam öffnen
Über uns ist hereingebrochen solcher
Kötel von Pariser Hunden
Friede!
Und ich hatte nasse Füße
Solcher Friede
Als ich Heines Grab gefunden.
Solcher Friede.
Texterläuterungen
„Auf dem Friedhof von Montmartre“
Montmartre – русск.: Монмартр (ein Bezirk in Paris)
Mathilde – Heines Frau, die er in Paris heiratete
einmeißeln – высекать на камне
die Seine-Stadt – Paris (die Stadt an der Seine)
das Hakenkreuz – свастика
„Das Hölderlin-Lied“
F. Hölderlin – ein berühmter deutscher Dichter aus dem 18. Jh.
zugenagelte Fenster – заколоченные окна
hereinbrechen – внезапно наступать
Aufgaben zur Interpretation
71
1. Analysieren Sie die Klanggestalt und die semantische Ebene der
Gedichte nach dem Muster von S. 13. Achten Sie auf die Stilmittel der
poetischen Sprache: Markieren Sie in beiden Gedichten Metaphern und
Leitmotive und versuchen Sie sie zu erklären. Finden Sie im “HölderlinLied“ ein Beispiel der Tautologie (die Definition dieses Begriffs können Sie
im Verzeichnis der literarischen Begriffe finden). Wozu benutzt Biermann
eine tautologische Wendung?
2. Bei der Inhaltsanalyse beziehen Sie auch die Kontextanalyse ein:
Informieren Sie sich über den Lebensweg des Autors und über sein Werk.
Finden Sie Entsprechungen zwischen der realen Lebenssituation des Autors
und der vom lyrischen „Ich“ der Gedichte beschriebenen Situation:
- Wie lässt sich die politische und gesellschaftliche Realität zur
Entstehungszeit der Gedichte kennzeichnen?
- In welcher Situation hat der Autor zur Zeit der Entstehung der
Gedichte gelebt?
- Warum identifiziert sich Biermann mit H. Heine? Schlagen Sie in
einem Lexikon den Lebensweg von Heine nach. Finden Sie heraus, ob eine
(und welche) Gemeinsamkeit zwischen den beiden Schriftstellern besteht.
Der Text im Rahmen der literarischen Traditionen
Postmoderne Schreibweisen
Ein markantes Beispiel der literarischen Intertextualität stellt der Roman
„Das Parfum“ von P. Süskind dar. Im Roman gibt es viele Allusionen auf
bekannte Werke, wie z. B. die Märchen und Novellen von E. T. A. Hoffmann.
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1. Lesen Sie den Auszug aus dem Roman von Süskind auf S.31 - 33
und ein Zitat aus dem Märchen von E. T. A. Hoffmann „Klein Zaches“.
Finden Sie die Textstelle im Romanauszug, wo Sie Gemeinsamkeiten mit
Hoffmanns Märchen sehen. Solche Gemeinsamkeiten – Allusionen –
drücken die intertextuellen Bezüge des literarischen Werks aus. Beachten
Sie: Es geht bei der literarischen Allusion nicht um buchstäbliches
Zitieren.
E. T. A. Hoffmann: „Klein Zaches“ (Auszug)
Unfern eines anmutigen Dorfes, hart am Wege, lag auf dem von der
Sonnenglut erhitzten Boden hingestreckt ein armes zerlumptes Bauernweib.
Vom Hunger gequält, vor Durst lechzend, ganz verschmachtet, war die
Ünglückliche unter der Last des im Korbe hoch aufgetürmten, dürren Holzes,
das sie im Walde unter den Bäumen und Sträuchern mühsam aufgelesen,
niedergesunken, und da sie kaum zu atmen vermochte, glaubte sie nicht anders,
als dass sie nun wohl sterben, so sich aber ihr trostloses Elend auf einmal enden
werde.
Texterläuterungen
unfern – unweit
ein armes zerlumptes Bauernweib – старая оборванная крестьянка
vom Hunger gequält, vor Durst lechzend, ganz verschmachtet – мучимая
голодом, изнемогающая от жажды, совсем обессилевшая
…glaubte sie nicht anders, als dass sie nun wohl sterben, so sich aber ihr
trostloses Elend auf einmal enden werde – …подумала она, что не иначе как
она умирает, и так закончатся ее безысходные страдания
2. Lesen Sie die weiteren Auszüge und finden Sie im „Parfum“ „die
Spuren“ von Hoffmanns „Klein Zaches“.
E. T. A. Hoffmann: „Klein Zaches“
…und um das Maß unseres Herzeleids vollzumachen bis über den Rand,
strafte uns der Himmel mit diesem kleinen Wechselbalg, den ich zu Schand und
Spott des ganzen Dorfs gebar. – Zu St. Laurenztag ist der Junge drittehalb Jahre
gewesen und kann auf seinen Spinnenbeinchen nicht stehen nicht gehen und
knurrt und miaut, statt zu reden wie eine Katze. Und dabei frisst die unselige
Mißgeburt wie der stärkste Knabe von wenigstens acht Jahren, ohne dass es ihm
im mindesten etwas anschlägt. Gott erbarme sich über ihn und über uns, dass
wir den Jungen groß füttern müssen uns selbst zur Qual und größerer Not; denn
essen und trinken immer mehr wird der kleine Däumling wohl, aber arbeiten
sein Lebtag nicht.
Texterläuterungen
73
…und um das Maß unseres Herzeleids vollzumachen bis über den Rand –
… и, чтобы переполнить чашу наших страданий
der Wechselbalg – оборотень
zu St. Laurenztag – на день святого Лаврентия
die unselige Mißgeburt – несчастный урод
Gott erbarme sich über ihn und über uns – Боже, помилуй его и нас
der kleine Däumling – маленький коротышка
sein Lebtag – всю его жизнь
P. Süskind: Das Parfum (aus dem 2. Kapitel)
Einige Wochen später stand die Amme Jeanne Bussie mit einem
Henkelkorb in der Hand vor der Pforte des Klosters von Saint-Merri und sagte
dem öffnenden Pater Terrier, einem etwa fünfzigjährigen kahlköpfigen, leicht
nach Essig riechenden Mönch «Da!» und stellte den Henkelkorb auf die
Schwelle.
«Was ist das?» sagte Terrier und beugte sich über den Korb und
schnupperte daran, denn er vermutete Essbares.
«Der Bastard der Kindsmörderin aus der Rue aux Fers!»
Der Pater kramte mit dem Finger im Henkelkorb herum, bis er das
Gesicht des schlafenden Säuglings freigelegt hatte.
«Gut schaut er aus. Rosig und wohlgenährt.»
«Weil er sich an mir vollgefressen hat. Weil er mich leergepumpt hat bis
auf die Knochen. Aber damit ist jetzt Schluss. Jetzt könnt Ihr ihn selber
weiterfüttern mit Ziegenmilch, mit Brei, mit Rübensaft. Er frisst alles, der
Bastard.»
Pater Terrier war ein gemütlicher Mann. In seine Zuständigkeit fiel die
Verwaltung des klösterlichen Karitativfonds, die Verteilung von Geld an Arme
und Bedürftige. Und er erwartete, dass man ihm dafür Danke sagte und ihn des
weiteren nicht belästigte. Technische Einzelheiten waren ihm sehr zuwider,
denn Einzelheiten bedeuteten immer Schwierigkeiten, und Schwierigkeiten
bedeuteten eine Störung seiner Gemütsruhe, und das konnte er gar nicht
vertragen. Er ärgerte sich, dass er die Pforte überhaupt geöffnet hatte. Er
wünschte, dass diese Person ihren Henkelkorb nähme und nach Hause ginge und
ihn in Ruhe ließe mit ihren Säuglingsproblemen.
Langsam richtete er sich auf und sog mit einem Atemzug den Duft von
Milch und käsiger Schafswolle ein, den die Amme verströmte. Es war ein
angenehmer Duft.
«Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe wirklich nicht, worauf du
hinauswillst. Ich kann mir nur vorstellen, dass es diesem Säugling durchaus
nicht schaden würde, wenn er noch geraume Zeit an deinen Brüsten läge.»
74
«Ihm nicht», schnarrte die Amme zurück, «aber mir. Zehn Pfund habe ich
abgenommen und dabei gegessen für drei. Und wofür? Für drei Franc in der
Woche!»
Texterläuterungen
die Amme Jeanne Bussie – кормилица Жанна Бюсси
das Kloster von Saint-Merri – монастырь Сен-Мерри
Pater Terrier – отец Терье
der Karitativfond – благотворительный фонд
Und er erwartete, dass man ihm dafür Danke sagte und ihn des weiteren
nicht belästigte – и он ожидал, что ему за это скажут спасибо и не будут
обременять другими делами
j-m zuwider sein – быть противным
Patrik Süskind: Das Parfum (aus dem 4. Kapitel)
Für den kleinen Grenouille war das Etablissement der Madame Gaillard
ein Segen. Wahrscheinlich hätte er nirgendwo anders überleben können. Hier
aber, bei dieser seelenarmen Frau gedieh er. Er besaß eine zähe Konstitution.
Wer wie er die eigene Geburt im Abfall überlebt hatte, ließ sich nicht mehr so
leicht aus der Welt bugsieren. Er konnte tagelang wässrige Suppen essen, er kam
mit der dünnsten Milch aus, vertrug das faulste Gemüse und verdorbenes
Fleisch. Im Verlauf seiner Kindheit überlebte er die Masern, die Ruhr, die
Windpocken, die Cholera, einen Sechsmetersturz in einen Brunnen und die
Verbrühung der Brust mit kochendem Wasser. Zwar trug er Narben davon und
Schrunde und Grind und einen leicht verkrüppelten Fuß, der ihn hatschen
machte, aber er lebte. Er war zäh wie ein resistentes Bakterium und genügsam
wie eine Zeck, die still auf einem Baum sitzt und von einem winzigen
Blutströpfchen lebt, das er vor Jahren erbeutet hat.“
Texterläuterungen
das Etablissement der Madame Gaillard – заведение мадам Гайар
er kam mit der dünnsten Milch aus – он обходился самым жидким
молоком
Zwar trug er Narben davon und Schrunde und Grind und einen leicht
verkrüppelten Fuß, der ihn hatschen machte, aber er lebte – хотя у него
остались от этого шрамы, и оспины, и струпья, и слегка изуродованная
нога, из-за которой он прихрамывал – он жил
Aufgaben zur Interpretation
1. Markieren Sie in Texten alle direkten und indirekten (aus den
Aussagen der anderen Figuren folgenden) Charakteristiken von
Grenouilles und klein Zaches. Welche Gemeinsamkeiten lassen sich
herausstellen?
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2. Mit welchen Insekten werden die beiden verglichen? Wie meinen Sie,
sind diese Parallelen zufällig? Welche charakteristischen Merkmale von
Grenouille und klein Zaches werden dadurch hervorgehoben?
Kreative Aufgabe: Wissen Sie, wie es im Roman weiter geht?
Wahrscheinlich haben Sie die Verfilmung des Romans gesehen. Wenn
nicht, dann sammeln Sie Informationen über den weiteren Verlauf des
Romans. Machen Sie sich auch mit der Fabel der Novelle von E. T. A.
Hoffmann „Das Fräulein von Scuderi“ bekannt. Recherchieren Sie, warum
manche Kritiker Süskinds Roman als Remake dieser Novelle bezeichnen.
Die Popliteratur
Benjamin von Stuckrad-Barre: Day off.
Gegenstand des Romans „livealbum“ sind die einzelnen, mit „Show“
bezeichneten Stationen der Lesereise, auf der sich der Ich-Erzähler mit seinem
Roman befindet. Zwischen der achten und neunten Station hat er einen
veranstaltungsfreien Tag, einen „day off“.
Die Sonne war schon lange bei der Arbeit, und ich hatte keinen Grund
aufzustehen, liegen bleiben machte aber auch keinen Spaß. Mir ging es
schlecht, zum Frühstück würde es hier Malzkaffee, Leberwurst, Graubrot und
nichtknackende Kelloggsplagiate an Milch geben, das sah man am Tapetenmuster, und ich hatte nicht mal ein Ziel zum Fliehen, denn dieser Tag war
off, so nannte meine Agentin das, keine Lesung am Abend, als Mitarbeiter der
Unterhaltungsindustrie musste ich also feststellen: Dieser Tag war praktisch
nicht existent, oder schlimmer noch, er war da, aber vollkommen leer, so wie
ich selbst mir alsbald vorkam.[…]
Also Pause, Zwischenstopp, Stimme schonen, ausruhen - man konnte es
sich auch schönreden. Die vergangenen Tage waren so detailliert vorausgeplant
gewesen, wenn ich nicht weiterwusste, hatte meistens das schlaue Buch
weitergewusst, nun aber musste ich, durfte ich selbst planen. Vielleicht nach
Hause fahren? Das lohnte nicht recht. In ein Hotel gehen, dort dicke
Samtvorhänge vor die Welt ziehen und schlafen?
In der Fachwerk-Pension wollte ich auf gar keinen Fall bleiben, auch
hatte ich nicht das Gefühl, ein weiterer Abend mit Mareike, Steffi könne in einer
späteren Verfilmung meines Lebens einmal die Sequenz hergeben, die sich als
Trailer eignet, um ein Riesenpublikum anzufixen. Vielleicht ja doch. Ziemlich
sicher nicht.
Ich nahm die Regionalbahn in den nächsten zu Recht Stadt genannten Ort.
Weil es dort regnete, fuhr ich eine halbe Stunde später weiter, diesmal mit
einem InterRegio. Ich näherte mich der Stadt, in der es am nächsten Tag
76
weiterging, und zwar so richtig: mit der Buchmesse. Eine Stadt vorher stieg ich
aus.
Das Geld reichte erst mal. Später im Jahr würde ich es benötigen, aber
das zählte ja jetzt nicht. Ein gutes Hotel - wäre zu bezahlen. Ein billiges - vielleicht nicht auszuhalten, da verging die Zeit nicht schnell und nicht schön so
genug. Wie ging denn das noch mal, einen Tag rumbringen? Fixpunkte: die
Mahlzeiten.
Ein Hotel nehmen. Eine halbe Stunde fernsehen und dann doch raus,
denn fernsehen kann man überall. Ja, eben! Aber doch nicht hier. Hm. Also in
die Stadt. Dinge kaufen. Auch eine Möglichkeit. Plötzlich eine
Touristenexistenz; ziellos gehen heißt plötzlich schlendern. Eis essen,
Gedenktafeln lesen, über den Erwerb einer Einwegkamera nachdenken. Oder
doch Postkarten? Auf Parkbänken sitzen. Die Veranstaltungsseite 7s der
Stadtzeitung prüfen. Konzerte, Theater Ausstellungen Kino Partys so Märkte,
Auktionen, Sonstiges
Man könnte so viel - ja, könnte man? Interessant. Und wie geht das? Alles
d e h n e n. Beim Bäcker mitmachen beim gemeinsamen Kommentar der
Schlagzeilen. Schönen Tag noch wünschen. In Straßencafes sitzen, wenn das
denn geht; dem Wetter ernsthaft Bedeutung beimessen. Und tatsächlich in einer
Stadtzeitung nachschauen, was heute so unter SONSTIGES geboten wird.
