Zahnersatz

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N.O. Nym
Zahnersatz
– Minikrimi –
Coverbild
Autor: Nep
Titel: "Virus"
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N.O. Nym
Liebe Leserin, lieber Leser!
Auch ein Krimi, der nichts kostet, sollte nur ordentlich verarbeitet in die Öffentlichkeit gelangen. Denn letztlich
kostet er den Leser doch etwas: Lebenszeit. Ich habe mich bemüht, dem gerecht zu werden. Doch beim finalen
Korrigieren stoße ich an meine Grenzen: Die Korrekturen laufen – unbemerkt – im Kopf statt auf dem Papier
ab. Ob ein Wort zu viel (das aus einer älteren Fassung übrig geblieben ist) oder eine Endung, die nun nicht
mehr passt: Ich bin stets versucht, mir meine Texte einfach „richtig“ zu lesen. Und der Duden-Korrektor hat
dummerweise ähnliche Aussetzer.
Darum: Für die Qualität der Geschichte halte ich den Kopf hin. Für orthografische und grammatikalische
Fehler kann ich nur um Entschuldigung bitten!
N.O. Nym
Nicht jeder, der irrt,
ist menschlich.
Gerhard Uhlenbruck
Wen Gott vernichten will,
den schlägt er vorher
mit Verblendung.
Lateinisches Sprichwort
1. Kapitel
Wahre Schönheit kommt von innen, heißt es beschwichtigend, weshalb das Wesentliche für die Augen
unsichtbar sei. Darum sehe man nur mit dem Herzen gut!
Große Weisheiten, fürwahr.
Nur retteten sie Bernwald Blender nicht.
Gleichgültig, wie man ihn sich drehte und wendete und wie raffiniert man Schönheit auch deutete: Es blieb
ein Unding, ihn sich schönzureden. Man hätte sagen können, seine Hässlichkeit spotte jeder Beschreibung –
wenn der Spott nicht stets Wege fände, das Unsägliche in Worte zu fassen. Deshalb gab es auch für Bernwald
Blender eine Beschreibung. Ein beruflicher Rivale hatte sich um sie verdient gemacht, der Blender alles
neidete, bis auf das Aussehen. Sie lautete:
»Beine vom Storch, Arsch vom Elefanten, Wampe vom Hängebauchschwein. Stiernacken, Mopskinn,
kleines, feuchtes Fischmaul. Habe ich die Froschaugen schon erwähnt?«
Wohlwollen geht anders. Aber ehrlich gesagt: Man konnte das Wohlwollen dehnen, bis es wie eine
Seifenblase platzte, ohne zu einem besseren Ergebnis zu gelangen. Dass Blenders altbackene Plumpheit derart
ins Auge stach, war allerdings einfach Pech, genauer gesagt: die Ungnade der späten Geburt. Noch in den
Siebzigern reichten ein paar Bundesschatzbriefe auf der Sparkasse und etwas Tabac Original ® unter den
Achseln, um solche Äußerlichkeiten zu übertünchen. Trug Mann dann noch einen unter nämliche Achseln
geklemmten Anzug und wechselte gelegentlich die Unterhose – Master of the Universe!
War einmal. In unseren Tagen hilft nicht mal ein unter die Achseln geklemmter Maßanzug gegen die
zeitgeistige Missbilligung zellulärer Dissonanzen. Will so ein Plumpsack heutzutage über die Runden und
Schönen kommen, muss er mehr vorweisen. Am besten schwarze Zahlen mit massig Stellen vor dem Komma.
Zahlen, hinter deren kalter Schwärze man, vor allem aber frau, ein wärmendes Feuer erahnt. Das Feuer puren
Golds, lupenreiner Diamanten und eines Kamins in einer Finca auf Malle.
Glücklicherweise konnte Blender mit solchen Zahlen aufwarten. Um sie sichtbar zu machen, hatte er sich
einige Schmuckstücke ins Schaufenster gestellt, darunter eine Gründerzeitvilla in einer der edelsten Frankfurter
Wohnlagen. Die Preziosen verdankte er nicht zuletzt einem diskreten Nummernkonto bei sicheren Kantonisten
jenseits der sieben Berge. (Und die eidgenössischen Zwerge verstecken nur ordentliche Summen). Man, vor
allem aber frau, musste also nur richtig hinsehen, um das gewisse Etwas von Dr. Blender auszumachen.
Das Vermögen war ihm übrigens nicht in die Wiege gelegt worden. Er hatte es sich im Laufe seiner
vierundfünfzig Lebensjahre hart erarbeitet. Er sprach von seinen Kronjuwelen, was nicht nur auf ihre betörende
Wirkung zielte, sondern auch auf ihren Ursprung: die Münder seiner prominenten Patienten. Die darin
enthaltenen, nicht immer filmreifen Beißwerkzeuge verwandelte Dr. Blender mit großem Geschick und vielen
Vollkeramikkronen in strahlende Blendwerke. Die solcherart Gekrönten entlohnten ihn fürstlich, und auf diese
Weise war mit jedem Zahn, den er aufhübschte, ein nicht minder hübsches Vermögen gewachsen. Er war ja
nicht aus purem Sadismus Zahnarzt geworden. Nein, Bernwald Blender hatte es sich zum Ziel gesetzt, in
Mündern nach Geldquellen zu bohren.
Mit dem Wachsen seines Kronjuwelenschatzes war die Lust auf seinen anderen Schatz verständlicherweise
geschrumpft: die Gattin ähnelte ihm leider. Außerdem hatte der Zahn der Zeit in den zwanzig Jahren ihrer Ehe
unschön an ihr genagt. Man muss es seinem Zartgefühl zuschreiben, dass er ihr nicht gleich den Zahn zog, sie
könnten gemeinsam alt werden. (Wer will schon, dass seine Frau alt wird.) Nein, er wartete ab, bis eine 36jährige in sein Leben trat, die man, um im Bild zu bleiben, nur als steilen Zahn bezeichnen konnte. Selbst
sprachlich stellte sie eine Verbesserung dar: Aus Helga wurde Elisabeth, das ließ sich doch ganz anders hören!
Nach einigen mehr oder weniger schönen Ehejahren (anfangs mehr, später weniger) hatte er die hormonelle
Phase der Zweisamkeit weitgehend hinter sich gelassen. Um ihn zur Benutzung der versteifungsfähigen Röhre
zwischen den Beinen zu verleiten, bedurfte es mittlerweile einer gewaltigen Testosteronausschüttung, nicht
gleich im Maßstab der Niagarafälle, aber fast. Zumal die Handvoll Männlichkeit da unten langsam, aber sicher
unter einem anderen Körperteil verschüttging. Ein Stöhnen im Schlafzimmer deutete jetzt also eher eine
Durchfallerkrankung an. Vor diesem Hintergrund ergab es sich von selbst, dass er Männlichkeit inzwischen in
einem ganzheitlichen Sinne verstand: der Mercedes, die Finca – solche Sachen. Überhaupt schien ihm der
Geschlechtsakt maßlos überbewertet. Ihn selbst jedenfalls interessierten Spesen mehr als Spermien und
Steuerschlupflöcher mehr als die Löcher, denen die gliedgeleiteten Geschlechtsgenossen hinterherhechelten.
Auch Elisabeth zeigte nach einigen ermüdenden Fehlversuchen, ihre Eierstöcke fortpflanzungsmäßig in die
Spur zu bringen, nur noch selten Interesse am Kontinent Down Under.
Obwohl Blender seine schöne Frau nur noch selten anfasste, erfüllte es ihn immer noch mit Stolz, sie sich
leisten zu können; auch nach sechs Ehejahren sah sie fast wie neu aus. Doch der Preis, den er für sie zahlte,
beschränkte sich dummerweise nicht auf das Pekuniäre. Zusätzlich kostete ihn das Luxusweib ein Leiden, das
viele Vermögende heimsucht: die Angst vor Verlust.
Es war nun nicht so, dass er Elisabeth grundsätzlich oder vollständig misstraute, das nicht. Eigentlich traute
er ihr sogar. Nur steckte in dem Wörtchen »eigentlich« eine riesengroße Hintertür, durch die man in eine
Parallelwelt gelangte, wo sich alles ins Gegenteil verkehrte. Da war die kleine Ehefrau ein großes Luder, auf
das man sich nicht verlassen dufte, wenn man nicht verlassen werden wollte. Und manchmal kam Blender nicht
umhin, die Parallelwelt zu betreten. Natürlich nur, wenn er triftige Gründe hatte. Zum Beispiel, wenn er zu
ungewohnter Stunde zu Hause anrief und Elisabeth nicht abhob oder erst nach verdächtiger Verzögerung.
Da Zahnärzte praktisch veranlagte Menschen sind, ging Blender das Problem entsprechend an: Er stellte eine
Haushaltshilfe ein, die beim Putzen und Bügeln das Haus und die Hausfrau im Blick hatte. Wegen der
immensen Kosten musste er sich allerdings mit einer Halbtageskraft begnügen. Die Leute machten sich ja keine
Vorstellung von den irrwitzigen Forderungen so einer Dunja oder Dubravka; die restjugoslawischen
Staubschupsen konnten Feilschen wie armenische Teppichhändler. Er hatte es zuvor natürlich mit einer
deutschen Putzfrau versucht, soviel Patriotismus durfte sein, wenn der Preis stimmte. Aber die Frau stank schon
vor Arbeitsantritt nach Schweiß wie ein orientalischer Puff nach Patschuli. Oder wonach so ein Puff eben stank.
Er hatte nie einen von innen gesehen, weder in Orient noch Okzident.
Die Putze deckte also die Nachmittage ab. Damit harrte die Frage, was Elisabeth an den unbeaufsichtigten
Vormittagen trieb, immer noch der Antwort.
War sie überhaupt zu Hause? Oder besaß sie die Raffinesse, das Telefon auf ihr Handy umzuleiten? Trieb
sie sich sonst wo mit sonst wem herum, während er sie im sicheren Hafen der Ehe wähnte? Die beauftragte
Detektei hatte behauptet, Elisabeth sei sauber. Aber wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob die Schnüffler
selbst sauber waren, ob das nicht alles ein abgekartetes Spiel war?
Er musste seiner Frau mal richtig auf den Zahn fühlen. Und mittlerweile wusste er auch wie.
Demnächst. Fürs Erste wollte er sich noch mit konventionellen Mitteln begnügen.
Blender sah auf die Uhr. Ihm blieb eine Viertelstunde bis zum nächsten Patienten. Er betrat eine mittelgroße
Abstellkammer, die ihm als Refugium diente. (In Luxus investierte er vornehmlich fürs Schaufenster.) Die
Sprechstundenhilfe hatte einen neuen Schwung der speziellen Studienlektüre für Prominentenzahnärzte auf
seinen Campingtisch geladen. Obenauf lagen BUNTE und Gala: die Präsentierteller, auf denen seine
Kundschaft ihre Medienexistenz verlebte. Weiter unten im Stoß steckten Small-Talk-Materialien wie Sport
BILD, GOLF JOURNAL und Cosmopolitan.
Ächzend nahm er auf dem Campingstuhl Platz. Die Herausforderung, sich das alles anzueignen, wurde nur
allzu leicht unterschätzt.
Blender befand sich auf dem Heimweg von der Praxis ins Holzhausenviertel, wo die Arbeitslosen Privatiers
heißen und Millionäre sind. Das Anwesen der viergebissigen Familie Reibach passierte er in
Gemeinwohlgeschwindigkeit, um keine Kundschaft über den Haufen zu fahren. Nach Frau Ich-hab-die-Zähneschön Reibach würde auch der Gatte bald einen kompletten Sichtschutz vor dem Mahlwerk brauchen; und die
Gören badeten die Beisserchen bereits fleißig in Zuckerwasser.
Der Reibach’sche Nobelschuppen verschwand aus dem Rückspiegel und Blender gab Gas. Als die
Tachonadel die Siebzigermarke erreichte, schaltete er den Motor aus. Der Schwung reichte genau, um
geräuschlos die Auffahrt hinauf bis in die Garage seiner Gründerzeitvilla zu gelangen; er hatte das längst
ausgetüftelt. Dort angekommen, schwang er den Elefantenarsch aus dem Auto und huschte auf Storchenbeinen
durch die Verbindungstür zum Haus. Leise schloss er hinter sich ab und schlich durch die Vorhalle zum
Haupteingang, den er ebenfalls zusperrte.
Auf legalem Wege kam hier niemand mehr raus.
Die Uhr zeigte Viertel nach elf. Elisabeth konnte unmöglich mit ihm rechnen. Er streifte die Slipper ab (die
er am Morgen mit Bedacht gewählt hatte) und trippelte auf Zehenspitzen die Renommiertreppe zum
Schlafzimmer hinauf. Vor der Tür atmete er tief durch.
