Die konstruktivistischen Lerntheorien

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stangl]s arbeitsblätter
Die konstruktivistischen Lerntheorien
Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt.
Arthur Schopenhauer
Die konstruktivistischen Ansätze gehen nach Neubert, Reich & Voß (o.J.) davon aus, dass
Lernen ein konstruktiver Prozess ist und behaupten, dass jeder Lerner auf der Grundlage
seines "Experience" lernt, dabei eigene Werte, Überzeugungen, Muster und Vorerfahrungen
einsetzt. Lernen als Konstruktion kritisiert die Illusionen des Aneignungs- und AbbildungsLernens, denn jeder Lernende konstruiert sein Lernen, sein Wissen und die dabei erzeugten
Wirklichkeiten, wobei er hierbei allerdings kulturell nicht völlig frei ist, sondern immer auch
an die Konventionen seiner Zeit gebunden. Die größte Bedrohung für das Lernen ist es für
diesen Ansatz, dass der Lerner nicht hinreichend eigenständig konstruieren darf. Interaktionen
mit anderen sind dafür ausschlaggebend, wie das Lernen angenommen, weitergeführt,
entwickelt wird. Dabei ist es entscheidend, inwieweit es dem Lernenden gelingt, eine eigene
Perspektive auf sein Lernen einzunehmen, indem er sich motiviert, sein Lernen selbst
organisiert, sich seiner Muster und Schematisierungen bewusst wird und diese
handlungsorientiert entwickelt. Auch eine fremde Perspektive einzunehmen, sich "von außen"
zu betrachten, um Lücken, Fehlstellen, Schwierigkeiten des eigenen Lernens zu beobachten
und neue, kreative Wege zu erschließen, um das Lernverhalten zu verändern, wird dabei
notwendig sein. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen geht der Konstruktivismus davon aus,
dass das Wissen nicht außen den Dingen innewohnt und dann in den Lernenden transportiert
wird, sondern im Lernenden existiert. Dies deckt sich auch mit neueren
Kognitionsforschungen, mit Ergebnissen der Hirnforschung und der "Biologie der
Kognition", wie sie im Radikalen Konstruktivismus entwickelt wurde. In der Hauptsache
gibt es viertheoretische Ansätze, die versuchen aufzuzeigen, dass das Lernen ein konstruktiver
Prozess ist:
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Jean Piagets Konstruktivismus hat das Verständnis von Lernvorgängen radikal
verändert und ist für den Konstruktivismus zunächst wegweisend geworden. Piaget hat
erkannt, dass ein Lerner zunächst immer aus eigener Aktion heraus lernt, dass er dabei
sich seine Wirklichkeit konstruiert, die er dann in Abgleich mit seiner Umwelt bringen
muss. Das daraus entstehende Wechselspiel zwischen innerer Schematisierung und
Abgleich mit der Umwelt - Assimilation und Akkommodation - ist für diesen Ansatz
entscheidend, um den Aufbau der menschlichen Wirklichkeitsbildungen zu begreifen.
Lew S. Wygotzky kam vielfach zu ähnlichen Ansichten wie Piaget, betont aber
stärker als dieser die kultuelle Lernumwelt. Wenn der Unterricht konstruktiv wirksam
sein soll, dann muss er als eine Zone der weiteren Entwicklungsmöglichkeit gesehen
werden. Dies bedeutet, dass aus der Lernumwelt den SchülerInnen Angebote
unterbreitet werden müssen, die sie konstruktiv vorantreiben, aber nicht solche, die
bloß einen bestehenden und zu reproduzierenden Wissensstand sichern. Eine
überwiegende Nachahmung ist der Tod eines konstruktiven und kreativen Lernens.
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John Deweys pragmatische Lerntheorie hat wie keine andere im 20. Jahrhundert die
umfassende Bedeutung von Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung als Fazit der
Reformpädagogik verdeutlicht und sich zugleich den Schwierigkeiten damit
verbundener politischer Reformvorstellungen gestellt (vgl. Dewey 1985). Für Dewey
beginnt die Demokratisierung im Klassenzimmer und eine Pädagogik des
"Experience" kann nicht allein theoretisch oder kognitiv vermittelt werden. Das
Lernen durch Tun wird dann verfehlt, wenn das Tun sich auf abstraktes und nicht
durch Interesse und Motive nachvollziehbares Lernen beschränkt. Insbesondere hat
Dewey erkannt, dass Lernen immer in eine Kultur eingebettet ist und sich mit dieser
Kultur verändert. Deweys Ansatz ist insbesondere im deutschen Sprachraum bis heute
maßlos unterschätzt und auch durch unzureichende Übersetzungen entstellt worden.
Seine Arbeiten sind besonders für den pädagogischen Konstruktivismus grundlegend,
weil er sowohl das Lernen in den konkreten Aktionen und in der Lebenswelt der
Lerner verankern will als auch die Notwendigkeit einer strukturellen Änderung und
Reform von Schulen erkennt und fordern lässt.
Jerome S. Bruner fügte zu Piagets Konstruktivismus insbesondere die Bedeutung
von sozialen Interaktionen, aber auch historisch-kulturelle Dimensionen und ein
verändertes Sprachverständnis hinzu. Er setzte sich in Amerika insbesondere für den
Ansatz Wygotzkys ein, um damit den Aspekt sozialen Lernens als Rahmen für
individuelles Lernen stärker zu betonen.
Grundlagen einer konstruktivistischen Lerntheorie
Der Konstruktivismus in der Mathematik wurde Anfang dieses Jahrhunderts von den
"Intuitionisten" (L. E. Brouwer und A. Heyting) entwickelt. Diesem Ansatz nach existieren
mathematische Objekte erst als Resultat eines Konstruktionsprozesses. Die Existenz
mathematischer Obiekte kann daher nur postuliert werden, wenn es eine Methode oder ein
Prinzip zur ihrer Konstruktion gibt.
Der Erlanger Konstruktivismus ist eine wissenschaftstheoretische Schule, die u.a. von P.
Lorenzen und W. Kamlah begründet wurde. Er leistet eine kritische Begründung der
Wissenschaft und der Wissenschaftstheorie, indem er methodisch, vollständig und zirkelfrei
von einer Begründungsbasis ausgeht, um eine intersubjektiv durchschaubare begriffliche
Praxis der Wissenschaftssprache zu (re)konstruieren.
Der Radikale Konstruktivismus (E. v. Glasersfeld, Heinz v. Foerster) lehnt als
Erkenntnistheorie den Begriff der Repräsentation ab und geht davon aus, dass Erkennen vor
allem ein selbstbezüglicher Prozeß ist, d.h., das Subjekt erzeugt Wissen durch eigene
Operationen im kognitiven Apparat selbst. Das Repräsentationssystem nimmt aktiv an den
Konstruktionsprozessen teil und die Umwelt spielt dabei nur mehr die Rolle eines Auslösers.
Die Repräsentationsstruktur wird durch trial and error so lange verändert und durch Verhalten
externalisiert, bis ein intern oder extern festgestellter Fehler minimiert bzw. ein
homöostatische Zustand hergestellt ist.
Im Detail dazu siehe auch die
Jean Piaget
strukturalistische kognitive Entwicklungstheorie von
Nach der kognitiven Wende in der Psychologie wurden in den Bereichen Wissens- und
Denkpsychologie informationstheoretische Ansätze entwickelt, wie z.B. Produktionssysteme,
Schemata und Skripte, der Konnektionismus oder die mentalen Modelle. Hier dominiert die
Idee, neues Wissen müßte nur geeignet strukturiert und repräsentiert werden und dann der
lernenden Person dargeboten und von ihr aufgenommen werden. Ursachen von auftretenden
Problemen werden in der unpassenden Repräsentation, dem Medium (z.B. dem
Lehrbuchdesign, dem Unterrichtsstil) oder beim Lernenden gesucht.
