Leben

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Korb 16
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Inhalt
Symbolik ................................................................................................................................. 2
Existenzsymbolik ................................................................................................................ 2
Wirklichkeit ............................................................................................................................. 3
Leben ....................................................................................................................................... 3
Erkenntnis ................................................................................................................................ 5
Vereinfachung ..................................................................................................................... 7
Ordnung ............................................................................................................................... 8
Chaos ................................................................................................................................... 8
Religion ................................................................................................................................... 8
Gott .................................................................................................................................... 10
Schöpfung .......................................................................................................................... 13
Jesus....................................................................................................................................... 13
Gesellschaft ........................................................................................................................... 14
Kultur................................................................................................................................. 15
Gewalt, Macht, Recht ........................................................................................................ 18
Wirtschaft .......................................................................................................................... 18
Geld ................................................................................................................................... 19
Solidarität .......................................................................................................................... 21
Individuum ............................................................................................................................ 22
Moral ................................................................................................................................. 23
Alter ................................................................................................................................... 25
Tod..................................................................................................................................... 25
Trauer ................................................................................................................................ 26
Gegenwart ............................................................................................................................. 26
Ausblick................................................................................................................................. 28
Rest ........................................................................................................................................ 30
Mit thematischer Zuordnung ............................................................................................. 30
Neu .................................................................................................................................... 31
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Symbolik
Lacan’s chaîne des signifiants ist eine ziellos spielende Suchbewegung, eine animalische
Überlebensstrategie.
Der Mensch hat die evolutionär vorteilhafte Zwischenwelt der Symbolik am differenziertesten
entwickelt.
Die Mehrdeutigkeit gibt der Sprache ihre eigentümliche Leistungsfähigkeit.
Rede ist ein informativer akustischer Wellenzug, der, um ungefähr bestimmte Transformationen anzustoßen, zwischen Sprecher und Hörer höchst komplizierte Ähnlichkeit voraussetzt.
Zeichen sind Elemente von Verbundsystemen – schon natürlichen, aber dann auch (uns
immer wichtiger werdend) künstlich die Symbolik vereinfachenden Systemen (Informatik!).
Auch alle reale Hilfe ist wesentlich Symbol für das gewünschte Überleben.
Ich will Zusammenhänge notieren und schreibe Lesetexte. Als Sprechtexte müßten diese –
für denselben Informationsgehalt (mit gleicher Präzision der sprachlichen Symbolisierung der
Zusammenhänge) – viel länger sein.
Der Formenreichtum der klassischen Alten Sprachen erleichterte die genaue Erfassung von
Zusammenhängen mittlerer Komplikation. Dann aber lernte man so entmutigend viel von der
Wirklichkeit, dass man die Sprache versimpelte und den Informationsverlust mit
(redundantem) Wortreichtum kompensierte.
Zwischen Sprache und Logik herrscht ein Ungefähr.
THUKYDIDES schrieb seinen Peloponnesischen Krieg als κτῆμα ἐς ἀεί, „Besitz für immer“.
Er wollte, um entsetzliches Erlebtes doch fruchtbar zu machen, ̣es so zur Sprache bringen,
dass es mit symbolisch konzentrierter Analogiekraft weiter wirkt, indem es zur Besinnung
ruft.
Das Wort des einen bringt im anderen etwas anderes, Eigenes zum klingen.
Symbolik repräsentiert eine Solidargemeinschaft.
Existenzsymbolik
Das Unermessliche ist uns Gottessymbol.
Meine Sätze sind kompliziert, weil sie auch die Bedingtheiten ihrer Grundidee zum Ausdruck bringen sollen.
Wohl jede kollektive Existenzsymbolik ist, von außen gesehen, grotesk. Es sind zufällig gelungene, mehr oder weniger stabile Koordinationen – im Ernstfall gewalttätig, im Interesse
des Friedens.
Heideggers Existenzialontologie war eine dauerhafte konsensfähige Existenzsymbolik. Aber
auch er selbst konnte nicht dabei stehen bleiben.
Ist mein Gott mein Geschöpf*? Der „himmlische Vater“ und „Gott, der Herr,“ sind überlieferte richtungweisende Existenzsymbole für den Ratlosen.
* Fides est creatix divinitatis, non in persona, sed in nobis, erklärt LUTHER in seiner großen
Vorlesung (1535) über den Galaterbrief (zu 3,6).
Eine Weltanschauung hat eine erste und eine letzte Vereinfachung: in der Bibel anfangs
Gottheit über dem Wasser und schließlich Himmel/Hölle (Gott und Teufel), imaginär,
säuberlich getrennt.
In der Bibel ist jedoch entscheidend das „Gott sprach“ – aktuell symbolisch für das Erste und
Letzte, ungefähr, lebendig, wirklich!
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Das Jenseits ist in Wirklichkeit ein Raum für existenzsymbolische Kommunikation.
Der existenzsymbolische Tiefgang jedes Symbols schwankt.
Wirklichkeit
Jeder lebt in mehreren Welten (z.B. Traum und Wirklichkeit), zwischen denen es weiche
Übergänge (zwischen Grammatik und Logik oder äußere Realität und Symbolik) gibt und
Zusammenhänge (z.B. in der Sprache: Stimmung und Information; einerseits pulmonal und
pharyngal als Stimme, anderseits labial, dental, guttural als Artikulation).
Im Chaos ereignet sich eine lebensfreundliche Normalverteilung als beschränkte Ordnung.
In-formation trans-formiert mit nur beschränkt überblickbaren Folgen.
Götter sind herrschaftlich herrlich. Ist Gott wirklich „herrlich“?
Die „Ent-deckung“ (ἀπο-κάλυψις/Offenbarung) Gottes an der Person des gekreuzigten Jesus
vertiefte den Begriff der Herrlichkeit und erläuterte ihn, durch das Leben Jesu, als Vorbildlichkeit (Matth. 6, 48), als Ideal, immer nur entstellend vorstellbar, nur ungefähr nachvollziehbar.
Der Schöpfer offenbart uns immer neu die wirkliche Wahrheit, – der wir entsprechen möchten.