Ich liebe dich doch! Wie kannst du mir das antun?
Da er nicht an Naivität litt, wusste er selbst, dass es nicht um Liebe im volkstümlichen Sinne ging. Nein, es
ging um etwas Größeres, einen aufgeklärten Zustand höchster Wertschätzung. So wie man einen Anzug liebt, in
dem man eine gute Figur macht. Oder wie man die vollen Brüste der Gattin liebt. Und die liebte er in der Tat,
mehr noch, er war stolz auf sie, die eine wie die andere! Während er die Hand behutsam auf die Türklinke
legte, blickten seine Augen wässriger denn je. Es lag am Tränenfilm, der sich in Erwartung demütigender
Entdeckungen gebildet hatte. Ein Fehltritt ging ja gar nicht fehl, sondern traf einen Mann an der
empfindlichsten Stelle, in seinem Fall am Hängebauch. Ihm grauste. Aber er war Manns genug, die Tür
aufzustoßen.
Habe ich dich erwischt!
Doch das Zimmer lag still und unschuldig vor ihm, das Bett jungfräulich unberührt. Durch das gekippte
Fenster drang Vogelgezwitscher, gerade so, als wolle es ihn in Sicherheit wiegen. Der cremeweiße
Chiffonvorhang blähte sich in einer Brise und man konnte dahinter die pastellblaue Tapete schimmern sehen.
Unverdächtig? Er hatte sich nicht bis hierhin durchgeschlagen, um dem Leichtsinn zu frönen.
Doch weder vor noch hinter der Tapete fand sich jemand.
Aber vielleicht in der antiken Kommode, die Elisabeth kürzlich erworben hatte? Beruhte der durchaus
vertretbare Preis auf baulichen Besonderheiten? Einem mannsgroßen Hohlraum womöglich? Er zog am Griff
der mittleren Schublade – und blickte auf champagnerfarbene Dessous.
Na gut, diese Runde geht an dich. Aber das Spiel noch lange nicht!
Um das Terrain unter dem Bett auszuspähen, drückte er seinen Hängebauch vorsichtig beiseite und schob
den Kopf unter den Rahmen. Wenn Elisabeth darauf spekulierte, ein tiefergelegtes Liebesnest sei seinen
Blicken anatomisch entzogen, dann unterschätzte sie seine Leidenschaft. Während seine Augen das
Schattenreich nach menschlichen Konturen absuchten, war er sich der Lächerlichkeit seiner Lage durchaus
bewusst. Doch er ertrug sie kraft der Liebe im weiteren Sinne, die er für seine Frau empfand. Er würde alles für
sie tun! Deshalb inspizierte er auch den Schrank.
Fehlanzeige.
Im Wechselbad der Gefühle, hin und her gerissen zwischen der Hoffnung auf die Lauterkeit seiner Elisabeth
und dem Hader über die Durchtriebenheit dieser Frau, fiel sein Blick auf das Parkett: gekalkte Eiche im
Landhausstil. (Es kostete normalerweise 125,90 Euro den Quadratmeter, aber er hatte einen Restposten für
vernünftige 49,99 Euro erstanden.) Eigentlich unmöglich, darunter ein Versteck einzubauen, es würde sich ja
durch die Wohnzimmerdecke drücken. Und uneigentlich? Sein Blick fuhr mit der Präzision eines Laserscanners
die Fugen entlang, ohne jedoch Unregelmäßigkeiten zu entdecken.
Er hatte Elisabeth Unrecht getan. Und er hätte es wissen müssen! Wozu auch immer sie sich hinreißen ließe,
nie würde sie das hohe Risiko des Schlafzimmerbeischlafs eingehen.
Dann vielleicht im Salon?
Bernwald beförderte seinen 120-Kilo-Korpus eilig ins untere Stockwerk. Gerade als er den Kopf durch die
angelehnte Salontür stecken wollte, erklang von hinten eine Stimme.
»Du? Jetzt schon?«
Er musste sich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, was er zu sehen bekäme. Die Verlegenheit in ihrer
Stimme kam einem Schuldeingeständnis gleich. Ihn packte eine schreckliche Angst, doch es half nichts, er
musste den Tatsachen ins Auge blicken. Also wandte er sich um.
Der Anblick erschütterte ihn zutiefst.
Auf ihrem Gesicht zeigten sich verräterische, auf bizarre Weise verschmierte Spuren. Ihr Blick war auf
bezeichnende Weise verklärt. Allerdings stand sie nicht etwa nackt oder im Negligé vor ihm, sondern in einer
Art Blaumann. Selbst in diesem unförmigen Aufzug stach die Wölbung ihres Busens wunderbar hervor.
Du darfst dich jetzt nicht ablenken lassen!
Was also hatte der Blaumann zu bedeuten? Neckische Rollenspiele? In der Hand hielt sie allerdings keinen
Kelch voll Liebestrank oder die »Zigarette danach«, sondern einen langstieligen Pinsel, von dem Farbe auf den
Marmorboden kleckste. Ein merkwürdiger Aufzug – aber verdächtig? Zumindest nicht in der Art, wie
Bernwald befürchtet hatte. Doch warum klang sie dann derart verdruckst? »Was ist hier los?«, verlangte er mit
belegter Stimme Auskunft.
»Warum bist du denn schon da, Bernwald?«
»Keine Gegenfragen, ich will wissen, was du hier treibst!«
Was du hier treibst. Elisabeth vernahm das Wort mit Bitterkeit. Seine Paranoia war nicht mehr auszuhalten,
schon lange nicht mehr. Sie hatte ihn nicht aus Liebe geheiratet, und zu behaupten, sein Vermögen hätte nichts
zu ihrem Jawort beigetragen, wäre gelogen gewesen. Sie hatte es einfach sattgehabt, im »sozialen Bereich« für
ein asoziales Gehalt zu schuften. Die Geldsorgen loszuwerden, das hatte schon eine Rolle gespielt, doch von
purer Berechnung konnte keine Rede sein. Sie hatte ihn gemocht. Seine Versuche, elegant zu erscheinen, hatten
sie gerührt: ein Flusspferd im Tutu, bildlich gesprochen. Trotzdem hatte sie ihn respektiert. Für die
Zielstrebigkeit, sich aus einfachen Verhältnissen hochzuarbeiten. Und für die Hartnäckigkeit, mit der er sie
umwarb. Sein Erscheinungsbild störte sie nicht im Mindesten; sie fand sich ja selbst nicht besonders schön.
Eine Meinung, mit der sie zwar weit und breit allein dastand, auf die es aber nun mal ankam. Nein, über
Äußerlichkeiten sah sie hinweg, selbst wenn sie sich ihr in aller Nacktheit präsentierten. So hatte sie seinen
Antrag mit dem festen Vorsatz angenommen, ihr Bestes zu geben. Er schätzte ihr Äußeres, sie die inneren
Werte seiner diversen Konten. Eine Art Verwertungsgemeinschaft. Das war doch eine ordentliche
Geschäftsgrundlage. Wenn die Eheleute einander wohlwollend begegneten, konnte sogar etwas Haltbareres
daraus werden als die sogenannte große Liebe.
Daran hatte sie geglaubt.
Deshalb hatte sie auch ohne zu zögern in den Ehevertrag eingewilligt, dem zufolge sie völlig leer ausginge,
wenn sie die Scheidung einreichte, oder wenn er es tat, weil sie einen Seitensprung begangen hatte. Genau
genommen ginge sie in beinahe jedem Fall leer aus, den die menschliche Fantasie zu ersinnen vermag.
Zunächst lief es wirklich gut. Bis er sie mit seiner Eifersucht traktierte, die zunächst nur lästig gewesen war,
bald jedoch entnervend und schließlich entwürdigend. Trotzdem bemühte sie sich immer wieder, Zeichen guten
Willens zu setzen.
»Es sollte eine Geburtstagsüberraschung werden«, beantwortete sie die Frage nach ihrem Treiben. Sie
schaute frustriert zu Boden, hob aber schnell wieder den Blick. Wenn Bernwald ihre Enttäuschung falsch
deutete, würde er das ganze Haus auf den Kopf stellen.
Er sah sie irritiert an. »Wieso Überraschung? Fragt sich doch, wer hier wen überrascht hat!« Es berührte ihn
selbst unangenehm, nach Volksgerichtshof zu klingen.
»Komm mit«, entgegnete sie müde. Er würde ohnehin keine Ruhe geben, bis er sich nicht zweifelsfrei
überzeugt hatte. Sie führte ihn die Treppe hinauf zum Dachboden und zeigte ihm das halb fertige Ergebnis ihres
Bemühens: ein Ölbild seiner mallorquinischen Finca, auf die er so stolz war.
»Für mich? Zum Geburtstag? Du bist die Beste!« Plötzlich lief er rot an. Wegen seiner dämlichen Eifersucht
hatte er ihr die Überraschung verpatzt. »Bitte entschuldige. Ich liebe dich über alles, darum schieße ich
manchmal übers Ziel hinaus. Das kommt nun nie mehr vor! Nie mehr!«
Nie mehr währte bis zum Nachmittag, allerdings des übernächsten Tages, was für Blenders Eifersucht eine
ziemlich lange Durststrecke darstellte. Er rief sie an und sprach von seinen Patienten und fragte nach ihren
Plänen und gestand ihr seine Liebe und fragte nach ihren Geständnissen. Das liebenswürdige Geplauder eines
aufmerksamen Gatten. Doch unverhofft hörte er etwas höchst Merkwürdiges im Hintergrund: ein Scheppern,
das mit dem gewohnten Klangbild im Haus und ums Haus herum nicht zu vereinbaren war.
Wo steckst du in Wahrheit?
Mit nahezu übermenschlicher Selbstbeherrschung widerstand er dem Drang, sich auf der Stelle Gewissheit
zu verschaffen. Geistesabwesend stocherte er in Mündern herum, während er in Gedanken den kürzlich
ersonnenen Plan konkretisierte, der ihr schändliches Tun endlich entlarven würde. Das dafür benötigte Utensil
hatte er sich bereits beschafft.
Als er gegen halb sieben zu Hause ankam, war er fest entschlossen, den Plan zügig umzusetzen. Daran
konnte weder Elisabeths wohlfeile Erklärung, die Geräusche seien auf Straßenbauarbeiten zurückzuführen,
noch der demonstrativ aufgerissene Gehsteig vor dem Haus etwas ändern.
Elisabeth hatte seine Lieblingsspeise auf den Tisch gezaubert, einen Sauerbraten, der die Bezeichnung
verdiente. Er lobte ihre Kochkünste, war jedoch mit den Gedanken woanders. Beim Dessert angelangt,
eröffnete er Phase I der Operation: Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, als wäre er auf etwas
aufmerksam geworden.
»Habe ich etwas zwischen den Zähnen?«
»Nein, mein Engel, nicht zwischen, sondern an den Zähnen.«
Er beobachtete, wie sie verstohlen mit der Zunge über ihr Gebiss wischte.
»Was denn?«
»Einer deiner Zähne weist eine Verfärbung auf. Noch nicht dramatisch, aber wir sollten prophylaktisch
dagegen vorgehen.«
»Wenn du es sagst«, entgegnete sie zurückhaltend. Er würde ihr ja nicht gleich die Zähne ziehen, um
potenzielle Nebenbuhler abzuschrecken. Oder?
Er nickte zufrieden. Jetzt erwies es sich doch noch als Glück, dass sie von seinem ursprünglichen
Hochzeitsgeschenk nichts hatte wissen wollen: der Verblendung ihres Kauwerkzeugs. Es war zwar nicht übel,
nur eben nicht von dem strahlenden Weiß, wie es einer Zahnarztfrau gut zu Gesichte stünde. Elisabeth hatte die
»unnötige Kosmetik« abgewehrt, was er einerseits etwas naiv fand, ihm andererseits aber bewiesen hatte, dass
sie ihn nicht um schnöder Vorteile willen heiratete.
»Komm Montag während meiner Mittagspause in die Praxis, dann habe ich die nötige Ruhe.«
Die Zeit bis dahin brauchte er, um einen Testlauf zu starten.
2. Kapitel
Blender zögerte, die Klinke zu drücken. Ihn erwartete der letzte Patient, bevor er von Bankern zu Parkbankern
wechseln würde, von Leuten, die im Scheinwerferlicht standen, zu solchen, die nicht mal die Scheinwerfer
halten durften. Denn in neunzig Minuten stand sein monatlicher Auftritt in der Elisabeth-Straßen-Ambulanz an.
Dort behandelte er im Namen der Caritas – und der Menschlichkeit! – ehrenamtlich Obdachlose; die lokalen
Medien hatten wohlwollend darüber berichtet. Dieses Mal würde er sich besondere Mühe geben: Wen immer es
in den Behandlungsraum verschlagen sollte, würde eine Spezialbehandlung erhalten.