Eine übergreifende Theorie mit psychologisch-philosophischen Grundlagen ist der
Konstruktivismus. Der Konstruktivismus ist eine Theorie der Entstehung des Wissens von
den Dingen, also eine Art Erkenntnistheorie, in welcher der aktiven Prozeß der
Wissensentstehung betont wird. Im Gegensatz zu behavioristischen Lerntheorien, in welchen
der eher passive Lerner durch Umweltreize und durch steuerbare Stimuli zur
Verhaltensänderung angehalten wird, beschreibt etwa die kognitive Entwicklungstheorie Jean
Piagets das Lernen als dynamischen, intra-personellen Konstruktionsprozeß des selbsttätigen
Individuums. Der Lernende braucht die Umwelt lediglich als Anregung und Matrix seiner
Entwicklung, jedoch gehen die wesentlichen Impulse von ihm selber aus, weil er aktiv
nach dem sucht, was ihm in seiner Umwelt zum Problem wird, um mit der Lösung des
Problems Erkenntnis aufzubauen. Die kognitive Strukturbildung entsteht in der tätigen
Auseinandersetzung des Subjekts mit den Erlebnisgehalten, die über die Umwelt vermittelt
werden. Auf dem Weg zur optimalen Anpassung an die Umwelt kommt es zu einer ständigen
Neuorganisation der vorhandenen und neu herausgebildeten Strukturen. Dabei schafft ein
Äquilibratonsprozeß einen Ausgleich zwischen Strukturerhaltung (Assimilation) und
Umweltanpassung (Akkomodation) und ist die treibende Kraft hinter der kognitiven Aktivität
des Individuums. Für den Konstruktivismus ist Wissen kein Abbild der externen Realität,
sondern eine Funktion des Erkenntnisprozesses. Der Konstruktivismus betont - im Gegensatz
zum Objektivismus - die aktive Interpretation des erkennenden Subjekts, den Prozeß der
aktuellen Konstruktion von Sinn und Bedeutung. Wissen existiert also nicht unabhängig vom
Lerner, sondern wird dynamisch generiert, und kann nicht einfach jemand anderem ohne
eigene Rekonstruktion übermittelt werden. Lernen entwickelt sich aus Handeln, und Handeln
vollzieht sich in sozialen Situationen, es ist somit situativ und kontextuell gebunden.
Bezeichnungen wie "situated learning" oder "situated cognition" machen dies deutlich. Die
zentralen Merkmale einer konstruktivistischen Lernpsychologie sind die Annahme eines
individuellen aktiven Lernprozesses, die Betonung der Situativität und der Wichtigkeit der
Lerngemeinschaft.
Die Sinneswahrnehmung des Menschen bildet die Wirklichkeit nicht ontologisch-objektiv ab,
wie sie an sich ist, sondern jedes Individuum konstruiert seine Wirklichkeit rein subjektiv,
indem es die durch die Sinne aufgenommenen Informationen auf der Grundlage seiner
persönlichen Erfahrungen und seines Weltwissens verarbeitet. Durch diesen
informationstheoretischen Ansatz, dass jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit entwirft, die
mit keiner anderen Wahrnehmung eines zweiten Individuums übereinstimmt, gelangte die
kognitive Psychologie zu ihrer Grundthese, dass Wahrnehmung, Verstehen und Lernen
gehirnphysiologische Konstruktionsprozesse der geistigen Operationen des tätigen Subjekts
sind, das in seiner informationsaufnehmenden und -verarbeitenden Individualität einzigartig
ist.
Da menschliche Wahrnehmung auf individuell mentaler Sinnkonstruktion basiert, die
neurophysiologisch im menschlichen Gehirn abläuft, gehen wir als lebende und denkende
Organismen niemals mit der Wirklichkeit an sich um, sondern wir haben es ausschießich mit
jener Wirklichkeit zu tun, die wir über unsere Sinnesorgane erfahren, also unsere kognitive
Realität, die wir aus den "Perturbationen" der Wirklichkeit (re)konstruieren. Der
Konstruktivismus rekrutiert seine Grundideen aus den Ergebnissen der
Kognitionspsychologie und neurobiologischen Forschung und geht namentlich auf Heinz v.
Foerster, Ernst v. Glaserfeld, Paul Watzlawick, Humberto Maturana, Gerhard Roth u.a.
zurück. Dabei lehnen sie übereinstimmend die für die traditionelle Erkenntnistheorie
wesentliche Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt ab sowie die auf Descartes
zurückgehende Auffassung eines kausal-mechanizistisch funktionierenden Mikro- und
Makrokosmos.
Auch Lernen ist als ein aktives Konstruieren von neuen Wissensstrukturen zu Begreifen,
sodass sowohl die Rolle des Lehrers als auch die Rolle des Lerners in der konstruktivistischen
Lehr-Lernsituation neu definiert werden muß. Die Möglichkeiten des Lehrers scheinen
begrenzter und auch komplizierter zu sein als in der traditionellen Vorstellung des
Unterrichts, woraus sich sich auch eine andere Qualität des Lehrens und Lernens ergeben
kann.
Um als Lerntheorie eine Abkehr vom bisherigen "Instruktionismus" begründen zu können,
steht der Konstruktivismus noch auf einem eher unsicherem Fundament, dennoch ist
abzusehen, dass dieser Ansatz eine wichtige Rolle als theoretische Untermauerung für offene,
von den Lernenden mitbestimmten Lehr-Lernformen, die unter verschiedenen Bezeichnungen
virulent sind, ausbauen und in Konkurrenz zu instruktionistischen und streng
kognitivistischen Richtungen spielen wird. Auch überschneiden sich konnektionistische
Überlegungen mit Grundannahmen des Konstruktivismus und teilen mit ihm die
kybernetische Basis bei Lernprozessen. Parallel dazu weisen sie auch Elemente des ReizReaktionslernens auf, wie schon an der Rolle der Verstärkung beim Lernen ersichtlich wird.
Das adaptive, sich selbstregulierende Netzwerk gleicht in gewisser Weise der
behavioristischen Black-Box, nur mit dem Unterschied, dass die Reiz-Reaktions- bzw.
Input-Output-Folgen weniger vorhersehbar sind und sich die Wissenschaft gerade mit den
Prozessen innerhalb des lernenden Systems befaßt.
Ein Bewertungsmechanismus im Gehirn sorgt dafür, dass Sinnessignale nur dann
strukturierend auf die Entwicklung einwirken können, wenn sie Folge aktiver Interaktion mit
der Umwelt sind, bei denen der junge Organismus die Initiative hat. Diese Erkenntnis geht auf
einen sehr eleganten und frühen Versuch von Hind und Held am MIT zurück. Die Forscher
setzten zwei Kätzchen in ein Karussell. Das eine hatte die Pfoten auf dem Boden und konnte
durch sein Laufen das Karussell bewegen. Das andere saß in der Gondel und wurde passiv
transportiert. Beide sahen natürlich genau das Gleiche, bloß zu verschiedenen Zeiten. Die
spätere Bestimmung der kognitiven Leistungen der beiden Tiere zeigte jedoch, dass nur das
aktive Tier gelernt hatte, das nur beobachtende war nahezu blind und hinsichtlich seiner
visuo-motorischen Koordination schwer gestört. Nur Zuschauen genügt also nicht,
Selbermachen ist entscheidend, weil nur dann der interaktive Dialog mit der Umwelt
einsetzen kann, der für die Optimierung von Entwicklungsprozessen unabdingbar ist (Singer
2001). Siehe dazu im Detail
Sensible Phasen und ihr Einfluss auf die Entwicklung des
Gehirns
Der Radikale Konstruktivismus
L´intelligence organise le mode en s'organisant elle-même.
Jean Piaget
Seit den 90er Jahren erhalten konstruktivistische Ideen immer mehr Einzug in den
Bildungsbereich. Dabei sollte eine generelle Unterscheidung in Radikalen und Sozialen
Konstruktivismus gemacht werden, denn während der erste sich eher auf ein
epistemologisches Primat bezieht, läßt sich beim zweiten ein ontologisches erkennen. Neben
diesen beiden (Grund-)formen lassen sich auch noch der sozial gemäßigte, der
interaktionistische, der Identitäts-Konstruktivismus und der methodische Konstruktivismus
der Erlangener Schule finden (zur grundlegenden Unterscheidung zwischen Sozialen und
Radikalen Konstruktivismus vgl. Frindte 1995).