Eine Uhr braucht man überhaupt nicht auf einer Tournee. [...] An einem
off-Tag aber braucht man eine Uhr ganz dringend, um zu wissen, wann er
geschafft ist, und man endlich wieder on sein darf.
Ich habe keine Uhr. Soll heißen: Fragen Sie mich nicht, wie spät es ist, es
ist ordinär, sich nach der Zeit zu richten, es muss andersherum sein. Ich wusste
nichts anzufangen mit all der Zeit, der Tag hatte keine Struktur. Niemand würde
mich abholen, keiner würde drängeln. Wenn es doch nur endlich dunkel würde!
Theoretisch konnte ich um 16 Uhr zum zweiten Mal frühstücken oder zwei
Stunden vorher schon Mittag essen, danach, davor, stattdessen einen
Mittagsschlaf anberaumen. Oder abends früh ins Bett. Vielleicht auch gar nicht
ins Bett. Mit niemandem reden, mit jedem reden, mit mir selbst reden, ich
konnte lesen, schreiben, kaufen, verzichten, saufen, baden, mich rasieren oder
unrasiert aus dem Fenster gucken, wie der Tag beginnt und endet, und am Ende
alles bleibt, wie es war.
Ich langweilte mich zu Tode, und das mache ich am liebsten in Cafes. Ich
bestellte Kuchen, lief, von Einsicht getrieben, hinter dem Kellner her und
stornierte die Bestellung, nur Kaffee bitte, Entschuldigung. Er ordnete
kopfschüttelnd seine öligen Locken und murmelte etwas in einer nicht-EUSprache. Nächster Programmpunkt, touristisches Amüsement für Anfänger,
nachmittags allein ins Kino, da ist der Fall dann auch klar: Die Kartenverkäuferin guckt mitleidig, gibt Rabatt, man ist allein, höchstens zu dritt. Oft sparen
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sie sich sogar die Werbung, und nicht mal der Eisverkäufer kommt rein. Ich
hatte an der Kasse einige Süßwaren gekauft, aß gleichzeitig aus drei verschiedenen Tüten Weingummi und freute mich auf das anschließende Snickers.
Dann warf ich das ganze Zeug schnell in die Reihe vor mir, denn am nächsten
Tag sollte ich fotografiert werden.
Am Abend fiel mir erst nach einer halben Stunde Badezimmer und
Kleiderordnung auf, dass ja kein Auftritt, sondern ein freier Abend bevorstand.
Ich ging in ein Restaurant und las beim Essen. Da, ein Bild von mir.
Weiterblättern. Zurückblättern: Wie sieht das denn wieder aus. Und der Text,
meine Güte, der Text. Höchstwahrscheinlich hatte der Autor nicht so lange
darüber nachgedacht wie ich jetzt über die Möglichkeit, einen Nachtisch zu bestellen. Knapp überstimmt, abgelehnt, das war knapp, aber dann wenigstens
noch was trinken.
Es war noch früh, und die Bar gerade erst geöffnet worden. In der Ecke
stand ein DJ-Pult, aber noch liefen lediglich CDs durch. Später würde hier was
los sein, das spürte man, gerade auch weil das Personal so übermäßig gelassen
war, das war einfaches Kräftesparen. Ich setzte mich an den Tresen und guckte
der Bedienung beim Gläserspülen zu. Ja, war ich denn in einer Landdiscothek
gelandet oder in einer ernstzunehmenden Bar? Ich wartete. Vielleicht würde
sich was ergeben. Noch ein Getränk. Langsam wurde ich ruhiger. Man könnte
auch sagen: müde. Wahrscheinlich würde sich ohnehin nichts ergeben. Gestern
um diese Zeit. Und morgen um diese Zeit. Aber was bitte schön heute um diese
Zeit? WAS JETZT?
Texterläuterungen
der Malzkaffee – солодовый кофе
nichtknackende Kelloggsplagiate – нехрустящие поддельные мюсли
die Lesung – das Treffen des Schriftstellers mit dem Publikum, wo er den
Lesern aus dem neuen Werk vorliest
Dieser Tag war praktisch nicht existent – d. h. dieser Tag existierte
praktisch nicht
Dicke Samtvorhänge vor die Welt ziehen – отгородиться бархатными
шторами от мира
Die Fachwerk-Pension – фахверковый пансион
…ein weiterer Abend … könne in einer späteren Verfilmung meines
Lebens einmal die Sequenz hergeben, die sich als Trailer eignet, um ein
Riesenpublikum anzufixen – … еще один вечер … может дать эпизод для
будущей экранизации моей жизни, который сгодится в качестве трейлера,
чтобы привлечь широкую публику
der InterRegio – ein Schnellzug
einen Tag rumbringen – убивать время
die Fixpunkte – точки отсчета
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die Einwegkamera – одноразовый фотоаппарат
Konzerte, Theater Ausstellungen Kino Partys so Märkte, Auktionen,
Sonstiges – Rubriken in der Zeitung
dem Wetter ernsthaft Bedeutung beimessen – искренне придавать
значение погоде
Ich wusste nichts anzufangen mit all der Zeit – я не знал, что делать со
всем этим временем
einen Mittagsschlaf anberaumen – назначить послеобеденный сон
von Einsicht getrieben – охваченный внезапным благоразумием
die Bestellung stornieren – аннулировать заказ
touristisches Amüsement – туристические развлечения
Rabatt geben – давать скидку
in einer ernstzunehmenden Bar – in einer Bar, die ernst zu nehmen ist
Aufgaben zur Interpretation
1. Analysieren Sie die Erzählsituation und die Erzählperspektive.
Wer richtet sich an den Leser?
2. Analysieren Sie den Sprachgebrauch in diesem Text. Mit welchen
Ausdrücken beschreibt der Autor das Gefühl der Langeweile? Beachten Sie
auch den Satzbau. Ist es zufällig, dass viele Sätze wie „abgehackt“ sind?
Wie wirkt der Text dadurch?
3. Was sind die wichtigsten Aussagen oder Schlussfolgerungen im
Text?
4. Welches Thema wird im Text angesprochen? Wie kann man das
Thema des Textes mit dem Titel des Romans verbinden?
5. Welche Merkmale machen diesen Text zum typischen Beispiel der
Popliteratur? Wie bewirkt die Konkurrenz der Literatur mit Medien
ästhetische Qualitäten der Werke?
Zur Diskussion
1. Wie erklären Sie sich, dass der Ich-Erzähler den freien Tag nicht
als Erholung empfindet oder als zeit zur Muße, sondern als langweilig?
2. Machen Sie sich mit der Aussage des deutschen Kritikers
bekannt.
Reiner Moritz: „Eine nachrückende Autorengeneration, nicht selten einer
„Ich-will-Spaß“-Haltung verpflichtet, rückt von hehren Dichteridealen ab und
versteht ihr Tun zunehmend als Teil kurzlebiger Medieninszenierungen.
Paradebeispiel dieser Literaten ist Benjamin von Stuckrad-Barre, der mit nicht
zu unterschätzender Intelligenz seine Rolle als gut gekleideter, blasierter
Jungliterat spielt, der in der Regel nichts oder wenig zu erzählen hat und darüber
alljährlich ein neues Büchlein publiziert“.
79
Stimmen Sie dieser Aussage zu? Nehmen Sie Ihre Stellung zum Text
von B. von Stuckrad-Barre.
Literarischer Text als Zeitdokument
Wendezeit in der Literatur
Lesen Sie ein Gedicht von H. Czechowski. Nehmen Sie Stellung dazu.
Nach der Wende
Was hinter uns liegt
Wissen wir. Was vor uns liegt,
Wird uns unbekannt bleiben,
Bis wir es
Hinter uns haben
Lesen Sie zwei Auszüge aus dem Roman von I. Schulze „Simple
Storys“.
Zeus
Renate Meurer erzählt von einer Busreise im Februar 90. Am
zwanzigsten Hochzeitstag ist das Ehepaar Meurer zum ersten Mal im Westen,
zum ersten Mal in Italien.
Es war einfach nicht die Zeit dafür. Fünf Tage mit dem Bus: Venedig,
Florenz, Assisi. Für mich klang das alles wie Honolulu. Ich fragte Martin und
Pit, wie sie denn darauf gekommen seien und woher überhaupt das Geld
stamme und wie sie sich das vorstellten, eine illegale Reise zum zwanzigsten
Hochzeitstag.
Ich hatte mich darauf verlassen, dass Ernst nicht mitmacht. Für ihn waren
ja diese Monate die Hölle. Wir hatten wirklich anderes im Kopf als Italien. Aber
er schwieg. Und Mitte Januar fragte er, ob wir nichts vorbereiten müssten - am
16. Februar, einem Freitag in den Schulferien, sollte es losgehen - und wie wir
mit unseren DDR-Papieren über die italienische Grenze kämen und über die
österreichische. Als ich ihm sagte, was ich von den Kindern wusste, dass wir
von dem Reisebüro in München westdeutsche Ausweise erhalten würden,
gefälschte wahrscheinlich, spätestens da dachte ich, jetzt ist Schluss, nicht mit
Ernst Meurer. Aber er fragte nur, ob die beiden Passbilder dafür gewesen seien.
»Ja«, antwortete ich, „zwei Passbilder, Geburtsdatum, Größe und Augenfarbe mehr brauchen die nicht.“ Es war wie immer. In den dunkelgrünen Koffer
packten wir unsere Sachen, in die schwarzrot karierte Tasche Besteck, Geschirr
und Proviant: Wurst- und Fischkonserven, Brot, Eier, Butter, Käse, Salz,
Pfeffer, Zwieback, Äpfel, Apfelsinen und je eine Thermoskanne Tee und
80
Kaffee. Pit fuhr uns nach Bayreuth. An der Grenze fragten sie, wohin wir
wollten, und Pit sagte: Shopping.
Der Zug hielt in jedem Nest. Außer Schnee, beleuchteten Straßen, Autos
und Bahnhöfen sah ich nicht viel. Wir saßen zwischen Männern, die zur Arbeit
fuhren. Als Ernst eine Apfelsine schälte, dachte ich zum ersten Mal wirklich an
Italien.
Den Dogenpalast und die Säule mit dem Löwen kannte ich aus dem
Fernsehen. Die Venezianerinnen — selbst die in meinem Alter - trugen kurze
Röcke und schöne, altertümliche Käppchen. Wir waren viel zu dick angezogen.
Um unabhängig zu sein, nahmen wir tagsüber in der Provianttasche ein
paar Konserven, Brot und Äpfel mit. Abends aßen wir auf dem Zimmer. Ernst
und ich sprachen nicht viel, aber immerhin mehr als in den letzten Monaten.
„Una gondola, per favore“, rief er mal morgens beim Waschen. Überhaupt
machte Ernst den Eindruck, als ob ihm Italien gefiel. Einmal griff er sogar nach
meiner Hand und hielt sie fest.
Sie müssen mal versuchen, sich das vorzustellen. Plötzlich ist man in
Italien und hat einen westdeutschen Pass. Ich hieß Ursula und Ernst Bodo,
Wohnort: Straubing. Unsere Nachnamen habe ich vergessen. Man befindet sich
auf der anderen Seite der Welt und wundert sich, dass man wie zu Hause trinkt
und isst und einen Fuß vor den anderen setzt, als wäre das alles
selbstverständlich. Wenn ich mich beim Zähneputzen im Spiegel sah, konnte
ich noch viel weniger glauben, in Italien zu sein.
Texterläuterungen
Der Zug hielt in jedem Nest – поезд останавливался в каждой дыре
der Dogenpalast – дворец дожей
„Una gondola, per favore“ – «Одну гондолу, пожалуйста»
…als wäre das alles selbstverständlich – как будто это само собой
разумеется
Mal eine wirklich gute Story
Danny schreibt zu wenig für die Anzeigenkunden und zu viel über
Schlägereien. Christian Beyer, ihr Chef, ist unzufrieden.
Es ist Februar 91. Ich arbeite bei einer Wochenzeitung. Überall wartet
man auf den großen Aufschwung. Supermärkte und Tankstellen werden gebaut,
Restaurants eröffnet und die ersten Häuser saniert. Sonst gibt es aber nur
Entlassungen und Schlägereien zwischen Faschos und Punks, Skins und
Redskins, Punks und Skins. An den Wochenenden rückt Verstärkung an, aus
Gera, Halle oder Leipzig-Connewitz, und wer in der Überzahl ist, jagt die
anderen. Es geht immer um Vergeltung. Die Stadtverordneten und der Kreistag
fordern Polizei und Justiz zu energischen Schritten auf.
81
Anfang Januar schrieb ich eine ganze Seite über das, was sich regelmäßig
freitags auf dem Bahnhof abspielt. Von Patrick stammten die Fotos. Eine
Woche später sorgte ein anderer Artikel von mir für Wirbel. Nach
Zeugenaussagen berichtete ich, dass Unbekannte nachts in Altenburg-Nord eine
Wohnungstür aufgebrochen und den fünfzehnjährigen Punk Mike P. fast
erschlagen hatten. Nach zwei Tagen war er aus dem Koma erwacht. Sein
jüngerer Bruder lag auf derselben Station mit einer Gehirnerschütterung. Den
Vater hatten sie mit Reizgas betäubt, die Mutter war auf einem Lehrgang gewesen.
Beyer, unser Chef, untersagte mir, die Beiträge zu unterzeichnen. Auch
Patricks Name durfte nicht erscheinen. Ihm war das ganz recht, weil seine
Freundin gerade zu ihm ziehen wollte. Beyer erwog ernsthaft, einen
Schäferhund für die Redaktion anzuschaffen. „Gegen Vandalismus“, sagte er,
„versichert einen niemand.“
Mehr Angst habe ich vor dem Alten, der eine Etage über den
Redaktionsräumen wohnt. Erst steckten Zettel unterm Scheibenwischer - ich
wurde ultimativ aufgefordert, ihm sein Geld zurückzugeben -, dann zerstach er
die Vorderreifen von meinem alten Plymouth. Die versichert mir auch niemand.
Zweimal hat er das gemacht. Abends wartet er stundenlang auf der dunklen
Treppe neben unserem Eingang. Ich bemerke ihn immer erst, wenn er röhrt:
„Mein Geld will ich!“ Ich hab versucht, mit ihm zu reden und bei ihm
geklingelt. Vier Wochen zuvor haben wir uns noch ganz normal unterhalten.
Einmal hab ich ihm sogar den Kohleneimer hinaufgetragen.
Ich bin völlig überarbeitet und lebe, seit sich Edgar von mir getrennt hat,
keusch wie eine Nonne. Ich kann Edgar verstehen. Ich habe ja nicht mal Zeit,
für meinen dreijährigen Neffen ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen.