Wirkliches hat viele variable Determinanten; aber oft kann man aktuell Parameter ungefähr
konstant denken; und dann scheint hier Monokausalität zu herrschen.
Die Wirklichkeit ist chaotisch, aber nur lokal „fraktal“ geordnet.
Fraktale können auch ganzzahlige Dimension haben. Aber der Iterator für die Skalierung wird
von der Realität meist nach drei bis fünf Schritten ausgebremst.
Lebewesen sind beschränkt; sie müssen sich die Wirklichkeit vereinfachen. „Unsere“ Welt
ist ein Chaos von Vereinfachungen.
„Wirklich“/„real“ sind, paradigmatisch, Festkörper, alse dauerhafte, lokale energetische
Minima. Bewegung ist „nur“ flüchtig wirklich; und Wirklichkeit ist „eigentlich“ ewig.
Aber das stellen wir uns wohl zu einfach vor; in Wahrheit tanzen wir ahnungsvoll auf Wahrscheinlichkeitswellen.
Leben
Die Pragmatiker orientieren sich am Naheliegenden; Weitblick ist zunächst Luxus. Dass auf
die Länge der Pragmatismus noch teurer ist, trifft erst die Nachfolger.
Soweit ich verstehe, ist im Gehirn der Hippocampus der Ort der Realitätsanpassung, also
der (psychoanalytisch so genannten) Sekundärprozesse, während die Amygdala Sitz der Primärprozesse ist. Stress führt zu einer spezifischen Hormonausschüttung, die die Interaktion
zwischen diesen beiden stört. Der moderne Stress einerseits und die Spaltung zwischen unnatürlichen Anpassungsleistungen und Hintergrundmusik anderseits gehören zusammen.
Emergenz endet meist schnell als emergency. „Übermut tut selten gut.“ Aber ganz vereinzelt ist so etwas wie Übermut epochemachend. Die Entstehung der Arten beruht auf Mutationen.
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Scheitern
Demut,
Solidarität in
der Ratlosigkeit
Geradlinige
Fortsetzung
Schöpferische
Bescheidenheit
Erfolg
Normale Sequenz im menschlichen Leben
Phase
Scheitern
Demut/Solidarität in der Ratlosigkeit
Schöpferische Bescheidenheit
Erfolg
Geradlinige Fortsetzung
Christliche Existenzsymbolik
Karfreitag
Karsamstag
Gott, der Heilige Geist, Maria, Auferstehung Jesu
Gute Werke
Wissen (1Mose 3, 5; 1Kor 13, 9)
Emergenzen gibt es hauptsächlich im milden Chaos.
Leben ist leiden; und das verengt den Horizont. Man sollte es sehen in weiterem Zusammenhang dessen, was man nicht sieht: Leben ist unüberblickbares Transformiertwerden.
Eine Causa finalis ist eine emergente Struktur in jedem Zyklus des Lebens.
Ob die Menschheit als ganze eine Causa finalis hat, ahnt man nur; die Frage ist nur symbolisch richtungweisend, kognitiv sehr ungefähr und deshalb kontrovers, zu beantworten.
Alles heterotrophe, „höhere“ Leben ist grausam.
Überproduktion und Selektion ist der brutale Grundmechanismus der Evolution auch in der
Menschheitgeschichte.
Evolution der Humanität setzt Evolution der Opferbereitschaft und Selbstbeschränkung voraus.
„Die Revolution frisst ihre Kinder.“ Revolution ist Evolution im Zeitraffer. Im Zeitraffer
unserer Gegenwart sieht man: Die Evolution frisst ihre Kinder!
Genauestens besehen, ist die Schöpfung ein Wellensalat.
Endlich hat auch Leben sich eingeschwungen. Es ereignet sich. Es harmoniert vielfältig und
hochdimensional (Phantasien, Gedanken, Symbole, Sprache, Glaube* schwingen sich ein).
Und es schwingt aus.
* Luther präzisierte, im Blick auf Jesus, im Sinne des Apostels Paulus: Zwischen Gesetz und
Evangelium.
Es lebt mich. Ich lebe mit.
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Ein Evolutionsschritt ist eine glücklich vernarbte kleine Verletzung, Ausbruch aus der herrschenden Normalität.
Viele Lebensfunktionen dienen zwar der Fitness im Sinne der darwinistischen Daumenregel, haben aber auch dysfunktionale Nebenwirkungen.
Das darwinistische survival oft the fittest* ist, genau genommen, eine Zirkeldefinition**.
* Ein von Herbert Spencer (1864) unter dem Eindruck seiner Darwin-Lektüre geprägter Begriff, den Darwin von ihm übernahm.
** Wie: „Qualität setzt sich durch“.
Das Ungefähr ermöglicht die Evolution mit ihren langsamen Wachstumsphasen und schnellen Zusammenbrüchen.
Das ist das „Gesetz“, das wir verstehen. Das „Evangelium“ vom Anbruch des Gottesreichs in
unserer Gegenwart setzt Phantasien bezüglich dessen, was wir nicht verstehen, dagegen.
Die Evolution hat in winzigen Schritten immer komplexere stabile Einheiten im All
hervorgebracht. Der Sinn des Lebens ist: Stabilisierung im Chaos.
Wir orientieren uns, im Chaos der Ordnungen, nützlich ungefähr, vermittels vereinfachender
Vorstellungen.
In der alten Zielvorstellung der ewigen Seligkeit singt man Gotteslob und Dank für das
Weltgeschehen, und spielt (musiziert, ja: tanzt!) zusammen – zweifellos ein ernstes Spiel!
Schmerz, Angst, Vernunft sind ungefähr lebensfreundlich und waren in der Biosphäre
evolutionär bisher Erfolgsrezepte.
Leben ist Suchen.
Intraspezifische Aggression chaotisiert und beschleunigt zwar die Evolution der Spezies.
Aber statt dem survival zu dienen, kann Übersteigerung ihrer fitness der ganzen Spezies ein
Ende bereiten.
Leben ist eine biochemische Struktur, die Erfahrungen sammelt. Auf Erfahrungen beruhen
Erwartungen.
Erfahrungen sind Ereignisse mit Langzeitfolgen. Jeder hat seinen Erwartungshorizont.
