Rüdiger Campe Verfahren der Literatur. Eine Skizze Poetisches

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Rüdiger Campe
Verfahren der Literatur. Eine Skizze
Poetisches Verfahren, Erzählverfahren oder Verfahren der literarischen Einbildungskraft sind
Titel der literaturwissenschaftlichen Kritik seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts.
Dass darin die Übersetzung Verfahren aus Victor Sklovskijs Aufsatz Kunst als Verfahren
nachwirkt, liegt auf der Hand. Auch eine allgemeine strukturalistische Prägung durch die
Sprache der Linguistik ist anzunehmen. Der Bestand sprachlicher Regeln ist für Strukturalisten
durch Elementen und Prozessen, oder eben Verfahren, zu erschließen. Es fällt aber auch eine
Geste der Vermeidung und der nicht mehr ganz neuen Sachlichkeit ins Auge. Der Unterschied
zwischen ‚Brentanos Poetik‘ und ‚Brentanos poetischem Verfahren‘ liegt einerseits in einer Art
Einklammerung: Poetik wird ins Uneigentliche gesetzt; andererseits drückt sich in der
Formulierung der Versuch zur technischen Härtung aus: Verfahren gibt es gerade auch in
Gebieten nicht mehr ‚nur‘ der schönen Kunst und Literatur.
Die Möglichkeit, ‚Verfahren‘ in dieser begrifflichen Setzungen ausweichenden, aber doch
Formzusammenhänge unterstellenden Weise zu verwenden, ist aber wohl noch jenseits des
angespielten Strukturalismus begründet. Sie liegt darin, von Verfahren als Parallele und
Alternative zur Methode zu sprechen. Kant sagt am Ende der Zweiten Vorrede zur Kritik der
Reinen Vernunft: „In der Ausführung also des Plans, den die Kritik vorschreibt, d.i. im künftigen
System der Metaphysik, müssen wir dereinst der strengen Methode des berühmten Wolff, des
größten unter allen dogmatischen Philosophen folgen, der zuerst das Beispiel gab [...], wie durch
gesetzmäßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge
der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu
nehmen sei [...]. Diejenigen, welche seine Lehrart und doch zugleich auch das Verfahren der
Kritik der reinen Vernunft verwerfen, können nichts andres im Sinne haben, als die Fesseln der
Wissenschaft gar abzuwerfen [...].“ (B XXXVIf.; Sigrid Köhler, S. 111) Das Verfahren verhält
sich hier zur Methode, wie dasjenige, dessen Verfahren es ist: die Kritik, sich zur Metaphysik
verhält als demjenigen, was – nach dem Plan der Kritik – Methode haben wird. – Heidegger sagt
im Aufsatz über die Zeit des Weltbildes: „“Das Verfahren [sc. das Verfahren der methodisch
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verfassten Wissenschaften] richtet sich immer mehr auf die durch es selbst eröffneten
Möglichkeiten des Vorgehens ein.“ (Martin Heidegger: „Die Zeit des Weltbildes“ (1938), in:
ders.: Holzwege, Frankfurt a.M. 1950, S. 69-104, S. 72f.; Christoph Hoffmann, „Einleitung“) Der
Betrieb von Wissenschaft und Technik realisiert sich als ein sich selbst unterstellendes und
reproduzierendes Verfahren. Das Verfahren in diesem Fall ist das der Methode. Dieses
Verfahren der Methode zeigt sich wieder im Vorgehen: im Vorgehen, das durch das Verfahren
eröffnet ist. Von Methode zu Verfahren (der Methode) zu Vorgehen (des Verfahrens der
Methode) führt eine Art Abstieg: von der normierenden Setzung in eine dem Gesetz der Norm
immer ferneren und dafür immer autopoetischeren Form des Vollzugs der Norm. – Bezeichnend
für die Problemlage der Beziehung zwischen Methode und Verfahren ist schließlich eine
Wendung Wilhelm Diltheys. Dilthey kündigt hier an, Unterschied und Vergleichbarkeit von
Natur- und Geisteswissenschaften durch Unterscheidung und Vergleich ihrer jeweiligen
‚Verfahren‘ zu erklären. Das Verfahren der Naturwissenschaft ist die Methode; das Verfahren
der Geisteswissenschaft bestimmt sich für Dilthey – als Verfahren – nur dadurch, dass es für die
Wissenschaft vom Geist tut, was die Methode für die Naturwissenschaft leistet. Über das
Verfahren, das die Geisteswissenschaften ausmacht, weiß man also streng genommen nur, dass
es analog zu dem Verfahren ist, das die Naturwissenschaften bestimmt: Verfahren der
Geisteswissenschaften ist Verfahren analog zur Methode in den Naturwissenschaften.