Außerdem werde ich mal wieder in Beyers Zimmer zitiert, weil ich den
Artikel über Nelson-Immobilien noch nicht fertig habe. Harry Nelson ist
Anzeigenkunde, wöchentliche Schaltung, dreispaltig, hundert Millimeter, trotz
zwanzig Prozent Rabatt immer noch DM 336,- plus Mehrwertsteuer, ergibt im
Jahr DM 17472,- plus Mehrwertsteuer. „Haben oder nicht haben“, sagt Beyer.
Die Scholz, die mit zwei Kaffeetassen hereinkommt, gießt mir Milch ein, was
sie sonst nur für Beyer macht.
Ich sage, dass ein Foto mit Bildunterschrift besser ist als ein Artikel und
dass ich zwar vier solcher Unternehmerporträts auf eine Seite bringe, aber nicht
weiß, wann ich sie schreiben soll, und wir endlich lernen müssen, auch mal nein
zu sagen. Beyer beginnt abermals mit den DM 17472,- und endet mit der
Feststellung: „Vielleicht reden wir hier über Ihr Gehalt, Danny.“
Ich erkläre Beyer, der in unangenehmen Situationen den Zeigefinger
unter Mittel- oder Ringfinger klemmt, dass es nicht gut ist, wenn eine Zeitung
vor ihren Kunden bückelt. Im Gegenteil. Wir sollten uns mehr um Inhalte
82
kümmern, um Gestaltung und interne Organisation und im übrigen die Haltung
vertreten: Man darf bei uns Kunde sein. So rum wird ein Schuh draus!
„Langsam, langsam“, sagt er. „Langsam, Danny!“
Beyer ist kaum älter als ich, und das „Sie“ wirkt meistens komisch, aber
dass er mich Danny nennt, ist plump. Er will Kumpel sein, er will fair sein und
lässt uns immer eine Zeitlang reden. Aber wann hätte er je auf uns gehört? Er
denkt nicht mal über unsere Vorschläge nach. Er hat keine Ahnung vom
Geschäft und glaubt, wenn er sich ums Geld kümmert, schaffen wirs. Er sagt,
dass ich den Artikel über Harry Nelson mit zwei Fotos bringen soll - Nelson hat
zwei Häuser sanieren lassen. Außerdem bittet mich Beyer, in den nächsten
Ausgaben „die Bandenkriege außen vor zu lassen“, wie er sich ausdrückt, und
anderen Hinweisen nachzugehen. Mal wieder was über den Teersee in Rositz
oder über ehemaliges jüdisches Eigentum am Marktplatz, eine kritische
Diskussion über den Grundsatz: Rückgabe statt Entschädigung.
Texterläuterungen
Die Anzeigenkunden – рекламодатели
Faschos, Punks, Skins – фашисты, панки, скины
wer in der Überzahl ist, jagt die anderen – те, кого больше, прогоняют
остальных
sanieren – подвергать санации, т. е. проводить обновление,
капитальный ремонт
zu energischen Schritten auffordern – требовать принять энергичные
меры
für Wirbel sorgen –
auf dem Lehrgang sein – быть на курсах
wöchentliche Schaltung – еженедельное включение
vor den Kunden bückeln – заискивать перед клиентами (дословно:
подобострастно кланяться)
so rum wird ein Schuh draus – так-то будет вернее
Rückgabe statt Entschädigung – возврат вместо компенсации (имеется
в виду возврат собственности бывшим владельцам после воссоединения
Германии)
Aufgaben zur Interpretation
1. Machen Sie eine schriftliche Inhaltsangabe der beiden
Geschichten.
2. Das, was der Titel des Romans – „Simple Storys“ – sagt, ist wie
eine Klammer, die die einzelnen Geschichten zusammenhält. Vergleichen
Sie den Inhalt der Geschichten mit dem Titel des Romans. Welche
Alltagsbegebenheiten sind hier geschildert? Sind sie wirklich so einfach?
83
3. Aus welcher Erzählperspektive werden die Geschichten erzählt?
Was kann man über die Erzähler sagen? Charakterisieren Sie sie (Alter,
Beruf, Familienstand usw.)
4. „Seit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung hat sich für die
Ossis alles, für die Wessis eigentlich nichts geändert. Die Wohnung, der
Arbeitsplatz, das Geld und seine Anlagen, die Autos und die
Straßennahmen – nichts ist mehr so, wie es der DDR-Bürger gewohnt war
und über Jahrzehnte gelernt hatte.“ (aus M. Jürgs, A. Elis: Typisch Ossi,
typisch Wessi) Was änderte sich im alltäglichen Leben der ehemaligen
DDR-Bürger? Welche Veränderungen im Leben der Ostdeutschen waren
positiv, welche negativ?
5. Wie verhalten sich die Figuren in der Welt, die sich schnell ändert?
Wie stellen sich die Erzähler dieser Geschichten zu diesen Veränderungen?
Belegen Sie die Antwort mit Beispielen aus dem Text.
6. Was Neues haben Sie zum Thema „Deutschland – Wendezeit“ aus
den Texten erfahren?
Migrationsliteratur
W. Kaminer: Die erste eigene Wohnung
Seit Ewigkeiten träumte ich von einer eigenen Wohnung. Doch erst mit
der Auflösung der DDR ging mein Traum in Erfüllung. Nachdem mein Freund
Mischa und ich im Sommer 1990 als eine aus der Sowjetunion geflüchtete
Volksminderheit jüdischer Nationalität anerkannt worden waren, landeten wir
auf Umwegen in dem riesigen Ausländerheim, das in Marzahn entstand. Hier
wurden zunächst Hunderte von Vietnamesen, Afrikaner und Juden aus Russland
einquartiert. Wir zwei und noch ein Kumpel aus Murmansk, Andrej, konnten
uns eine möblierte Einzimmerwohnung im Erdgeschoss erkämpfen.
Das Leben im Heim boomte: Die Vietnamesen besprachen auf
Vietnamesisch ihre Zukunftschancen, denn damals wussten sie noch nichts vom
Zigarettenhandel. Die Afrikaner kochten den ganzen Tag Kuskus, abends
sangen sie russische Volkslieder. Sie hatten erstaunlich gute Sprachkenntnisse,
viele hatten in Moskau studiert. Die russischen Juden entdeckten das Bier im
Sechserpack für DM 4,99, tauschten ihre Autos untereinander und bereiteten
sich auf einen langen Winter in Marzahn vor. Viele beschwerten sich beim
Aufsichtspersonal, dass ihre Nachbarn falsche Juden seien, dass sie Schweine
äßen und am Samstag rund um die Wohnblöcke joggten, was man als echter
Jude nie tun dürfte. Damit versuchten sie, ihre Nachbarn loszuwerden und die
zugeteilte Stasi-Wohnung für sich allein zu nutzen. Es herrschte ein regelrechter
Platzkrieg. Diejenigen, die zu spät gekommen waren, hatten es besonders
schwer: Sie mussten ihre Wohnung mit bis zu vier anderen Familien teilen.
84
Wir drei waren vom Leben im Heim nicht sonderlich begeistert und
suchten nach einer Alternative. Der Prenzlauer Berg galt damals als Geheimtipp
für alle Wohnungssuchenden, dort war der Zauber der Wende noch nicht vorbei.
Die Einheimischen hauten in Scharen nach Westen ab, ihre Wohnungen waren
frei, aber noch mit allen möglichen Sachen voll gestellt. Gleichzeitig kam eine
wahre Gegenwelle aus dem Westen in die Gegend: Punks, Ausländer und
Anhänger der Kirche der Heiligen Mütter, schräge Typen und Lebenskünstler
aller Art. Sie besetzten die Wohnungen, warfen die zurückgelassene
Modelleisenbahn auf den Müll, rissen die Tapeten ab und brachen die Wände
durch. Die Kommunale Wohnungsverwaltung hatte keinen Überblick mehr. Wir
drei liefen von einem Haus zum anderen und schauten durch die Fenster. Andrej
wurde glücklicher Besitzer einer Zweizimmerwohnung in der Stargarder Straße,
mit Innentoilette und Duschkabine. Mischa fand in der Greifenhagener Straße
eine leere Wohnung, zwar ohne Klo und Dusche, aber dafür mit einer
Musikanlage und großen Boxen, was seinen Interessen auch viel mehr
entsprach. Ich zog in die Lychener Straße. Herr Palast, dessen Name noch auf
dem Türschild stand, hatte es sehr eilig gehabt. Nahezu alles hatte er
zurückgelassen: saubere Bettwäsche, ein Thermometer am Fenster, einen
kleinen Kühlschrank, sogar Zahnpasta lag noch in der Küche auf dem Tisch.
Etwas zu spät möchte ich Herrn Palast für dies alles danken. Besonders dankbar
bin ich ihm für den selbst gebauten Durchlauferhitzer, ein wahres Wunder der
Technik.
Zwei Monate später fand die Geschichte der Besetzung des Prenzlauer
Bergs ein Ende. Die KWV erwachte aus ihrer Ohnmacht und erklärte alle zu
diesem Zeitpunkt in ihren Häusern Lebenden für die rechtlichen Mieter. Sie
sollten ordentliche Mietverträge bekommen. Zum ersten Mal stand ich in einer
200-köpfigen Schlange, die ausschließlich aus Punks, Freaks, scheinheiligen
Eingeborenen und wilden Ausländern bestand. Laut Mietvertrag musste ich DM
18,50 für meine Wohnung zahlen. So ging mein Traum in Erfüllung: ein eigener
Lebensraum - von 25 Quadratmetern.
Texterläuterungen
Marzahn, der Prenzlauer Berg – die Berliner Bezirke
die Stasi-Wohnung – hier: die Wohnung im ehemaligen Stasi-Gebäude
in Scharen – толпами
die Einheimischen – местные жители
der Durchlauferhitzer – газовая колонка
die KWV – die Kommunale Wohnungsverwaltung
aus der Ohnmacht erwachen – проснуться от спячки
scheinheilige Eingeborene – мнимые местные
Aufgaben zur Interpretation
85
1. Machen Sie eine kurze Inhaltsangabe.
2. Was kann man über den Ich-Erzähler der Geschichte sagen?
3. Was haben Sie aus dem Text über Berlin kurz nach der Wende
erfahren?
4. Wie hat die Wende aus der Perspektive des Einwanderers
ausgesehen?
5. Wie verstehen Sie den Ausdruck „der Zauber der Wende“?
Der Columbo vom Prenzlauer Berg
Um neun Uhr morgens klingelte jemand an der Tür. Ich sprang aus dem
Bett, zog meine rote Lieblingsunterhose an und machte auf. Es war wieder die
Polizei. Ein älterer Herr in grüner Uniform mit einer großen Pistole im Halfter
und etwas schrägem Blick. Inzwischen kannte ich ihn bereits, den Columbo vom
Prenzlauer Berg. »Verstehen Sie Deutsch?«, fragte er mich wie immer. »Aber
sicher, Inspektor, kommen Sie doch rein« Ich übernahm sofort unbewusst den
Mörderpart. »Ich hoffe, ich störe nicht«, murmelte Columbo, als er meine halb
angezogene Familie in der Küche sitzen sah. Meine dreijährige Tochter schlug
ihm sofort vor, Hühnchen und Hahn mit ihr zu spielen. »Nein, Schatz, der Onkel
ist nicht zum Spielen gekommen«
Die Sache war nämlich die: Vor gut drei Monaten war nachts in unserem
Hof eine Schusswaffe abgefeuert worden. Die Kugel hatte ein Loch im Fenster
einer leer stehenden Wohnung im dritten Stock verursacht. Meine Frau und ich
saßen zu der Zeit vor dem Fernseher und sahen uns »Missing in Action« auf Pro
Sieben an. Auf dem Bildschirm verbreitete Chuck Norris, der wegen seiner in
Südostasien verschollenen Familie stinksauer war, wieder einmal Tod und
Schrecken unter den Vietnamesen. Unser Haus in der Schönhauser Allee ist zur
Hälfte von Vietnamesen und zur Hälfte von Latinos bewohnt. Es ist ziemlich
laut bei uns im Haus und draußen sowieso. Im Fernsehen brachte Chuck Norris
gerade die Vietnamesen im Dutzend zur Strecke, die sich das jedoch nicht ohne
weiteres gefallen ließen und zurück ballerten. Über uns tobten die Latinos.
Draußen fuhren glückliche Zugführer die letzten U-Bahnen ins Depot.
Irgendwann knallte es auf dem Hof. Es fiel nicht besonders auf.
Columbo nimmt das wahrscheinlich alles viel zu ernst. Er ist seither jede
Woche bei uns auf dem Hof zu sehen. Er läuft hin und her, misst die
Entfernungen aus und stochert im Laub. Manchmal bleibt er in einer Ecke
stehen und schaut nachdenklich in den Himmel. Immer wieder besucht er auch
jemanden im Haus. Von Tag zu Tag weiß er mehr über uns, nun ist ihm sogar
die Farbe meiner Unterhosen kein Geheimnis mehr. »Vielleicht war es ein
Luftgewehr?«, versuche ich zaghaft seinen Fall herunter zu spielen. »Dann muss
es aber ein verdammt großes Luftgewehr gewesen sein!«, erwidert er und kneift
beleidigt ein Auge zusammen.
86
Man sieht ihm an, dass er dem Täter bereits dicht auf der Spur ist. »Haben
Sie irgendetwas Merkwürdiges bemerkt in der letzten Zeit?«, fragt er uns. Schon
mit dieser einfachen Frage schafft er es, mich in Verlegenheit zu stürzen. Wie
soll ich ihm erklären, dass in unserem Haus fast alle Mieter wie verdammte
Amokläufer aussehen? Nein, davon erzähle ich Columbo nichts. Ich schweige
lieber. Und tue so, als würde ich über »Merkwürdiges« nachdenken: »Nein,
eigentlich habe ich nichts bemerkt« Der Inspektor verabschiedet sich: »Hier,
meine Karte«. An der Tür bleibt er noch einmal stehen. »Ach, übrigens das habe
ich ganz vergessen: Gehört der Kinderwagen unten auf dem Hof Ihnen?« »Nein,
der gehört uns nicht« Das habe ich ihm schon einmal gesagt, aus Versehen, und
jetzt muss ich eisern bei dieser Version bleiben. Als er weg ist, bitte ich meine
Frau, sich für den Fall seiner Rückkehr zu merken, dass unser Kinderwagen auf
dem Hof nicht uns gehört. Kurz darauf beginnt es draußen zu schneien. Ich
schaue aus dem Fenster. Columbo ist schon wieder auf dem Hof - und freut sich.
Er freut sich! Ich kann den Grund seiner Freude nachvollziehen, bald ist es
Winter und überall wird Schnee liegen, in dem die Verbrecher ihre Spuren
hinterlassen. Nun wird er uns alle, früher oder später, erwischen.