Im milden Chaos unserer Welt begünstigt Erfahrungssammlung das Weiterleben.
Weiterleben-Wollen ist uns vererbt und angeboren.
Erkenntnis
Wahrnehmungen geben, abstoßend oder anziehend, Richtung an; das ist ihr Sinn*. Besinnung koordiniert das.
* Im Sinne der Etymologie von „Sinn“.
Das Jenseits, mit bestimmtem Artikel, ist bereits subjektiv wahrgenommen, relativiert aufs
Diesseits. In Wahrheit aber ist das Diesseits durch das Jenseits unergründlich relativiert. Die
Unterscheidung ist kollektiv subjektiv.
Es gibt das Erlebnis (A , 1) von Wiederholung (darauf beruhen Addition und die natürlichen
Zahlen) und (2) von Wiederholung von Wiederholung (darauf beruhen Multiplikation und
Potenzierung) und (B) Umkehrung (darauf beruhen die negativen Zahlen, die Brüche, die
Wurzeln sowie endlich die imaginären Zahlen).
Diese Letzteren führen ein in die Tiefe des Erlebnisses von Wiederholung, in das (gemeinhin
banalisierte) abgründige Geheimnis von Identität: das Kreisen in weiteren Dimensionen, wo
wir auch mit einer „transzendenten Zahl“, π, zu tun bekommen.
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Reale Stabilität ist umständebedingt – auch der „Satz des Pythagoras“; er gehört in die Euklidische Geometrie. Und diese setzt geeignete Materie voraus. Die „reinen Formen“* setzen
Gehirne, diese setzen Leiber und diese setzen ein Biotop voraus.
* SCHILLER, Das Ideal und das Leben.
Es gibt im Ablauf der Geschichte so etwas wie Regelmäßigkeiten. Der augenblickliche Zustand ist Funktion von vielen ihrerseits (auch von einander) abhängigen Variablen. Aber als
selbst Teil dieser Geschichte, haben wir ein Gefühl für solche Zusammenhänge und können
aus der Geschichte individuell und kollektiv zulernen, was für was wichtig ist.
Umsicht macht ratlos.
Verstehen mildert die Chaotik des Erle bens.
In der Ratlosigkeit sucht man Rat. In fundamentaler Ratlosigkeit sucht man Gott.
Der Drehimpuls bereits hatte dieselbe Dimension; aber Plancks Entdeckung des minimalen
Quantums zwang die Physik zur Besinnung, zur Anerkennung der „Wirkung“ als fundamentaler Dimension – ich nenne sie „Ereignis“ – , in der wir keine Sicherheiten, sondern nur
Wahrscheinlichkeiten haben, keine evens, sondern nur noch odds.
Plato, Jesus, Paulus waren Täter! „Gedanken, Worte und Werke“ gehören zusammen.
Unversehens befremden, im Alter zunehmend, gewohnte Selbstverständlichkeiten. Man
kann dann sein Verstehen vertiefen.
Seinen Jüngern war, nach dem Verlust Jesu, ihr Weiterleben Offenbarung Gottes. Jesus
hatte das vorbereitet. Das Leben wurde ihnen zum Wunder Gottes, des Heiligen Geistes; die
Gegenwart war Zugabe, gottgegebene Endzeit des menschlichen Bescheidwissens,
hereinbrechen der ewigen Wahrheit.
Jedes Verstehen von Wirklichkeit ist Vereinfachung.
Lebewesen verstehen sich ungefähr auf ihre Umwelt.
Galgenhumor* realisiert das Prinzip Hoffnung symbolisch durch provokative Horizonterweiterung.
* Am Montag früh tut sich die Zellentür auf; es ist der Henker – und der Delinquent empfängt
ihn mit: „Die Woche fängt ja gut an!“
Mein Weltbild ist ein auch durch Konsens stabilisiertes, quasi-stabiles System von Vereinfachungen.
Man lernt, schulisch standardisiert, manipulierbare, abstrahierbare, einzelne Zusammenhänge.
Bedrängnis führte den Glauben – von den alttestamentlichen Verheißungen über Jesu Leben
und Tod – zum Auferstehungsglauben.
Vor der „Aufklärung“, als es noch nicht stigmatisiert* war, halluzinierte man mehr. Was wir
nicht verstehen, respektierte und symbolisierte man durch Wahnvorstellungen**. Man erlebte
unser „Jenseits (des Verstehens)“ diesseitig vergegenständlicht in Wahnvorstellungen. Das
„Diesseits“ war durchherrscht von „jenseitigen“ Mächten. Heute leben wir bewusst in
schwankenden Vermutungen mit nur hypothetischen Sicherheiten.
* Etwa KANT, Träume eines Geistersehers, 1766.
** In Joh 20, 29 empfinde ich eine gewisse erkenntnistheoretische Unsicherheit.
„Lang“ und „kurz“ werden sowohl lokal und temporal benutzt. Das ist das elementare Erlebnis „Bewegung“ unter verschiedenem Blickwinkel.
Vergängliche Stabilitäten strukturieren das chaotische Ungefähr.
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Skepsis bezüglich unserer Vereinfachungen demütigt und lehrt beten.
In der Irre, sucht man näher zu bestimmen, was man sucht*.
Suchet, so werdet ihr finden“ (Mt 7, 7), hat Jesus gelehrt. Gott finden! „So ihr mich von ganzem Herzen suchet, so will ich mich von euch finden lassen“ (Jer 29, 13f.).
* Im Zentrum der Anthropologie der psychoanalytischen École Freudienne (Jacques Lacan)
stand der désir. Er sucht.
Meine Großmutter, Paula Bonhoeffer, fragte gelegentlich leicht ironisch, wenn man lange
suchend herumirrte: „Suchst du etwas Bestimmtes?“
Man muss lebenslang stabile Vereinfachungen suchen, damit die Vernunft nicht in ihren
Vereinfachungen erstarrt.
Vorstellungen sind stabile rekurrente Ereignisse.
Nicht nur Vereinfachungen von einzelnen Ereignissen, sondern auch von der Wirklichkeit
im Ganzen repräsentieren uns die Wahrheit.