Verfahren in der Literatur – scheint mir – sind (mit Baumgarten gesprochen) im Besonderen
solche analoga der Methode. Sie sind weniger und nur soewtas wie Methode; aber sie gehen
auch von der Unterstellung, einer Selbstunterstellung oder sogar einem Sichselbsteinspielen des
Regelsinns in seinem Vollzug aus. Sie gehen nicht mit dem sicheren Gang der Methode von
einem Anfang zu einem Ende; Verfahren sind ergebnisoffen und nur auf ihr Vorgehen
konzentriert – aber darin liegt ihr Formcharakter: von Verfahren sprechen heißt anzunehmen, das
man, irgendwie, von einem Punkt zu einem anderen und nächsten kommen kann. Wenn man
diese tieferliegende Gebrauchsweise von ‚Verfahren‘ mit ins Kalkül nimmt, dann gewinnt
‚Brentanos poetisches Verfahren‘ über das Versachlichungpathos hinaus Sinn. Analogie der
Methode ist ja eine Bestimmung, die Rhetorik, Poetik und Ästhetik grundlegend in ihrer Stellung
umschreibt.
Das möchte ich in vier Schritten erläutern: zuerst zwei thesenartige Abschnitte Abgeleiteter
Begriff und Differenzieller Begriff; dann ein etwas längerer Abschnitt, der eine Vertiefung
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anhand von zwei Beispielen enthält (dem im zweiten Abschnitt eingeführten Beispiel des
Fürsprechens und dem Wahrsprechen als Verfahren); dann folgt ein zusammenfassender
Abschluss unter dem Titel Evidenz als Verfahren.
1. Abgeleiteter Begriff
Kunst als Verfahren – Art as Device oder Art as Procedure – versteht Literatur als Manifestation
von Andersheit. Andersheit setzt etwas voraus, dem gegenüber sie anders ist. Das Verfahren, als
das die Literatur bei Sklovskij erscheint, wenn sie als Verfahren erscheint, ist das Andere eines
Anderen.
Das kann man auf zwei miteinander verbundene Weise verstehen. Zunächst kann man das
Verfahren, als das die Literatur bestimmt ist, als das Andere eines anderen Verfahrens verstehen.
Dass das so ist, zeigt der Vergleich von Sklovskijs Verfahren (Tricks, Kunstgriffen) mit der
herkömmlichen Poetik. Das Verfahren der Literatur unterbricht nach Sklovskij die eingeübte und
gewohnte Weise, in der wir Dinge auffassen und verstehen. Sie unterbricht dabei nicht nur diese
standardisierte Auffassung und dieses normale Verstehen, sondern auch Auffassen und
Verstehen überhaupt. Denn Sklovskij zufolge heißt etwas auffassen und verstehen, es sich
vertraut machen oder sich seiner schon bestehenden Vertrautheit anheimgeben. Kunst setzt die
Vertrautheit, die Auffassen und Verstehen selbst sind, aus. Das Verfahren ist nicht eine andere
Regel, nach der wir etwas auffassen und verstehen, sondern das Andere einer bloßen Regel,
eines Tricks, der sich an die Stelle setzt, wo man normalerweise versteht. Durch Kunst als
Verfahren fassen wir darum (jedenfalls zunächst) Dinge nicht anders auf oder verstehen sie
anders. Das war ja genau der Sinn der Figur in der herkömmlichen Poetik gewesen: Durch
Metaphern entdecken wir dort etwas Neues and Anderes in unserem Verstehen und Auffassen
der Dinge. Figuren erweiterten und erneuerten das Verstehen. Bei Sklovskij dagegen verstehen
wir zunächst gerade nicht; sondern nehmen nur wahr, dass jeder Zugang zu dem Ding und
Sachverhalt einschließlich der Möglichkeit es zu erkennen und zu verstehen, sich einem
Verfahren verdankt. Indem wir, statt wie gewohnt etwas zu verstehen und aufzufassen, das
Verfahren, nach dem sich uns etwas präsentiert, wahrnehmen, nehmen wir seine
Unverbundenheit oder Kontingenz wahr. Das ist die eigentliche Pointe in Absetzung von der
konventionellen Poetik im Verfahren: Die Änderung, die das Verfahren Sklovskijs genauso wie
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die Metapher bei Aristoteles ist, mündet nicht in ein neues, anderes Verstehen; sondern in die
Wahrnehmung des Verfahrens als eines Anderen gegenüber dem Verstehen der Bedeutung. So
kommt die Paradoxie zustande, dass das Verfahren der Verfremdung gerade zu der
Wahrnehmung des Dings selbst führt nach Sklovskij. Denn dass das Ding immer nur durch
Präsentationen hindurch gegeben ist, das genau das, was wir bei seinem Verstehen nicht sehen
können. Aber natürlich kann das Fremde, das das Verfahren der Präsentation gegenüber dem
Verstehen und seiner Vertrautheit ist, sich nur an die Stelle eines anderen, ersten Verfahrens
gesetzt haben. Darin liegt nun doch ein indirekter Erkenntniseffekt der Wahrnehmung des
Verfahrens: Schon das Verstehen und seine Gewohntheit ruhte einem Verfahren auf, das wir nur
als solches nicht wahrgenommen, sondern im Verstehen übersehen haben. Indirekt also macht
die Wahrnehmung des Verfahrens deutlich, dass es ein dem Verstehen zu Grunde liegendes
Verfahren gegeben haben muss.