Aber erst musste er den Problemfall hinter der Tür abarbeiten. Dort erwartete ihn Dr. Zähler, eine schnittige
Bilderbuchschönheit mit grau melierten Kotflügeln. Der toughe Vorstandsvorsitzende des Investmentkonzerns
Wallpapers war äußerst schmerzempfindlich. Zwar gehörte gelegentliches Stöhnen zur normalen
Geräuschkulisse einer Zahnarztpraxis (wenngleich Blender zu Recht ein Fummler vor dem Herrn genannt
wurde und zu solchen Missfallensäußerungen keinerlei Anlass gab). Doch dieser Patient stöhnte definitiv
anders. Und mied die schmerzstillende Spritze wie der Teufel das Weihwasser! Angeblich hatte er Angst vor
dem Piecks. Von wegen, der Mann wollte sich nur nicht um sein Vergnügen bringen lassen. Er genoss die
Schmerzen! Obwohl längst im Besitz eines Dentalkunstwerks, tauchte er immer wieder wegen irgendwelcher
nebulösen Probleme auf und nötigte seinen Zahnarzt, zum Bohrer zu greifen. Wenn Blender das Instrument in
dessen Mund führte, um einen Zahn »zu penetrieren«, fühlte er sich wie … das konnte man gar nicht in Worte
fassen! Empörend, seine Praxis war doch kein Sadomaso-Kabinett! Nur: Was sollte er tun, der Mann zwang ihn
gewissermaßen dazu – mit hohen Barzahlungen und geringem Interesse an Rechnungen. Trotz dieser
Verlockungen hätte Blender ihn am liebsten vor die Tür gesetzt. Doch Leithammel Zähler würde vielleicht
andere mit sich ziehen. Und wenn erst der Herdentrieb einsetzte … Blender war eben, allen Bemühungen zum
Trotz, selbst kein Promi. Immer noch nicht. Natürlich konnte er eine gewisse Stellung auf der lokalen Bühne
beanspruchen, zumal er einige respektable Ehrenämter innehatte, doch zur Crème de la Crème zählte er nicht.
Er hätte in seiner eigenen Praxis mit den Behandlungsräumen für No-Names vorliebnehmen müssen, in denen
drei angestellte Zahnärzte die Business Class bearbeiteten. Irgendwie war er für die Hautevolee immer nur der
Zahnwart ihres Vertrauens geblieben. Einen popeligen Haarschneider wie Udo Walz ließ man mitspielen, aber
einem promovierten Dr. Blender verwehrte man den Zutritt. Musste er erst mit Männern ins Bett steigen? Er
verstand es nicht.
Seufzend drückte er die elegant geschwungene Türklinke und betrat den VIP-OP, ein Designerstück für
dentale Events mit Terrakottaboden und gewischten Wänden. Aus letzteren plätscherte gerade Händels
Wassermusik. Zähler rekelte sich mit nur mäßig kaschierter Vorfreude im lederbespannten und
klimagepolsterten Thron.
Blender begrüßte den Investmentfürsten mit süßsaurem Lächeln und nahm eine Kürette vom Designer-Tray.
Die Öffentlichkeit hatte ja nicht die geringste Ahnung, mit was für Leuten Zahnärzte sich herumschlagen
mussten.
Als Blender eineinhalb Stunden später auf den Eingang der Elisabeth-Straßen-Ambulanz in der Frankfurter
Innenstadt zuging, kam ihm Michaela Lauter entgegen, die ehrenamtliche Leiterin der zahnärztlichen
Abteilung. Der kühle Gruß, den sie ihm mit minimalistischem Nicken entbot, war eine Frechheit, die sich ein
Dr. Blender nicht bieten lassen musste!
Blöde Sau!
Er wusste schon, warum die kleine Zahnärztin ihn nicht mochte: purer Neid! Er legte für ihren Geschmack
zu großen Wert auf die Würdigung seines Beitrags in der Presse. Die Zahnreißerin hatte ja keine Ahnung!
Wenn er längst das Bundesverdienstkreuz am Revers hängen hätte, würde sie es zu nicht mehr gebracht haben
als einer Ehrenurkunde der Caritas. Die konnte sie sich dann ins Klo hängen. Lauter würde es nie zu etwas
bringen! Zwar fuhr sie ebenfalls einen Benz, aber nur die A-Klasse: A wie armselig. Der Baby-Benz glich
seiner eigenen S-Klasse wie Löwenzahn einem Raubtiergebiss!
Im Behandlungsraum erwartete ihn bereits ein Patient. Blender konnte sein Glück kaum fassen:
Ausgerechnet Johnny Walker hatte es auf den Stuhl verweht. Den Namen hatte sich der Penner einerseits
wegen seines Lieblingsgetränks eingehandelt (für das sein Geld wahrscheinlich selten reichte), andererseits
wegen seiner Fußmärsche. Wer Johnny heute in Frankfurt antraf, konnte ihn morgen in Friedberg vorfinden
und übermorgen womöglich in Florenz. Der Mann gierte richtiggehend nach Bewegung – und das passte
Blender hervorragend in den Kram. Einen besseren Kandidaten für den Testlauf konnte es gar nicht geben.
Danach würde er wissen, ob und gegebenenfalls wie der Plan funktionierte, mit dem er Elisabeth auf die
Schliche kommen wollte. Er hörte nur mit halbem Ohr zu, als Johnny von Schmerzen faselte. Darum würde er
sich beim nächsten Mal kümmern, bis dahin müssten es Tabletten tun. Hier und heute blieb nur Zeit für die
spezielle Behandlung.
»Diesmal ist es eine etwas größere Sache, mein Freund«, sagte er jovial, nachdem er Johnnys Mundhöhle
pro forma inspiziert hatte. »Keine Sorge, wir schaukeln das schon. Am besten, die Augen geschlossen halten
und an etwas anderes denken. Und wenn wir brav sind, gibt es zur Belohnung hinterher eine kleine Geldspende
– für eine Flasche Johnny Walker!«
3. Kapitel
Seit drei Tagen legte Dr. Blender ungewöhnlich viele Pausen während der Arbeit ein. Die Sache mit Johnny
Walker klappte noch besser als gehofft und überbot an Spannung jeden Krimi; er war beinahe süchtig danach.
Auch jetzt zog es ihn wieder in die Lounge, den exklusiven, aber kaum genutzten Patientenwartebereich für
die VIPs. (Blender packte jeden Termin in großzügige Zeitpolster, denn VIPs litten von Natur aus an
Wartezimmerintoleranz.) Er kam hierhin, weil die WLAN-Verbindung in der Abstellkammer nicht
funktionierte. Denn sein Interesse galt zwei frisch erworbenen mobilen Kommunikationsgeräten aus dem Hause
Apple: ein Handy namens iPhone und ein Tablet-Computer namens iPad. Sein altes Handy hatte sieben Jahre
auf der Platine und in seinem Laptop werkelte ein einsamer Kern, wenn überhaupt. Zu schwachbrüstig für die
Durchführung seines Plans. Er brauchte leistungsfähige Geräte und zu seinem Unglück hatte man ihm die
unfassbar teuren Produkte von Apple empfohlen.
Blender schloss die Tür hinter sich und nahm am Tisch Platz, den Rücken wie immer dem Sideboard
zugewandt. Das Möbel stammte vom italienischen Stardesigner Ettore Sottsass und sah aus, als hätten es
Dreijährige im Drogenrausch entworfen. Blenders Meinung nach passte es in die mediterrane Umgebung wie
bunte Smarties auf eine Pannacotta. Nur dass es auf seine Meinung nicht ankam. Das Sideboard
kontrapunktiere in seinem Formwillen die Lässigkeit italienischer Lebensart, hatte ihm sein Innenarchitekt
beigebracht. Und der musste es ausweislich seiner exorbitanten Honorare wissen. Blender konnte nur hoffen,
die Kundschaft möge das »Kultobjekt« als solches erkennen; am liebsten hätte er das Preisschild drangelassen.
Er entriegelte das iPad und tippte auf ein Icon, begierig darauf zu erfahren, was es Neues von Johnny Walker
gab. Der Testläufer sollte um neunzehn Uhr zur ›Nachsorgeuntersuchung‹ erscheinen. Blender hatte ihn in
seine am Rossmarkt gelegene Praxis bestellt. Johnny dürfe den Termin keineswegs versäumen, wenn er seinem
Restgebiss nicht den Todesstoß versetzen wolle, hatte er ihm eingeimpft. Außerdem hatte er mit einem
Zuschuss für weitere Whiskeyflaschen gewinkt. Und den Informationen im iPad zufolge bemühte sich Johnny,
den Termin einzuhalten.
Zufrieden wandte sich Blender der geplanten Krönung von Pinky zu, wie er Gloria Pinkwart insgeheim
nannte. Das dralle Ding hatte nach einem freizügigen Aufenthalt im Big-Brother-Container die erhoffte
Popularität und entsprechende Einnahmen abgesahnt. Letztere wollte sie in erfreulicher Höhe in dentales Dekor
stecken. »Man muss in sein Lachen investieren, Doktor, damit es einem nicht vergeht«, hatte die
Neuprominente ihn neunmalklug belehrt – als wäre er irgendein dahergelaufener Zahnpfleger. Er hatte nur
unbestimmt genickt; das Schmerzensgeld für die Erduldung dummen Geredes bildete einen unsichtbaren Posten
in seinen Rechnungen. Außerdem spekulierte er darauf, dass Pinky ihm aus dem Kreis ihrer neuen
Lebensabschnittsfreunde jemanden von haltbarerer Prominenz zuführte. Sie selbst würde ja bald wieder in der
Versenkung verschwinden.
Punkt neunzehn Uhr stand Johnny auf der Matte. Der Mann war ein Penner, aber ein pünktlicher, das musste
man ihm zugestehen. Blender führte ihn in sein Behandlungszimmer.
»Mensch, Doc, was nur ’ne Verschwendung!«
»Wie meinen?« Blender klang erbost. Lieber hätte er sich einen Totschläger nennen lassen als einen
Verschwender.
»Na, was schon? Hier sieht’s ja aus wie in Schöner wohnen. Als ob einem beim Zahnklempner nach
Toskana wär.«
»Ach so, das.« Den »Zahnklempner« schluckte Blender nur mit Mühe, aber den Einwand teilte er voll und
ganz. »Ist nicht auf meinem Mist gewachsen«, erklärte er. »Das hat ein Innenarchitekt verbrochen. Und der
schwört, dass meine Kundschaft in der Kulisse eines italienischen Landhauses behandelt werden will – selbst
wenn sie gar nicht hinsieht. So ist das eben in meinem Business. Und nun bitte Platz zu nehmen. Ich habe auch
was Schönes.« Er holte eine Flasche Johnny Walker für Johnny Walker hervor und ermunterte letztere, erstere
zu öffnen.
Bald hatte er den Penner von seiner Füllung befreit und das Loch fachmännisch verschlossen. Anschließend
widmete er sich dem eigentlichen Problemzahn, dem die Sanierung eine letzte Galgenfrist bescheren würde.
»Bist ’n prima Kerl, Doc«, bedankte sich Johnny achtzig Minuten später leicht angesäuselt. »Wenn noch ma
was is, soll ich dann gleich hierhin kommen?«
Blender schüttelte entsetzt den Kopf. »Beim nächsten Mal sehen wir uns wieder in der Ambulanz,
verstanden?«
Der Penner nickte nonchalant und verschwand.
Blender atmete auf. Der Test hatte perfekt geklappt, es gab Anlass zu Optimismus. Vom Jagdfieber gepackt,
war er sich gar nicht mehr sicher, ob er lieber Elisabeths Schuld oder Unschuld herausfinden wollte.
So oder so würde er bald Gewissheit haben.
»Vergiss bitte nicht, morgen pünktlich um zwölf zu kommen, ich lasse extra für dich meine Mittagspause
ausfallen«, ermahnte Blender die Gattin gegen Ende des sonntäglichen Abendessens.
»Das ist nett von dir. Nur, weißt du, Schatz, meine Zähne fühlen sich vollkommen gesund an.«
»Ziehst du gerade meine Kompetenz in Zweifel?«
»Nein, nein, niemals. Ich meine nur … Also, ich spüre nicht den Anflug von Schmerzen.«
»Eine Zahnarztfrau wartet nicht, bis es schmerzt«, entgegnete er trocken.