Texterläuterungen
den Mörderpart übernehmen – играть роль убийцы
Schusswaffe abfeuern – произвести выстрел из стрелкового оружия
Pro Sieben – ein deutscher TV-Sender
stinksauer sein – быть крайне недовольным
verschollene Familie – пропавшая семья
j-n zur Strecke bringen – уничтожать кого-либо
…,die sich das jedoch nicht ohne weiteres gefallen ließen und zurück
ballerten – …, которые однако совершенно не собирались с этим мириться
и отстреливались
j-m dicht auf der Spur sein – напасть на чей-либо след
der Amokläufer – одержимый, буйный
Aufgaben zur Interpretation
1. Wie verstehen Sie den Titel „Columbo vom Prenzlauer Berg“? Um
welche Allusion geht es hier?
2. Wie findet der Erzähler das Verhalten des Polizeiinspektors? Aus
welchem Kontrast entsteht hier die Ironie?
3. Was kann man aus dem Text über die Arbeit der Berliner Polizei
erfahren?
Zur Diskussion
Sprechen Sie zum Thema „Deutschland aus der Perspektive des
Einwanderers“. Belegen Sie Ihre Thesen mit den Beispielen aus den Texten.
87
88
Texte für die selbstständige Arbeit
P. Süskind: aus dem „Parfum“
In der Märzsonne auf einem Stapel Buchenscheite sitzend, die in der
Wärme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort «Holz» aussprach. Er
hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal gehört.
Er verstand es auch, war er doch im Winter oft hinausgeschickt worden, um
Holz zu holen. Aber der Gegenstand Holz war ihm nie interessant genug
vorgekommen, als dass er sich die Mühe gegeben hätte, seinen Namen
auszusprechen. Das geschah erst an jenem Märztag, als er auf dem Stapel saß.
Der Stapel war wie eine Bank an der Südseite des Schuppens von Madame
Gaillard unter einem überhängenden Dach aufgeschichtet. Brenzlig süß rochen
die obersten Scheite, moosig duftete es aus der Tiefe des Stapels herauf, und von
der Fichtenwand des Schuppens fiel in der Wärme bröseliger Harzduft ab.
Grenouille saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Stapel, den Rücken gegen die
Schuppenwand gelehnt, er hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Er
sah nichts, er hörte und spürte nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um
ihn herum aufstieg und sich unter dem Dach wie unter einer Haube fing. Er
trank diesen Duft, er ertrank darin, imprägnierte sich damit bis in die letzte
innerste Pore, wurde selbst Holz, wie eine hölzerne Puppe, wie ein Pinocchio
lag er auf dem Holzstoß, wie tot, bis er, nach langer Zeit, vielleicht nach einer
halben Stunde erst, das Wort «Holz» hervorwürgte. Als sei er angefüllt mit Holz
bis über beide Ohren, als stände ihm das Holz schon bis zum Hals, als habe er
den Bauch, den Schlund, die Nase übervoll von Holz, so kotzte er das Wort
heraus. Und das brachte ihn zu sich, kurz bevor die überwältigende Gegenwart
des Holzes selbst, sein Duft, ihn zu ersticken drohte. Er rutschte von dem Stapel
herunter und wankte wie auf hölzernen Beinen davon. Noch Tage später war er
von dem intensiven Geruchserlebnis ganz benommen und murmelte, wenn die
Erinnerung daran zu kräftig in ihm aufstieg, beschwörend «Holz, Holz» vor sich
hin.
So lernte er sprechen. Mit Wörtern, die keinen riechenden Gegenstand
bezeichneten, mit abstrakten Begriffen also, vor allem ethischer und moralischer
Natur, hatte er die größten Schwierigkeiten. Er konnte sie nicht behalten,
verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern und oft falsch:
Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut, Dankbarkeit usw. – was
damit ausgedrückt sein sollte, war und blieb ihm schleierhaft.
Andrerseits hätte die gängige Sprache schon bald nicht mehr ausgereicht,
all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe in sich
versammelt hatte. Bald roch er nicht mehr bloß Holz, sondern Holzsorten,
Ahornholz, Eichenholz, Kiefernholz, Ulmenholz, Birnbaumholz, altes, junges,
morsches, modriges, moosiges Holz, ja sogar einzelne Holzscheite, Holzsplitter
und Holzbrösel – und roch sie als so deutlich unterschiedene Gegenstände, wie
89
andre Leute sie nicht mit Augen hätten unterscheiden können. Ähnlich erging es
ihm mit anderen Dingen. Dass jenes weiße Getränk, welches Madame Gaillard
allmorgendlich ihren Zöglingen gab, durchweg als Milch bezeichnet wurde, wo
es doch nach Grenouilles Empfinden jeden Morgen durchaus anders roch und
schmeckte, je nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was
diese Kuh gefressen hatte und so fort... dass Rauch, dass ein von hundert
Einzeldüften schillerndes, minuten-, ja sekundenweise sich wandelndes und zu
neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde wie der Rauch des Feuers nur eben
jenen einen Namen «Rauch» besaß... dass Erde, Landschaft, Luft, die von
Schritt zu Schritt und von Atemzug zu Atemzug von anderem Geruch erfüllt und
damit von andrer Identität beseelt waren, dennoch nur mit jenen drei plumpen
Wörtern bezeichnet sein sollten – all diese grotesken Missverhältnisse zwischen
dem Reichtum der geruchlich wahrgenommenen Welt und der Armut der
Sprache, ließen den Knaben Grenouille am Sinn der Sprache überhaupt
zweifeln.
Mit sechs Jahren hatte er seine Umgebung olfaktorisch vollständig erfasst.
Es gab im Hause der Madame Gaillard keinen Gegenstand, in der nördlichen
Rue de Charonné keinen Ort, keinen Menschen, keinen Stein, Baum, Strauch
oder Lattenzaun, keinen noch so kleinen Flecken, den er nicht geruchlich
kannte, wiedererkannte und fest im Gedächtnis verwahrte. Zehntausend,
hunderttausend spezifische Eigengerüche hatte er gesammelt und hielt sie zu
seiner Verfügung, so deutlich, so beliebig, dass er sich nicht nur ihrer erinnerte,
wenn er sie wieder roch, sondern dass er sie tatsächlich roch, wenn er sich ihrer
wieder erinnerte; ja, mehr noch, dass er sie sogar in seiner bloßen Phantasie
untereinander neu zu kombinieren verstand und dergestalt in sich Gerüche
schuf, die es in der wirklichen Welt gar nicht gab. Es war, als besäße er ein
riesiges selbsterlerntes Vokabular von Gerüchen, das ihn befähigte, eine schier
beliebig große Menge neuer Geruchssätze zu bilden und dies in einem Alter, da
andere Kinder die ersten, zur Beschreibung der Welt höchst unzulänglichen
konventionellen Sätze stammelten. Am ehesten war seine Begabung vielleicht
der eines musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das den Melodien und
Harmonien das Alphabet der einzelnen Töne abgelauscht hatte und nun selbst
vollkommen neue Melodien und Harmonien komponierte – mit dem
Unterschied freilich, dass das Alphabet der Gerüche ungleich größer und
differenzierter war als das der Töne, und mit dem Unterschied ferner, dass sich
die schöpferische Tätigkeit des Wunderkinds Grenouille allein in seinem Innern
abspielte und von niemandem wahrgenommen werden konnte als nur von ihm
selbst.
Texterläuterungen
90
…war ihm nie interessant genug vorgekommen, als dass er sich die Mühe
gegeben hätte,… – … никогда не было для него настолько интересным,
чтобы он приложил усилия …
um ihn herum – вокруг него
imprägnierte sich – пропитываться
das Wort «Holz» hervorwürgte – выдавил из себя слово «дерево»
…аls sei er angefüllt mit Holz bis über beide Ohren, als stände ihm das
Holz schon bis zum Hals, als habe er den Bauch, den Schlund, die Nase übervoll
von Holz – как будто он был наполнен деревом до кончиков ушей, как
будто дерево стояло ему поперек горла как будто его живот, глотка, нос
были переполнены деревом…
оlfaktorisch – обонятельный, с помощью обоняния
…als besäße er ein riesiges selbsterlerntes Vokabular von Gerüchen –
как будто у него был гигантский, самостоятельно выученный словарь
запахов
Aufgaben zur Interpretation
1.
Machen Sie eine kurze Inhaltsangabe des gelesenen Auszugs.
2.
Analysieren Sie die formalen Merkmale (Ort, Zeitstruktur,
Erzählperspektive). Um die Analyse zu erleichtern, markieren Sie im Text
beim Lesen alle Orts- und Zeitangaben.
3.
Untersuchen Sie die literarischen Gestaltungsmittel. Legen Sie
den Schwerpunkt Ihrer Interpretation auf die verbale Umsetzung der
Gerüche in Sprache. Wie beschreibt Süskind die Gerüche? Notieren Sie alle
Adjektive und Partizipien, die die Geruchswelt wiedergeben. Wie erlebt
Grenouille die Gerüche, die ihn umgeben?
Christoph Hein: Unverhofftes Wiedersehen
Am Freitag, dem 2. Dezember 1960, klingelte es um neun Uhr abends bei
der Witwe Kürmann im Sandschurrepfad in Berlin-Köpenick. Die alte Dame
erkundigte sich bei geschlossener Tür nach dem Namen des nächtlichen
Besuchers, bevor sie die drei Schlösser entriegelte und die Sicherheitskette
abnahm. Vor der Tür standen Thomas Nomann und sein Vater. Als Frau
Kürmann die beiden erkannte, nickte sie ihnen zu und sagte: Der Michel ist in
seinem Zimmer. Gehen Sie nur rein. Sie ließ die beiden Männer in ihre
Wohnung ein, verschloss danach sorgsam alle drei Türschlösser und legte
wieder die Kette vor.
Thomas Nomann lief den breiten Flur entlang und klopfte dann an einer
der dunkelbraunen Türen an. Er öffnete sie und trat mit seinem Vater in das
Zimmer.
91
Michael Kapell saß an seinem Schreibtisch. Als er den Freund eintreten
sah, atmete er erleichtert auf und erhob sich. Hatten Sie Besuch erwartet? fragte
der Vater von Thomas. Michael Kapell lächelte verlegen und nickte. Aber uns
haben Sie nicht erwartet?
Der junge Mann kicherte nervös und blieb ihm die Antwort schuldig.
Ich glaube, Sie sollten sich mit Thomas unterhalten. Ich warte so lange
draußen auf dem Flur.
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, ging der ältere Nomann hinaus und
ließ die beiden jungen Leute allein. Michael Kapell und Thomas Nomann waren
Studenten der Humboldt-Universität. Sie studierten im vierten Semester
Pädagogik, Englisch und Deutsch und beabsichtigten beide, nach dem Studium
als Lehrer zu arbeiten.
An jenem Freitag war ihre Seminargruppe am Nachmittag zu einer
außerordentlichen Versammlung des Jugendverbandes zusammengerufen
worden. Ihr Betreuer, Dr. Edwin Schulze, Dozent für politische Ökonomie,
hatte eine Stunde lang über den sich verschärfenden Klassenkampf gesprochen,
über die Notwendigkeit, die wenige Jahre zuvor gegründete Nationale
Volksarmee zu stärken und die junge Republik notfalls auch mit der Waffe in
der Hand zu verteidigen. Zum Ende seines Vortrags erkundete er die
Bereitschaft der männlichen Studenten, nach dem Abschluss des Studiums für
zwei Jahre in den bewaffneten Organen des Staates zu dienen. Als Soldaten der
Friedensarmee könnten sie nicht nur den gefährdeten Staat schützen, der, an der
Grenze der beiden Weltsysteme liegend, ständig bedroht sei, sondern auch der
Arbeiterklasse gegenüber ihrem Dank für das kostenlose Studium Ausdruck
geben. Dr. Edwin Schulze verteilte anschließend hektographierte Blätter, auf
denen die Unterzeichner sich zu einem zweijährigen Dienst in der FreiwilligenArmee - eine allgemeine Wehrpflicht wurde erst nach dem Bau der Berliner
Mauer eingeführt - bereit erklärten und die von den Studenten nur noch zu
unterschreiben waren.
Fast alle Studenten hatten schweigend den Auslassungen von Dr. Schulzc
zugehört und unterschrieben bereitwillig das vorgehaltene Papier, teils weil sie
von der Notwendigkeit des militärischen Schutzes und des eigenen
Engagements im Heer überzeugt waren, teils weil sie befürchteten, durch
Widerspruch und ein Verweigern der Unterschrift ihr Studium zu gefährden und
darauf hofften, nach dem Erhalt des Diploms der misslichen Verpflichtung entgehen zu können.
Nur zwei der Studenten wagten es, sich dem Dozenten zu widersetzen
und ihre Unterschrift zu verweigern. Michael Kapell und Thomas Nomann
gaben zu bedenken, dass sie nach ihrem Studium als Soldaten - so wichtig der
bewaffnete Schutz zweifellos sei - überqualifiziert wären und der Republik
besser in ihrem diplomierten Beruf dienen könnten.
92
Dr. Schulze ließ jeden der beiden Studenten aussprechen. Dann hob er
seine rechte Hand. In seinen Augen leuchtete das Feuer des Glaubens, und
sekundenlang wies er schweigend auf die beiden Studenten, die ihm
widersprochen hatten. Im Seminarraum war es so still geworden, dass man das
leise Knacken der Heizungsrohre vernahm.
Seht sie euch an, sagte Dr. Schulze schließlich. Er sprach sehr leise,
wurde aber mit jedem Satz lauter und lauter. Seht euch eure Jugendfreunde
Nomann und Kapell an. Sie wollen nicht das Ehrentuch unserer Nationalen
Volksarmee tragen. Seht sie euch an. Seht sie euch sehr genau an. Sie tragen
bereits eine Uniform. Sie tragen die Uniform des Klassengegners.
DR. Schulze hielt den ausgestreckten Arm noch für einen Moment in der
Luft, bedrohlich auf die beiden Studenten gerichtet. Dann ließ er ihn endlich
sinken und ging durch die Bankreihen, um die unterschriebenen
Verpflichtungserklärungen einzusammeln. Keiner der Studenten sagte ein Wort
oder rührte sich. Vor Michael Kapell und Thomas Nomann blieb Dr. Schulze
stehen. Seine Augen strahlten nach wie vor und er wirkte noch immer wie
beseelt. Endlich schüttelte er bedeutungsschwer den Kopf, ging an sein Pult
zurück, steckte die Papiere in seine Aktentasche, verabschiedete sich mit einer
kurzen Geste und stolzierte aus dem Raum. Es vergingen einige Sekunden,
bevor die Studenten sich zögernd erhoben und gleichfalls das Zimmer verließen.