Das Eigene – Autonome – der ästhetischen Verfahren liegt also nicht in irgendeiner bestimmten
Art oder Qualität dieser Verfahren. Es gibt kein Reservoir der Verfahren, in denen die Kunst sich
als Kunstgriff zeigt. Das wäre genau traditionelle Poetologie; bzw. Kunst ihrerseits als eine
bestimmte Region des Verstehens, die von Kunst als Verfahren erst zu unterbrechen wäre. Das
Eigene – oder Autonome – der Kunstverfahren liegt im Absehen vom Verstehen. Darum öffnet
diese Auffassung der Literatur den Blick aber auch dafür, dass die Kunst überhaupt nur in einer
Welt von verschiedenen und unterscheidbaren Verfahren existiert, d.h. den Blick auf eine
grundlegende Heteronomie der Literatur. Da es keine genuin poetologischen Verfahren geben
kann, können nur immer Verfahren Verfahren unterbrechen und können immer nur
Verfahrensordnungen den Blick auf andere Verfahrensordnungen freigeben. Kunst als Verfahren
impliziert, Literatur als Verfahrenshaftigkeit im Universum von juristischen, technischen und
wissenschaftlichen Verfahren zu untersuchen.
Das Eigene des literarischen Verfahrens ist es also, Verfahrenshaftigkeit überhaupt, damit aber
die Welt der Verfahren, als das Andere zum gewohnten Verstehen (oder zum Verstehen als dem
Gewohnten) sichtbar zu machen. Wenn man sich das klarmacht, kann man Kunst als Verfahren
auch noch auf eine zweite Art interpretieren. Kunst als Verfahren heißt dann nicht nur, dass
Kunst sich im Verfahren manifestiert. Es heisst auch, dass Kunst gar nicht erst als der
substantive Begriff ‚Kunst‘ zu verstehen ist, sondern als seine eigene Manifestationsform,
Verfahren, und zwar nur als Verfahren. Nur als Verfahren gibt es Literatur. Das wäre eine zweite
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Art, Verfahren als abgeleiteten Begriff zu verstehen – als etwas, das sich von einem Begriff,
Kunst, ableitet. Das als ist dann im Sinne eines Ableitungsmodus zu verstehen, als Beziehung
des Verfahrens auf einen Begriff. In vergleichbarer Weise ist sicher nicht zufällig ein anderer
Titel gebaut, der Verfahren in besonderer Weise zur Geltung bringt: Luhmanns Legitimation
durch Verfahren. Gemeint ist von Luhmann nicht, dass man sich nun mit den Verfahren der
Legitimation beschäftigen soll. Sondern Legitimation verändert sich selbst, indem man sie als
etwas auffasst, dass wesentlich durch Verfahren geschieht. Diese grundlegende Ableitung oder
Pragmatisierung des substantivisch Begrifflichen in Theorieformen des zwanzigsten
Jahrhunderts ließe sich für die Naturforschung der Moderne noch um Bruno Latours (und HansJörg Rheinbergers) Science in Action ergänzen, das ich hier frei als Wissenschaft in ihren
Verfahren übersetzen möchte. Als, durch und in Verfahren – das wäre die These – sind
verschiedene Ableitungsmodi und Pragmatisierungen, die im zwanzigsten Jahrhundert Kunst,
Recht und Wissenschaften auf den Verfahrensbegriff beziehen. Dabei folgt aus der
Eigendynamik jeden Bereichs, was Ableitung und Pragmatisierung hier jeweils bedeutet. Die
instrumentalen Ableitungen durch und in haben eine deutlich kritische Komponente:
Legitimation durch Verfahren ist stellt die Frage des Normativen in einem Raum sozialer
Interaktion. Wissenschafte in Verfahrens stellt die Fragen des Wissens in den Praktiken und
Apparaten seiner Ausarbeitung. Kunst als Verfahren enthält zwar auch eine Abstandnahme vom
Begriff der Kunst; aber das Verfahren ist – als das, was Literatur ist – zugleich pragmatische
Ersetzung und Erfüllung des Begriffs der Kunst.