Spielend Lernen, Forschen, ist re-search, Suchen.
Man glaubt, sich auf Menschen zu verstehen, obwohl auch sie kompliziert sind. Aber
Personalisierungen sind tückische Vereinfachungen.
Suchende Ratlosigkeit kann spielend Rat finden.
„Der“ Sinn eines Lebens ist jeweils eine individuelle Konfiguration aus verschiedenen Lebenszusammenhängen. Die förderlichsten Antworten auf die Sinnfrage sind Fragen.
Das frühneuzeitliche, platonistisch-christliche Urbild des Weltgeschehens, das Singen und
Spielen der Seligen vor Gott, war ein ernstes Spiel. Der himmlische Reigen* war eine (mild
zufällige) Vereinfachung der wirklichen Zufälligkeit.
* Ähnlich: die Integration der Passion Jesu in die ewige Wahrheit durch Putten, die mit den
Marterwerkzeugen spielen.
In der anthropogenen Umwelt wirkt Verstehen diachronisch zurück auf das Verstandene.
„Zufall“ heißt der Horizont unseres verstehenden Vereinfachens.
Der Mensch braucht anscheinend, um vernünftig zu bleiben, in seiner Symbolik* besondere
Repräsentanten des „Jenseits“ – all dessen, was er zwar nicht versteht (also fast alles), aber,
natürlich, sich vorstellt wie das bereits Bekannte!
Alle Symbole haben eine irrationale Rückseite. Wenn diese nicht respektiert wird, wird die
Vernunft unvernünftig.
* Dinge und auch Menschen; Begriffe, Sprache, Gesten inbegriffen.
Das Beste, was man zu lernen hat, ist: Ratlosigkeit aushalten.
Wir müssen sie je in uns wirken lassen und, gedemütigt, dann von Neuem mitverantwortlich
weiterleben.
Spiel ist Harmonie-Suchen.
Das Wirkliche sucht seine Form. Alles passt noch nicht recht zusammen.
Vereinfachung
Vereinfachungen sind Halbwahrheiten. Ohne sie kommen wir nicht durchs Leben. Aber
man ist immer in Gefahr, sie zu überlasten.
Das Denken hat seine Ergebnisse nur als (vielfach abgelenkte) Sequenz in einem hochdimensionalen Raum; hier ist Reflexion ein Erinnern. Schriftliche Notizen hingegen erlauben
niedrigdimensionale Reflexion. Das Denken ist vom chaotischen Leben bestimmt, schriftliche
Reflexion von der Struktur der (immer vereinfachenden) Notiz.
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Zur (evolutionär so vorteilhaften) vereinfachenden Orientierung hatten vor-schriftliche Kulturen Lieder, (als „geflügelte Worte“) Sprichwörter und symbolische, kultische Texte. Dann
erfand man die Schrift, und wir entwickeln, zwecks weiterer Vereinfachung, Zeichen- und
Begriffssysteme.
Vereinfachungen chaotisieren – die stärksten am wildesten. Man sehe, was die exakten
Wissenschaften und was die Religionen angerichtet haben!
Ordnung
Schwache ungeordnete Bewegung (z.B. Wärme) begünstigt stabile Ordnung.
Auch psychisch: Leichte Erschütterung wie Trauer stabilisiert den Menschen.
Das Gauss’sche „Fehler“-integral der Normalverteilung der Wahrscheinlichkeitsdichte beschreibt Abweichungen von einem anzielten Wert. Es setzt also Dominanz einer ordnenden
Komponente* voraus.
Beim Zusammenbruch einer stabilen Ordnung wird diese Komponente zunehmend relativiert.
Es entstehen chaotischere Strukturen mit unendlicher Streuung wie die Cauchy-Verteilung.
* Der zielende Schütze oder der möglichst genau messende Prüfer.
** In der Wirtschaft: einen funktionierenden Staat. Und das ist bei den jeweils Mächtigen
weitgehend konsensfähig.
Als geordnet empfinden wir, was gut zum menschlichen Verstand passt*. Der Mensch ist in
die Welt eingeordnet – und vereinfachend versteht er sie ungefähr.
* Darauf beruht die Platonische „Idee“.
Chaos
Natürliche Chaotik, auch die des Markts, kann man nur zeitweilig dämpfen.
Wenn man genau hinguckt, sieht man, dass wir für genauen Realitätsbezug nicht ausgelegt
sind. Und dass kleine Unstimmigkeiten große Folgen haben können, weiß man.
Wahrscheinlichkeitstheorie spielt mit Vereinfachungen im verunsichernden Überkomplexen.
Zufall* ist ein vereinfachender Begriff für diese hyperkomplexe Menge von Koinzidenzen
in unserer Wirklichkeit, der unser Verstand nicht gewachsen ist. Dieser Begriff ist eine
autonome, emergente Selbstbegrenzung des Verstandes.
* B. Mandelbrot: „randomness“.
Benoît Mandelbrot suchte mit seiner Fraktal-Forschung eine praxisrelevante Morphologie
des Chaos.
Die Dynamik zwischen drei Körpern ist ein einfaches Verbundsystem – und doch schon
eine chaotische, nur beschränkt berechenbare Realität!
Wir leben in einem Chaos von dynamischen, beschränkt stabilen Ordnungen.
Religion
Rel: Wie kam es zu der mörderischen Verselbständigung des Radikalismus im Islam?
Individuum und Gemeinschaft brauchen einander, die Beziehung zwischen Individuum und
Gemeinschaft ist beim Menschen (dieser qualvoll kreativen Tierart) bestenfalls ein mild chaotischer, nur ungefährer Konsens. In der Religion geht es ums Unbedingte, um „letzte Ehrlichkeit“ (Klaus Bonhoeffer). Wegen dieser natürlichen Radikalität von Religion, ist die Harmonie hier besonders spannungsvoll.
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Der „Islamische Staat“ nun ist ein Sammelbecken naiver Empörung über im Namen Gottes
etablierte Heuchelei. Seine Einfachheit ist (bis in seine Ökonomie hinein) eine Kopie der
Möchtegern-Rationalität der Weltordnung im Zeichen des Geldes*.
* Der Volksmund sagt: Geld regiert die Welt.