Sie schwiegen und alle vermieden, ihre Kommilitonen Kapell und Nomann
anzusehen. Gehst du morgen früh in die Vorlesung? fragte Thomas leise, nachdem sein Vater das Zimmer verlassen hatte. Michael zuckte mit den Schultern
und blickte seinen Freund hilflos an.
Ich weiß nicht, sagte er schließlich, ich weiß es einfach nicht. Ich habe so
ein ungutes Gefühl im Magen. Was willst du denn machen?
Ich gehe, sagte Thomas, ich gehe noch diese Nacht. Sein Freund überlegte
sehr lange.
Wahrscheinlich hast du Recht. Vielleicht werden wir gleich im Hörsaal
verhaftet.
Kommst du mit? fragte Thomas.
Sofort?
Ja, natürlich. Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir noch haben. Michael sah
auf seine Hände und dachte nach. Schließlich nickte er zustimmend.
Dann pack schnell deinen Koffer. Wir fahren mit der S-Bahn.
Unser Gepäck bringt mein Vater rüber. Er hat da eine todsichere
Möglichkeit.
Aber ich müsste noch ...
Nein, unterbrach ihn Thomas, heute keine Verabredung mehr, kein
Telefonat, nichts. Das kannst du alles später erledigen, von drüben aus.
93
Er blieb im Raum stehen und sah zu, wie sein Freund einen Koffer mit
Dokumenten, Büchern und Kleidungsstücken packte. Sag deiner Wirtin, dass du
verreist. Und sie soll besser keinem von unserem Besuch erzählen. Das ist
wichtig, wegen meines Vaters, sagte Thomas.
Als sie das Zimmer mit dem gepackten Koffer verließen, lächelte der
ältere Nomann beruhigt. Michael Kapell stellte den Koffer ab und ging zu dem
Zimmer der Wirtin. Er gab ihr die Miete für den Monat Dezember,
verabschiedete sich von ihr und sagte, dass er sich bald wieder melden würde.
Leben Sie wohl, sagte Frau Kürmann und schüttelte mehrmals vergnügt
seine Hand, und seien Sie unbesorgt. Ich sehe nichts mehr, ich höre nichts
mehr, ich bin schon zu alt.
Der Vater von Thomas brachte die beiden Studenten mit seinem Auto,
einem Vorkriegs-Opel, zu einer Station der S-Bahn. Sie stiegen in einen Zug,
der aus dem Ostteil der Stadt in einen der Berliner Vororte fuhr und dabei die
westlichen Sektoren kreuzte. Herr Nomann hatte ihnen eine Flasche Wein in die
Hand gedrückt, die sie während der Fahrt trinken sollten, um dadurch für die
kontrollierenden Grenzbeamten unverdächtig zu wirken. Er begleitete sie nicht
auf den Bahnsteig, sondern fuhr sofort mit seinem Wagen weiter, da er die
Koffer noch in der gleichen Nacht über einen Mittelsmann expedieren wollte.
Die beiden meldeten sich zwei Stunden später in einem Westberliner
Notaufnahmelager. Als Michael Kapell die Möglichkeit angeboten bekam, bei
Verwandten in Köln zu wohnen, trennten sich die Freunde.
Bereits im Januar konnte Kapell an der Universität dieser Stadt sein
unterbrochenes Studium fortsetzen. Nach Referendariat und Staatsexamen
begann er als Lehrer für Deutsch und Englisch in der Nähe seines zweiten
Studienortes, an einer Schule in Troisdorf, zu arbeiten. Drei Jahre später kaufte
er ein kleines Reihenhaus in der Nähe des Schulgebäudes, da er sich
entschieden hatte, an dieser Schule zu bleiben. Zu diesem Entschluss trug auch
bei, dass er in einem Kölner Museum ein Mädchen kennen gelernt hatte, das er
heiraten wollte.
In seinen wenigen Mußestunden schrieb er Manuskripte zur englischen
Geschichte für den Schulfunk des Senders Köln. Der zuständige Redakteur
schätzte seine Arbeiten und forderte ihn wiederholt auf, häufiger für den Sender
zu arbeiten, was Michael Kapell ablehnen musste, denn sein Lehramt ließ ihm
wenig freie Zeit. Der Redakteur des Schulfunks wurde Ende 1979 pensioniert,
und der Sender hatte sich ein halbes Jahr zuvor um eine Neubesetzung dieser
Position bemüht. Auch Kapell, vom ausscheidenden Schulfunkleiter
ausdrücklich ermutigt, bewarb sich um diese Stelle, denn ihm schien, dass sich
in dieser Position Beruf und Neigung vortrefflich vereinbaren ließen. Im Sender
gab man ihm zu verstehen, dass seine Bewerbung besonders aussichtsreich sei
und so machte er sich am Morgen des 3. April auf den Weg zum Kölner Sender,
94
um sich mit den anderen Bewerbern der kleinen Findungskommission zu
stellen.
Es waren insgesamt fünf Personen, zwei Frauen und drei Männer, die an
diesem Tag im Vorzimmer saßen und darauf warteten, vor die Kommission
gerufen zu werden. Als die Sekretärin den ersten Bewerber ins Zimmer bat,
konnte Kapell einen Blick hineinwerfen. Er nahm dort einen Mann wahr, der
ihm bekannt vorkam, und er grübelte lange darüber nach, wo er diesen Mann
schon einmal gesehen hatte. Dann stand er auf, ging ins Sekretariat und fragte
eine der dort sitzenden Frauen, ob es möglich wäre, dass einer der Herren im
Sitzungszimmer Edwin Schulze hieße. Die Sekretärin bejahte seine Frage.
Michael Kapell erkundigte sich nochmals, ob dieser Herr Dr. Erwin Schulze sei
und von drüben komme, aus dem anderen Teil Deutschlands. Die Sekretärin
bestätigte dies und fügte hinzu, dass Dr. Schulze vor zwei Jahren über die
Grenze gekommen sei. Damals hätten ihr Sender und mehrere Zeitungen über
die Flucht dieses bekannten Politikwissenschaftlers und mutigen
Regimekritikers berichtet. Seitdem würde er für den Kölner Sender arbeiten.
Kapell bedankte sich für die Auskunft und setzte sich wieder in den Vorraum.
Als er endlich aufgerufen und ins Zimmer gebeten wurde, kam Dr. Edwin
Schulze auf ihn zu, gab ihm die Hand und sagte zu ihm: Wir müssen uns
unbedingt sehen, Herr Kapell. Sehr bald. Ich muss wissen, wie Sie das da
drüben so früh durchschauen konnten. Daraufhin setzte er sich zu den anderen
Kommissionsmitgliedern und Kapell wurde aufgefordert, seine Vorstellungen
zu der künftigen Arbeit der Schulfunkredaktion zu äußern.
Vier Wochen später bekam er den schriftlichen Bescheid, dass man zum
größten Bedauern des Senders seine Bewerbung nicht berücksichtigen konnte,
aber unverändert Wert auf eine weitere und gute Zusammenarbeit lege. Eine
Woche danach erhielt er ein Manuskript zurück, da es laut beiliegendem
Vordruck nicht sendefähig sei.
Nachdem ein zweites und drittes Manuskript mit gleichen Begleitschreiben abgelehnt wurden, schickte Kapell die Texte an einen norddeutschen
Sender, der sie ihm dankend abnahm und umgehend sendete.
Kapell blieb in Troisdorf wohnen. Er war unterdessen verheiratet und
hatte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, für die er den Dachboden
seines Hauses ausbauen ließ, er unterrichtete weiterhin Deutsch und Englisch an
der nahe gelegenen Schule und schrieb in seiner Freizeit unermüdlich
Manuskripte zur englischen Geschichte für den Schulfunk. Die Zusammenarbeit
mit dem Kölner Sender stellte er ohne jede Verbitterung ein, zumal seine Arbeiten mittlerweile von jenem norddeutschen Sender hoch gelobt und gern
produziert wurden.
Seinen früheren Dozenten und Seminargruppenbetreuer Dr. Erwin
Schulze sah und sprach Michael Kapell nie wieder.
95
Texterläuterungen
Berlin-Köpenick – ein Wohnbezirk Berlins
… und blieb ihm die Antwort schuldig – … и ничего не ответил
аußerordentliche Versammlung des Jugendverbandes – внеочередное
собрание союза молодежи
der Betreuer – куратор
der sich verschärfende Klassenkampf – обостряющаяся классовая
борьба
die Nationale Volksarmee – Национальная Народная Армия (в ГДР)
die Bereitschaft erkunden – выяснить готовность (здесь: служить в
армии)
die bewaffneten Organe des Staates – вооруженные силы государства
an der Grenze der beiden Weltsysteme liegen – находиться на границе
двух систем (социалистической и капиталистической)
sich zu einem zweijährigen Dienst bereit erklären – согласиться на
двухлетнюю службу в армии
allgemeine Wehrpflicht – всеобщая воинская обязанность
das Engagement – активное участие (здесь: в военной службе)
der misslichen Verpflichtung entgehen – избежать сомнительных
обязательств
zu bedenken geben – обращать внимание
… so wichtig der bewaffnete Schutz zweifellos sei, - …какой бы важной
ни была вооруженная служба, …
überqualifiziert werden – иметь слишком высокую квалификацию
die Uniform des Klassengegners – мундир классового противника
stolzieren – гордо вышагивать
der Mittelsmann – посредник
das Notaufnahmelager – лагерь приема беженцев
das Referendariat – стажировка перед занятием должности учителя
die Neubesetzung – новая кандидатура
… vom ausscheidenden Schulfunkleiter ausdrücklich ermutigt, - прямо
поддержанный уходящим руководителем радио
die Findungskommission – отборочная комиссия
von drüben kommen – приехать из ГДР
… wie Sie das da drüben so früh durchschauen konnten – … как вы там
(в ГДР)так рано смогли все понять
zum größten Bedauern – к величайшему сожалению
laut beiliegendem Vordruck – согласно прилагаемому формуляру
96
Aufgaben zur Interpretation
1.
Machen Sie eine kurze Inhaltsangabe der Kurzgeschichte. In
welche zwei Teile lässt sich diese Kurzgeschichte gliedern? Beachten Sie
diese Gliederung bei der Inhaltsangabe.
2.
Analysieren Sie die formalen Merkmale der Erzählung (Ort,
Zeitstruktur, Erzählperspektive). Um die Analyse zu erleichtern, markieren
Sie im Text beim zweiten Lesen alle Orts- und Zeitangaben.
3.
Untersuchen Sie die literarischen Gestaltungsmittel.
Merken Sie sich! Nicht alle literarischen Gestaltungsmittel haben den gleichen
Stellenwert. Die Kurzgeschichten mit ihrer sachlichen Sprache sind arm an
stilistischen Sprachmitteln. Der Figurencharakteristik kommt dagegen eine
größere Rolle zu. Welche Figuren handeln im Text? Was können Sie von ihnen
sagen? Die Personen werden hier nicht direkt charakterisiert, sondern durch ihr
Tun und Handeln. Untersuchen Sie die Figurensprache. Sie kann auch sehr
informativ sein (vergleichen Sie z. B., was Dr. Schulze in Ost-Berlin und, viele
Jahre später, in Köln sagt). Seien Sie aufmerksam: In der Kurzgeschichte bleibt
vieles verschwiegen. Um die Motive der Figuren zu verstehen, müssen Sie
„zwischen den Zeilen“ lesen können.
4.
Welche Gattungsmerkmale der Kurzgeschichte sehen Sie in
diesem Text?
5.
Was haben Sie über das Leben in Ost-Berlin aus diesem Text
erfahren? Finden Sie im Text alle Begriffe, die den sozialen Kontext dieser
Zeit charakterisieren.
Claudia Rusch: Die Jugendweihe
Die Jugendweihe war das abschließende und am heißesten erwartete
Ereignis einer DDR-Kindheit. Sie bedeutete die feierliche Aufnahme der
Vierzehnjährigen in den Kreis der Erwachsenen. Zeitgleich bekam man seinen
Personalausweis, traf in die FDJ ein und wurde von den Lehrern im Unterricht
gesiezt. Ein bedeutender Moment also.
Da die Deutschen wissen, wie man Feste feiert, wurden die jungen Leute
hierfür in Sonntagskleider gesteckt, bekamen teure Geschenke und durften sich
später unter der Aufsicht von Mutti und Vati zum ersten mal richtig betrinken.
Bis zur bitteren Neige: Jugendweihegeschichten endeten meistens auf dem Klo.
In dieser Hinsicht hatten es Ostkinder auch nicht leichter als andere: Das Ganze
war eine Kreuzung aus Konfirmation und Debütantinnenball.
Ich hatte Anfang April 1986 Jugendweihe. Symbolischerweise war es
ausgerechnet der Tag, an dem die Zeit umstellt wurde. Das hatte bei unserer
97
Klassenlehrerin ein bisschen Panik ausgelöst. Aber am Ende waren wir alle
pünktlich.
Der Festakt mit Reden, Kulturprogramm und sozialistischem
Glaubensbekenntnis fand in einem Saal des Museums für Deutsche Geschichte
statt, das jetzt Deutsches Historisches Museum heißt. Bevor es losging, standen
die meisten Eltern noch draußen am Kanalgeländer in der Frühlingssohne, sahen
auf den Palast der Republik und rauchten. Wir standen abseits, hinter ein paar
Büschen versteckt und rauchten auch. Alle waren aufgeregt.
Bei mir ging es eigentlich. Obwohl ich sogar eine Rede halten musste,
war ich insgesamt ein wenig leidenschaftslos, was diese ganze Weihe betraf.
Theoretisch hätte ich mich auch konfirmieren lassen können, doch es wäre mir
noch falscher vorgekommen, als auf den Staat zu schwören. Denn ich war zwar
zutiefst atheistisch erzogen worden, aber, ehrlich gesagt, belog ich doch lieber
Honecker als Gott. Man weiß ja nie.
Andererseits war religiöse Verbundenheit, echte oder vorgeschobene, die
einzige Ausrede, sich vor dem Staatsschwur zu drücken. Manche nahmen an
beidem teil, vor allem auf Dörfern war das üblich, aber ich habe nie jemanden
getroffen, der keines von beiden gemacht hatte. Also entschied ich mich für die
Jugendweihe. Denn natürlich wollte ich auch ein Initiationsritual. Ich wollte
auch erwachsen werden. Und ich wollte sein wie die anderen.
Doch wie immer, wenn ich versuche, nicht aufzufallen, ging es total in die
Hose. Genauer gesagt ins Kleid. Die entscheidende Frage der Jugendweihe
lautete nämlich „Was ziehst du an?“ Ich hätte das wohl häufiger ansprechen
sollen, vielleicht wäre mein farblicher Alleingang dann zu verhindern gewesen.
Denn alle aus der Klasse trugen Rot, Schwarz oder Weiß. Alle. Auch die Jungs.