2. Differenzieller Begriff
Literatur als Verfahren hat, mit anderen Worten, die Eigenheit, disziplinäre Verfahren –
politisch-rechtliche Verfahren und wissenschaftlich-technische Verfahren zum Beispiel – als
latente Verfahren (Haverkamp) ins Spiel zu bringen. Damit werden lokale Analysen von
zentraler Bedeutung, die literarische Verfahren daraufhin untersuchen, wie sie in ihrem
emergenten Verfahren die latente Wirkung rechtlicher oder wissenschaftlicher Verfahren
sichtbar machen. Eine Urszene der klassischen Rhetorik dafür ist sicher die Verteidigungsrede,
die Apollon in den Eumeniden als dikastes – als Rechtsbeistand – für Orest hält. Das geschieht
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im zweiten Teil des Schlussstücks der Orestie, nachdem Athene mit Erfolg eine grundlegende
Verfahrensmäßigkeit des Prozesses eingerichtet hat. Die Erinyen und Orest haben beide Athene
als ordnende Instanz anerkannt, und Athene hat ihnen daraufhin dadurch die verfahrensinternen
Rollen von Klägerinnen und Beklagtem zugewiesen und ihre eigene Funktion dadurch bestimmt,
dass sie Richter eingesetzt hat. Man kann das die erste Ebene der Einrichtung des Verfahrens
nennen. Die Pointe liegt aber in der Rolle dessen, der bei der Verteilung der Rollen merkwürdig
abwesend ist – in der Rolle Apollos, der für Orest sprechen wird. Als alle sich gemäß ihrer
Rollen zum Verfahren versammeln, ist Apoll plötzlich da, ohne dass seine Rolle klar ist. Athene
fragt: „Welche Rolle spielst du hier, Apoll?“ Nachem Athene das Verfahren begonnen hat,
schweigt Apoll zunächst, während die zu Eumeniden gewordenen Erinyen anklagen und Orest
sich verteidigt. Dann weiß Orest aber nicht mehr weiter. Ja: er hat den Mord begangen. Wie kann
man hier noch weiter sprechen? Das ist Moment, in dem sich Orest an den auf der Bühne
stehenden, aber nicht recht im Verfahren angesiedelten Apoll als Beistand wendet. Dieser
Einsatzmoment der rhetorischen oder literarischen Rede ist technisch gesprochen der Augenblick
der stasis, der Frage nach der rechtlichen Qualifikation. Unter welcher quaestio, wie es lateinisch
heißen wird, kann die Tat so erörtert werden, dass weitere Rede über sie überhaupt noch möglich
ist? Apolls Verfahrenstrick ist einigermaßen brutal. Er besteht darin, den Mord als Muttermord
zu qualifizieren und den Muttermord im Gewicht gegen die Verteidigung des Vaters abzuwägen.
Das tut er aber in einer jähen Wendung ad hominem, auf Athene hin: Athene selbst sei doch
essentiell die Tochter des Vater, und ihre Autorität – folglich auch die, das Verfahren
anzuordnen – die vom Vater abgeleitete. Das ist rhetorische Bestechung der obersten Richterin.
Die von Athene geschickter Weise in gerader Zahl bestimmten Richter stimmen unentschieden
ab; und Athene Votum entscheidet zu Gunsten Orests. Fasst man – wie ich vorschlage – Apolls
Rede als Einsatzmoment der rhetorischen Rede im Drama auf, dann besteht das rhetorischliterarische Verfahren darin, innerhalb des rechtlichen Verfahrens dessen latente Konstruktion
bloßzulegen und sie nach ihren eigenen Regeln fast wieder außer Kraft zu setzen. Wenn gerade
Athenes eigene Stimme entscheidet, nachdem sie selbst als Tochter des Vaters adressiert ist,
setzt sie offenbar den Sinn aufs Spiel, der in der Einsetzung der Richter und des Verfahrens lag.