Aber auch der Radikale Konstruktivismus kann weder als eigene
Wissenschaftsdisziplin noch als ein einheitliches Theoriekonzept gelten. Es
ist vielmehr ein inter- und transdisziplinäres "Paradigma", eine Perspektive,
die sich vor allem von ontologischen und metaphysischen
Wahrheitsansprüchen distanziert (vgl. Siebert 1999). Insgesamt kann man
vier grundlegende radikale Konstruktivismen erkennen: eine neurologische
(Maturana <linkes Bild> & Varela <rechtes Bild>), eine kybernetische (von
Foerster), eine systemtheoretische (Luhmann) und eine psychologische Variante (von
Glasersfeld) (vgl. Rustemeyer 1999 ). Dabei ist die Glasersfeldsche Variante für einen
pädagogischen Ansatz besonders geeignet, da er sich selbst mit pädagogische Fragen aus
radikal-konstruktivistischer Sicht beschäftigt und auch Folgerungen für den Lehr-Lern-Prozeß
zieht. Als Kernthesen gelten dabei:
Menschen sind autopoietische, selbstreferentielle, operational geschlossene Systeme. Die
äußere Realität ist uns sensorisch und kognitiv unzugänglich. Wir sind mit der Umwelt
lediglich strukturell gekoppelt, d.h., wir wandeln Impulse von außen in unserem
Nervensystem "strukturdeterminiert" um, d.h. auf der Grundlage biografisch geprägter
psycho-physischer kognitiver und emotionaler Strukturen. Die so erzeugte Wirklichkeit ist
keine Repräsentation, keine Abbildung der Außenwelt, sondern eine funktionale, viable
Konstruktion, die von anderen Menschen geteilt wird und die sich biografisch und
gattungsgeschichtlich als lebensdienlich erwiesen hat. Menschen als selbstgesteuerte
"Systeme" können von der Umwelt nicht determiniert werden, sondern allenfalls perturbiert,
d.h. "gestört" und angeregt werden.
In einer daraus abzuleitenden Lehr-/Lernperspektive steht der Aktive
Lernenden im Vordergrund. Eine direkte Vermittlung objektiven Wissens ist
demnach unmöglich, da sie von der Passivität der Lernenden ausgeht.
Wissen kann und soll somit nicht direkt vermittelt werden, sondern der
Lernende soll angeleitet werden, eigene Weltbilder aufzubauen, d.h. die
Konstruktionen des Lernenden sollen gefördert werden. Aus der
Teilnehmerperspektive ergibt sich, dass der Lernende im Vordergrund
konstruktivistischen Denkens steht, wobei es hierbei zu einer Unterscheidung zwischen
aktiven und passiven Lernen kommt. Nur der aktive Schüler lernt wirklich und profitiert von
der Lernsituation, während der "passive" Lerner, der sich nicht aktiv am Unterricht
beteiligt,wenig bis gar nicht davon profitiert.
Aus der Lehrerperspektive gibt es nicht die Methode für einen Unterrichtsinhalt, sondern
nur Methoden für die Teilnehmer. Es geht um eine flexible und vielseitige Gestaltung des
Lehr-Lern-Prozesses, das jedem Teilnehmer die Möglichkeit gibt das Wissen aus seinem
Hintergrund heraus zu verarbeiten. Manchmal ist das ein Rollenspiel oder ein
Gruppenprojekt, manchmal eine Diskussion und manchmal einfach eine Vorlesung.
Eine konstruktivistische Didaktik
Vergleiche hierzu auch Martin Wagenscheins Prinzipien einer "genetischen Didaktik"
Sowohl der Radikale als auch der Soziale Konstruktivismus gehen davon aus, dass das
Individuum nur einen indirekten Zugang zu der externalen Welt hat und somit kommt es zu
einer Abkehr von der Nürnberger-Trichter-Didaktik bei den konstruktivistischen
Vorstellungen vom Lernen. Das Lernen wird als ein aktiver Prozeß angesehen, bei dem das
Wissen nicht angeeignet, sondern vom Individuum selbst konstruiert wird, sodass neues
Wissen an die vorhandenen individuellen Konstrukte angeschlossen wird oder sich die
bestehende Konstrukte erweitern. Dabei ist ein Wissenserwerb nur möglich, wenn das neue
Wissen sich an die alten Konstruktionen anschließen läßt. Piaget würde hier von Assimilation
und Akkomodation sprechen.
Unter dieser Perspektive muß die Vorstellung, es gäbe einen richtigen Weg dem Lernenden
das neue Wissen beizubringen, verworfen werden und zugunsten einer neuen, offeneren
Sichtweise über den Lehrer weichen. Da jeder Lerner seinen eigenen Zugang zu dem
Lernstoff hat, gibt es so viele eigene und unvorhersehbare Lernwege wie es Lernende gi.bt
Dadurch, dass der Wissenerwerb also nur vom Lerner selbst ausgehen kann, muß ihm also
auch die Möglichkeit gegeben werden, sich aktiv zu beteiligen. Die durch den
Konstruktivismus implizierten lerntheoretischen Grundsätze bei der Konstruktion einer
Theorie des Wissenserwerbs scheinen zunächst im Widerspruch zu den Postulaten der
didaktischen Vernunft zu stehen, welche die Wissensvermittlung traditionellerweise als
Informationstransfer auffaßte. Wenn Wahrnehmung und Erkennen mentale
Operationsprozesse sind, die vom Lernenden individuell auf der Grundlage seines Vorwissens
realisiert werden, und wenn unsere Vorstellungen keine objektive Wirklichkeit widerspiegeln,
sondern nur die Eigenaktivität unseres Gehirns, das durch unspezifische Impulse der Umwelt
gereizt wird, löst der Lehrende nur den Transport von Energien aus, welche die
Gehirnaktivitäten anregen, aber niemals von bedeutungstragenden Informationen. Wissen
bleibt nach Maturana als Erfahrung immer etwas Persönliches und Privates, das nicht
übertragen werden kann. Das, was man für übertragbar hält, nämlich objektives Wissen,
muß immer durch den Hörer geschaffen werden, der für das Verstehen (vor)bereit(et) ist
(Maturana 1998, S. 22).
Konzepte der Pädagogik und Didaktik griffen bislang in aller Regel Vorstellungen aus jenen
psychologischen Bereichen auf, die sich mit Wahrnehmung, Lernen, Gedächtnisbildung und
Motivation beschäftigten. Das wohl erfolgreichste dieser Konzepte ist das in der kognitiven
Psychologie entwickelte Modell der Informationsverarbeitung, d.h., der Lehrer sendet
vorwiegend sprachlich gefasste bedeutungshafte Informationen aus, die in das
informationsverarbeitende System des Schülers dringen, dort in ihrer Bedeutung entschlüsselt,
mit Vorwissen verbunden und nach bestimmten Denkregeln verarbeitet werden, um dann als
Wissen im Langzeitgedächtnis abgelegt und von dort gegebenenfalls, z.B. in einer Prüfung
abgefragt zu werden. Lernen wird hier als Instruktion, als Verarbeitung und Abspeichern
präsentierten Wissens aufgefasst, und es gilt dann nur, die hierbei beteiligten Mechanismen zu
optimieren. Der konstruktivistische Ansatz aber stellt diesem Ansatz aber neuro- und
kognitionswissenschaftlich gut belegte Fakten entgegen, dass Wissen nicht übertragen werden
kann, sondern es muss im Gehirn eines jeden Lernenden neu geschaffen werden, und dass
Wissensaneignung auf Rahmenbedingungen beruht und durch Faktoren gesteuert wird, die
unbewusst ablaufen und deshalb nur schwer bzw. überhaupt nicht beeinflussbar sind (vgl.
Roth 2002).