Φιλο-σοφία/Philosophie ist dem Wortsinn nach so etwas wie theologia viatorum.
Mythos, Mythologie und Theologie sind ursprünglich ziemlich gleichbedeutende Begriffe.
PLATO ist hier sehr kritisch, versucht aber einen Neuansatz. Bei der Frage nach der Qualifikation für politische Führung, thematisiert er auch die qualifizierende Erziehung. Und hierfür
verlangt er eine moralisch gereinigte θεολογία/Gotteslehre (und zwar Lehre von „Gott“ im
Singular mit bestimmtem Artikel!).*
*Politeia II, 18, p. 379a.
Tatsächlich ist θεολογία/theologia/Theologie bei Plato, und auch im Luther*’schen Sinne,
wesentlich mythologisch, symbolisch. Es geht um Existenzsymbolik, um den Glauben, um
persönliche Verantwortung, wie bei Sokrates und Paulus.
Mythos ist symbolisches Wort. Und Symbolik ist noch stark biologisch bestimmt. Mit MANFRED EIGEN** zu reden: complex familiarity.
Logos hingegen ist eine emergente Struktur in der Spezies Mensch; sie vereinfacht die
menschliche Symbolik zu strange simplicity.
* Trotz dessen scholastischer Bemühung um Rationalität.
** From Strange Simplicity to Complex Familiarity, Oxford 2013.
„Hoffnungslos weicht der Mensch der Götterstärke. Müßig sieht er seine Werke, und bewundernd, untergehn.“ So beschreibt SCHILLER (Das Lied von der Glocke) den Bauern vor
seinem vom Blitz getroffenen, abbrennenden Hof. „Müßig“, „bewundernd“!
Unglück wurde erst als Rache numinoser Mächte erlebt; dann als Strafe.
Kollektive Vergottung der Gerechtigkeit ist der alte Rahmen der monotheistischen Straftheologien.
Das Neue Testament dokumentiert Versuche, in diesem Licht auch noch die Erscheinung Jesu
zu verstehen. Aber hier wird die klassischen Gerechtigkeit theologisch relativiert. Es entstand
ein anderes Gottesverständnis, das seine klassische Form in der Trinitätslehre fand.
Seit der Aufklärung zunehmend, versteht man Unglück als die natürliche Folge des chaotischen Ungefähr, von dem alle Lebewesen leben. Auch unsere Moral müssen wir relativieren;
Man kann, auch ohne Straftheologie, seufzend, aber ruhig anerkennen: Es hat letztlich auch
moralisch seine Richtigkeit, dass wir leiden und sterben müssen.
Prophetie ist eine archaische Gattung von Poesie.
In tiefster Ratlosigkeit nach der Kreuzigung Jesu, kommt in den Ostererlebnissen die
apokalyptische Tradition zum Zuge im sensorischen réel Lacan’s, der Halluzination. Diese
Form des Glaubens an das Geliebtsein ist überlebensfähig allein in ἀγάπη, Solidarität!
„Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit,“ schreibt SENECA in De tranquillitate animae. BÜCHMANN (32. Aufl. 1972) verweist dazu auf ähnliche Bemerkungen von Demokrit, Aristoteles und Cicero.
Religionsstifter sind Ekstatiker.
Götter begeistern Massen. Der Mensch braucht Feste; sie stärken die kollektive Existenzsymbolik. Post festum ist er wieder down to earth, aber nun im Licht der erinnerten Begeisterung.
Die christliche Liturgik versteht den Gottesdienst als Sammlung und Sendung.
Man sucht das Wesen einer Religion besonders in ihrem Ursprung. Aber ihre Selbstauslegung in der Geschichte erhellt, was im Ursprung etwa noch verborgen war.
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Schöpfung, Sündenfall und schöpferische Vergebung werden, als eine sozial exklusive, missionierende Weltanschauung, geglaubt.
Aber „bekennen“ kann man Glauben nur als Unverantwortlichkeit. Mehr wäre, Luther zum
Trotz, „Gesetzes“-predigt (im Sinne Luthers)!
Was der sog. „Islamische Staat“ heute macht, ist Triebbefriedigung von Frustrierten.
Beten-können muss sich ereignen. Es ist wohl seltener geworden. Man kann die
Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses durch bestimmte Wahrnehmungseinstellungen
erhöhen.
„Kein Buch ist so dumm, dass nicht ein kluger Mensch etwas daraus lernen könnte,“ sagte
ein kluger Mann. Heilige Schriften wirken streckenweise dumm. Aber im Sinne von Paulus
(der sich verschiedentlich zum Thema Torheit äußert) wäre hinzuzufügen: Im rechten Geist
kann man auch aus diesen Bibelstellen etwas lernen.
Das Wort „Propaganda“ geht auf den Namen (1622-1967) der päpstlichen Kommission De
propaganda fide zurück.
Die Islamisten versuchen heute, in einer Zeit lebensbedrohlich überstürzten Forschritts, im
Interesse des Friedens (das im Namen „Islam“ festgeschrieben ist!) ihre gemeinsame
Existenzsymbolik zu konservieren und auszubreiten.* Existenzsymbolik zu konservieren aber
ist lebensfeindlich bis mörderisch. (Wie gut Islamismus sich auf ihren Propheten selbst
zurückführen läßt, ist umstritten. Müsste man, kann man Mohammed gegen den heutigen
Islam verteidigen?)
* Die Kirche ist ihnen mit bösem Beispiel vorangegangen.
Auferstehungsglaube erhebt sich über radikaler Vernichtungsangst. Er ist Hoffnung auf
noch einmal so etwas wie die Entstehung der Welt, Hoffnung auf radikale Verwandlung, eine
andere, eine tröstliche Welt.
Paulus schreibt: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir!“ (Gal 2, 20) und:
„Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur“ (2Kor 5, 17); wer die Botschaft von der
Auferstehung Jesu recht versteht, ist selbst schon ein Stück der Neuen Schöpfung. Nur der
dreieinige Schöpfer, der sich so verwunderlich verschieden offenbart, bleibt dabei dieselbe.
Der Evangelist Johannes schreibt hoch tautologisch. Der Text lebt von den Konnotationen.