Das tut sie streng nach Verfahren.
Wie ist nun dieses Ins-Spiel-Bringen oder Offenlegen der latenten Verfahren genauer zu
beschreiben? In der Antwort auf diese Frage zeigt sich m.E. eine wichtige Eigenschaft
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literarischer Verfahren, die ich ihre Differenzialität nennen möchte. Verfahren haben zwei
Seiten. Sie sind einerseits reguliert und regulierend; sie stellen Normen auf und tun das in einer
eindeutigen Weise. So richtet Athene hier das Verfahren des Prozesses ein. Die Erinyen müssen
auf die Verfolgung verzichtet, Orest darf nicht entlaufen, wie immer das Urteil ausfällt. Man
könnte das auch die normative Seite des Verfahrens nennen. Apoll wendet dann das rhetorischjuristische Verfahren der stasis an – oder vielmehr, er tut in seiner Rede etwas, das man, wenn es
funktioniert hat, so nennen kann. Er tut das, ohne dass seine Rolle bevor klar bestimmt ist. Seine
Rolle findet sich, indem ihn Orest als Beistand anruft und Apoll diesem Anruf mit dem Trick der
rechtlichen Qualifikation des Mordes und der heimlichen Adressierung der Gerichtsherrin
beantwortet. Dieses Verfahren ist vorauslaufend, weil es auf eine Regel, der es folgen könnte erst
vorgreifend. Insoweit scheint es autopoietisch. Andererseits operiert es mit Stücken der
rechtlichen Konstruktion des Verfahrens, die es benutzt. Insoweit ist es nachträglich und verhält
sich parasitär zum normativen Verfahren. Diesen vorlaufenden und nachträglichen,
autopoietischen und parasitären Zug könnte man unter die Blumenbergsche Kategorie der
Umwegigkeit zusammenfassen. Umwegige Verfahren kann es aber nur geben, wenn es die
Vermutung eines normativen Verfahrens gibt, zu dem sie sich vorlaufend oder nachträglich
verhalten. Der Umweg des Verfahrens reagiert auf den sicheren und gerade Weg der Methode
und des normativen Verfahrens.
Wenn man dieser Analyse folgen, ergeben sich wiederum zwei mögliche Bestimmungen des
Verfahrens der Literatur. Erstens kann man die umwegigen Verfahren als die literarischen
Verfahren auffassen. Das hieße dann, dass man literarische Verfahren als Vorgriffe auf und
Nachspiele zu normativen Verfahren untersucht, Verfahren die ihrerseits zum Beispiel
rechtlichen oder wissenschaftlich-technischen Charakters sein können. Mir scheint, dass es für
die praktische Untersuchung sinnvoll ist, dieser Analyse zu folgen. Theoretisch kann ist sie nicht
völlig befriedigen; und die praktische Untersuchung könnte durch die theoretisch tieferliegende
zweite Analyse immer wieder korrigiert und geschärft werden. Das Unbefriedigende der
skizzierten Auffassung ist leicht zu sehen. Es ist ja gerade das Argument in Luhmanns
Legitimation durch Verfahren und im Latour-Rheinbergerschen Wissen in Verfahren, dass auch
die disziplinären Verfahren in sich selbst umwegige Verfahren ins Verhältnis zu unterstellten
oder zu kritisierenden normativen Verfahren rücken. Umgekehrt ist die Ästhetik des 18.
Jahrhunderts nichts Anderes als ein einziger Protest gegen eine klassizistische Poetik und
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Rhetorik, der nun ihrerseits zugeschrieben wird, dass sie normativ sei. Normative und umwegige
Verfahren sind also gar nicht an bestimmte Bereiche gebunden, und man kann es einem
Verfahren nicht einmal in sich ansehen, auf welche Seite es gehört, ohne es in einen
differenziellen Vergleich mit einem anderen Verfahren zu stellen. Verfahren – welcher Art
immer – entfalten sich überhaupt nur durch die interne Rekalibrierung von normativ und
umwegig, fixiert und vorläufig, ewig und versuchsweise. Literarisch am Verfahren wäre dann
nicht mehr die eine Seite dieser Unterscheidung und Beziehung, sondern dass es die
Unterscheidung und Beziehung gibt und das Interesse und die Nutzung von Unterschied und
Relation. ‚Literarisch‘ kennzeichnet dann aber nicht mehr nur eine bestimmte Sorte von Texten
im Gegensatz zu anderen, die disziplinär und epistemisch sind. Sondern literarisch wäre das
Interesse daran, wie sich literarischen von nichtliterarischen Texten so verhalten, dass die
Beziehung und Unterscheidung zwischen Normativität und Umweg möglich ist.