Elisabeth nickte resigniert. Sie fühlte sich zurzeit wie eine Lagergefangene und die Vorstellung, der
Lagerarzt würde sich an ihren Zähnen zu schaffen machen, verursachte ihr eine Gänsehaut. Schlagartig
erkannte sie, wie schlecht es ihr ging. Die Kräfte verließen sie. Es musste sich endlich etwas zum Besseren
wenden, sonst würde sie wie Schilf in der Wüste verdorren. Sie sehnte sich nach Wertschätzung und von
Bernwald war sie offenbar nicht mehr zu erwarten. Selbst ihre Rundungen interessierten ihn nicht mehr, es sei
denn, sie steckten in einem engen Cocktailkleid und erregten Aufmerksamkeit.
Kommt Zeit, kommt hoffentlich Rat, dachte sie.
Aber am Behandlungsstuhl führte wohl kein Weg vorbei.
4. Kapitel
Elisabeth rutschte nervös im Stuhl herum, während Bernwald die Röntgenaufnahme betrachtete. Sie fühlte sich
wie auf einer Folterbank.
»Falscher Zahn, richtiger Verdacht. Machen wir uns gleich ans Werk.«
Sie zuckte zusammen. »Was ist denn los, Bernwald?«
Er hielt ihr die Aufnahme vor die Nase. »Der Zahn, der mir aufgefallen ist, hat noch etwas Zeit. Ein anderer
hingegen gibt Anlass zur Sorge.« Er deutete auf die untere Zahnreihe. »Schau, hier im dritten Quadranten, 37.
Ist kariös. Ich werde bohren müssen.«
»Nein, bitte nicht, so schlimm kann es doch gar nicht sein.«
»Ist es, ich zeige es dir.«
Er schaltete den Bildschirm ein und führte die Intraoralkamera an den Backenzahn.
»Siehst du die kleine dunkle Stelle? Das ist Karies, eine kariöse Läsion, um präzise zu sein. Ich werde sie
exkavieren, dann ist alles wieder gut.«
Elisabeth sah keine dunkle Stelle, aber was sollte sie machen? Dem Meister widersprechen?
»Ich fühle mich heute nicht so gut«, wandte sie zaghaft ein, was nicht einmal gelogen war. »Bestimmt hat es
noch etwas Zeit, Schatz.«
»Wehret den Anfängen.« Er zog eine Betäubungsspritze auf. »Bitte nimm die Augenmaske, dann kannst du
besser entspannen.«
Zögernd ergriff sie die schwarze, samtweiche Maske. Sie war hin und her gerissen: Einerseits wollte sie
lieber nicht sehen, was er machte, andererseits wollte sie es genau sehen. Er ist dein Mann, du musst ihm
vertrauen, mahnte sie sich und ergab sich ihrem Schicksal.
Blender spritzte ihr das Anästhetikum. Nebenbei berieselte er sie wie von selbst mit launigen Betrachtungen
über das aktuelle Promigeschehen, eine Art Pawlowscher Reflex: Patient – Small Talk. Die Einwirkzeit nutzte
er, um seinen Arbeitsplatz herzurichten. Seine Assistentin hatte er in die Mittagspause geschickt – es durfte
natürlich niemand sehen, zu welchen Missetaten seine Frau ihn nötigte.
Die Betäubung wirkte, es konnte losgehen. Er zog den Diamantbohrer aus dem Instrumententräger und
begann, den Zahn zu eröffnen. Der Zahnschmelz war äußerst hart. Einen heileren Zahn konnte man sich kaum
vorstellen und er hatte Skrupel, ihn aufzubohren. Nicht zu ändern, was sein musste, musste nun mal sein.
Immerhin stellte er Elisabeth die Barclaycard Double Platinum zur Verfügung, da durfte er wohl eine gewisse
Nachsicht erwarten. Er verstärkte den Druck auf den Bohrkopf, um schneller voranzukommen, schon sammelte
sich Speichel, der abgesaugt werden musste. Eine helfende Hand hätte der Sache nicht geschadet.
Elisabeth starrte in die Düsternis der Augenmaske und versuchte mit allen verfügbaren Sinnen zu ergründen,
was in ihrem aufgerissenen Mund vor sich ging. Aber sie konnte weder das mysteriöse Surren, Brummen und
Zischen irgendeiner sinnvollen Tätigkeit zuordnen, noch die seltsamen Bewegungen, die dort stattfanden.
Vielleicht wurde dort in einem Zahn gebohrt. Vielleicht auch nicht. Ihrem Gefühl nach fuhrwerkte Bernwald
immer heftiger herum. Plötzlich durchfuhr sie ein messerscharfer Schmerz.
»AUA!«
Sie riss sich die Maske von den Augen. Bernwald stand in extremer Schräglage über sie gebeugt, ein Bein
auf den Boden gestemmt, das andere abgespreizt. Von seinem puterroten Kopf tropfte Schweiß auf ihre
Schutzserviette.
»Scheiße!« Er richtete sich auf und wischte sich die Stirn ab. »Deine Zähne sind wirklich kein Vergnügen
für einen Zahnarzt!«
»Was machst du denn die ganze Zeit?«
»Den verdammten Zahn aufbohren, was sonst? Das Ding ist hart wie Panzerplatten.«
»Ist das denn nicht gut?«
»Setz die Maske wieder auf, ich bin fast durch.«
»Und warum assistiert niemand?«
»Kam nicht aus. Nun mach schon.«
Schließlich hatte er den Zahn so weit wie möglich ausgehöhlt. Elisabeth lag verkrampft im
Behandlungsstuhl, die Hände wie zum Gebet im Schoß gefaltet. Aber sie muckte nicht auf. Um keine Zeit zu
verlieren, rührte er bereits die medizinische Einlagefüllung an. Sie sollte das Druckgefühl dämpfen, das der
Gegenstand vielleicht verursachen würde, den er in den Zahn einzubringen gedachte.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Elisabeths Augenmaske keinen Sichtspalt aufwies, schlich er zur
Schrankzeile und holte den Gegenstand heraus: einen Minipeilsender. Es gab auf der ganzen Welt angeblich
keinen kleineren. Dem anonymen Internethändler zufolge stammte das Wunderwerk der Miniaturisierung vom
israelischen Auslandsgeheimdienst. Angeblich hatte der Mossad es selbst hergestellt, wenngleich
wahrscheinlich nicht speziell für die Verbauung in Backenzähnen. Im Handel frei erhältliche Sendegeräte,
sogenannte GPS-Tracker, hatten mindestens die Größe einer Streichholzschachtel. Den Minisender hingegen
würde er mit etwas Geschick und/oder Gewalt in Elisabeths Zahn unterbringen. Das Gerät würde ihn mit einer
Positionsgenauigkeit von drei Metern über Elisabeths Stehen und Gehen informieren. Blieb nur zu hoffen, dass
der Mossad nicht plötzlich in der Tür stand.
Nach einigem Vor und Zurück hatte er den Sender endlich versenkt. Er passte gerade so, Glück gehabt. Nur
die haarfeine Antenne ragte noch heraus. Er popelte sie mit einer Sonde hinein. Anschließend nahm er den
Kugelstopfer und legte die Füllung, dann modellierte er sie mit dem Heidemannspatel. Noch ein wenig
Polieren, und die Sache war geschafft.
Er atmete auf.
»Das war es schon, mein Engel!«
Er zog ihr die Maske von den Augen und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Wie er sie doch liebte.
»Kann ich es mal sehen?«
»Natürlich«, sagte er beschwingt und reichte ihr einen Mundspiegel.
Ängstlich ergriff Elisabeth den Spiegel. Kein Zahn fehlte, Gott sei Dank! Vielleicht hatte sie sich nur
eingebildet, Bernwald wolle ihr etwas Böses.
»Siehst du, alles in bester Ordnung. In einigen Tagen, wenn ich von der Konferenz zurück bin, bekommst du
das Inlay und schon hast du es überstanden.«
Es sei denn, ich erwische dich bei einem Fehltritt, fügte er in Gedanken hinzu.
Am Abend packte Blender seinen Koffer für die dreitägige Konferenz. Gewöhnlich übernahm Elisabeth diese
Aufgabe. Doch da er nicht wirklich zu einer Konferenz fuhr und diesmal mehr Wert auf Fernglas und Kamera
als auf Krawatten und Einstecktücher legte, erledigte er es ausnahmsweise selbst. Was sein Ziel betraf, das
Courtyard Marriott in Gelsenkirchen, hatte er hingegen nicht gelogen. Sobald er morgen Mittag dort
angekommen war, würde er sie anrufen, ihr seine Zimmernummer durchgeben und sich von ihr zurückrufen
lassen.
Sie sollte sich in Sicherheit wiegen!
Danach ginge es auf schnellstem Weg die rund 250 Kilometer nach Frankfurt zurück – und dann immer den
Signalen des Peilsenders nach. Er hatte den vermeintlichen Tagungsort mit Bedacht gewählt: Einerseits sollte
Elisabeth ihn relativ weit weg wähnen und andererseits musste er schnell genug pendeln können, um ihr im
Moment der Wahrheit die Maske vom Gesicht zu reißen.
Er war gewappnet!
Das Courtyard Marriott erwies sich als einer der typischen Hotelkettenkästen. Immerhin konnte man die
großzügige, mit Wurzelholz gespickte Suite als standesgemäß akzeptieren.
Die beiden Telefonate mit Elisabeth hatte Blender bereits hinter sich, nun begann er, seine
Überwachungsstation einzurichten. Er platzierte iPhone, iPad und die Bedienungsanleitung für den Peilsender
vor sich auf dem Kingsizebett. Den Sender hatte er bereits daheim konfiguriert: Er würde Elisabeths
Positionsdaten per SMS an das iPhone senden, sobald sie den virtuellen Geo-Zaun überschritt. Dabei handelte
es sich um eine durch GPS-Daten definierte Zone. Er nahm das iPad und rief die Kartensoftware auf. Indem er
mit der Fingerspitze ein Rechteck auf der Karte markierte, zog er den »Zaun«. Er reichte vom Haus bis zum
Bioladen, wo Elisabeth kleinere Einkäufe tätigte. In diesen Grenzen konnte sie sich unbemerkt bewegen. Oder
sollte er den Zaun noch enger fassen? Nein, zu riskant. Der Miniakku des Senders würde nicht ewig reichen.
Wenn er ständig Daten übermitteln musste, würde er womöglich schlappmachen, bevor Elisabeth ihre
schändlichen Gedanken in die frivole Tat umsetzte.
Blender nahm das iPhone und rief den Sender in Elisabeths Backenzahn an. Die Verbindung war nun
hergestellt. Sobald der Sender Positionsdaten an das iPhone schickte, würden sie per Bluetooth an das iPad
weitergeleitet. Dort würde eine Software die Daten auswerten und die Position in der Karte einzeichnen.
Zwar konnte sich Elisabeth den Lover auch ins Haus holen, doch er glaubte nicht daran. Madame würde sich
nicht der Unbequemlichkeit aussetzen, Spuren beseitigen zu müssen.
Er starrte auf das Handy, wo sich aber bislang ebenso wenig tat wie auf dem Tablet. Es kribbelte ihn am
ganzen Körper. Die Warterei machte ihn schier verrückt! Als er entsetzt bemerkte, wie er an den Fingernägeln
zu kauen begann, gab er sich einen Ruck. Statt sinnlos auf Meldungen zu warten, sollte er sich lieber auf den
Rückweg machen!
Um achtzehn Uhr saß Blender in einem Zimmer des Frankfurter Ramada nahe der Messe. Und er saß da wie
auf heißen Kohlen. Denn seine Kommunikationsgeräte schwiegen, als wären sie einem Schweigeorden
beigetreten. Er musste endlich wissen, ob der Sender überhaupt funktionierte, vielleicht war bei der
Implantierung etwas kaputtgegangen. Allerdings hatte er die Bedienungsanleitung dummerweise in
Gelesenkirchen vergessen. Wenn er nun eine Sonderabfrage der aktuellen Position startete, beging er
womöglich einen nicht wiedergutzumachenden Fehler. Einfach abzuwarten, war allerdings auch keine Option,
seine Nerven ertrugen diese Ungewissheit nicht mehr. Er hatte sich zwar vorgenommen, Elisabeth in Ruhe zu
lassen, sie sollte sich ja frei fühlen, doch jetzt griff er zum Handy.
Sie meldete sich bereits nach dem zweiten Klingeln – als habe sie vor dem Telefon gelauert, um ihm
vorzugaukeln, sie sei weiterhin sein treues Heimchen.
Er befinde sich in Harry’s Bar, unten in der Hotellobby, log er. (Aber es gab in der Gelsenkirchener
Bettenbude wirklich eine Bar gleichen Namens, das hatte er gecheckt.) Die Tagung sei für heute beendet und
bald gäbe es ein gemeinsames Abendessen. »Und du, mein Engel?«
Wenn sie nervös war, dann überspielte sie es gekonnt, man hätte sie für die Unschuld vom Lande halten
können. Sie sei den ganzen Tag daheim gewesen, plauderte sie drauflos, habe im Garten gearbeitet und die
Vorhänge fürs Wohnzimmer umgenäht. Das Haus habe sie nur kurz verlassen, um im Bioladen Joghurt zu
kaufen. Später habe sie ein neues Buch begonnen, Die Apothekerin von Ingrid Noll.