Nur mein Kleid war leuchtend grün. Es war ein getragenes Cordkleid, das eine
Schulfreundin meiner Oma aus dem Westen geschickt hatte. Weil es mir passte
und noch ganz neu aussah, wurde beschlossen, dass ich es zur Jugendweihe
anziehen sollte. Es war feinrippig, schräg geknöpft und hatte einen kleinen
Stehkragen. Ich sah darin aus wie eine sitzen gebliebene Gouvernante.
Doch mein Kleid war harmlos gegen den Aufzug meines leiblichen
Vaters. Er schoss, modisch gesehen, ganz klar den Vogel ab. Ich weiß nicht, was
geritten hatte, vielleicht war es die Vorschrift, vielleicht wollte er nur meine
Mutter ärgern, vielleicht fühlte er sich einfach sicherer so; jedenfalls trat er allen
Ernstes zu meiner Jugendweihe in seiner weißen Parade-Uniform an. Ich dachte,
ich sehe nicht richtig. Und das mir. Mit 14 fing ich gerade vorsichtig an, meine
Situation als Außenseiterkind auch ein bisschen cool zu finden. Und dann, wie
aus dem nichts, kam mein leiblicher Vater und offenbarte allen, was ich in
Wirklichkeit war: eine Offizierstochter auf Abwegen.
Eigentlich sah mein Vater sogar ziemlich gut darin aus. Groß und
breitschultrig, mit dem kleinen Dolch an der Seite, den Marineoffiziere trugen,
98
und den goldenen Tressen. Die Uniform stand ihm. Aber dafür hatte ich an
diesem Tag keinen Sinn.
Ich freute mich, dass mein Vater sich Zeit genommen hatte, aber seine
Verkleidung war mir aufrichtig peinlich. Außerdem führte sie mir etwas vor
Augen, das für die anderen unsichtbar blieb. Nicht er war verkleidet, sondern
ich. Es sah nur so aus, als bekannte ich mich hier zu Staat und Sozialismus, in
Wirklichkeit war alles ganz anders. Seine Uniform war der gut sitzende Beweis
meines Meineids.
Aber vermutlich war ich die einzige im Saal, die den politischen Aspekt
der Jugendweihe so schwer nahm. Denn der Treueschwur mit seinem überholten
Pathos reihte sich ein in die alltägliche Schizophrenie im Osten. Das Gelöbnis
spielte keine Rolle – entscheidend waren das Fest und die Geschenke.
Während der Zeremonie saß ich zwischen meinen beiden Vätern. Uniform
links, Jeans rechts. Dem einen sah ich ähnlich, dem anderen war ich ähnlich.
Einer hatte mich gezeugt, einer hatte mich geformt. Der glattrasierte Krieger und
der langhaarige Verweigerer. Die ganze Bandbreite der DDR in diesen beiden
Männern. Meinen Vätern. Und ich grün in der Mitte. Es war mein Karma.
Als wir dann dran waren, erhob ich mich und tat das, was ich immer tat:
Ich ging los und stand es durch. In meinem bedeutungsvollen Westkleid stieg
ich auf die Bühne, schwor mit gekreuzten Fingern auf den Staat und wurde
erwachsen.
Texterläuterungen
die Jugendweihe – праздник совершеннолетия в ГДР
die FDJ – Freie Deutsche Jugend (ein staatlicher Jugendverband in der
DDR)
siezen – j-n mit „Sie“ anreden
die Konfirmation – церковный обряд в протестантизме,
символизирующий достижение молодыми людьми совершеннолетия (14 –
16 лет)
… doch es wäre mir noch falscher vorgekommen, als auf den Staat zu
schwören – … но мне это казалось еще более фальшивым, чем присягать
государству
E. Honecker – der Parteivorsitzende der SED, das Staatsoberhaupt der
DDR
… sich vor dem Staatsschwur zu drücken – … увильнуть от присяги
Er schoss, modisch gesehen, ganz klar den Vogel ab – с точки зрения
моды он превзошел всех
Ich weiss nicht, was geritten hatte – я не знаю, что на него нашло, …
auf Abwegen – на ложном пути
99
Es sah nur so aus, als bekannte ich mich hier zu Staat und Sozialismus . –
выглядело все так, как будто я признавала себя сторонницей государства и
социализма, …
Aufgaben zur Interpretation
1. Machen Sie eine kurze Inhaltsangabe der Kurzgeschichte.
2. Analysieren Sie die formalen Merkmale der Erzählung (Ort,
Zeitstruktur, Erzählperspektive).
3. Untersuchen Sie die literarischen Gestaltungsmittel. Legen Sie den
Schwerpunkt Ihrer Interpretation auf die Figurengestaltung: Was kann
man über die Ich-Erzählerin sagen? Wie sind ihre Familienverhältnisse?
Wie sieht sie ihre Umwelt?
4. Aus welcher Sicht behandelt der Text das Thema „Ostalgie“? Was
kann man aus dem Text über das Leben in der späten DDR erfahren?
5. Vergleichen Sie die Erzählung mit der Kurzgeschichte von
C.
Hein. Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt es bei der Schilderung
der DDR-Zustände in beiden Texten?
Lesen Sie zwei Gedichte. Was fällt Ihnen zum Begriff „Inventur“ ein?
Sammeln Sie Ihre Stichwörter und Assoziationen.
100
Günter Eich: Inventur (1945)
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Robert Gernhardt: Inventur 96 oder
ich zeig Eich mein Reich
Dies ist mein Schreibtisch,
dies ist mein Drehstuhl,
hier mein Computer,
darunter der Drucker.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Telefonanlage:
Mein Hörer, mein Sprecher.
After the beep
You can leave a message.
Geritzt hier mit diesem
Kostbaren Nagel,
den von begehrlichen
Augen ich berge.
Sie können die Nachricht
Natürlich auch faxen.
Ich ruf Sie so bald wie
Möglich zurück.
Im Brotbeutel sind
Ein Paar wollene Socken
Und einiges, was ich
Niemand verrate,
Im Hängeschrank sind
Die Korrespondenzen
Und einiges, was ich
Niemand verrate.
so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
Zwischen mir und der Erde.
Sonst kostet das Wissen
Noch mal meinen Kopf.
Der Kelim hier liegt
Zwischen mir und den Dielen.
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Das Kopiergerät dort
Ist mir am liebsten.
Tags kopiert es die Texte,
die nachts ich getippt.
Dies ist mein Notizbuch,
dies meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn
Dies ist mein Notizbuch,
dies sind meine Tagebücher,
dies ist meine Bibliothek,
dies ist mein Reich.
Aufgaben zur Interpretation
1.
Deuten Sie beide Gedichte. Stellen Sie in den Mittelpunkt Ihrer
Interpretation die genaue Erfassung der inhaltlichen und formalen
Struktur der Gedichte.
101
2.
Günter Eichs Gedicht „Inventur“ ist vielleicht das berühmteste
deutsche
Nachkriegsgedicht.
Sammeln
Sie
Informationen zur
Entstehungsgeschichte des Gedichts von G. Eich.
3.
Vergleichen Sie Gernhards „Inventur 96“ mit Eichs
„Inventur“. Analysieren Sie die Form und den Inhalt beider Gedichte und
stellen Sie inhaltliche und formale Übereinstimmungen zusammen.
4.
Diskutieren Sie, ob das Gedicht von Gernhardt eine Parodie auf
Eichs Gedicht ist und/oder eine Satire auf die häusliche Computerwelt
heute ist.
5.
Schreiben Sie ein „Inventur 20..“-Gedicht, das mit den Versen
beginnt: Dies ist mein Handy, / dies ist meine Fernbedienung…
Florian Illies: Generation Golf
Wer ein wenig enttäuscht über die Kürze der Fernsehspots ist, mit denen
VW seinen neuen Golf IV anpreist, und gerne wissen möchte, was der junge
Banker im strömenden Regen oder das beschwingte Paar im dunklen Wald
macht, muss nicht gleich verzagen. Ihre Fortsetzung finden diese Spots in den
Vorabendserien Gute Zeiten, schlechte Zeiten und Verbotene Liebe. Auch das
Personal der Serie Marienhof, zunächst eine Verkörperung der Generation Opel
Rekord, ist inzwischen beim entsprechenden Modell angelangt. Was Denver
und Dallas in unseren Hirnen zart vorbereiteten, was die Schwarzwaldklinik
dann forcierte, ist mit den Daily Soaps seit Mitte der neunziger Jahre zum
beherrschenden Fernseherlebnis unserer Generation geworden: Keine Szene
dauert länger als zwei Minuten, irgendwie hängt alles mit allem zusammen,
irgendwann ist jeder in jeden verliebt, und eigentlich ist es ja nicht so schlimm,
weil alles nur Fernsehen ist. Die Schauspieler sind Anfang Zwanzig und
kommen mit dem Minimalwortschatz aus. Man findet als Zuschauer dennoch
Freunde in der Serie, die zuverlässig sind, Tag für Tag, und die nach Belieben
elektronisch abrufbar bleiben. […] Denn auch diese Serien gaben gar nicht vor,
eine Welt außerhalb des Fernsehens zu simulieren, was sie wahrscheinlich so
authentisch macht. So sehr haben wir diese Haltung inzwischen verinnerlicht,
dass wir immer öfter das Gefühl haben, auch unser Leben sei nur eine RTLVorabendserie. Wir ziehen uns so an, reden so, und wenn es ganz hart wird,
hoffen wir auf die Werbeunterbrechung. Ganz irritiert stellen wir fest, dass man
so tatsächlich durchs Leben kommen kann, so lange zumindest, wie auch alle
anderen genau dasselbe denken. Wir wachen morgens nicht auf und denken:
Mist, Mathearbeit. Sondern: Leben, 1237. Folge, mal gucken, was kommt. Das
macht wahrscheinlich die merkwürdige Gelassenheit unserer Generation aus,
die die Älteren nie verstehen werden. Der Film Lola rennt von Tom Tykwer
bietet noch eine andere Erklärung an: Wenn Lola dreimal die Chance bekommt,
eine verfahrene Situation zu bereinigen, dann ist das vor allem eine Übertragung
102
des Prinzips der drei Leben aus den Computerspielen und Gameboys auf die
Wirklichkeit. Wenn es einmal nicht so läuft, hat man immer noch zwei Leben
frei.
So wie man sich im achtzehnten Jahrhundert für Verspätungen mit dem
Hinweis entschuldigen konnte, man habe noch schnell einen Roman zu Ende
lesen müssen, und sich über die Romanfiguren unterhielt wie über gute
Bekannte, so haben diese Funktion bei uns die täglichen Vorabendserien
übernommen.
Florian Illies: Generation Golf
„Weil ich es mir wert bin“
Der Kauf bestimmter Kleidungsgegenstände ist, wie früher die Lektüre
eines bestimmten Schriftstellers, eine Form der Weltanschauung geworden. In
dem, was ich kaufe, drückt sich aus, was ich denke, beziehungsweíse: In dem,
was ich kaufe, drückt sich aus, was die Leute denken sollen, was ich kaufe.
Deswegen ist es auch üblich, die schönen Joop-Tüten noch wochenlang zum
Transportieren von ausgeliehenen Büchern aus der Bibliothek oder beim Umzug
zu benutzen. Es ist wahnsinnig, aber wir glauben das wirklich: dass wir mit den
richtigen Marken unsere Klasse demonstrieren. Wichtig ist, schon beim
Einkaufen Coolness zu zeigen. Sehr dankbar waren wir über die Einführung der
Kreditkarte, die uns ermöglichte, jederzeit mehr zu kaufen, als wir eigentlich
bezahlen konnten. Dennoch zitierten wir im Geiste American Express, sagten:
„Bezahlen wir einfach mit unsrem guten Namen“, und meinten es tatsächlich ein
bisschen ernst. Auch sah ich viele junge Frauen in teuren Boutiquen ihre
Plastikkarte auf den Tresen knallen, weil sie wussten, wie gut es aussieht, wenn
die Frau in dem Werbespot die Visakarte aus ihrem schwarzen Badeanzug zieht,
auf den Tisch knallt, und dazu spielt die Musik „Die Freiheit nehme ich mir“.
„Die Freiheit nehme ich mir“ – das ist als Spruch für unsere Generation
mindestens genauso wichtig wie das „Weil ich es mir wert bin“, mit dem man
das Shampoo anpreist. Hauptsache, so sagen diese Sprüche, mir geht es gut.
Oder auch: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Und wenn es mir
schlecht geht, muss ich mir selbst helfen, schließlich bildet jeder, wie die
Brigitte schrieb, eine Ich-AG.
Texterläuterungen
anpreisen – Synonym: für etw. werben
die Fernsehspots – телевизионные рекламные ролики
„Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, „Verbotene Liebe“, „Marienhof“,
„Dallas“, „Denver“, „ Schwarzwaldklinik“ – deutsche und amerikanische
Fernsehserien
beim entsprechenden Modell anlangen – прийти к соответствующей
модели
103
Daily Soaps – ежедневные мыльные оперы
… kommen mit dem Minimalwortschatz aus – …обходятся
минимальным словарным запасом
eine verfahrene Situation zu bereinigen – исправить безнадежно
запутанную ситуацию
Coolness zu zeigen –
Brigitte – eine Frauenzeitschrift
Zur Diskussion
1. Welche Bedeutung kommt den Medien, vor allem dem Fernsehen
in der heutigen Gesellschaft zu?
2. Wie verstehen Sie die Wendungen „Generation Opel Rekord“ und
„Generation Golf“? Welche Generationen und warum bezeichnet so Illies?
3. Überlegen Sie, was es bedeutet, wenn Florian Illies sagt, „dass wir
immer öfter das Gefühl haben, auch unser Leben sei nur eine RTLVorabendserie".
4. In welcher Weise haben Fernsehen, Werbung und Mode die
„Generation Golf“ geprägt? Welche Verhaltensmuster liefert den
Jugendlichen die Werbung?
Wladimir Kaminer: aus „Russendisko“
Nüsse aus aller Welt und deutsche Pilze aus Sachsen
Berlin ist nicht gerade eine Stadt der Armen, doch auch hier gibt es immer
mehr benachteiligte Bevölkerungsschichten wie etwa die Studenten der
geisteswissenschaftlichen
Fächer,
allein
erziehende
Mütter
oder
drogenabhängige Straßenmusikanten. Erst mit einem abgeschlossenen Studium
hat man Anspruch auf Sozialhilfe. So reden beispielsweise Diplomtheologen
öfter mit der Fürsorge als mit Gott. Aber auch schon der Student, der DM 800,BAföG im Monat bekommt, wovon die Hälfte für seine Miete draufgeht, würde
unterhalb des Sozialhilfeniveaus vegetieren, wenn es nicht die Studentenjobs
gäbe. Doch was kriegt nun ein angehender Geisteswissenschaftler von der
studentischen Arbeitsvermittlung TUSMA - »Telefoniere und Studenten machen
alles« - angeboten? Mein Freund Sascha aus der Ukraine, der seit zwei Jahren an
der Humboldt-Universität Slawistik studiert, hatte die Wahl: Er konnte in einem
australischen Krokodil-Steakhaus Teller waschen, im Erotischen Museum von
Beate Uhse die Klos putzen oder als Fettabsauger in einer Schönheitsklinik
aushelfen. Sascha entschied sich, obwohl Vegetarier, für das KrokodilRestaurant und ekelte sich dort von früh bis spät. Zum Glück lernte er bald die
russische Rockband »Unter Wasser« kennen, die ein Kleintransportunternehmen
betrieb. Dort stieg er als Möbelpacker ein.