Unscheinbare*, kleine Ursachen – große, unerwartete Wirkungen.
Früher behalf sich der gesunde Menschenverstand mit Religion; heute ist er im Grunde ratlos.
Luther als erster nahm die Anfechtung des Glaubens theologisch ernst. In seiner Nachfolge
soll man das Anliegen der Skepsis skeptisch ernstnehmen.
* Unscheinbar, engl: unconspicuous, frz.: a l’air de rien.
Wir verstehen etwas vom Leben – und den Rest nicht. Das macht unser Dasein zweischichtig.
Der christliche Glaube erlebt den verheißenen Geist der Endzeit.
Gott
Gott ist immer gegenwärtig, aber ganz anders als wir dachten. Es tut uns gut, zu denken: Er
schafft in mir (ich atme, mein Herz schlägt, ich habe Einfälle) und um mich herum.
Das „Wesen“ Gottes ist, dass es ihn nicht gibt*.
Wir erleben unsere Gottesideen als Gottesgeschenk. Die Gottesidee ist jeweils eine Vereinfachung, sie integriert die Welten des Ratlosen. Aber wir erleben** immer wieder: Er fehlt
uns***.
* Dass er nicht „existiert“, aber erlebt wird, ist Gottes essentia.
11
** Luther: Meist regiert in unserem Gewissen nicht das Evangelium, sondern das Gesetz.
*** CHRISTIAN LINK hielt 1978 in Bern seine Abschiedsvorlesung unter dem Titel Gottes
Abwesenheiten.
JULIAN BARNES (2008) schrieb: „I don’t believe in God, but I miss him.“
In Jesus hat Gott sich offenbart als solidarisch mit uns. Das hat uns den Weg zu Erlösung
gebahnt. Solidarität mit Gott ist unsere Erlösung. Wir sind berufen, nicht nur mit Gott mitzudenken, sondern auch mit Gott mitzuempfinden.
Auch mit der Vorstellung von den Solidarität Gottes kann man sich den Blick auf die Wahrheit Gottes verstellen.
„Es gibt“ nicht Gott, sondern fundamentale Ratlosigkeit, d.i. die Frage nach Gott.
„Es gibt“ nicht das Unendliche, sondern das Weitergehen ins Unbekannte.
Gute Antworten führen zu neuen Fragen. Man fragt sich durchs Leben.
Der Ruf zu Gott geschieht spontan („Ach Gott, was ist das alles!“). Aber um Gott ansprechen
zu können, muss man vor Gott verweilen; und das bringt man nur selten zustande.
Der Heilige Geist ist ein Wir im Ich.
Creatio continua: Gott war nicht nur, sondern ist der Schöpfer.
Ein Rabbi hörte das lobpreisende Gebet eines anderen und kommentierte: „Du lästerst
Gott.“* Wahrer Gottesglaube transzendiert sich selbst!
* Ich habe meine Erinnerung an diese Überlieferung nicht verifizieren können.
Das alte Athen bildete die Gottheit plastisch und theatralisch ab.
Die durch Jesus von der Solidarität Gottes begeisterte christliche Gemeinde ist eine Parallelwelt zur Gesellschaft, ein „Zeichen“; die Gegenwart ist „Anbruch“ der Endzeit.
Hier entwickelte sich die Lehre vom Mysterium der göttlichen Dreieinigkeit. Ungebrochener
Monotheismus vergegenständlicht Gott und ist natürlich* intolerant. Im Islamismus ist Gott
wieder vergegenständlicht.
* Wie schon bei PLATO (Politeia II, 18).
Der Ruf „Gott“ ist ein Einwortsatz. Der archaische Einwortsatz „Mama“ kann, ununterschieden, sehr Verschiedenes bedeuten, woran sich der Säugling erinnert. Der Horizont unserer Welt bleibt aber lebenslang personal!
Indogermanische Götterwelten sind umgriffen von der Macht der Moiren/Parzen/Nornen, –
deren (weibliche!) Persönlichkeit allerdings im Dunkeln bleibt.
Der unpersönliche naturgesetzliche Determinismus ist ein spätes (stoisches) Konzept, – hinter
dem dann doch wieder ein „Jenseits“ übrig bleibt*. Erst die Quantenphysik – mit ihrer Entdeckung der Wahrscheinlichkeit als erkenntnistheoretischem Horizont – hat das aufgebrochen.
* Wie Kant’s „Ding an sich“.
Paulus schrieb an die Korinther: „So bitten wir nun an Christi statt: Lasset euch versöhnen
mit Gott“ (2Kor 5,20), erbarmt euch mein, erbarmt euch Gottes, der sich euer erbarmt hat;
erbarmt euch Christi, der, im Vertrauen auf Gott, in der Kraft Gottes, des Heiligen Geistes,
Gottes Fluch auf sich genommen hat (Gal 3,13).
Der auf Menschen „ausgegossene“ Heilige Geist vergibt Gott die Schöpfung. Das ist die beglückende, zentrale Resonanz im Gottesverständnis der „frohen Botschaft“ (im Wellensalat
der Schöpfung).
Das vielerlei Vergehen und Werden, das uns bedrückt und beglückt, und das den Menschen
nach Gott fragen lässt, ist schon Gottes Gegenwart. Das muss man sich sagen lassen und dann
gut hingucken*.
* Awareness!
12
Hilf- und Ratlosigkeit äußern sich in vielen Sprachen unreflektiert in Interjektionen wie
„Ach Gott!“. Das ist an sich weder Missbrauch des Gottesnamens noch Unernst. Es ist ernster
Unsinn als Bitte um Solidarität. Aber es ist nicht ratsam, es dabei zu belassen.
Einspruch im Namen Gottes nimmt die Ratlosigkeit ernster als angenehm, und erinnert an den
überlieferten Sinn des Gottesnamens, – der den Ratlosen manchmal auf neue Gedanken
bringt, die ihm weiterhelfen.
Man kann den Namen Gottes abnutzen. Das passiert in der Feierlichkeit der institutionalisierten Religionsgemeinschaften; und es setzt sich im säkularen Alltag fort.