Die Apothekerin?
Ein Krimi, in dem auch ein Student der Zahnmedizin und ein präpariertes Gebiss vorkamen?
Was weißt du?
Hatte die Schlange etwa seinen Versuch gewittert, endlich die Wahrheit ans Licht zu bringen? Hatte sie
seinen Plan längst durchkreuzt? Gab der Peilsender keine Meldung, weil er keine geben konnte? Blender
versuchte, ihr durch Fangfragen auf die Schliche zu kommen, doch das raffinierte Luder stellte sich dumm.
Na, schön, wie du willst, aber wer zuletzt lacht, lacht am besten!
Missmutig beendete er das Gespräch. Er war verunsichert. Einerseits musste er bei Elisabeth offensichtlich
mit allem rechnen, andererseits: Er liebte sie doch! Wie konnte er ihr so böse Absichten zutrauen? Sie war doch
sein Engel!
Unsinn!
Wenn sie ein Engel war, dann ein gefallener. Und was genau war ein gefallener Engel? Der Teufel! Nein,
nein, nur keine falsche Nachsicht.
Warte, Fräulein, ich krieg dich!
Grimmig zerpflückte er die rote Rose auf dem Schreibtisch. Noch konnte er Elisabeth nichts beweisen, aber
das würde sich bald ändern.
Und was sollte er jetzt machen? Ins Holzhausenviertel fahren und sich einfach vor dem Haus auf die Lauer
legen?
Nein, entschied er, er musste ruhig Blut bewahren. Gegen dreiundzwanzig Uhr gab er die Hoffnung auf, dass
sich heute noch was tun würde. Er konnte nach Gelsenkirchen zurückfahren. Eigentlich konnte er sich die
lästige Fahrerei aber auch sparen. Heute würde sie ihn mit Sicherheit nicht mehr anrufen. Und morgen früh?
Ein lieber Weckanruf? Unwahrscheinlich. Von selbst würde sie sich bis zum Jüngsten Tag nicht melden. Sie
ertrug die Pflichtgespräche, mit denen er sie belästigte, mehr nicht. Der Gedanke brach im beinahe das Herz.
Warum hatte Elisabeth sich nur derart verändert?
Mit einem traurigen Ächzen erhob er sich vom Kingsizebett und ging ins Bad, um sich für die Nacht
fertigzumachen. Er musste morgen fit sein.
Morgen würde es geschehen, irgendwie fühlte er es.
Auch Elisabeth fühlte es irgendwie, dass nämlich etwas mit ihr nicht stimmte. Sie fühlte sich so schlapp, als
zehre etwas an ihren Lebenskräften.
Eine Krankheit? Der seelische Stress? Ein Problem mit dem Zahn? Wenn sie mit der Zunge drüberfuhr,
spürte sie eine kleine Erhebung. Die Idee, es könne sich um die Antenne eines Minipeilsenders handeln, wäre
ihr nicht im Traum gekommen. Doch der Gedanke, Bernwald habe sich auf eine unlautere Weise an ihren
Zähnen zu schaffen gemacht, vielleicht etwas reingespritzt, um sie während seiner Abwesenheit außer Gefecht
zu setzen, kam ihr entsetzlicherweise gar nicht mehr so abwegig vor.
Auch sie ging früh zu Bett. Sie fühlte sich müde und hilflos und hoffte, bald einzuschlafen, um morgen
vielleicht ohne böse Zweifel zu erwachen. Wahrscheinlich spielten einfach nur ihre Hormone verrückt,
weibliche Hysterie.
Ja, das musste es sein, sie durfte Bernwald nicht unrecht tun!
5. Kapitel
»Nein, bitte nicht, ich liebe dich doch!«, flehte er sie an.
Er hatte sich schon den ganzen Tag benommen gefühlt, beinahe wie – vergiftet. Deshalb wusste er nicht, wie
er auf seinen Behandlungsstuhl gelangt war. Elisabeth musste ihn hierhin gelockt haben. Den Stuhl hatte sie
ganz nach hinten gekippt, sodass er wie ein Sack darin hing, den Kopf unten, die Beine oben. Und zwischen
den Beinen Nässe. Ein festgebundener nasser Sack. Als er wieder das Surren des Bohrers hörte, nahm das
Nässegefühl zu.
»Bitte, bitte nicht.«
»Was sein muss, muss nun mal sein, Bernwald«, sagte sie und beugte sich über seinen Schoß. »Einer deiner
Hoden weist eine Verfärbung auf – das ist Eifersucht. Siehst du die kleine dunkle Stelle? Ich werde sie
exkavieren, dann ist alles wieder gut. Bitte nimm die Augenmaske, dann kannst du besser entspannen. Oder
möchtest du vorher was trinken? Ich habe eine Flasche Johnny Walker für dich besorgt.«
Bevor er antworten konnte, spürte er die Vibration des Bohrers.
Brrrrrrr. Brrrrrrr. Brrrrrrr.
Vor Entsetzen hielt Bernwald die Luft an. Er riss sich los. Bäumte sich auf. Schlug um sich.
Als er sein Gesicht traf, wachte er auf. Schweißgebadet.
Er befreite seine Beine aus der verknoteten Decke und setzte sich auf die Bettkante. Noch immer hörte er das
Vibrieren des Bohrers. Woher kam das Geräusch? Schließlich verstand er: Das iPhone meldete den Eingang
einer Nachricht. Er sah auf die Uhr, schon halb zehn. Gewöhnlich stand er selbst sonntags vor sieben auf. Die
Suche nach der Wahrheit erschöpfte ihn offenbar. Und dann der Traum. Seine Hände zitterten immer noch, es
war so real gewesen, wie etwas nur real sein konnte. Um auf die Beine zu kommen, brauchte er einen
Adrenalinstoß. Er verschaffte ihn sich, indem er das Grauen in Empörung verwandelte und Elisabeth Rache für
ihre Gemeinheit schwor. Dann besah er sich die eingegangene SMS. Der Sender hatte sich gemeldet. Mit einem
Schlag war er hellwach. Er griff nach dem iPad und öffnete mit fliegenden Fingern die Kartensoftware.
Die Zielperson hatte den Geo-Zaun überschritten!
Von nun an würde er alle drei Minuten eine Positionsmitteilung erhalten. Das iPhone vibrierte erneut.
Beinahe gleichzeitig zeigte die Karte einen aktualisierten Standort an: Elisabeth war in die Holzhausenstraße
eingebogen, angesichts der geringen Geschwindigkeit wahrscheinlich zu Fuß.
Blender fluchte. Endlich tat sich etwas, und er saß hier im Pyjama rum. Er wäre am liebsten sofort
losgestürmt, aber unrasiert konnte er natürlich nicht in die Öffentlichkeit. Ein Herr Dr. Blender im Pennerlook –
auf so etwas warteten die Medien doch nur. Vielleicht war es ohnehin klüger abzuwarten, welches Ziel
Elisabeth ansteuerte. Wenn sie zu einem Techtelmechtel fuhr, würde sie sich Zeit lassen, jetzt, da der ungeliebte
Ehemann endlich mal nicht im Weg stand.
Er ging ins Bad und verrichtete das Reinigungsprogramm schnell, aber korrekt. Während er sich
abtrocknete, fiel ihm auf, dass sein Handy nicht mehr vibrierte. Stirnrunzelnd blickte er auf die Karte. Als er
den Ausschnitt vergrößerte, entdeckte er das U-Bahn-Symbol und begriff: Sie bewegte sich unterirdisch fort.
Kein Problem, irgendwann musste sie an die Oberfläche zurück und dann hatte er sie. Stolz auf seine
kriminalistische Kombinationsgabe, grinste er vor sich hin, während er einen grauen Doppelreiher anzog.
Das Handy vibrierte wieder. Perfekt! Er stand bereits wie aus dem Ei gepellt vor dem Spiegel und musste
nur noch den Sitz des Einstecktuchs kontrollieren. Alles bestens.
Die Jagd konnte beginnen!
Im Fahrstuhl erhielt er die nächste Positionsmitteilung, diesmal aus der Innenstadt. Wahrscheinlich hockte
sie jetzt in einer S-Bahn. Warum verlegte sie sich auf anonyme Massenverkehrsmittel, wo er ihr doch ein
schickes Cabrio zur Verfügung stellte? Bis er den Mercedes gestartet hatte, war Elisabeth im Stadtwesten
angelangt. An der Galluswarte schien ihre Fahrt zu enden.
Was, bitte schön, wollte sie im Gallusviertel? Ihn mit einem Arbeitslosen oder Ausländer betrügen?
Warte nur!
Zwanzig Minuten später verspürte Blender mehr Sympathie für die öffentlichen Verkehrsmittel, denn er
steckte in einem Stau in der Osloer Straße fest. Nervös starrte er auf das neben ihm liegende iPad. Elisabeths
Standort veränderte sich nicht mehr. Anscheinend hatte sie ein Haus betreten. Er holte sich Google Maps aufs
Display und gab die Adresse ein: Mainzer Landstraße 265. Danach aktivierte er Streetview. Jetzt hatte er das
Haus gestochen scharf vor sich. Über dem Eingang hing eine Schrifttafel: Ärztehaus Galluswarte. Blenders
Blick fiel auf die Spalte links neben dem Bildfenster. Sie enthielt ein gutes Dutzend Links zu den einzelnen
Praxen. Klar, das Prekariat kränkelte gern mal vor sich hin und das zog gewisse Ärzte wahrscheinlich an wie
Kuhmist Fliegen.
Nur – was wollte seine Frau dort?
Die Wagenkolone fuhr an und kam nach zwei Metern Raumgewinn wieder zum Stehen. Blender sah sich die
Links genauer an, aber die meisten ließen nicht erkennen, zu welcher Art Praxis sie führten. Er tippte auf die
Suchmaske von Google und gab »Mainzer Landstraße 265 AND Ärztehaus« ein.
Treffer: Das Ärztehaus unterhielt eine eigene Website, auf der die Fachrichtungen gelistet waren: Urologie,
Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie, Neurologie, ein ambulantes Operationszentrum – und ein Zahnarzt!
Bitte nicht zu dem, betete Blender. Er spürte das Adrenalin aus der Nebenniere in die Blutbahnen schießen.
Als die Kolonne wieder anfuhr, ging er ungeduldig aufs Gas – und merkte zu spät, wie maßlos er die
Fortbewegungsfreiheit überschätzt hatte. Er trat hektisch in die Bremse. Bevor er sie ganz durchgedrückt hatte,
schepperte es.
Na, wunderbar!
Wenigstens war er mit einem Bagatellschaden davongekommen. Er fuhr rechts ran. Noch im Aussteigen
zückte er das Portemonnaie. Er würde das wie ein Ehrenmann regeln, vor allem schnell. Auch der Fahrer des
vorderen Fahrzeugs stieg aus. Eine Rentnergestalt mit entsprechendem Hut. Alles in allem machte er einen
unsicheren Eindruck, mit dem würde man leichtes Spiel haben. Blender warf einen Blick auf das Heck des Ford
Fiesta, ohne nennenswerte Beulen auszumachen. Mit konziliantem Lächeln holte er zwei Fünfziger hervor und
hielt sie dem Mann hin. Denkste, der Alte schüttelte den Kopf.
Halsabschneider!
Da Blender keine Zeit für Debatten hatte, legte er zwei Fünfziger drauf, nun musste es aber reichen.
Der Mann schüttelte immer noch den Kopf.
»Was ist los, müssen wir erst die Polizei rufen, um Ihre Mitschuld zu klären?«, herrschte er den Alten an.
»Sie hätten unter keinen Umständen so scharf bremsen dürfen. Das war ein provozierter Auffahrunfall!«
»Ja«, entgegnete der Mann ruhig, »mit der Polizei bin ich einverstanden. Rufen Sie an?«
Was sollte das denn jetzt? Wieso wollte der Idiot die Polizei wegen dieser Bagatelle rufen?
»Welche Summe stellen Sie sich denn vor?«, fragte er gereizt.