Unterricht kann nach dieser Auffassung nicht (mehr und ausschließlich) als Transport von
Wissen begriffen werden, sondern stellt lediglich ein Arrangement von Lernmöglichkeiten
dar, wobei sich die Lernumgebung als entscheidend für die Wissenskonstruktion des
Lernenden erweist. Das Gehirn errechnet im Rahmen des neurophysiologischen Mechanismus
unserer Wahrnehmung aus der unstrukturierten Fülle der Nervenreize möglichst stabile,
sinnstiftende Wirklichkeiten. Die Wirklichkeitskonstruktion ist daher niemals objektiv,
sondern wird vorrangig von der mentalen Struktur des Lernenden, seinen Wünschen und
Erwartungen bestimmt. Diese unbewusst ablaufenden Prozesse der Bedeutungs- oder
Wissenskonstruktion sind von vielen Faktoren abhängig, von denen die meisten durch ein
System vermittelt werden, das in der kognitiven Psychologie lange Zeit überhaupt nicht
existierte, nämlich das limbische System, das Affekte, Gefühle und Motivation vermittelt und
hierüber der eigentliche Kontrolleur des Lernerfolgs ist. Diese Zentren bewerten alles, was
durch uns und mit uns geschieht, danach, ob es gut/vorteilhaft/lustvoll war und entsprechend
wiederholt werden sollte, oder schlecht/nachteilig/schmerzhaft und entsprechend zu meiden
ist, und legt diese Bewertungen im emotionalen Erfahrungsgedächtnis nieder, das weitgehend
unbewusst arbeitet. In jeder Situation wird vom limbischen System geprüft, ob diese Situation
bereits bekannt ist bzw. einer früheren sehr ähnelt, und welche Erfahrungen wir damit
gemacht haben. Dabei kommen die Details der Geschehnisse nicht aus den limbischen
Zentren im engeren Sinne selbst, sondern werden über das deklarative Gedächtnis vom
Hippocampus hinzugefügt. Dieses System entscheidet insofern grundlegend über den
Lernerfolg, als es bei jeder Lernsituation fragt: Was spricht dafür, dass Hinhören, Lernen,
Üben usw. sich tatsächlich lohnen? Dies geschieht überwiegend aufgrund der vergangenen
Erfahrung. Kommt das System zu einem positiven Ergebnis, so werden über die genannten
neuromodulatorischen Systeme in der Großhirnrinde vorhandene Wissens-Netzwerke so
umgestaltet, das neues Wissen entsteht. Entscheidend hierbei sind Geschwindigkeit und
Ausmaß, mit denen passende Gedächtnisinhalte abgerufen und kombiniert und damit neue
Wissens-Netzwerke geschaffen werden (vgl. Roth 2002).
Sicherlich kann auf die Präsentation von Informationen nicht verzichtet werden, aber die
konstruktivistische Vorstellung der Lehrerrolle geht ein Stück weiter. Der Lehrer soll nicht
nur Anbieter von Wissen sein, sondern Angebote an den Lernenden weitergeben, die ihm das
Lernen erleichtern und aktiv am Wissenerwerb beteiligen lassen. Er soll Situationen schaffen,
in denen der Lerner zum Hinterfragen angeregt wird und somit ein Interesse am Lernstoff
entsteht. Dadurch kommt der Lernprozeß automatisch in Gang, wenn im Lernenden die
richtigen Fragen geweckt werden.
Zwar leugnet der Konstruktivismus nicht, dass es Formen der Beeinflussung (Perturbationen)
gibt, die nicht inhaltsbestimmt sind, allerdings muß der Lernende willentlich eine Integration
der Stimuli befürworten, damit äußere Faktoren assimiliert, d.h. in die autodeterminierte
Struktur des Systems aufgenommen werden. Gehirnphysiologisch ist eine Beeinflussung oder
Perturbation nur dann möglich, wenn das Individuum sie zuläßt, d.h. für sie offen ist. Da jedes
selbstlernende System die durch die Lernsituation erzeugten Perturbationen und die damit
verbundene Zuschreibung von Sinn und Bedeutung unterschiedlich äquilibriert, kann
allerdings keine genaue Lernzielangabe formuliert werden.
Nun will der Konstruktivismus dem Lehrer nicht vorschreiben, keine Instruktionen mehr zu
geben, dieser muß sich aber bewußt sein, dass er keinen objektiv steuernden Einfluß auf die
Art und Weise hat, wie das autopoietische System des Lernenden die Reize in
sinngenerierende Vorstellungen umdeutet. Der Lernende nimmt das Wirklichkeitsangebot
unterschiedlich wahr und jede Einwirkung auf den Lernenden konvergiert auf dessen
Eigenwert, der zu einer Stabilität des Systems tendiert. In bezug auf den Lernerfolg ist der
Lehrer daher immer nur auf Hypothesen und Vermutungen festgelegt. Auch eine
Lernzielkontrolle in Form einer Klassen- oder Kursarbeit, die an alle Schüler dieselben
Erwartungshaltungen stellte, ist ein Widerspruch zur konstruktivistischen Lerntheorie, weil
der jeweilige Input entsprechend den verschiedenen inneren Zuständen des Lernenden und
physiologischen Transformationen unendlich viele Möglichkeiten des Outputs hervorbringen
kann. Aus diesem Grunde lehnen Maturana und Varela auch den Begriff der Information ab.
Das Gehirn erhält in seiner operationalen Geschlossenheit über das Nervensystem keine
inhaltliche Information, sondern einen neuronalen Reiz, den es selektiv und autonom
umdeutet, verrechnet und quasi digital transformiert und auf seine Anschlußfähigkeit hin
prüft.
Die Herangehensweise ist also entgegengesetzt zum traditionellen Unterricht: Der Lernende
sollte nicht mit Antworten, sondern mit Fragen konfrontiert werden und diese auch verstehen
können, denn dann ist er auch in der Lage, sich mit den Antworten auseinanderzusetzen
(Problemorientierter Untericht). Lernschwierigkeiten und das Auftreten von Problemen in der
Lehr-Lernsituation sind daher kein Faktor, der ausgeschaltet werden muß, sondern erfordern
vom Lehrenden, sich intensiver und für den Lernenden effizienter mit dem Thema
auseinanderzusetzen. Bei der Aufbereitung des Stoffes geht der Lehrer nicht schrittweise vom
Einfachen zum Komplizierteren, sondern ermöglicht dem Lernenden die Konstruktion einer
Grobstruktur, die im Laufe des Lernprozesses immer detaillierter wird (Kognitive Landkarte)
und das explorierende Lernen unterstützt. Daher gibt der Lehrer aber auch nicht nur die
Informationen vor, sondern erarbeitet mit den Lernenden zusammen das Thema in
verschiedenen Formen, um zum einen verschiedene Herangehensweisen aufzuzeigen und zum
anderen möglichst viele Lernwege bereitzustellen, wobei gleichzeitig die Möglichkeit der
Reflexion gegeben sein soll. Auch ist für der Diskurs unter den Lernenden anzuregen.
Eine Evaluation, die nicht als Selbstevaluation oder Hilfe zur Selbstevaluation verstanden
wird, ist aus konstruktivistischer Sicht nicht sinnvoll, da der Lehrer nicht bewertet, was der
Lernende mental assimliert hat, sondern Defizite aufzeigt, die der Lerner vielleicht gar nicht
assimilieren wollte. Es ist daher kognitionspsychologisch nicht nur fragwürdig, sondern
geradezu widersinnig, eine subjektive Leistung objektiv für alle Schüler gleich nach festen
Urteilskriterien bewerten zu wollen. Die traditionelle gute oder schlechte Bewertung einer
Klausurarbeit erlaubt lediglich die Schlußfolgerung, dass es dem Lehrer gelungen bzw. nicht
gelungen ist, eine hinreichende Motivation der Schüler zum selbständigen Lernen zu
bewirken, oder es besteht schlechthin eine Ankopplungsinkompatibilität zwischen Lehr- und
Lernersystem, d.h. zwischen der Lernumwelt und dem autopoietischen System des Schülers.
Im ersten Fall bewertete der Lehrer eher seine eigene Methodenkompetenz, im zweiten Fall
sollte ein Klassen- oder Schulwechsel reflektiert werden.
Wenn ein Lehrer versucht, einem Schüler etwas gegen dessen Willen beizubringen, wird
dieser niemals etwas lernen. Primäres Ziel des Unterrichts sollte es sein, das autopoietische
System zu perturbieren. Indem der Lerner sich mit den Stimuli der Außenwelt, die ihn
bedrohen, weil sie sein System in Unordnung bringen, auseinandersetzt, wird die Anzahl der
Aktivitäten der internen Zustände gesteigert und die semantische Relationsstruktur bereichert.