„Gott“ ist äußerste Vereinfachung. Er war Alles in Allem; und er wird Alles in Allem sein
(1Kor 15, 28).
„Lasset uns ihn lieben; denn er hat uns zuerst geliebt!“ (1Joh 4,19) Der Glaube erkennt Gottes
trinitarische Struktur als Solidarität. Der Schöpfer ist traurig, weil die Geschöpfe so viel traurig sind.
Im Mitleid mit dem Schöpfer in seiner Trauer geht unsere Trauer momentweise unter. Sie
wird kreativ.
Wer sich an Gott wendet, sich in die größte Vereinfachung fallen lässt, erlebt, wie sich das
Einfache differenziert, eine persönlich richtungsweisende Offenbarung des Schöpfers, ein
existenzielles, existenzsymbolisches Ereignis.
Ich bin enttäuscht. Gott hat jetzt auch mir friedliche Gottlosigkeit verordnet, solidarisch,
religiös entpflichtet.
Luthers vieldiskutierte „zwei Reiche“ verstehe ich in modernen Begriffen:
„Gottes Reich zur Rechten“ ist imaginär, letztlich: Himmel über der Hölle.
„Gottes Reich zur Linken“ ist symbolisch (sensu J. Lacan*).
* Lacan’s „réel“ ist sensorimotorisch (J. Piaget).
Der philosophischen Frage “Was ist Gott?“ vorgeordnet ist die existenzielle Frage: „Was
bin ich?“
„Außer sich“ (ekstatisch) findet der Mensch sich gefunden.
Im Alltag ist Gott transzendent.
Gott vereinzelt uns – und er hebt die Vereinzelung auf.
Glaube an den Schöpfer ist tendenziell integrativ. Die Tradition von Gott dem Schöpfer
bringt immer wieder auf lebensfreundliche Ideen.
Gott „ist“ immer eine vereinfachende Vorstellung.
Gottvater spielt uns Möglichkeiten zu, auch mit ihm zu spielen.
Die Gebetsanrede: „Lieber Gott“ ist, wie die Anrede im Brief: „Lieber Herr Meyer“, eine
Art Beschwörung, Symbol des Willens zu einer guten Beziehung.
Eine Lehre von der Liebe Gottes ist ein anderes Problem.
Αἴων παῖς παίζων / unsere Welt ist ein spielender Knabe, sagte Heraklit.
Man möchte glücklich sein. Glück ist Spielen, und Spielen ist Glück.
Wir sollen bescheiden klein „werden wie die Kinder“, sagt das Evangelium (Mt 18, 3) –
„vollkommen wie Gott“ (Mt 5, 48).
„Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christus zu sein,“ schreibt Paulus den Philippern (1,
23). Aber wo „ist“ Christus? – : Nicht in den Banalitäten, die Paulus hinter sich lassen möchte.
Paulus stellt sich vor: Christus ist im Himmel! Luther: Überall*! In allen Dingen sollte ich die
Offenbarung Gottes durch Jesus wiedererkennen! Die Kirche sagt seit alters, Gott habe alle
Dinge durch ihn geschaffen.
13
Die gängige Rede von Gott dem Schöpfer ist trügerisch selbstverständlich; die Christologie,
die Verkündigung der Auferstehung des Gekreuzigten, artikuliert den immer wieder neu erschreckenden Schöpfungsbegriff!
* Luther behauptet (im Zusammenhang der Sakramentslehre) mit der Ubiquität Jesu ontologisch, etwas, das man sich nicht vorstellen kann. Für ihn geht es im Sakrament um das Wunder der Schöpfung pro me, Schöpfung durch das Wort – das Ereignis, das mir das Weltgeschehen als Offenbarung Gottes zuspricht.
Die Welt repräsentiert uns Gott.
Die Kreuzigung hat den Jüngern Jesu die Abwesenheit Gottes verdeutlicht. So erfuhren sie
die Gegenwart Gottes.
Das Kreuz Jesu symbolisiert, uns zum Heil, das Ende aller frommen Phantasie.
Schöpfung
„Woher nehmt ihr dann aber das große, gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt?“ fragt Shakespeares Schatten in SCHILLERs Gedicht.
Das ist eine Denkfigur, die fast ausgestorben schien*; aber im Islamischen Staat und Boko
Haram ist sie aktiv.
Die Banalitäten* „zermalmen“ den Menschen und werden vergessen. Aber nicht nur den Heros, sondern den besiegten Menschen – und mit ihm die Banalität! – „erhebt“ das Schicksal
zum Symbol Gottes.
* Ebene dies prangert schon Schiller in dieser Parodie an.
** „So dumm läuft es zuletzt hinaus“, sagt GOETHEs Mephistopheles nach Fausts Tod (Faust
II, 5. Akt, Großer Vorhof des Palasts).
Gott setzt unsern Glauben aufs Spiel der Wirklichkeit. Er hat uns, durch die Mitteilung des
Schöpfergeistes, als Schöpfer eingesetzt. Wir sollen unser (in der Trinitätslehre artikuliertes)
Ichideal nach Kräften realisieren.
Glaube ist ein vorbewußtes Sprachereignis.
Auf einer Insel der Ordnung im Chaos, sollen wir schöpferisch sein ohne zureichenden
Grund in irgendeinem Gesetz, nur solidarisch mit dem Vorhandenen wie Gott über dem
κόσμος.
Leben ist Mit-leben. Mitleid macht solidarisch.
„Gott ist die Liebe“ (1Joh 4, 8) und umgekehrt: Solidarität ist schöpferisch.
Buddhismus und Christentum sind, institutionalisiert, in Verdinglichungen erstarrt.
„Ihr sollt vollkommen sein, gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matth 5, 48 ).
Wirklich vollkommen ist immer nur das meist unscheinbare Ereignis echter Kreativität.
„Jesus, der Christus,“ ist exemplarisch Gottes Wort – die Kreatur, die uns von Gott als sein
Stellvertreter eingesetzt ist.
Jesus
Der gekreuzigte Jesus Christus ist eine Vorwegnahme des Lurianischen zimzum (Gottes
schöpferisches Sich-Zurücknehmen).
Die Tragik des extremistischen Glaubens Jesu war Offenbarung Gottes.