»Gar keine. Ich will nur keinen Fehler machen, wissen Sie? Das ist nämlich der Wagen von meinem
Enkelkind.«
»Ihr Enkel wird dankbar sein, wenn Sie ein paar Scheine mit nach Hause bringen!«
»Meinen Sie? Ich kann das nicht beurteilen. Ich bin nur ein einfacher Mann, der nichts falsch machen
möchte.«
»Dann rufen Sie Ihren Enkel an, verdammt noch mal!«
»Er ist im Urlaub, da werde ich ihn nicht erreichen. Sehen Sie die Telefonzelle? Da gehe ich jetzt die Polizei
anrufen. Dann hat alles seine Ordnung.«
Es verstrich eine geschlagene halbe Stunde, bis sich eine Streife zum Unfallort bequemte. Blender räumte
sofort seine Alleinschuld ein, Hauptsache, er kam hier schleunigst weg. Doch er traf anscheinend nicht den
richtigen Ton – die beiden Polizisten überkam plötzlich eine Ruhe, als besäßen sie das Rezept fürs ewige
Leben. Was Blender zu dem dezenten Hinweis veranlasste, er sei eine bekannte Frankfurter Persönlichkeit und
»bestens vernetzt«. Die Beamten nickten beeindruckt und schenkten ihm nun die Aufmerksamkeit, wie sie einer
hochstehenden Persönlichkeit zukommt. Zunächst ersuchten sie ihn untertänigst, den Kofferraum zu öffnen,
dann den Innenraum. Während sich der jüngere der uniformierten Untertanen auf den Fahrersitz beugte, begann
das iPhone zu vibrieren. Das iPad quittierte die empfangenen GPS-Daten mit einem leisen Signalton.
»Sie haben hier ja eine richtige Kommunikationszentrale, Herr Dr. Blender«, meinte der Untertan und holte
das iPad heraus. »Können Sie es mal … wie sagt man?«
»Entriegeln.«
»Also?«
»Ich denke nicht daran.«
»Es würde den Vorgang beschleunigen.«
Das Gesicht des Bullen nahm die Züge eines Smileys an, Informationsgehalt: Ich habe alle Zeit der Welt, du
auch? Blender gab sich geschlagen. Er entriegelte das Gerät. Auf dem Display erschien die Karte, in der ein
blinkender Kreis Elisabeths neuen Standort markierte.
»Sie erlauben doch?« Der Bulle nahm ihm das iPad aus der Hand und betrachtete die Karte. »Was bedeutet
der rote Kreis? Ist das ein Programm, um jemanden zu verfolgen?«
»Ist das ein Thema für die Schutzpolizei?«
»Sie meinen, wir sollen den Verkehr regeln und sonst die Klappe halten? Apropos Verkehr: Wie reagieren
Sie eigentlich, wenn es auf Ihrem Beifahrersitz so piepst und vibriert?«
»Gar nicht, ich kenne meine Pflichten«, entgegnete Blender pikiert.
»So, so.« Der Untertan ging zur Beifahrerseite und kniete vorm Fußraum nieder. »Feldstecher und Kamera
haben Sie auch dabei? In Ihrem Wagen sieht’s ja aus wie beim Bundesnachrichtendienst. Wozu brauchen Sie
das ganze Zeugs, Herr Doktor?«
Blenders Kopf schwoll vor Wut rot an. Ein Funke, und er würde explodieren.
»Lass gut, Lars«, schlichtete der ältere Polizist. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als bekannten Frankfurter
Persönlichkeiten ihre kleinen privaten Geheimnisse aus der Nase zu ziehen.«
Die beiden zogen ab. Blender sah ihnen nach. Wenn Blicke töten könnten, sie hätten es nicht überlebt.
Fast zwei Stunden waren vergangen, seit Elisabeth das Ärztehaus betreten hatte. Mittlerweile hatte sie es
offenbar wieder verlassen. Wenn er es richtig deutete, fuhr sie gerade zur Hauptwache. Er setzte sich in den
Wagen und wartete ab. Elisabeth tauchte schließlich an der U-Bahn-Station Holzhausenstraße auf und
verschwand auf direktem Weg hinter den Geo-Zaun.
Schöne Scheiße!
Und was nun? Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Wenn sie tatsächlich beim Zahnarzt gewesen war,
kam nur ein Grund in Betracht: Sie hatte Verdacht geschöpft und einen Stümper im Gallusviertel gewählt, weil
er mit solchen ›Kollegen‹ nichts zu schaffen hatte. Konnte sein, konnte nicht sein – er brauchte Fakten!
Allerdings verbot es sich, einfach in der Zahnarztpraxis anzurufen und nachzufragen. Wenn Elisabeth es
erführe, würde sie misstrauisch werden.
Quatsch!
Wenn sie den Zahnarzt aufgesucht hatte, wusste sie ohnehin schon Bescheid! Er musste sich besser
konzentrieren, um auf diesem ungewohnten kriminalistischen Terrain nicht die Übersicht zu verlieren. Er
durchdachte die Sache erneut und entschied anzurufen. Zuvor unterdrückte er die Rufnummernanzeige seines
Handys, sicher war sicher.
»Blender«, meldete er sich. Er ließ den Doktortitel weg, weil die sonst sofort wüssten, dass es sich um den
bekannten Zahnarzt vom Rossmarkt handelte. »Ich rufe im Auftrag meiner Frau an. Sie war heute bei Ihnen
und hat die Terminerinnerung liegen gelassen. Könnten Sie mal nachsehen, wann sie wieder kommen soll?«
»Ich bin noch neu hier«, antwortete die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung unsicher. »Warten
Sie, da kommt der Doktor, ich reiche Sie weiter.«
Nach Blenders Zeitgefühl verging eine kleine Ewigkeit, bis der Arzt endlich an den Apparat kam.
»Turrek, mit wem spreche ich?«
»Blender. Meine Frau war heute Vormittag bei Ihnen, gegen zehn.«
»Blender, sagten Sie? Tut mir leid, da muss ein Irrtum vorliegen. Bei mir war Ihre werte Gattin nicht.«
»Ah, ja? Da muss ich sie wohl noch mal fragen. Besten Dank, Herr Kollege!«
»Herr Kollege?«
Mist!
»Ähm, ich meinte das gewissermaßen von Mann zu Mann, weil wir ja wohl alle ein bisschen unter unseren
schusseligen Frauen leiden, also gewissermaßen von Leidensgenosse zu Leidensgenosse.«
»Aha. Na dann einen schönen Tag.«
Obwohl die Klimaanlage lief, rann Blender der Schweiß. Elisabeth zog ihn Schritt für Schritt in eine düstere
Unterwelt, für die er einfach nicht gemacht war. Aber es half ja nichts. Er stieg aus dem Wagen und ging einige
Meter auf und ab, um sich zu beruhigen. Vielleicht hatte die Spur ins Ärztehaus doch nichts zu besagen.
Wahrscheinlich würde sich die Erklärung als ganz harmlos entpuppen.
Halt!
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Unter den Ärzten befand sich auch ein Gynäkologe –
und zu dem war Elisabeth gegangen, weil ihr Liebhaber sie geschwängert hatte! Natürlich, so musste es sein.
Das erklärte erst recht, warum sie sich an einen Kurpfuscher im Gallusgetto wandte. Er rannte zum Wagen
zurück und rief in der Praxis an. Von einer Frau Blender wusste man – angeblich – nichts. Na gut, die mochten
ihn belügen können, Elisabeth würde das nicht gelingen!
Er drückte die Kurzwahltaste.
»Hallo, mein Engel«, begrüßte er sie mit den gewohnten Worten, aber zittriger Stimme.
»Du? Wieso ist denn deine Nummer unterdrückt?«
Erschöpft schloss er die Augen. Ein Fehler folgte auf den anderen, er hatte die Sache längst nicht mehr im
Griff.
»Ach, weißt du«, sagte er schließlich, »mein Handy liegt im Zimmer, zum Aufladen. Da hat mir ein
Tagungskollege freundlicherweise seins geliehen.«
»Jedenfalls ist es schön, dass du anrufst. Hast du gespürt, wie schlecht es mir geht?«
Es ging ihr schlecht? Schwangerschaftssymptomatik? Wollte sie beichten? »Wieso denn?«
Sie schluchzte. »Ich fühle mich schon seit Längerem krank.«
Krank? Er war verwirrt, das passte nicht in seine Vorstellung vom wilden Treiben, dem sie sich in seiner
Abwesenheit hingab.
»Und heute habe ich den Befund erhalten. Ich bin wirklich krank, Bernwald!«
Ihn überfiel ein mulmiges Gefühl. Elisabeth neigte nicht zu hysterischen Anfällen. »Was heißt das, krank?«
»Ich mag darüber nicht am Telefon reden.« Sie schluchzte wieder. »Kannst du nicht kommen, Schatz?
Bitte!«
In Bernwald Blender wuchsen die Schuldgefühle bis auf die Höhe der Frankfurter Bankentürme. Wie hatte
er seiner geliebten Frau all die schlimmen Dinge unterstellen können?
»Natürlich komme ich. Ich bin sofort da!«
»Sofort? Wie weit ist es denn von Gelsenkirchen ...«
»Ich meinte, so schnell wie möglich«, unterbrach er sie hastig. »Halte noch ein wenig durch, mein Engel, ich
beeile mich, bin schon auf dem Weg zum Wagen.«
»Du kannst doch nicht das Handy mitnehmen.«
»Wieso?«
»Hast du nicht gesagt, es gehört einem Kollegen?«
Einerseits hätte er sich in den Hintern beißen können, andererseits bewunderte er Elisabeth dafür, die
Vernunft trotz Krisenstimmung nicht schleifen zu lassen. »Der Kollege ist draußen, dem müsste ich auf dem
Weg zum Auto begegnen. Bis gleich!«
Er kappte die Leitung, bevor er sich weitere Blößen geben konnte. Mit einem tiefen Stöhnen sank er in den
Sitz. Er wusste nicht, ob er sich freuen oder weinen sollte. Zwar musste er sich um Elisabeths Treue nicht mehr
sorgen, dafür aber um ihre Gesundheit.
Wie krank war sie? Und wie sollte er es aushalten, mindestens eineinhalb Stunden Däumchen zu drehen?
Schneller hatte es bestimmt noch niemand von Gelsenkirchen nach Frankfurt geschafft.
Er begann wieder, an den Fingernägeln zu kauen, doch dieses Mal bemerkte er es nicht.
6. Kapitel
Um dreizehn Uhr sechsundzwanzig bog er in die Auffahrt ein. Seine Sorgen waren in der Zwischenzeit nicht
kleiner geworden. Elisabeth stand schon im Eingangsportal, sie sah grauenhaft aus: zittrige Hände, das Gesicht
verweint, die Schminke verwischt. Bernwald atmete tief durch. Du musst jetzt Souveränität ausstrahlen, mahnte
er sich. Stemme dich gegen deine Ängste! Während er gemessenen Schrittes auf sie zuging, versuchte er sich
an einem beruhigenden Lächeln. Er umarmte sie und führte sie in den Salon, wo er sie behutsam auf die Couch
drückte. Ein Cognac würde ihr gut tun. Doch sie winkte ab.
Um seine Besorgnis zu überspielen, bedrängte er sie nicht gleich mit seinen quälenden Fragen, sondern goss
sich zunächst einen doppelten Brandy ein, den er in einem Zug kippte. Dann setzte er sich zu ihr auf die Couch.
»Nun erzähle mal«, sagte er mit aufmunterndem Lächeln und nahm ihre Hand.
Elisabeth berichtete, sie habe sich schon längere Zeit matt und antriebslos gefühlt. Zunächst hatte sie es
abgetan, eine schlechte Phase, aber das Unwohlsein nahm zu. Eine Freundin hatte ihr daraufhin geraten, einen
Internisten aufzusuchen, und Dr. Greiner empfohlen.
Bernwald erinnerte sich: Der Name stand auf der Liste der im Ärztehaus praktizierenden Mediziner.
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Ach, Bernwald, du hast schon so viel um die Ohren, da wollte ich dich nicht zusätzlich belasten. Vielleicht
hatte ich auch Angst, meine Befürchtungen auszusprechen. Als würden sie dann eher Wirklichkeit, verstehst
du?«
»Und du warst bei diesem Dr. Greiner?«
»Ja, mehrfach. Er hat mich zunächst an einen Radiologen überwiesen und ...«
»Und ich habe von alldem nichts gemerkt?« Es versetzte ihm einen Stich, wie sie ihm eine heile Welt
vorgespielt hatte, wenngleich aus ehrenwerten Gründen, was natürlich einen Unterschied machte. »Schon gut.
Sprich weiter.«
»Heute war ich wieder bei Dr. Greiner, wegen der radiologischen Befunde. Er hat nicht viel gesagt, nur, dass
keine Zeit zu verlieren ist und ich mich umgehend bei Dr. Gurt melden soll. Der weiß schon Bescheid.«
»Weiter!«
Sie senkte die Augen und sprach mit kleiner, zerbrechlicher Stimme: »Er ist Onkologe.«
Bernwald schluckte. Sein Körper begann, im Takt seines wild schlagenden Herzens zu zittern. Ein tödliches
Schweigen legte sich über den Raum, und ihm war, als nähme es ihm die Luft zum Atmen. Die Pendeluhr beim
Kamin zählte mit unnatürlich lautem Ticken die Sekunden ab.