Der Lerner versucht, seinen strukturdeterminierten Organismus wieder auf der Grundlage
seiner Lebenserfahrungen neu zu equilibrieren, indem er einen sinnvollen, d.h. auf das Leben
bezogenen Lebensentwurf konstruiert. Gelingt es nicht, die Unterrichtsgegenstände so zu
präsentieren, dass der Lernende sich in Form einer inneren Perturbation ergriffen fühlt,
prallen die Stimuli von ihm ab und können nicht an das System angekoppelt werden. Der
Kognitionsprozeß findet nicht statt, und die Unterrichtsinhalte verlieren sich im Nichts.
Der Erwerb transferbereiten Denkens und Handelns hängt also ab von der Gestaltung des
Lernprozesses, der Lernumgebung und von der Art und Weise, wie Wissen erworben wird.
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Der Lernende muss sein Wissen eingebettet in Zusammenhänge und Situationen
erwerben.
Lernkontexte sollten möglichst authentisch sein, d.h., es sollten keine künstlichen
isolierten Probleme, sondern Problemsituationen aus der Umwelt, der Arbeitswelt des
Lernenden, genommen werden.
Der Lernende muss Situationen systematisch abändern können (indem er Daten
verändert, Situationen vereinfacht, um so zu ersten Lösungsansätzen zu kommen,
Alternativen betrachtet, Probleme umformuliert, usw.), die Auswirkungen seines
Handelns beobachten können und Folgerungen für späteres Handeln daraus ableiten
können. Dadurch werden heuristische Strategienerworben, operatives Denken und
Handeln möglich.
Der Lernende muss aus der Spezialität einer Realsituation durch Abstraktion und
Verallgemeinerung die zugrunde liegenden allgemeinen Aussagen, Regeln,
Strukturen, transferierbaren Ideen herausarbeiten oder erkennen. Eine bewusste
Organisation dieser Aktivität durch und mit dem Trainer ist bedeutsam. Das
ausschließliche Lernen in realen Situationen kann dazu führen, dass für den Lernenden
die Spezifik der Situation im Vordergrund steht und weniger das Allgemeine. Für
Transferkompetenz sind allgemeines Wissen und allgemeine Strategien bedeutsam.
Ein bewusste Phase im Lernprozess, in dem eine "Abstraktion durch Rückschau" auf
das bisher Gelernte im Sinne der Verallgemeinbarkeit erfolgt, ist erforderlich und
benötigt oft den kompetenten Gesprächspartner, den Trainer.
Erworbene Strategien sollen vom Lernenden in verwandten realen Situationen
angewendet werden und, wenn möglich, auf unbekannte neue Situationen teilweise
übertragen werden können.
Der Lernende muss sein Wissen über den Lerngegenstand und seine Bedeutung
selbständig herstellen und aufgrund seiner eigenen Erfahrungen konstruieren.
Selbsttätigkeit schafft intensivere Eigenerfahrung, bessere Merkfähigkeit des
Gelernten, stärkere Integration in das persönliche Wissensnetz.
In der Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand muss der Lernende die
Möglichkeit haben, verschiedene Perspektiven und Betrachtungsweisen einzunehmen.
Deutlich tritt diese Anliegen zutage, wenn beispielsweise Produkte in der Ganzheit
ihres Lebenszyklusses betrachtet werden: Rohstoffgewinnung, Konzeption und
Entwurf des Produktes, Produktion, Vertrieb, Kostenkalkulation, Marketing,
Belastung der Arbeiter und Verbraucher, Entsorgung und Umweltbelastung,
betriebliche und volkswirtschaftliche Kosten. Das heißt, der Lernende muss beim
Lernen die Vielfalt der Bezüge und die Bedeutung des Lerngegenstandes erfassen.
Dies fördert vernetztes Denken, reichhaltiges Denken, Soziale Verantwortlichkeit.
Wissen kann also erst als gelernt gelten, wenn es vom Lernenden willentlich und intentional
konstruiert und dadurch im Gedächtnis verankert wird, d.h. mit bereits vorhandemem Wissen
vernetzt und die jeweils subjektive Bedeutung neu synthesiert wird, so dass das Gelernte für
den Kommunikationsprozeß jeder Zeit verfügbar ist. Zur Wissenskonstruktion muß der
Lerner eine intrinsische Motivation entwickeln, indem er sich ein persönliches Ziel vor Augen
führt und einen sinnvollen pragmatischen oder affektiven Grund für seinen Lernprozeß
erkennt.
Lernen hängt nicht nur vom Grad des Vorwissens, der Aufmerksamkeit und des Interesses ab,
sondern auch vom Kontext, in dem Lernen stattfindet. Die moderne Gedächtnisforschung
zeigt, dass bei jedem Inhalt, der als solcher gelernt wird, auch mitgelernt wird, wer diesen
Inhalt vermittelt (Quellengedächtnis) und wann und wo das Lernen (Orts- und Zeitgedächtnis)
stattfindet. Dieser Kontext ist mitentscheidend für den Lernerfolg und wird zusammen mit
dem Wissensinhalt abgespeichert. Entsprechend kann schon der Lernkontext (Person, Zeit,
Ort) förderlich oder hinderlich für das Abrufen eines Wissensinhaltes sein. Lerninhalte, die in
schäbigen Klassenzimmern, in einer konfliktträchtigen und furchteinflößenden Umgebung
von lustlosen Lehrern vermittelt werden, haben deshalb eine geringe Chance, dauerhaft im
Gedächtnis verankert zu werden (Roth 2002).
Der Lerner begreift nur, was ihn in seiner Persönlichkeit ergreift, und es ergreifen ihn nur
Gegenstände, die ihn in seinem Lebensumfeld als Herausforderung erschüttern. Der
Unterricht besäße demnach die Aufgabe, den Lerner zu verunsichern, zu
desäquilibrieren, indem er fragen stellte und Paradoxe aufdeckte, antstatt vermeintliche
Antworten zu geben und Harmonie vorzutäuschen. Die Sinnkonstruktion wird durch den
Zweifel, das Staunen, das Dionysische, das Fremde, das Weite und den Widersinn angeregt
und nicht durch das Angebot und den Konsum von fertigen Weltbildern.
Kritikwilligkeit, Infragestellung sowie Ungehorsam und Revolte gehören also nicht zu den
Disziplinsünden des Schulalltags, sondern sind ein Zeichen von Interesse und Neugier,
Energie und positivem Konstruktionswillen, während blinder Gehorsam Indifferenz und
Unselbständigkeit bedeuten können. Wir wollen unsere Schüler also nicht wie Gänse
abfüttern, indem wir sie mit unserem Wissen sättigen und dadurch träge, unbeweglich, still
und dumm machen, sondern wir wollen ihre Dynamik anregen, ihren Wissenshunger und
Entdeckungsgeist, und sie im Spannungsfeld einer kompositionsreichen Arbeitsumgebung zur
Wissenskonstruktion provozieren.
Vorteile einer solchen Sicht auf den didaktischen Prozeß ist daher, dass ein Thema
vollständiger erarbeitet wird, da vom Lehrenden verschiedene Lernwege angeboten werden
müssen. Auch wird das Wissen wird nicht kurzfristig etwa für eine bevorstehende Prüfung
angeeignet, sondern durch die selbsttätige Konstruktion des Lerners in die vorhandenen
Strukturen integriert. Daher ist von vornehereinein Transfer des neuen Wissens auf andere
Situationen möglich.
Weitere Methoden eines konstruktivistischen Unterrichts
Quelle: http://vikar.ira.uka.de/teilprojekte/
tp31/Konstruktivismus/le_beck.htm (02-01-23)
In den letzten Jahren wurden verschiedene Modelle entwickelt, die sich zum Ziel gesetzt
haben, auf der Basis konstruktivistischer Lerntheorien, anwendbares Wissen zu vermitteln.
Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass an komplexen authentischen Problemstellungen
gearbeitet werden soll. Gestützt werden die Lernprozesse durch ein ausgewogenes Maß an
Instruktion.
Der Anchored- Instruction- Ansatz
Das Lehrverfahren, um das es hier geht, wurde von einer amerikanischen Forschungsgruppe
um John Bransford (Vanderbilt University) entwickelt. Ausgangspunkt war die Überzeugung,
dass es wichtig ist, Lehren in Lernumgebungen zu verankern, die von den Lernenden das
Lösen bedeutungshaltiger Probleme in möglichst authentischen Kontexten erfordern. Um
Probleme lösen zu können, eignen sich die Lernenden das erforderliche Wissen nicht nur
selbständig an, sondern nutzen es in einem Anwendungszusammenhang. Zugleich können sie
Erfahrungen sammeln, mit welchen Problemen Experten in dem jeweiligen Inhaltsbereich
konfrontiert sind und wie diese bei der Lösung solcher Probleme vorgehen. Solche
Lernumgebungen werden als generative Lernumgebungen bezeichnet.
Die "Cognition and Technoloy Group at Vanderbilt Universitiy" entwickelte eine Reihe von
Lernumgebungen für den naturwissenschaftlichen Unterricht ab Klasse 5. Es handelt sich
dabei um mehr oder weniger alltägliche Geschichten um die Person Jasper Woodbury. Diese
Geschichten werden in Form eines Videos (ca. 20 Minuten) präsentiert, an dessen Ende Jasper
Woodbury jeweils vor einem Problem steht, das die Schüler stellvertretend lösen sollen. Alle
für die Problemlösung erforderlichen Informationen sind in die Geschichte integriert.
Cognitive Apprenticeship
Collins und Brown (1989) entwickelten ein Lehr-/Lernkonzept, bei dem der Meister einen
Arbeitsvorgang zeigt (modeling), Hinweise gibt, korrigiert und bewertet (scaffolding bzw.
coaching) und sich schließlich nach und nach aus dem Prozeß zurückzieht (fading). Durch das
Zusammenspiel der drei Sequenzen erwirbt der Lehrling nicht nur berufsspezifische
Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern lernt auch, den Arbeitprozeß selbst zu planen, zu
steuern und zu bewerten. Im Unterschied zur herkömmlichen Berufslehre müssen allerdings
dort, wo es um das Erlernen kognitiver Fertigkeiten geht, Prozesse externalisiert werden, die
gewöhnlich intern ablaufen und Techniken wie z.B. "Nachdenken über Unterschiede"
(reflection on differences) zur Selbstkorrektur eingesetzt werden. Dieses Nachdenken über
Unterschiede wird dadurch initiiert, dass das Handeln von Experten und Novizen, d.h.
Selbsttun und Beobachten sich abwechseln. Zu Modeling, Scaffolding und Fading kommen
dann noch Articulation (z.B. durch peer-coaching, Gruppengespräche oder schriftliche
Dokumentation) und Reflection (z.B. durch lautes Denken, Führen von Arbeitsheften,
Arbeitsrück-blicke etc.) hinzu. In Analogie zur Vierstufenmethode aus der betrieblichen
Lehre betont die Metapher der kognitiven Berufslehre damit die aktive, situative, interaktive
und kulturell eingebundene Natur des Lernens.
Vierstufenmethode:




Vorbereiten: Lerngegenstand und -ziel erklären
Vormachen und Erklären: der Vorgang wird als gesamte Einheit und in einzelnen
Teilschritten gezeigt
Nachmachen: der Auszubildende vollzieht die Arbeitsschritte nach
Üben: das Gelernte wird durch selbständiges Üben gefestigt
Collins, Brown und Newman haben diese Schrittfolge auf das Lernen kognitiver Inhalte
übertragen und schlagen für das Lernen folgende Schrittfolge vor:
Schritt
Aktivität
Funktion
Modelling
Lehrer führt eine komplexe Handlung
aus (z.B. eine Erörterung schreiben)
und verbalisiert gleichzeitig die
Denkprozesse.
Lehrer präsentiert sich selbst als
Modell für die Ausführung einer
bestimmten kognitiven Leistung. Die
Lerner können sich so ein Bild von den
erforderlichen Prozessen machen.
Coaching
Lerner führen unter Anleitung und
Notwendige Teilfähigkeiten werden im
Beratung durch den Lehrer
engen Kontakt mit einem Experten
Handlungen aus, die Bestandteil der
(=Lehrer) aufgebaut.
angestrebten komplexen Fähigkeit
sind (z.B. eine Gliederung anfertigen).
Scaffolding Lerner und Lehrer führen gemeinsam
Zunehmend mehr Teilfähigkeiten
die komplexe Handlung aus. Der
Lehrer übernimmt nur diejenigen
Aufgaben, die der Lerner noch nicht
alleine ausführen kann. Diese
Hilfestellung wird mit zunehmender
Kompetenz des Lerners zurück
genommen (fading).
Articulation Lerner werden aufgefordert über ihr
Wissen, ihre Denkprozesse und ihr
Vorgehen beim Handeln zu sprechen.
Reflection
Lerner werden aufgefordert, ihr
eigenes Vorgehen und Handeln mit
dem anderer Lerner und dem des
Experten zu vergleichen.
Exploration Lerner werden aufgefordert,
selbständig nach neuen,
herausfordernden Problemen und
Aufgaben zu suchen und diese mittels
der erlernten Fähigkeiten zu lösen.
werden erworben und zu der
komplexen Handlung zusammen
geführt.
Metakognitives Wissen und
metakognitive Strategien werden durch
Verbalisieren bewusst gemacht.
Durch das kritische Beurteilen des
eigenen Vorgehens kann dieses nicht
nur verbessert sondern auch flexibler
gemacht werden. Zugleich kann von
der konkreten Anwendungs-Situation
abstrahiert und damit der Transfer auf
andere Situationen angebahnt werden.
Exploration fördert nicht nur
Selbständigkeit und intrinsische
Motivation, durch die Anwendung der
erlernten Fähigkeit in verschiedenen
Zusammenhängen wird diese eingeübt,
verfeinert und für künftige
Anwendungs-Situationen flexibel
gehalten.
Methoden - Cognitive flexibilitiy
Spiro, Feltovich, Jacobson & Coulson (1992) beschäftigten sich mit dem Transfer von
Wissen und Fähigkeiten über den ursprünglichen Lernkontext hinaus. Unter cognitive
flexibility verstehen sie die Fähigkeit, das eigene Wissen spontan rekonstruieren zu können und zwar adaptiv zu sich radikal verändernden Anforderungen spezifischer Situationen.
Wissen soll möglichst in unterschiedlichen Kontexten gelernt werden, sodass es anhand
mehrerer konzeptueller Dimensionen verankert wird. Bei der Gestaltung von
Lernumgebungen sollten Simplifizierungen vermeidet werden, die Inhalte sollten vielmehr
Komplexitäten und Irregularitäten realer Situationen aufzeigen. Lernen soll dabei
multidirektional und multiperspektivisch erfolgen, d.h., dass sowohl Zielsetzungen als auch
Betrachtungsperspektive mehrfach gewechselt werden. Von weiterer Bedeutung für das
Lernen ist die Konstruktion eigener (multipler) Repräsentationen des Wissens, also
gewissermaßen der "spielerische" Umgang mit dem eigenen Wissen.
Folgende Prinzipien für die Gestaltung von Unterricht lassen sich aus diesem Ansatz
ableiten:



Zum Lernen führende Handlungen müssen multiple Perspektiven des Inhaltes
anbieten
Lernmaterialien sollten Vereinfachungen der Inhaltsdomäne vermeiden und
kontextabhängiges Wissen unterstützen
Der Unterricht soll fallbasiert sein und die Konstruktion von Wissen betonen

Wissensquellen sollen miteinander in hohem Grade vernetzt sein
Siehe auch Neue Medien und Konstruktivistische Ansätze
Empfehlenswert ist der umfangreiche Methodenpool von Kersten Reich:
Unterrichtsmethoden im konstruktiven und systemischen Methodenpool - Lehren,
Lernen, Methoden für alle Bereiche didaktischen Handelns
Kritik am konstruktivistischen Ansatz
Unter Verwendung von
Douillet, Jacques (2001). Kritik am Radikalen Konstruktivismus.
http://www.andranet.de/
downloads/texte/kritikrk.doc (02-10-07)
Für von Glasersfeld gibt es nichts außerhalb der mentalen Vorgänge des individuellen
Geistes, deshalb kann man auch nicht außerhalb des Geistes gelangen. Mcarty (2000)
kritisiert dies als "Internalismus", denn wenn im Radikalen Konstruktivismus Begriffe nur
internalistisch konstruiert und somit nur intern gültig wären, können sich Begriffe nicht auf
mehrere Personen beziehen, was unter einer erzieherischen Perspektive notwendig erscheint.