3. Fearless Speech
„O könnte die Beredsamkeit von allen
Den Tausenden, die dieser großen Stunde
Teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben,
Den Strahl, den ich in diesen Augen merke,
Zur Flamme zu erheben! [...]
[...]
[...] Geben Sie
Gedankenfreiheit – (Sich ihm zu Füßen werfend.) (3202-3216)
Ich möchte an dieser Stelle in aller Kürze einen Vorschlag für ein bestimmtes Projekt zum
literarischen Verfahren oder sogar zum Literarischen des Verfahrens machen. Die
sprichwörtliche Szene und Stelle aus Schiller Don Carlos wartet auf eine einlässliche Analyse
als Szene und Stelle der parrhesia, der freien Rede. Wenn der Marquis unmittelbar vorher
zweimal sagt „Geben Sie / Was Sie uns nahmen, wieder.“ (3196f., 3199f.), dann meint er es,
natürlich, naturrechtlich. Freie Rede ist der Anspruch aller unter dem Recht. Aber dieses Geben
und Nehmen ist eben auch das Spiel eines Verfahrens. Der dritte Akte, dessen sentenziöser
Höhepunkt die Audienz des Marquis beim König ist, ist in Wahrheit eine einzige Folge von
Geben und Nehmen der freien Rede, wie sie dem Berater des Souverän zukommt, so wie z.B.
Hobbes die Beratung im Leviathan definiert hatte. Erst fordert der König in V,2 den Grafen
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Lerma auf, die Wahrheit über Treue der Königin zu sagen – nur um aber die gerade gegebene
Freiheit der Rede wieder zu nehmen: „Ihr seid / Des Todes, wenn Ihr zweifelt – “ (2531). Dann
holt er in V, 3 den eigentlich schon abgedankten Herzog von Alba wieder („Ihr habt mein
königliches Wort – Steht auf. / Sprecht unerschrocken.“ 2600f.). Als auch Alba droht, nichts als
die Wahrheit zu sagen, schickt Philipp („Wer ist sonst im Vorsaal?“ 2605f.) in V, 4 nach
Domingo, dem Beichtvater. Domingo kann aber nicht abwarten, bis ihm freie Rede gewährt wird
(Der König: „Wer kam so unberufen mir zuvor? / Sehr kühn, bei meiner Ehre!“ 2682f.). Darum
wird in zunehmendem Tempo wird noch in derselben Szene Alba wird zurückgeholt, von dem
Philipp schließlich den „Mut“ verlangt, die Königin der Untreue anzuklagen, um zugleich
anzukündigen, dass Alba selbst sterben müssen, wenn die Königin ihre Unschuld beweisen
könne. Das ist die Reihe der Berater, in die der Marquis eintritt. Nur ihm kommt aber in den
Sinn, das Verfahren der Parrhesia seinerseits als solches zu benennen und offenzulegen („Geben
Sie Gedankenfreiheit“). Er fordert damit, paradoxer Weise, was ihm gewährt, ja genauer: ihm
durch und in der Form der Gewährung auferlegt war. Das Wahrsprechen – um es mit Michel
Foucault zu sagen – ist der interessante Fall eines Verfahrens, das nicht einerseits ein reguliertregulatives Verfahren ist (die rechtsförmige Gewährung der Gedankenfreiheit) und andererseits
das literarisch umwegige Verfahren, in dem einer wie der Marquis es ausspielen konnte. Der
Einsatz im Verfahren des Wahrsprechen ist gerade, dass an jedem gegebenen Moment wieder
offen ist, auf welcher Seite man sich gerade befindet. Es gibt nur den Augenblick der furchtlosen
Rede, von dem immer wieder neu die Gabelung in normative und literarische Verfahren
auftauchen und strategisch ausgespielt werden kann. Bei Lerma, Alba und Domingo nutzt der
König alle erdenkbaren Varianten, die Rechtsförmigkeit der freimütigen Rede im Vorhinein oder
im Nachhinein ins Spiel zu bringen oder die Situation absichtsvoll offen zu lassen. Der Marquis
dreht die Verhältnisse um. Mit der schwer überbietbaren Prosopopoiia, der zufolge aus dem
eigenen Mund die Tausenden sprechen, kehrt er das Verfahren des Wahrsprechens in das des
advokatorischen Fürsprechens um. Das ist, wenn man den Vergleich machen darf, die Position
Apolls aus den Eumeniden: im Verfahren, spricht er gleichzeitig jenseits und über das Verfahren.