Schließlich überwand er den Schock und nahm Elisabeth in die Arme.
»Ganz ruhig, mein Engel. Keine Angst, es wird alles wieder gut, ich verspreche es dir.«
Er streichelte ihr eine Weile gedankenverloren über das Haar und fühlte seiner eigenen Angst nach.
Schließlich gab er sich einen Ruck – mit Gefühlsduseleien half er weder ihr noch sich selbst! Er stand auf.
»Wenn du einverstanden bist, rufe ich Dr. Gurt an.«
Sie nickte. Beim Telefon liege ein Zettel mit der Nummer. »Bernwald«, sagte sie kaum hörbar, »ich weiß,
ich muss mich der Krankheit stellen, nur bitte nicht schon heute. Heute habe ich nicht mehr die Kraft dazu.
Kannst du an meiner Stelle zu Dr. Gurt gehen? Bitte, nur dieses eine Mal!«
Er dachte nach. Vielleicht war es gar nicht schlecht, zunächst von Mediziner zu Mediziner zu reden. »Ja,
aber erst musst du ans Telefon kommen und Dr. Gurt deinen Wunsch mitteilen, sonst darf er mich nicht ins
Vertrauen ziehen.«
Dr. Gurt, ein schmächtiger Mann von Anfang vierzig mit dicken Brillengläsern, ließ ihn sofort ins
Behandlungszimmer führen und machte nicht viel Federlesens.
»Ich denke, unter Kollegen können wir offen reden. Kommen wir also gleich zur Sache. Wir haben bei Ihrer
Frau drei Tumore festgestellt. Die schlechte Nachricht: Wir müssen von Malignomen ausgehen. Die gute: Ich
halten sie für operabel. Zunächst haben wir es – vorbehaltlich der Biopsie – mit zwei Mammakarzinomen zu
tun, eins in jeder Brust. Da hilft dann nur noch eine Mastektomie. Und dann ist da noch ein Rektumkarzinom.
Da es nahe am Anus liegt, müssen wir voraussichtlich den Schließmuskel entfernen. Das liefe dann auf einen
Anus praeter hinaus. Künstlicher Darmausgang, Sie wissen schon. Es trifft sich wirklich gut, dass wir hier unter
vier Augen sprechen können. Denn auch auf Sie kommt kein Zuckerschlecken zu, Herr Kollege.«
Herr Kollege? Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich Dr. Blender nicht wie ein Mediziner. Zwischen
Karies und Krebs lagen Kontinente, wenn nicht Welten. Er versenkte das Gesicht in den Händen. Gleich drei
Tumore. Ein Kotbeutel vorn am Bauch. Die prächtigen Brüste einfach abgeschnitten.
»Dr. Blender?«
Er reagierte nicht.
»Na kommen Sie, ein Kollege wird mir doch nicht schlappmachen, das haben schon ganz andere
durchgestanden.«
»Wie sicher ist der Befund?«, fragte Blender mit brüchiger Stimme.
»Es stehen noch ein paar Untersuchungen aus, aber ich würde mich hier nicht so weit aus dem Fenster
lehnen, wenn ich nicht ausreichend sicher wäre.«
»Die Heilungschancen?«
»Besser als es sich im ersten Moment anhört. Ob Ihre Frau es überlebt, hängt natürlich auch von Ihnen ab.
Seelischer Beistand kann kriegsentscheidend sein. Ich habe folgende Empfehlungen für Sie:
Erstens: Zeigen Sie Ihrer Frau, dass ihr Busen Sie gar nicht interessiert. Schauen Sie sich zum Beispiel
gemeinsam Bilder brustamputierter Frauen an. Lassen Sie sie spüren, wie unwichtig Brüste sind!
Punkt zwei ist der nach vorn verlegte Darmausgang, da sind Sie besonders gefordert: Betrachten Sie den
Kotbeutel als Ihren gemeinsamen Beutel. Vielleicht helfen Sie Ihrer Frau bei der Toilette, um ihr zu zeigen,
dass Sie sich nicht vor ihr ekeln. Knüpfen Sie das Band Ihrer Ehe so fest, dass sich Ihre Frau daran hochziehen
kann. Es wird nicht leicht, ist aber auch eine Chance, menschlich zu wachsen. Ich weiß von Ehen, die sich erst
zu voller Blüte entfaltet haben, nachdem die Eheleute zusammen quasi durch die Scheiße gewatet sind. Na,
dieser Vergleich war vielleicht nicht so glücklich.«
Blender hatte von Natur aus einen bleichen Teint. Als er nach Hause zurückkehrte, ähnelte er einem
Leichentuch.
Er war eine Zeit lang ziellos durch die Stadt gefahren, ohne seine Fassung zurückzuerlangen, hatte geheult,
ohne Erleichterung zu verspüren.
Elisabeth saß immer noch auf der Couch. Sie sah ihn mit großen Augen an. Er spürte schon wieder Tränen
aufsteigen. Wie sollte er es ihr bloß beibringen?
»Dr. Gurt spricht von hervorragenden Heilungschancen«, zog er die einzig gute Nachricht mit leichter
Übertreibung vor. Er sprach mit tonloser Stimme und starrte vor sich hin. »Aber sie müssen operieren.« Er
räusperte sich. »Es geht um die Brust und den Darm, es tut mir leid!«
Er weinte und Elisabeth streichelte seine Hand. Verkehrte Welt.
Eine Stunde später wusste sie über alles Bescheid. Sie hatte Bernwald gebeten, nichts auszulassen, und daran
hatte er sich gehalten; ausgenommen den Ratschlag, diesen schrecklichen Kotbeutel als seinen eigenen zu
betrachten und Elisabeth beim Wechseln zu helfen. Die gutmenschliche Gefühlskälte, mit der ihn Dr. Gurt
traktiert hatte, behielt er ebenfalls für sich, er durfte seine Frau jetzt nicht verunsichern.
Sie reagierte bewundernswert gefasst, bedankte sich und zog sich ins Gästezimmer zurück, sie müsse jetzt
allein sein.
Am nächsten Morgen fand Bernwald die andere Bettseite verlassen vor, Elisabeth war offenbar im
Gästezimmer geblieben. Er schämte sich ein wenig für seine Erleichterung.
Nachdem er eine Weile seine Zehen betrachtet hatte, klopfte es an der Tür. Elisabeth trat ein. Verstohlen
warf er einen Blick auf ihr Gesicht. Sie sah fertig aus, aber wahrscheinlich sah er noch viel schlimmer aus, er
fühlte sich wie ein Zombie.
»Wir müssen reden«, sagte sie ruhig und setzte sich auf die Bettkante. »Ich weiß, dass du für mich da sein
wirst, Bernwald. Allein der schwere Gang zum Onkologen … Ich … ich kann nur Danke sagen.« Sie küsste ihn
auf die Wange. »Doch ich mache mir auch Sorgen um dich.«
»Aber um mich musst du dich doch nicht sorgen«, wehrte er selbstlos ab. Insgeheim allerdings teilte er ihre
Sorge ein wenig.
»Ich habe heute Nacht lange nicht schlafen können und im Internet recherchiert, was auf uns zukommt. Und
nun frage ich mich, wie viel ich von dir erwarten darf. Auch ein Kranker sollte kein Egoist sein.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Du hast schon so viele Verpflichtungen. Für deine Mitarbeiter, für die Obdachlosen, für die Gesellschaft.
Ich spüre schon jetzt manchmal, wie müde du bist. Und nun noch meine Krankheit obenauf. Das bereitet mir
wirklich Sorgen, Schatz. Wirst du das durchstehen?« Sie ergriff seine Hand und sah ihm in die Augen.
Bernwald wusste nicht, was er sagen sollte. Ja, er fühlte sich wirklich zuweilen etwas ausgebrannt – die viele
Arbeit, die Vereinsämter.
»Es ist doch nur menschlich«, fuhr sie fort, »dass dir die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf
jagen. Um unsere Ehe war es zuletzt ja auch nicht so gut bestellt, ich denke, das wissen wir beide.«
Er nickte zögernd.
»Lass uns einander Ehrlichkeit versprechen, ja? Wenn wir nicht den Mut aufbringen, ehrlich zu sein,
schaden wir uns gegenseitig.«
Er nickte, was einer Lüge gleichkam, denn seine geheimsten Gedanken würde er keinesfalls offenbaren,
schon um Elisabeth nicht zu kränken.
»Also, Bernwald, denke bitte über das nach, was ich dir gesagt habe. Um deinetwillen – und um
meinetwillen. Ich muss festen Boden unter den Füßen haben, um mich dem Krebs zu stellen. Mitleid wäre nur
Treibsand. Wir würden beide darin untergehen. Jeder muss zuerst auf sich selbst achten, und dann überlegen
wir gemeinsam, was sich für uns daraus ergibt, ja? Heute Abend, wenn es dir recht ist. Ich will jetzt ins
Sanitätshaus, mir diesen Beutel ansehen. Ich würde dich ja fragen, ob du mich begleiten magst, aber … die
Konferenz.«
»Ich nehme natürlich nicht weiter daran teil», stellte er seine beruflichen Interessen großzügig zurück. »Aber
meine Sachen … die müsste ich eigentlich abholen.« Die Sachen bestanden aus einem Krimi, einer fast vollen
Schachtel Aspirin und der Bedienungsanleitung für den Minipeilsender. Der Rest befand sich in seinem
Frankfurter Hotelzimmer. »Wenn du jedoch Beistand …«
»Nein, Bernwald, fahr nach Gelsenkirchen. Wir dürfen uns nicht alles von der Krankheit diktieren lassen!«
Um Aufrichtigkeit bemüht, fuhr er tatsächlich nach Gelsenkirchen und holte die Habseligkeiten ab. Nachdem er
auch das Frankfurter Hotelzimmer geräumt hatte, fuhr er in die Praxis. Er blieb bis achtzehn Uhr dreißig. Dass
er Elisabeth nicht angerufen hatte, deutete er als gutes Zeichen: Er hatte seine Eifersucht endgültig überwunden.
Auch sie hatte sich nicht gemeldet, und auch das war positiv zu sehen: Sie rief ja nie ohne wichtigen Grund an.
Business as usual also, sie durften sich wirklich nicht alles von der Krankheit diktieren lassen.
Sie sollten ihr Leben so weit irgend möglich weiter leben wie bisher!
Du Traumtänzer!
Die Absurdität seines Vorsatzes enthüllte sich ihm mit überwältigender Klarsicht. Nichts würde mehr wie
früher sein, nie mehr! Auch nicht annäherungsweise. Unter dem Kleid seiner Frau würde sich ein Kotbeutel
statt des Busens abzeichnen. Vielleicht würde sie nie mehr imstande sein, die repräsentativen Pflichten
wahrzunehmen, die einer Frau an der Seite eines Mannes in herausgehobener Position eigentlich oblagen.
Vielleicht würde sie nie mehr zu alter Stärke zurückfinden. Nicht mal nach einem Brustaufbau mit Implantaten.
Wie sollte Elisabeth über den Kotbeutel am Bauch hinwegsehen können, wenn nicht mal er, der sie über alles
liebte, es könnte?
Was hatte Elisabeth gesagt? Wenn sie jetzt nicht den Mut aufbrachten, ehrlich zu sein, dann schadeten sie
sich gegenseitig.
Und er wollte ihr nicht schaden!
Womöglich würde ihre eigene Erwartung, ihn bei seinem gesellschaftlichen Engagement zu unterstützen, sie
erst recht krankmachen.
Vielleicht war es ein Gebot der Fairness, diesen Druck von ihr zu nehmen. Vielleicht musste man sie von
den Zwängen befreien, die der Zweisamkeit unvermeidlich innewohnten.
Wie weit konnte man denn einem Menschen wirklich helfen, der gegen sich selbst kämpfen, der den Feind
im eigenen Körper besiegen musste? Was dieser Dr. Gurt schwadroniert hatte, war doch
Groschenromanrhetorik!
Wahrscheinlich hatte Elisabeth ihm mit ihrem Vortrag am Morgen nur schonend beibringen wollen, dass sie
allein sein musste, um all ihre Kräfte auf den Kampf gegen den Krebs zu konzentrieren.
Dass sie einen neuen Lebensabschnitt beginnen wollte.
Dass sie darauf vertraute, er werde sie freigeben.
Was für ein Unmensch musste man denn sein, um sich diesem Wunsch zu verweigern? Das Einzige, was er
in ihrer schlimmen Situation für sie tun konnte, war doch, ihr den Rücken frei zu halten.
Und da konnte sie selbstverständlich auf ihn bauen.
Er hatte ihr die Treue geschworen und nun würde er sich nicht lumpen lassen!