104
Die Beschäftigung in der Umzugsbranche stärkt die Muskeln eines
Mannes und erweitert seinen geistigen Horizont. Man begegnet jeden Tag neuen
Menschen, geht in fremden Wohnungen ein und aus und knüpft Kontakte.
Einmal half Sascha zwei Frauen bei ihrem Umzug. Sie besaßen am
Winterfeldplatz einen Verkaufsstand mit dem schönen Namen »Nüsse aus aller
Welt und deutsche Pilze aus Sachsen«. Beide Frauen, die zusammen ein Kind
großzogen, fanden Sascha sehr sympathisch und stellten ihn sofort als Verkäufer
ein. Nahtlos wechselte er von der Umzugsbranche in die Nussbranche.
Anfänglich war ihm das Geschäft etwas unheimlich. Die eine Frau, Melina, war
Griechin und für die Nüsse aus aller Welt zuständig, während die andere Frau,
Sabine aus Sachsen, die Pilze auftrieb. Sie wurden aus ihrer Heimat mit dem
Auto herangeschafft. Woher die Nüsse aus aller Welt kamen, war
Betriebsgeheimnis. Sie befanden sich in großen Säcken und mussten im Lager
aussortiert werden. Dafür hatten die beiden Frauen mehrere Mitglieder der
sibirischen Rockband »Papa Karlo« angestellt. Um die Nüsse erfolgreich
verkaufen zu können, musste Sascha die gesamte Nussgeographie auswendig
lernen. Die wissbegierigen Kunden am Winterfeldplatz wollen alles ganz genau
wissen. »Woher kommen diese Walnüsse?«, fragte einer. »Aus Frankreich«,
antwortete Sascha. »Und die Macadamian?« »Aus Kalifornien.« »Und die
Paranüsse?« »Ein Sonderangebot aus Pakistan.« »Und woher kommen Sie?«
»Ich komme aus der Südukraine«, sagte der ehrliche Sascha.»Aha!«, staunte der
Kunde und versuchte einen Zusammenhang zwischen der Ware und dem
Verkäufer herzustellen. Doch daran scheiterte seine Fantasie. Ein anderer fand
all das echt Multikulti und erwarb gleich ein ganzes Kilo Kürbiskerne.
Zuerst durfte Sascha nicht mehr als zwei Tage in der Woche am Stand
arbeiten, doch jetzt bekommen die Frauen ein zweites Kind, und während ihres
Mutterschaftsurlaubs kann er den Geschäftsführer spielen.
Eine ungewöhnliche Karriere für einen Slawisten in Berlin.
Texterläuterungen
BAföG – Bundesausbildungsförderungsgesetz; hier: das Geld, das die
Studenten nach diesem Gesetz bekommen
der Mutterschaftsurlaub – отпуск по уходу за ребенком
Wladimir Kaminer: aus „Die Reise nach Trulala“
Verdorben in Sibirien
Jede Kneipe übernimmt früher oder später alle Charakterzüge und
Eigenschaften ihres Besitzers. So geschah es auch bei dem Restaurant unseres
neuen Bekannten Thomas - es wurde ihm sehr ähnlich. Thomas war zusammen
mit seinem Freund, einem grünen Bundestagsabgeordneten, aus Stuttgart
gekommen. Die beiden Männer wollten ihre langjährige Beziehung nicht der
105
Karriere und dem Beruf opfern und waren deswegen zusammen nach Berlin
gezogen. Das Restaurant von Thomas lockte die Besucher mit einer gehobenen
multikulturellen Küche. Mindestens zwanzig Sorten Maultaschen standen auf
der Speisekarte: Maultaschen in Brühe, Maultaschen mit Großgarnelenfüllung,
scharfe Maultaschen auf mexikanische Art und China-Maultaschen, die an platt
geklopfte Frühlingsrollen erinnerten. Die Wände waren voller Fotos mit halb
angezogenen männlichen Models, die mit aufgesetztem Erstaunen im Gesicht
ihre eigene Muskulatur betrachteten, als hätten sie ihre Bi- und Trizeps gerade
eben entdeckt. Das Lokal von Thomas wirkte also wie eine als MaultaschenRestaurant getarnte Schwulenkneipe. Meine Frau und ich gingen aber immer
wieder gern hin, nicht weil wir auf Maultaschen standen, sondern weil Thomas
uns immer wieder tolle Geschichten erzählte. Eines Tages fragte er uns, ob wir »als Russen« - seinem Freund nicht ein bisschen Russisch beibringen könnten,
»damit er sich in Sibirien mit der Bevölkerung verständigen kann.« »Wieso will
dein Freund nach Sibirien, er sitzt doch im Bundestag?«, wunderten wir uns.
Sein Freund, erklärte Thomas, sei in erster Linie ein großer Fahrradfan. Jedes
Jahr unternehme er eine große Fahrradtour. Bis nach Marokko im Süden und
Stockholm im Norden sei er mit seinem Rad bereits vorgedrungen. Dadurch sei
er sehr bekannt geworden, und hunderte von Zeitungen auf der ganzen Welt
hätten lobende Aufsätze über diesen mutigen Deutschen verfasst. Das sei alles
ganz toll, aber Sibirien sei nicht Marokko und schon gar nicht Stockholm,
erwiderten wir. Sibirien habe einen schlechten Ruf. Millionen Menschen wären
im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts nach Sibirien verschleppt worden, und
nur wenige hätten es geschafft zurückzukommen. Ich bezweifelte außerdem
stark, dass es überhaupt technisch möglich wäre, mit dem Fahrrad nach Sibirien
zu fahren, es gab in Russland nämlich keine Radwege, die nach Sibirien führten.
»Verunsichert mich nicht, diese Reise ist schon längst beschlossene Sache«,
verteidigte Thomas seinen Freund. »Martin hat sie sich fest vorgenommen, in
mehreren Zeitungen hat er die Reise bereits angekündigt, also fährt er auch hin
wie geplant: in sechs Wochen nach Sibirien und dann zurück. Er braucht nur ein
wenig Russischunterricht.« Gut, sagten wir und verabredeten ein Treffen mit
Martin. Er war ein überaus freundlicher, etwas molliger Mann mit einem
sorgfaltig geformten Bärtchen und einer teuren Brille. Sein Fahrrad, das er
gleich mitgebracht hatte, machte auch keinen billigen Eindruck: Es war ein
spezialangefertigtes Mountainbike. Martin zeigte uns als Erstes seine Reiseroute
auf der Karte: über Polen nach Weißrussland sollte es gehen, dann durch das
ganze Land Richtung Uralgebirge bis nach Swetlogorsk und anschließend
zurück nach Deutschland. Die Autobahn wollte er meiden und stattdessen auf
Landstraßen von einem Dorf zum anderen fahren. Auf diese Weise käme er
besser mit der Bevölkerung in Kontakt. Dazu brauchte er jedoch mindestens
minimale Russischkenntnisse. Vom ersten Augenblick an war mir klar, dass
106
dieser Politiker einen Knall hatte. Ständig hatte er ein merkwürdiges Grinsen im
Gesicht. »Wie heißt auf Russisch: ›Gnädige Frau, darf ich bei Ihnen
übernachten?‹«, fragte er mich. Außerdem wollte er wissen, wie man bei uns
»Ich komme als Freund« und »Ich bin hungrig« sagt. Ich war mir ziemlich
sicher, dass seine Reise im ersten Dorf hinter der Grenze ein schreckliches Ende
finden würde, und malte mir aus, wie die Jugendlichen in ihren gottverlassenen
Dörfern auf diesen grinsenden Dicken und sein fünftausend Mark teures Fahrrad
reagieren würden. »Ich komme als Freund« und »Ich bin hungrig«: Natürlich
werden sie ihn umbringen, allein um der sozialen Gerechtigkeit willen. Ich
versuchte, Martin das zu erklären. Der Mann war jedoch nicht zu bremsen. Er
hatte eine eigene Vorstellung von dem, was richtig und was falsch war. Wir
mussten ihm helfen. Immerhin war Martin ein Freund von unserem Freund.
Also nahm ich die Sache ernst. »Du darfst niemals in Russland so etwas wie:
›Gnädige Frau, darf ich bei Ihnen übernachten?‹ sagen. Du musst dich knapp
und deutlich äußern. In einem Dorf suchst du nach einer armen alten Frau und
sagst zu ihr: ›Du, Hexe, willst du dir fünf Dollar verdienen?‹ Punkt.« »Nein«,
erwiderte Martin, er könne nur an das gute Herz der Leute appellieren, sie zu
bezahlen würde sie nur beschämen. Dem Kerl war nicht zu helfen. Ich wollte
ihm zumindest ein paar Schimpfworte beibringen, damit er nicht ganz
ahnungslos war, wenn die Dorfbewohner ihn ansprachen. So gut ich konnte
brachte ich ihm bei, wie »fette Schnecke« und »blöde Sau« auf Russisch klang.
Danach machten wir einen Probelauf auf der Schönhauser Allee: Ich stellte die
Dorfbevölkerung dar, und Martin fuhr mir auf seinem Fahrrad entgegen.
»Komm her, du schwabbeliges Fahrradwürstchen!«, rief ich laut auf Russisch.
Er verstand und schaltete in einen höheren Gang. Es war ein guter praktischer
Unterricht, und mir gelang es noch mehrmals, die Dorfbevölkerung glaubwürdig
und realistisch darzustellen - mehrere Fußgänger sprangen erschreckt zur Seite.
Martin fühlte sich jedoch ganz wohl. Ich sah für ihn keine Chance, lebend bis
Sibirien zu kommen. Meine Frau hielt den Mann dagegen für einen Helden und
seine Reise für ein »interessantes Projekt«. »Im schlimmsten Fall kann er ja
noch über Alaska nach Amerika flüchten«, meinte sie. Wie immer, wenn bei uns
in der Familie Meinungsverschiedenheiten aufkamen, schlossen wir eine Wette
ab. Ich behauptete, dass Martin Swetlogorsk nie erreichen würde. »Wir werden
sehen«, meinte dagegen meine Frau, »wer weiß, wozu ein
Bundestagsabgeordneter fähig ist.« Zwei Hundertmarkscheine landeten in einer
Vase auf unserem Regal. Martin fuhr gleich am nächsten Tag zurück in seinen
Heimatort Heidelberg. Von dort, von der alten Brücke aus, gingen seine
Weltreisen jedes Mal los. Wir besuchten Thomas weiterhin regelmäßig in
seinem Restaurant und fragten, ob er von Martin schon einen Brief bekommen
hätte. Thomas schüttelte jedes Mal den Kopf. Er vermisste seinen Freund sehr
und war traurig. Doch dann, nach etwa fünf Wochen, landete ein ganzer Stapel
107
Briefe aus Russland in seinem Briefkasten. Wir sahen uns die beigelegten Fotos
an und trauten unseren Augen nicht: Martin sah blendend aus! In seinen Briefen
ließ er sich begeistert über die Gastfreundschaft und die Offenheit der
polnischen sowie russischen Bauern aus. Überall hätte man ihn königlich
empfangen. Besonders lobte er die vegetarischen Speisen: So viel und so gut
habe er noch nie gegessen, schrieb er. Die Dorfbewohner, so stellte sich heraus,
hatten sich buchstäblich um den Ehrengast geprügelt. Jeder wollte den
deutschen Radfahrer in seinem Haus haben. Nach vier Wochen hatte er das
Uralgebirge erreicht, und sein Fahrrad gab den Geist auf. Das Radlager war
kaputt und musste ausgewechselt werden. Bereits im nächsten Tal traf der
Glückspilz auf eine deutsche Baubrigade, die mit einem Eisenbahntunnel
beschäftigt war. Die Deutschen verfügten über eine direkte Verbindung zu ihrer
Zentrale in Berlin: Einmal in der Woche flog eine Maschine hin und her, und
nach nur drei Tagen hatte Martin ein neues Getriebe, mit dem er weiter nach
Swetlogorsk fahren konnte. Dort wurde er bereits erwartet: Der Bürgermeister
ordnete zu Ehren des deutschen Gastes einen solchen Empfang an, dass die
halbe Stadt sich danach arbeitsunfähig schreiben ließ. Sogar der Gast selbst,
sonst ein eher zurückhaltender und nüchterner Mensch, hatte eine Überdosis
Wodka abbekommen und spielte verrückt. Unter dem Einfluss von Alkohol
hätte er beinahe die Tochter des Bürgermeisters geheiratet, und fast wäre er
auch noch über dessen Sohn hergefallen. »Bis auf Weiteres bleibe ich erst
einmal in Swetlogorsk«, teilte Martin seinem Freund mit. Er müsse erst einmal
sein Fahrrad suchen, das er irgendwo im Ural abgestellt hätte. Der
Bürgermeister meinte dazu, es wäre besser, zu warten, bis der Schnee
geschmolzen wäre, und dann erst mit der Suche zu beginnen. Martins Pass und
die Landkarte waren auch weg. »Ich bleibe also in Swetlogorsk und komme erst
im Frühling nach Deutschland zurück«, schrieb er. Thomas war erleichtert. Ich
dagegen war stinksauer: Wie hatte ich mich nur so irren können! Und meine
hundert Mark waren auch weg. Meine Frau dagegen freute sich, als wäre Martin
ein Pferd, auf das sie gesetzt hatte. »Aber zurück schafft er es nie«, sagte ich.
»Mal sehen«, meinte sie, und noch einmal landeten zwei Hunderter in der Vase.
Der Frühling ging zu Ende, der Sommer auch, von Martin kam noch immer
keine Nachricht. Der Radfahrer tat mir Leid, gleichzeitig war ich stolz,
mindestens diese eine Wette gegen meine Frau gewonnen zu haben.