Dass im Wahrsprechen ein Projekt der Verfahrensanalyse zwischen Recht und Literatur angelegt
ist, geht aus Foucaults eigenen Überlegungen schon hervor. Nirgendwo ist er einer Umwandlung
der Diskurs- in die Verfahrensanalyse näher gekommen als in seiner Ausweitung von Pierre
Hadots Deutung der antiken meditativen Philosophie – die Deutung, die Hadot seinerseits im
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Licht Wittgenstein angesetzt hatte. Wenn Foucault in der Zusammenfassung seines BerkeleySeminars Discourse and Truth sagt, es gehe nicht um Wahrheitsbegriffe, sondern die Szenarien,
Rollen und Bedingungen des Wahrsprechens, dann versteht man mit einem Schlag, warum
Wahrsprechen – ähnlich wie das Fürsprechen des Sophokleischen Apoll – ein so
aufschlussreiches Problem für die Verfahrensanalyse darstellt. In der Fürsprache stellt sich
innerhalb des Verfahrens eine das Verfahren transzendiere Frage nach der Autorität, der
Selbstermächtigung zur Fürsprache. Das ist der Punkt, wo hier das Verhältnis von regulativem
zu literarischem Verfahren aufbricht. Beim Wahrsprechen transzendiert der Wahrheitsbegriff das
Verfahren. Dass es um Wahrheit, den Begriff und seine Unbedingheit geht, lässt hier das
Verhältnis von normativen und rhetorischen Verfahren ins Spiel kommen.
Wenn der Marquis im Augenblick des Wahrsprechens die Tausende auf seinen Lippen schweben
lässt, dann ist das nicht nur ein seltsam konkretistisches und schiefes Bild. Es handelt sich um
Schillers Utopie. Die Fürsprache und ihre ebenso individualistische wie disziplinäre Rhetorik
wären zu Ende, spräche oder vielmehr sänge der Chor der Vielen an dieser Stelle. Die
Abhandlung zum Gebrauch des Chores in der Tragödie wäre hier näher zu studieren. Stattdessen
möchte ich aber eine andere klassizistische Wahrsprecherin anführen.
„Doch folg ich gern der Pflicht, dem Könige
Für seine Wohltat gutes Wort zu geben
Und wünsche mir daß ich dem Mächtigen
Was ihm gefällt mit Wahrheit sagen möge.“ (214-217)
Iphigenies Rolle an Thoas‘ Hof ist widersprüchlich. Sie ist Gefangene und Gegenstand des
Begehrens; aber sie ist auch Priesterin der Diana und erteilt dem König den Rat der Religion. Ihr
Moment des Wahrsprechens kommt denn auch als Geständnis und Offenbarung über sich und
den Bruder – die vorbereitete Flucht – und doch auch als Offenbarung der Wahrheit. „[...]
verherrlicht / Durch mich die Wahrheit – Ja vernimm, o König / Es wird ein heimlicher Betrug
geschmiedet / [...]“ (1918f.) Die Präambel zum Geständnis als Offenbarung des Wahrheit fasst
das Reden als Tat ein. „Hat denn zur unerhörten Tat der Mann / Allein das Recht?“ (1893f.) Die
Tat der Rede, der Sprech-Akt, ist hier das der Moment der Wahrsprechens. Das Verfahren, das
sich hier aus den gewohnt umwegigen Figuren von Iphigenies Rede herausstellt („Und wünsche
mir daß ich dem Mächtigen / Was ihm gefällt mit Wahrheit sagen möge.“) und ihnen als ihre
Verfahrensunterlage Richtung und Konsistenz gibt, ist die unerhörte Tat des Mannes, der
unwahrscheinlichste Erfolg des Mutigen, Rettung aus Lebensgefahr. Dass sich Sprechen als
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Handeln verfasst – und im besonderen Wahr-Sprechen als Sprech-Akt – ist vielleicht das
weitgreifendste und schwierigste Thema einer literarischen Verfahrensanalyse. Die quasi
rechtlichen, jedenfalls regulativ-regulierenden Verfahren (des Gestehens, Beratens, Befehlens,
Aussagens, kurz der Sprechakte) liegen natürlich in einem sozialen System möglicher Formen
der Interaktion bereit; aber sie werden doch erst durch die Figuren der umwegig taktierenden
Worte aus dem Sprechen heraus angespielt, die sich so aus sich selbst heraus ihren
Verfahrenssinn vorgeben. Alle Sicht auf Reden als sprachliches Handeln ist in Wahrheit
Ergebnis solcher Selbstzerlegung in literarische und regulierende Verfahren und ihre
anschließende Bezugnahme aufeinander.