7. Kapitel
Vier Monate später saß Elisabeth in einem Café auf der Kaiserstraße und wartete auf ihren künftigen Exmann,
dem sie seit drei Monaten, drei Wochen und zwei Tagen nicht mehr begegnet war. Bernwald hatte sie bei der
Trennung mit einer »Finanzspritze gegen den Krebs« in tiefes Erstaunen versetzt; er war über seinen sparsamen
Schatten gesprungen, und das sehr weit. Sie freute sich auf ihn.
Die Freude war ganz auf ihrer Seite, denn Bernwald hatte vor der Begegnung größtmöglichen Bammel. Er
fürchtete, ein Gespenst zu treffen, mehr tot als lebendig, und musste sich gleichzeitig gegen aufkommende
Schuldgefühle wappnen. Während er sich dem Café näherte, grübelte er, ob sie ihm vielleicht Vorwürfe
machen wollte. War das denkbar? Trotz der astronomischen Summe, die er aus seinem schweizer Depot
herausoperiert und ihr zugesteckt hatte?
Als er die Tür öffnete, sah er sie hinten rechts sitzen.
Ihn traf beinahe der Schlag. Auf diesen Anblick war er nicht gefasst.
Niemals hatte Elisabeth besser ausgesehen!
Zumindest aus der Ferne. Wahrscheinlich ging sie ins Solarium, um eine kränkliche Blässe zu übertünchen.
Ja, so musste es sein. Aus der Nähe würden die geschickt kaschierten Strapazen ihres Überlebenskampfes sich
umso deutlicher zeigen.
Langsam bewegte er sich auf den Tisch zu und warf einen verstohlenen Blick auf ihren Busen. Man sah
keinen Unterschied.
»Hallo, mein Schatz, du hast erwartet, mich platt wie eine Flunder vorzufinden, und nun bist du platt, weil
man nichts sieht? Rührend, wie du dir immer noch Sorgen um mich machst. Setz dich doch endlich.«
»Ja, klar. Hallo, ich, ähm, grüße dich.«
Bernwald zwängte seinen umfangreichen Körper in das enge Eck zwischen Wand und Tisch, froh, damit
eine kleine Weile beschäftigt zu sein. Er fühlte sich überfordert und wusste nicht, was er sagen sollte. Sie
wirkte so – lebendig. Und warum nannte sie ihn immer noch Schatz, wo bereits der Scheidungstermin
feststand?
Er war ihrem Vorschlag gefolgt, kurzen Prozess zu machen, nachdem er sich – unter Außerachtlassung
seiner eigenen Bedürfnisse! – bereit erklärt hatte, sie freizugeben. Wie Elisabeth um ihn besorgt gewesen war
und er erst recht um sie, das hatte ihn zutiefst berührt: Was sie beide am Ende ihrer Ehe an Rücksicht und
Mitgefühl füreinander aufbrachten, fand sich bei anderen Paaren nicht mal am honigsüßen Anfang! Vor diesem
Hintergrund hatte es sich von selbst verstanden, Elisabeth, der ja laut Ehevertrag nichts (rein gar nichts!)
zustand, großzügig zu unterstützen. An eine Million hatte er zunächst gedacht, doch war ihm die Summe
unerklärlicherweise nicht großzügig genug erschienen, irgendetwas hatte ihn gedrängt, noch mehr seines hart
erarbeiteten Geldes abzugeben – das Doppelte! Er verstand bis heute nicht, was ihn da geritten hatte. Irgendwie
hatte er im Bestreben, ein guter Mensch zu sein, den Kopf verloren. Nur eine einzige – angesichts seiner
herausgehobenen Position eigentlich selbstverständliche – Bedingung hatte er gestellt: Die Öffentlichkeit
musste aus Elisabeths Mund erfahren, dass er sehr wohl bereit war, an ihrer Seite dem Krebs entgegenzutreten.
Dass sie es aber aus nicht näher zu nennenden Gründen – die jedenfalls nicht gegen ihn sprachen! – vorzog, den
Kampf allein zu führen.
Sie hatte akzeptiert und kurzerhand einige Zahnarztgattinnen zum Kaffeekränzchen eingeladen und die
Bedingung tadellos erfüllt, wie er sich vom Schlafzimmer aus per Babyfon überzeugt hatte.
»Du siehst gut aus«, sagte er, was auf irritierende Weise der Wahrheit entsprach, der erste Eindruck hatte
doch nicht getäuscht. Wie konnte es sein, dass ihm das blühende Leben gegenübersaß? Wahrscheinlich eine
trügerische Phase des Auflebens, wie sie bei Krebs offenbar häufig vorkam. Irgendwie fühlte er sich
verpflichtet, sie nach ihrem Befinden zu fragen, wenngleich er von ihrer Krankheit lieber nichts hören wollte.
Schließlich siegte seine Neugier: »Du bist auf dem Weg der Besserung?«
»Es geht mir prächtig.« Sie schenkte ihm das perlende Lachen, das ihn in der Anfangszeit ihrer Ehe
ungemein angezogen hatte.
»Wie das denn?«, drängte seine Verblüffung ungefiltert ans Tageslicht.
»Eine Wunderheilung!«
Sie grinste ihn auf eine Weise an, die entfernt an Spott erinnerte.
»Du wirst es gleich verstehen, Schatz. Ich bin derart großzügig abgefunden worden, dass der edle Spender
zu erfahren verdient, was er trotz seiner Spionageaktionen alles nicht mitbekommen hat. Also, hör gut zu, dann
lernst du was fürs Leben!«
Sie erzählte ihm die ganze Geschichte, beginnend mit der Aufzeichnung, die sie in der Nacht, bevor alles ins
Rollen gekommen war, in seinem Schreibtisch gefunden hatte. Es handelte sich um den »Wünsche-Bogen« der
Partnervermittlung, die sie zusammengebracht hatte. Es war für sie sehr erhellend gewesen zu erfahren, nach
was für einer Frau er Ausschau gehalten hatte.
Sie zog einen Zettel aus der Brusttasche ihres Kostüms und las einige Begriffe vor: repräsentabel, vollbusig,
mittlere Intelligenz.
»Im ersten Moment war ich etwas gekränkt. Doch deine Präferenzen zu kennen, hat mir dann sehr
geholfen.«
»Du hast es gewagt, mich auszuspionieren?«
»Klappe. Hör lieber zu.«
Am nächsten Morgen hatte sie sich entschieden, einen Zahnarzt aufzusuchen, um nach dem Backenzahn zu
sehen; es hatte sich nämlich etwas Spitzes durch die Füllung gebohrt.
»Als Doktor Turrek meinte, das Ding sehe nach einem Peilsender aus, konnte ich es nicht glauben.
Einerseits. Andererseits musste ich einsehen, wie gut so eine Aktion zu dir passt. Doktor Turrek wollte die
Polizei rufen, war dann aber liebenswürdigerweise bereit, mir auf andere Art zu helfen. Zunächst, indem er den
Peilsender aufbewahrte, während ich mit dem Taxi zu einem Jugendfreund gefahren bin. Zusammen haben wir
die Krebserkrankung ausgetüftelt, deren Nebenwirkungen dir so unappetitlich erschienen. Dann bin ich in die
Zahnarztpraxis zurückgerast, um den Sender abzuholen und Doktor Turrek zu bitten, mich zu verleugnen,
solltest du dich melden. Damit war ja zu rechnen, du musstest natürlich wissen, was ich in einem Ärztehaus
treibe, das unter der Würde eines Herrn Dr. Blender nebst Gemahlin ist. Anschließend bin ich nach Hause
gefahren und habe mich auf meinen Auftritt vorbereitet – drei Pötte Kaffee, eine Zwiebel für die Augen,
Gesichtspuder, du weißt schon. Den Rest müsstest du dir eigentlich zusammenreimen können, du BonsaiBond.«
Sie sah Bernwald ungläubig dreinblicken. Unglaublich blöd dreinblicken. Ein Grinsen überzog ihr Gesicht.
»Dr. Gurt hat dir ziemlich zugesetzt, stimmt’s?«
Er nickte unwillkürlich.
»Es hat ihm diebische Freude bereitet. Der Name meines Jugendfreundes lautet übrigens Alexander, Doktor
Alexander Gurt. Ich mochte ihn schon immer gern, sehr gern. Aber er war leider gebunden. Als ich ihn jetzt
wiedersah, war er es nicht mehr. Du verstehst?«
Blender starrte sie hasserfüllt an. »Wusste ich doch, dass du einen anderen hast.«
»Es gibt da ein Zitat: ›Die Eifersucht ist ein Polizist, der den Verdächtigen zur Tat erst anstiftet.‹ Solltest du
mal drüber nachdenken.«
»Du solltest dich in Grund und Boden schämen! Dein infamer Plan ...«
»Mach dich nicht zur Witzfigur. Ich habe nur für ein bisschen mehr Waffengleichheit gesorgt. Obwohl ich in
Sachen miese Spielchen nur bewundernd zu dir aufblicken kann, du gemeiner Lump.«
»Ich werde dich verklagen und jeden Cent zurückfordern«, zischte er.
»Ach ja? Sollte sich das ein Mann in herausgehobener Position nicht besser noch mal überlegen? Was
meinst du, wie sich die Presse auf die beiden Prozesse freut. Auf all die schmutzige Wäsche, die da zutage
treten wird.«
»Wieso zwei Prozesse?«
»Der zweite ist dein Strafverfahren. Oder meinst du, ich würde dich nicht auf der Stelle anzeigen? Ich bin ja
keine Juristin, doch bei schwerer Körperverletzung sollte schon eine Haftstrafe rausspringen, meinst du nicht?«
Sie trank einen Schluck Cappuccino.
»Hattest du eigentlich vor, mich bis zum Lebensende mit dem Peilsender im Mund rumlaufen zu lassen?«
»Selbstverständlich nicht.« Es war ihm sichtlich peinlich, darauf angesprochen zu werden. »Bei der
Nachsorgeuntersuchung sollte er wieder raus. Aber dann haben sich die Ereignisse überschlagen. Und nach ein
paar Tagen war der Akku ohnehin leer, es handelte sich also nur noch um ein bisschen Metall und Plastik.
Bestimmt weniger bedenklich als eine Amalgamfüllung.«
»Du hast gehofft, das Ding würde bald mit mir begraben, nicht?«
»Unsinn, was denkst du denn nur«, entgegnete er hastig und lief rot an. Er räusperte sich. »Bitte gib mir den
Sender zurück. Um unserer guten Zeiten willen.«
»Lieber nicht. Du sollst jeden Morgen mit dem Wissen aufwachen, dass ich deine saubere Existenz mit
einem Anruf bei der Polizei beenden kann. Strafe muss sein – Schatz. Und nun ist gut, du kannst gehen. Ich
wollte nur dein blödes Gesicht sehen.«
Während Blender wie ein geprügelter Hund aus dem Café schlich, trank Elisabeth ihren Cappuccino aus.
Wie schön das Leben doch sein konnte!
Kurz darauf verließ auch sie das Café. Als sie gerade durch die Tür ins Freie treten wollte, kam ihr eine Frau
entgegen, die sie bei einem Empfang in der Elisabeth-Straßen-Ambulanz kennengelernt hatte.
»Hallo, Frau Lauter, nett Sie zu sehen.« Sie mochte die zierliche Zahnärztin, die sich auf so positive Weise
von ihrem Kollegen, Herrn Dr. Blender, unterschied.
»Ach, hallo Frau Blender.«
»Sagen Sie einfach Elisabeth, den Namen Blender muss ich zum Glück nicht mehr lange mit mir
rumschleppen.«
»Gern. Ich heiße Michaela. – Gut sehen Sie aus, Elisabeth. Geht es Ihnen wieder besser?«
Nach den im zahnmedizinischen Milieu kursierenden Gerüchten hätte Elisabeth Blender eigentlich schon
mehrfach gestorben sein müssen.
Elisabeth lachte laut. »Viel besser, um nicht zu sagen blendend.«
Michaela Lauter hörte es mit Zufriedenheit. Es würde der sympathischen Frau also nicht schaden, was auf
den Kollegen Blender zukam. Am Vormittag hatte sie Besuch in ihrer Praxis gehabt. Von Beamten der
Steuerfahndung, die sich für ihn interessierten. Die überhöhten Aufwendungen, die er für seine Tätigkeit in der
Elisabeth-Straßen-Ambulanz geltend gemacht hatte, seien aber nur nebensächlich, hatte ein Fahnder
durchblicken lassen. Offenbar hatte Blender sechs- oder siebenstellige Beträge am Fiskus vorbei in der Schweiz
gebunkert.
Michaela freute es ungemein, dass Elisabeth damit nun nichts mehr zu schaffen hatte.
Manchmal war das Leben doch gerecht.
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