Diese Einschränkung behindert nach Mccarty auch die Freiheit des Individuums mehr, als
dass es dieses befreit, denn es verschwindet die Freiheit, aus sich selbst etwas zu machen, das
verschieden ist, vielleicht sogar radikal anders als das, was in den vorgezeichneten
konzeptionellen Ressourcen des Selbst paßt. Unter radikal-konstruktivistischer Perspektive
wäre ihrer Meinung nach eine Selbstveränderung gar nicht möglich. Siebert (1999) zieht
hierbei das "Reframing" nach Watzlawick hinzu, d.h. eine Rekonstruktion des eigenen
Weltbilds, wenn sich dieses als nicht mehr viabel erweist. Diese Rekonstruktionen erfordern
sowohl ein Modifizieren oder Verlernen gewohnter Deutungen, als auch das Integrieren neuer
Verhaltensweisen und Wissen, was bei einem streng wörtlich genommenen Konstruktivismus
nicht möglich scheint.
Mccarty zeigt an dem extremen Beispiel des Rassisten auf, dass aus konstruktivistischer Sicht
dem überzeugten Rassisten unangebrachte Einschränkungen auferlegen würden, wenn man
sein Verhalten als unmoralisch bezeichnet, denn man könne sich hierbei nicht auf
intersubjektive Tatsachen berufen, d.h., es gibt auch keine allgemeinen Vorstellungen wie:
"Alle Menschen sind gleich". Eine Veränderung oder ein Reframing in diesem Beispiel wäre
nicht möglich und unter radikal-konstruktivistischer Perspektive auch nicht gewollt. Mccarty
nennt dies ein "geistiges Gefängnis", das den ethischen und sozialen Grundlagen von
Erziehung und Bildung widerspricht und somit die Praxis der Erwachsenenbildung in Frage
stellt, bzw. einem "konstruktivistischen Super-Gau" nahe kommt (vgl. Griese 1999).
Da der aktive Lernende im Vordergrund steht und eine direkte Vermittlung objektiven
Wissens unmöglich ist, kann und soll Wissen somit nicht direkt vermittelt werden. Mcartys
(2000) Kritik geht dahin, dass von Glaserfeld nur eine bestimmte Perspektive einnimmt, und
zwar ist es das Bild des Lernenden als einem kleinen Kind, das letztlich allein auf der Welt
ist. Das kommt durch seine Interpretation von Piagets Theorie der kindlichen Entwicklung
zum Ausdruck, denn er sieht den Lernenden im Lehr-Lern-Prozeß nicht in Interaktion mit
anderen, sondern Lernen seo beschränkt auf den inneren mentalen Akt eines individuellen
Organismus. Dabei ergibt sich nach Mcarty jedoch ein Widerspruch, wenn von Glasersfeld
fordert, dass der radikal-konstruktivistische Lehrer dem Schüler helfen soll, eigene
Weltbilder, d.h. Konstruktionen aufzubauen. Das Konstruieren muß schließlich selbst gelernt
werden, da es keine genetisch angelegte Fähigkeit des Menschen ist, sondern auch erst in
Interaktion mit Anderen erlernt wird. Wenn jedoch alles Lernen ein Konstruieren und nicht
eine Konsequenz von Vermittlung ist, dann gibt es keine Erklärung, wie man zuerst lernt zu
konstruieren. Griese (1999) sieht deswegen den Radikalen Konstruktivismus als eine
Erkenntnistheorie bereits sozialisierter Erwachsener und somit bleibt die anthropologische
Basis spekulativ und empirisch nicht beweisbar.
Aus der Lehrendenperspektive geht die erwünschte konstruktivistische Vielfalt verloren, da
es anscheinend auf das reine Aufbauen mentaler Strukturen beim Teilnehmer geht. Es ist
nicht einsichtig, dass objektives Wissen ausnahmslos zu einer bestimmten Didaktik führt. Von
Glasersfelds Kritik am objektiven Wissen geht fälschlicherweise mit einer unkreativen und
nichtindividuelle Didaktik (Vorlesung, Auswendiglernen, direkter Transfer von Wissen)
einher. Genauso wenig, wie es die konstruktivistische Methode gibt, ist objektives Wissen nur
durch eine Methode vermittelbar. Es gibt nicht die Methode für den Inhalt, sondern nur die
Methoden für die Teilnehmer. Es geht um eine flexible und vielseitige Gestaltung des LehrLern-Prozesses, das jedem Teilnehmer die Möglichkeit gibt das Wissen aus seinem
Hintergrund heraus zu verarbeiten. Manchmal ist das ein Rollenspiel oder ein
Gruppenprojekt, manchmal eine Diskussion und manchmal einfach eine Vorlesung.
Nach Mccarty (2000) ergibt sich durch das Kriterium der Viabilität auch ein ethisches
Problem, da es keine allgemein verpflichtende Moral mehr gibt, der Konstrukteur hat für
seine Konstruktionen und deren Konsequenzen anderen gegenüber keine Verantwortung mehr
und das nicht konstruiertes Wissen für den Konstrukteur nicht existiert und somit gibt es auch
keine Verantwortung dem Nicht-Wissen gegenüber. Nach Ludwig ist der Lernerfolg vom
Außenstandpunkt nicht beurteilbar und der konstruktivistische Lernbegriff ermöglicht keinen
inhaltlich bestimmten, kritisch-reflexiven Zugang zu Lerninhalten und Lernbegründungen. Er
fürchtet, dass die stärkere Subjektorientierung eine gesellschaftskritische
Orientierungslosigkeit mit sich bringt und das Verhältnis von subjektiven Deutungen und
gesellschaftlichen Strukturen unbestimmt bleibt. Griese (1999) kritisiert schließlich die
verschiedenartigen Konstruktivismen und ihre Vielfalt (systemischer, radikaler usw.),
darunter leide die Begriffsschärfe, es gäbe keine Klarheit, was Konstruktivismus ist und was
ihn von anderen Theorien unterscheidet. Nach Rustemeyer (1999) wecken Bildungsprozesse
als autopoietische Prozesse kaum Hoffnung auf Emanzipation, pragmatische Fragen nach der
konkreten Planung und Organisation erfolgreicher Lernprozesse bleiben weitgehend
ausgeblendet. Nach Terhart sei an der konstruktivistischen Didaktik nichts Neues und nichts
Radikales zu entdecken, allerdings werfen die neuesten Gehirnforschungsergebnisse und die
Verschränkung von Sozial- und Naturwissenschaften neue Fragen auf. Dies liegt vor allem
daran, dass der Radikale Konstruktivismus nie in seiner radikalen Form auftritt, sondern
immer schon gemäßigt. Nach Terhart ist es aber gerade diese Mäßigung, die dem
Konstruktivismus die Möglichkeit und die Legitimation für den Unterricht gibt. Der Radikale
Konstruktivismus würde die Didaktik sachlich unmöglich und moralisch illegitim, und somit
vollkommen überflüssig machen.
Selbstgesteuertes Lernen als modisches Paradigma?
Hinter dem häufig verwendeten Begriff des "selbstgesteuertes Lernen" verbirgt sich ein
facettenreiches Konstrukt, das dem konstruktivistischen Ansatz für erfolgreiches Lernen eine
neue Dimension verleihen kann. Allerdings werden unter diesem Begriff auch Ideologien
transportiert, die weit davon entfernt sind, dem Individuum zum Vorteil zu gereichen.