4. Evidenz als Verfahren
Die Frage nach den Verfahren der Literatur führt auf die Unterscheidung zwischen regulativen
Verfahren und Verfahren des Umwegs und der Umleitung. Auf der ersten Stufe der Überlegung
heißt das, dass man Untersuchungen zwischen rechtlichen und wissenschaftlich-technischen
Verfahren einerseits und literarisch umwegigen Formen ihrer Einübung, ihres Nachspielens und
Ummodeln ansetzt. Auf der zweiten Stufe sieht man dann, dass es sich bei dieser Verteilung nur
um einen besonders häufigen und besonders gut sichtbaren Fall von Verfahren handelt. Die
rechtlichen und wissenschaftlichen Verfahren sind hier in ihrer normativen Verfasstheit bereits
auskristallisiert und stehen den literarisch-rhetorischen Anverwandlungen deutlich
ausdifferenziert gegenüber. In Wahrheit heißt aber, sich für Verfahren zu interessieren, in jedem
Fall, der Spannung zwischen der normativen Geltung von Gesetz oder Wahrheit zu ihren
Verfahren nachzugehen. Diese Spannung ist ebenso – wenn auch in verschiedenen Auformungen
– der Fall im Recht, das durch seine Verfahren wirkt, in der Wissenschaft, die in ihren Verfahren
stattfindet, und in der Kunst, die sich als ihre Verfahren zeigt. Was konkrete Projekte angeht,
kann man hierfür bei Fällen ansetzen, bei denen in nichtzufälliger Weise die Unterscheidung
zwischen normativen Geltungen und Verfahren nicht festgestellt, nichtfixiert, ist. Fürsprechen
udn Wahrsprechen scheinen solche Fälle zu sein. Die ‚literarischen‘, figurativen Verfahren
stellen mögliche rechtliche und regulierende Verfahren erst aus sich heraus und sich gegenüber.
Die Unterscheidung produziert sich sich erst als das Vorgehen des Verfahrens. Diese zweite
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Untersuchungsebene kann man in einem grundlegenden Sinne als literarisch verstehen. Denn
hier werden nun – wie in den Fällen Fürsprechen und Wahrsprechen angedeutet – die Figuren
prosopopoeia und evidentia grundlegend. Durch sie werden Rollen, Situationen und sachliche
Gegebenheiten aufgerufen, die als Teile des vorgebenen regulativen Verfahrens – also zum
Beispiel der Gerichtsszene oder der Szene der gewährten freien Rede – im aktuellen figurativen
Verfahren entweder erst entworfen oder in Erinnerung gebracht werden.
‚Evidenz als Verfahren‘ ist, jedenfalls von der Geschichte der Rhetorik und Poetik her gesehen,
der allgemeine Name für mögliche Verfahrensprojekte. Evidenz ist der Titel für
Unverfügbarkeit, Momentaneität und Unvergleichbarkeit. Gerade darum kann Evidenz nur durch
Verfahren sichtbar gemacht werden und ist aber in keinem seiner Verfahren enthalten.
Umgekehrt wird Evidenz als rhetorisches Verfahren nicht zufällig von Quintilian im
Zusammenhang der Gerichtsszene besprochen. Rhetorisch ist die evidentia in der Szene des
Gerichts die Figur, in der überhaupt ein Außen des Gerichts in Rechnung gestellt wird – das
Außen der wahren Ereignisse wie das desjenigen, für den der Fürsprecher spricht. Die berühmte
Forderung Quintilians, der Redner müsse sich durch die Figur der evidentia selbstaffizierend das
Wahre der äußeren Ereignisse und dessen, für den er spricht, zu eigen machen, heißt nichts
anderes, als dass der normative und uneinholbare Anspruch des Wahrsprechens und
Fürsprechens im Inneren der Szene, in der gesprochen wird, nur durch die Konsistenz, das an
sich selbst anschließende Vorgehen des Verfahrens einzulösen ist. Evidenz und rhetorische Figur
der Evidenz sind darum in sich das Verhältnis von normativer Geltung und Verfahren.
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