Eines Tages im Winter rief Thomas an und lud uns zum Essen ein. Sein
Freund sei endlich zurückgekommen, freute er sich. Für mich war das eine
Tragödie. Als wir in das Restaurant kamen, saßen an einem großen Tisch etwa
zwei Dutzend Schwaben, alles alte Freunde von Thomas und Martin. Der Held
des Tages saß in der Mitte und genoss die allgemeine Aufmerksamkeit. Martin
hatte sich kaum verändert, nur sein Bart war zweimal so lang geworden und sein
Auftreten sicherer. Außerdem wirkte er irgendwie männlicher als vorher. In der
108
einen Hand hielt er ein Glas, in der anderen eine Flasche Wodka. »Meine lieben
Freunde, fickt euch ins Knie«, rief er auf Russisch, als er uns sah, dann begrüßte
er uns auf altrussische Art mit einem dreifachen Lippenkuss. Begeistert erzählte
er von seinen Abenteuern in Sibirien. Auf meine Frage, was nun mit seinem
Bundestagsmandat geschehe, meinte er, Politik interessiere ihn nicht mehr, in
Zukunft wolle er sich nur noch auf das Reisen konzentrieren. Vor allem fände er
die nördlichen Regionen anziehend: Dort, wo der Sommer so kurz ist, die
Menschen so direkt sind und der Schnee fast das ganze Jahr über liegen bleibt,
fühle er sich besonders wohl. Dort hätte die westliche Konsumwelt die
Bevölkerung noch nicht verdorben, die Menschen würden dort nicht nach ihrem
Äußeren, sondern nach ihren Taten beurteilt, meinte Martin. Kaum in Berlin
angekommen, plante er schon seine nächste Reise, diesmal sollte es nach
Tadschikistan gehen. Thomas versuchte, seinen Freund von der verrückten Idee
abzubringen und ihn für eine weitere politische Karriere in Deutschland zu
begeistern. »Die Rechten gewinnen in der Europäischen Union immer mehr an
Einfluss«, wütete er. »Ein großes Durcheinander herrscht auf der politischen
Bühne, die Bevölkerung Europas ist tief verunsichert. Wo sind die jungen
politischen Punks, die diese Sache mit der EU richtig in die Hand nehmen
können? Sie sind nicht da! Bleib hier, dich braucht unser Land, und dann fliegen
wir mal zusammen nach Spanien, wenn es in Berlin zu kalt wird«, bat Thomas
seinen Freund. Doch Martin hatte andere Pläne. Er wollte nichts von Spanien
hören, die Schlechtwetterländer zogen ihn an. Er fühle sich nur dort glücklich,
wo man etwas überwinden müsse, ein geschenktes Glück mache die Menschen
nur lustlos und fett. Und die EU würde auch ohne seine Hilfe irgendwie
klarkommen. Wir gratulierten Martin noch einmal zu seiner Rückkehr, tranken
den Wodka aus und gingen nach Hause. Die Schwaben feierten jedoch noch die
ganze Nacht durch, wie uns Thomas später berichtete. …
Texterläuterungen
das Mountainbike – горный велосипед
die Reiseroute – маршрут
das Radlager – подшипник
… hatte eine Überdosis Wodka abbekommen – перепил водки
109
Verzeichnis literarischer Grundbegriffe
Alliteration: Mehrere aufeinander folgende Wörter beginnen mit demselben
Laut, meist einem Konsonanten. Gewöhnlich durch denselben Anlaut werden
die Stammsilben einer Verszeile hervorgehoben.
Allusion: Eine bewusste Andeutung des Autors auf allgemein bekannte
literarische oder geschichtliche Sachverhalte oder auf ein bekanntes literarisches
Werk. Allusionen sind in moderner Prosa sehr verbreitet, besonders oft bedienen
sich der Allusionen die Autoren der Postmoderne.
Anapher: Wiederkehr eines Wortes oder mehrerer Wörter am Anfang einer
Zeile oder Strophe. Beispiel: „Warum duften die Levkojen so viel schöner bei
der Nacht?/ Warum brennen deine Lippen so viel röter bei der Nacht?/ Warum
ist in meinem Herzen so die Sehnsucht aufgewacht,...“ (T. Storm, Abends).
Antithese: Gegenüberstellung, Gegensatz von einzelnen Wörtern,
Wortgruppen, Sätzen. Beispiel: „Sie waren traurig, betrugen sich heiter“ (E.
Kästner, Sachliche Romanze).
Bewusstseinsstrom: Eine moderne Erzähltechnik; Darstellung von
unkontrollierten Bewusstseinsvorgängen wie Gedanken, Wahrnehmungen,
Vorstellungen. Sehr verbreitet in der gegenwärtigen Prosa.
Bild: literarisches Stilmittel. Zu den literarischen Bildern gehören Metapher,
Personifikation, Symbol, Vergleich.
Dialog: Der Dialog ist das wichtigste Element des Dramas. Das dialogische
Sprechen besteht aus Rede und Gegenrede. Der Dialog im Drama hat folgende
Funktionen:
- im Dialog entfaltet sich die Handlung des Dramas;
- im Dialog charakterisieren sich die Figuren, berichten über ihre Motive
und Ziele;
- aus dem Dialog bekommt der Zuschauer die Vorstellung von den
Verhältnissen der Figuren zueinander;
- im Dialog zeigen sich die Veränderungen im Verhalten der Figuren und
in ihren Einstellungen zueinander.
Drama: im Drama wird eine Handlung unmittelbar im Dialog und Monolog
dargestellt und auf der Bühne aufgeführt. Die Handlung wird durch einen
Konflikt vorangetrieben.
Epipher: Wiederholung eines Worte oder einer Wortgruppe am Schluss
aufeinanderfolgender Sätze oder Verse. Beispiel: „Warum duften die Levkojen
so viel schöner bei der Nacht?/ Warum brennen deine Lippen so viel röter bei
der Nacht?“ (T. Storm, Abends).
Erlebte Rede: Wiedergabe der Gedanken einer handelnden Person in der dritten
Person des Präteritums. Die erlebte Rede hilft dem Leser die Figuren und deren
Motive besser verstehen.
110
Erzähler: Rolle, die der Autor einnimmt, um dem Leser die erzählte
Wirklichkeit darzustellen. Der Standort des Erzählers wird durch die
Erzählsituation bestimmt.
Erzählsituationen: Einstellung, Verhältnis des Erzählers zur erzählten
Wirklichkeit. Unterschieden werden drei Erzählsituationen: 1. auktoriale
Erzählsituation (der Erzähler ist allwissend, kann alles im Geschehen
überblicken und verstehen); 2. Die Ich-Erzählsituation (der Ich-Erzähler tritt
meist als eine der Hauptfiguren auf); 3. Die personale Erzählsituation (es gibt
keinen Erzähler, es wird in der Er/Sie-Form aus der Sicht von Figuren
berichtet).
Erzählte Wirklichkeit: literarische Fiktion (Erfindung) einer Wirklichkeit im
Roman, in der Erzählung. Die vom Autor geschaffene Wirklichkeit ist von
realen Ereignissen zu unterscheiden.
Erzählung: eine literarische Gattung, ein sammelbegriff für kürzere prosaische
Formen.
Erzählzeit und erzählte Zeit: Der Zeitbegriff wird durch das Verhältnis von
Erzählzeit (reale Zeit, die der Leser für die Lektüre braucht) und erzählter Zeit
(fiktive Zeit, über die sich die Ereignisse strecken). Für den Autor gibt es
unterschiedliche Möglichkeiten, mit der erzählten Zeit vorzugehen: Er kann sie
raffen oder dehnen.
Figur: Gestalt in einem literarischen Werk. Neben Menschen können auch
Götter, Tiere als Figuren auftreten.
Freie Rhythmen: metrisch ungebundene, reimlose Verse, aber betont
rhythmisch. Sehr populär in der neueren Lyrik.
Gattung: Unter den Gattungen versteht man zuerst Epik, Lyrik und Dramatik
als Grundformen der Dichtung. Darüber hinaus bezeichnet man als Gattungen
auch die Formen, die sich innerhalb von Epik, Lyrik und Dramatik
herausgebildet haben. In der Lyrik sind es z. B. das Sonett oder das Lied, in der
Epik – der Roman und die Kurzgeschichte, in der Dramatik – die Komödie und
Tragödie. Die Untergattungen haben ihre eigenen inhaltlichen und formalen
Besonderheiten entwickelt.
Handlungsstruktur: Handlungsaufbau eines Textes, Abfolge und
Zusammenhang einzelner Ereignisse. In der Ereignisskette sind die
Anfangssituation, die Höhepunkte und das Ende von besonderer Bedeutung.
Innerer Monolog: Gedankenwiedergabe in der Ich-Form im Präsens;
dokumentiert die inneren Vorgänge der Figur. Oft spielt dem Rhythmus des
bewussten Denkens nach.
Inversion: Veränderung der üblichen Wortstellung im Satz. Ihr zweck ist die
Betonung wichtiger Sachverhalte.
111
Ironie: Die Aussage, an der man verstehen kann, dass sie etwas anderes oder
ein Gegenteil meint. Viele moderne Werke werden im ironischen Grundton
gehalten.
Kurzgeschichte: Eine Kurzform der Erzählung mit sehr knapper Handlung und
Themen aus dem alltäglichen Leben.
Leitmotiv: Der Begriff stammt aus der Musik und bezeichnet eine Melodie, die
immer dann widerholt wird, wenn eine bestimmte Figur oder ein wichtiges
Thema erscheint. In der Literatur können bestimmte Ausdrücke, Naturdinge
oder Gegenstände Leitmotive sein. Sie können die Figur charakterisieren oder
bestimmte Stimmung im literarischen Werk schaffen.
Lied: sangbare lyrische Gattung. Ein Lied besteht aus den gleich gebauten
Strophen, oft mit Refrain.
Lyrik: Neben Dramatik und Epik eine der Grundformen der Literatur. Sie
drückt innere seelische Vorgänge aus. Sprachlich wird oft durch Strophen
gebunden und durch den Reim verstärkt. Die Sprache des lyrischen Werks wird
durch den Rhythmus bestimmt, der an einen Versmaß gebunden oder frei sein
kann.
Lyrisches Ich: Das Ich im Innenraum des Gedichtes, das Geschehnisse und
Gefühle zum Ausdruck bringt. Das lyrische Ich ist nicht mit dem Autor
gleichzusetzen.
Metapher: Ein Wort wird in übertragener Bedeutung gebraucht, so dass ein
bildhafter Ausdruck entsteht.
Metrum: Ein festgelegtes metrisches Schema, eine sich regelmäßig
wiederholende Abfolge von betonten und unbetonten Silben im Vers (Synonym:
Versmaß).
Motiv: Besondere Thematik des literarischen Werks, die auf eine typische
Situation im menschlichen Leben verweist (z. B. Jugend, Liebe, Abschied).
Parallelismus: Symmetrische Konstruktion, Wiederkehr derselben Wortreihen
in aufeinanderfolgenden Sätzen oder Versen. Beispiel: „…geboten wird ein
Traum, verkauft wird ein Produkt“.
Parodie: Nachahmende Behandlung oder komische Benutzung der originalen
Form eines bekannten Textes, um einen anderen Inhalt auszudrücken. Das ist
eine Auseinandersetzung mit dominierenden literarischen Vorbildern und
anerkannten Schriftstellern. Meist parodiert man die Texte der anerkannten
Klassiker, dabei wird das Ernsthafte ihrer Werke ins Komische verwandelt.
Parodieren ist ein häufiges Verfahren in der postmodernen Literatur.
Personifikation: Vermenschlichung lebloser Dinge oder abstrakter Begriffe.
Eine Abart der Metapher.
Prosa: Nicht durch Metrum oder Reim gebundene Sprachform.
Refrain: Regelmäßig widerkehrende Wörter und Wortgruppen, meist am Ende
der Strophe.
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Reim: Gleichklang am Versende. Je nach der Stellung unterscheidet man
Paarreim, Kreuzreim, Schweifreim usw.
Rhetorische Figur: Kunstmittel der Stilistik und Rhetorik. Sammelbegriff für
alles, was dem Schmuck der Rede dient. Dazu gehören z. B. Alliteration,
Anapher, Antithese, Epipher, Metapher, Parallelismus, Personifikation,
rhetorische Frage, Tautologie, Vergleich, Zitat.
Rhetorische Frage: Frage, auf die keine Antwort erwartet wird. Diese
Frageform dient dazu, einer Aussage oder Aufforderung größeren Nachdruck zu
verleihen.
Roman: Großgattung der erzählenden Prosa. Zum Roman gehören ein großer
Umfang der Handlung und ein gewisser Grad an Komplexität der erzählten
Wirklichkeit.
Strophe: Größere Einheit im Gedicht, die Verszeilen miteinander verknüpft.
Wichtig für sie ist der Reim, die Länge und die Anzahl der Zeilen. Die Strophe
ist nicht nur eine inhaltliche, sondern auch optische Einheit.
Symbol: Darstellung abstrakter geistiger oder seelischer Vorstellungen in
konkreten Gegenständen, Handlungen. Z. B. ist „Wasser“ ein Symbol des
Lebens, aber auch des Todes, „Taube“ – Symbol des Friedens.
Tautologie: Derselbe Sachverhalt wird zwei- oder mehrfach ausgedrückt.
Beispiel: „ganz und gar überblicken“ (H. Hesse).
Vergleich: Durch Verbindungswörter wie und als wird die Beziehung zwischen
zwei Bereichen hergestellt, zwischen denen eine Gemeinsamkeit besteht.
Beispiel: „… doch schäumt dein Haar violett wie ein Fliederbusch“ (Y. Goll
Der Salzsee).
Vers: Eine Zeile im Gedicht.
Wortspiel: Beim Wortspiel wird die Mehrdeutigkeit oder Klangähnlichkeit von
Wörtern genutzt, um komische Wirkung zu erzielen.
Zitat: Übernahme und Verwendung von Aussagen der anderen, in der Regel mit
ausdrücklichem Hinweis auf die Quelle. In postmoderner Literatur wird sehr oft
und als ein Stilmittel gebraucht.
113
Literaturverzeichnis
1. Erfahrene Erfindungen. Deutschsprachige Kurzgeschichten seit 1989.
– Leipzig : Ernst Klett Schulbuchverlag, 2008. – 176 S.
2. Inszenierte Wirklichkeit. Literatur der 1990er Jahre ; erarbeitet von H.
Kortl, H. Spittler und B. Telgmann. – Leipzig : Ernst Klett Schulbuchverlag,
2008. – 80 S.
3. Lesen. Darstellen. Begreifen. : Lese- und Arbeitsbuch für den
Literatur- und Sprachunterricht, 12/13 Schuljahr, 2. Teil ; herausg. von F. Hebel.
– Frankfurt am Main : Cornelsen Verlag Hirschgraben, 1990. – 240 S.
4. Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945;
neu herausg. von D.-R. Moser. – München : Deutscher Taschenbuchverlag
GmbH, 1993. – 1226 S.
3
Inhaltsverzeichnis
Leser und Text
Literarischer Text – seine Struktur
Interpretation des lyrischen Werks
Interpretation des Dramas
Interpretation prosaischer Werke
Interpretation des Romanauszugs: Arbeitsschritte
Interpretation der Kurzgeschichte
Text und Kontext
Der biographische Hintergrund literarischer Texte
Text im Rahmen der literarischen Tradition
Die postmodernen Schreibweisen
Die Popliteratur
Literarischer Text als Zeitdokument
Wendezeit in der Literatur
Migrantenliteratur
Die Erarbeitung eines Interpretationsaufsatzes
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