Mit der bildungspolitischen Diskussion und Kritik an bestehenden Bildungsauffassungen
entstanden Leitziele wie Selbstverantwortung und -bestimmung, sodass das Bild, das bis
dahin vom Lernenden gezeichnet wurde, eine mißtrauische und kontrollierende Einstellung
offenbarte, bei dem organisiertes und fremdgesteuertes Lernen im Mittelpunkt standen. Als
Gegenreaktion entwickelte sich ein neues Verständnis von Lernen mit einem hohen Maß an
freier Verfügung über den Lernprozess. Obwohl die Idee der Selbststeuerung beim Lernen
schon wesentlich früher formuliert worden ist - etwa bei Hugo Gaudig um 1920 in der Zeit
der reformpädagogischen Modellversuche oder auch der Humanistischen Pädagogik bei
Freinet und Montessori - wurde die Diskussion um das "self-directed learning" besonders in
den USA geführt. Hinter dem Begriff verbirgt sich allerdings eine diffuse und wenig
einheitliche Subsumierung von anthropologischen und lerntechnischen Auffassungen, die erst
seit dem Aufkommen der konstruktivistischen Lerntheorie ein theoretisches Fundament zu
bekommen scheinen. Selbstgesteuerten Lernens ist jedoch nach wie vor ein ziemlich buntes
Konglomerat sehr verschiedener Bedeutungen: es werden Persönlichkeitsmerkmale
aufgeführt, es geht um Methoden, Intentionen, Ziele und Arbeitstechniken, wodurch eine
unreflektierte Problematik der Gegenüberstellung von Subjekt- und Sachorientierung entsteht.
Das dialektische Verhältnis von Person und Sache läßt es jedoch nicht zu, einen Bereich zu
isolieren, ohne einer gewissen Willkür zu unterliegen. Beim Selbstgesteuerten Lernen geht
man von der Vorstellung aus, dass das menschliche Gehirn nicht die Realität abbildet,
sondern eine aus Wahrnehmungen, Erfahrungen, Gedanken, Gefühlen, aus Selbst- und
Fremdbildern, Projektionen und Verdrängungen geprägte subjektive Wirklichkeit, die
maßgeblich das menschliche Verhalten bestimmt. Damit unser Verhalten einer wirksamen
Bewältigung der Herausforderungen einer sich dynamisch verändernden Umwelt entspricht,
müssen wir ständig prüfen, inwieweit diese Bilder noch stimmen.
Die Bildung eines Subjekts geschieht nach wie vor - auch beim selbstgesteuerten Lernen durch die Auseinandersetzung mit Objekten der Lebenswelt. Selbstgesteuertes Lernen ist
daher nicht identisch mit einem gänzlich autonomen Lernen, sondern jedes menschliche
Lernen bewegt sich eher zwischen den Polen der Selbststeuerung und Fremdsteuerung, sodass
sich bei der Beurteilung eines konkreten Lernarrangements immer nur die Frage stellt, wie
nahe der eine oder andere Extremstandpunktliegt. Menschen sind in ihrem Denken, Wollen
und Handeln immer zugleich unabhängig und eingeschränkt, sodass sie eine Lösung dieses
dialektische Verhältnisses in ihrem Lernhandeln finden müssen.
Häufig wird in der Kritik am selbstgesteuerten Lernen auch geäußert, dass dieses weniger der
Selbstbestimmung bei der Festlegung von Interessen und Lerninhalten dient, sondern eher als
Werkzeug für die Nutzbarmachung von Humanressourcen im Interesse anderer. Oft ist es
auch die ideologische Legitimation zur Bereinigung von Lernprozessen, indem in
Organisationen zeit- und personalaufwändige und somit kostenintensive Bedingungen
verkleinert werden wollen, was fast immer zu Lasten der Lernenden geht. Wenn Lernanlass
und Lernort beliebig werden und Lernen ausschließlich auf einer individuellen Ebene
stattfindet, so ist jeder auf sich selbst gestellt. Diese Entgrenzung des Lernens führen häufig
auch zur Ausgrenzung jener Menschen, die verstärkt auf strukturelle Vorgaben und
Unterstützung angewiesen wären. Aktuell findet unter dem Aspekt der "Autonomie" und
"Individualisierung" auch eine Romantisierung von selbstgesteuertem Lernen statt, welche
sich in der Praxis kaum nachvollziehen läßt, zumal die Frage, wie Lernende sich mit Hilfe
selbstgesteuerter Lernprozesse Bereiche erschließen können, die vollkommen außerhalb ihres
Erfahrungsschatzes liegen, nur unzureichend beantwortet werden kann.
Ist Lernen nicht immer selbstgesteuert?
Die technokratische Bezeichnung "selbstgesteuertes Lernen" hat sich als Übersetzung des
englischen Begriffs "self directed learning" durchgesetzt. In dem Sammelband
"Selbstgesteuertes Lernen. Psychologische und pädagogische Aspekte eines
handlungsorientierten Lernens" wird von Jean Piaget in seinem Aufsatz "Life is essentially
autoregulation" (S.5) festgestellt. "Wenn aber Selbstregulierung das Wesen des Lebens ist,
dann kann auch das Lernen als Grundfunktion des menschlichen Lebens seinem Wesen nach
als ein selbstgesteuerter Prozess zur Selbstbehauptung und Überlebenssicherung der
Menschen verstanden werden." Obwohl menschliches Lernen immer ein gewisses Maß von
Selbststeuerung erfordert, ist selbstgesteuertes Lernen nicht identisch mit einem völlig
autonomen Lernen. So wird stets in einer konkreten Umwelt, die das eigene Lernen
herausfordert, anregt, beeinflusst oder behindert gelernt. Wenn der Lernende im wesentlichen
selbst entscheidet, wie er seine Lernumwelt und ihre Einflüsse für sein Lernen nutzt, handelt
es sich um ein selbstgesteuertes Lernen. Mit einer absoluten Forderung nach
selbstgesteuertem Lernen einerseits und einer bloße Mitwirkung der Lernenden bei der
Gestaltung ihrer Lernprozesse andererseits wird die begriffliche Spannweite deutlich. Bei
näherer Betrachtung werden auch Gefahren einer möglichen Überforderung des Lernenden
sichtbar. Praktisch wird das selbstgesteuerte Lernen als ein relativ selbstgesteuertes Lernen zu
verstehen sein, welches sich flexibel zwischen den Polen Selbststeuerung und
Angeleitetwerden bewegt. Da das selbstgesteuerte Lernen ein hohes Maß an Selbständigkeit
von den Lernenden erfordert, kann diese Form als höchste Form des menschlichen Lernens
angesehen werden. Da die Menschen in unterschiedlicher Weise diese Voraussetzungen
besitzen, bedürfen sie einer differenzierten Hilfe und Unterstützung. Im Zusammenhang
mit Lerngruppen wird der Begriff des selbstorganisierten Lernens wie ein Synonym des
selbstgesteuerten Lernens gebraucht. Die inhaltliche Nähe des selbstgesteuerten Lernens und
des informellen Lernen ist unverkennbar. Eine Abgrenzung des selbstgesteuerten gegenüber
dem fremdgesteuerten Lernen könnte dann vorgenommen werden, wenn die Beeinflussung
der Lernprozesse durch Unterstützungsmaßnahmen von außen nicht über das Maß, welches
beim Erfahrungslernen allgemein auftritt hinausgeht. Neben den allgemeinen
anthropologischen, pädagogischen und demokratiepolitischen Argumenten sind es vor allem
auch die pragmatischen Vorteile der besseren Flexibilität, Praxisnähe, Effizienz, KostenNutzenrelation und persönlichen Motivation, Befriedigung und biographischen Fundierung,
die heute für eine stärkere Beachtung und Förderung des selbstgesteuerten Lernens sprechen.
Quelle: http://www.htwm.de/hbarthel/home/lebensl.htm (gekürzt, W.S.; 06-12-12)
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http://home.tiscalinet.ch/biografien/images/maturana.gif (03 10 23)
Weitere Quellen:
http://www.ts-so.ch/weiterbildung/lernmethoden_konstruktiv.php (05-06-20)
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