Angst vor Gottverlassenheit ist Angst vor Verlassenheit.
Die Auferstehung des Glaubens an Jesus nach seinem Tod bezeugt Gottes Solidarität mit dem
Verlassenen.
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Gesellschaft
Die Wirtschaft ist ein immer komplizierteres System geworden. Die Theorien sind Vereinfachungen, unentbehrlich und, gesichtspunktbedingt, ungefähr richtig, aber unberechenbar
irreführend.
Die Politik hängt von der Wirtschaft ab; und der Geldwert – bei aller Genauigkeit der Berechnungen doch nur eine Proxy-Variable – ist jeweils auch davon abhängig.
Sitte, Moral und Recht sind ältere, Geld ist ein neueres Produkt der gesellschaftlichen Evolution.
Zerstörung und Verschwendung knapper Güter sind allgemein empörend. Die wachsende
Ungleichverteilung des Vermögens ist katastrophenträchtig. Die Not der Unterschicht empört;
und von dieser menschlichen Empörung profitieren individuelle und organisierte private sowie staatliche Kriminalität; es sind Spiegel (Zerrspiegel) der herrschenden Ordnung.
Sozialer Friede setzt menschenwürdige Lebensbedingungen voraus. Die „Menschenwürde“
ist ein sozial stabilisierendes Konzept, das jede Gesellschaft konsensual operationalisieren
muss.
Aber es gibt keinen sozialen Frieden ganz ohne Gewalt (Polizei und Militär). Das ist eine instabile Situation. Recht und Politik können die Chaotik nur dämpfen.
Das Evolutionsprinzip intraspezifischer Aggression teilen wir mit vielen Tieren.
Wir sind aufs (oft gar nicht lustige) Spiel (der Wirklichkeit, mit ihren Trägheiten) gesetzt.
Stabilität und auch Trägheit ermöglichen aber zeitweilig ungefähres Verstehen.
Flüchtling kann nur sein, wer – durch was auch immer – ernsthaft bedroht* ist. Und wer
bedroht flieht, der ist als Flüchtling anzuerkennen.
Wir wohlsituierten Deutschen stehen heute angesichts der Flüchtlingsmassen vor der Frage,
was wir, in Anbetracht der weitgehenden Gleichheit aller Menschen, als mitmenschlich
angemessen empfinden, wie große Opfer Deutschland für mitmenschliche** Gerechtigkeit zu
bringen bereit ist, kurz: was Deutschland als Menschlichkeit*** praktiziert. Im Grunde geht
es um die Möglichkeit von Weltgesellschaft.
* Der Begriff Wirtschaftsflüchtling ist irreführend. Gemeint ist da oft: einer, dem es zu Hause
erträglich gut ging und der sich nur wirtschaftlich verbessern will; ein unbedrohter
Auswanderer.
** Nicht: „juristische“, – obwohl es hier um die sog. Menschenrechte geht.
*** NIETZSCHE publizierte 1878 sein Menschliches allzu Menschliches (erschienen am
hundertstes Todestag von Voltaire und diesem gewidmet), (an seinen „Erzieher“
Shopenhauer erinnernd) eine Aphorismensammlung. Der Titel wurde im Deutschen zum
geflügelten Wort.
Die Subkultur des Geldadels*, der schon Marx ein Ende zu bereiten hoffte, ist noch bornierter geworden als die des alten Adels (den die grande révolution beseitigen wollte).
* Vgl . z. B CLAUDIA HONEGGER, S. NECKEL, CH. MAGNIN, Strukturierte Verantwortungslosigkeit, Berlin 2010.
In der chaotischen Dynamik der Menschheit, reicht die Solidarität des Menschen für kleine
soziale Einheiten. Rudel, Horden (mit Erfahrung, Schwarmintelligenz, Leittier), Sippen,
Clans, Fürstenhäuser, „Große Familien“ mit Chef des Hauses, Häuptling (caput = Kopf), Gemeinde, sind stabil wie Körper.
Größere Zusammenschlüsse brauchen stärkere Herrschaft und, zu deren Stabilisierung, komplexere Existenzsymbolik: Rituale, Gesetze, gebildete Redner, Lehrer und Schulen. Sie sind
von Natur weniger stabil als die elementaren sozialen Einheiten, sollen aber zu deren Stabilität beitragen.
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Gegen eine drohende Übermacht muss man entweder, durch wohlbegründete Symbolik,
Koalitionen bilden, die den Angreifer in Schranken halten, oder sich ergeben.
Was wird „ein Macht“ genannt? – : Ein beachtliches stabiles System.
Not im Land delegitimiert die Oberschicht. Das hat in Frankreich zur grande révolution
geführt. (Wohin wird es in Griechenland noch führen?)
Soziale Normensysteme sind sowohl in sich wie unter einander spannungsvoll. Deshalb
bedarf es auch neben einer lebendigen Legislation der Jurisdiktion. Die Staatsgewalt tut
öffentlich manches, was in ihrer eigenen Gesellschaft moralisch geächtet ist, als das kleinere
Übel.
Gleichverteilung ist widernatürlich, eine extreme Vereinfachung und deshalb instabil. Aber
gesellschaftliche Stabilität verlangt ständiges gemeinsames Bemühen um Gerechtigkeit, also
eine gemeinsame Existenzsymbolik, die nachhaltig eine „Gleichheit vor dem Gesetz“ trägt.
Mächte kooperieren selbstverständlich gegen die Unzufriedenheit der Ohnmächtigen.
Geld organisiert Macht.
Die menschliche Gesellschaft ist eigentümlich chaotisch, weil sie ein Verbund von 2 x 2
Systemtypen (mit vielen selbstverstärkenden, instabilen Subsystemen) ist: „Bios und Kultur“
mal „Individuum und Gesellschaft“. Ihr Verhalten ist nur sehr unsicher und beschränkt voraussehbar. Die vereinfachenden Voraussichten sind sowohl Folge wie Ursache des realen
Geschehens.
Kultur
Assoziationsarme Zeichen und Akronyme einerseits und Hintergrundmusik anderseits nehmen überhand. Die zwischen den mentalen Primär- und Sekundärprozessen* vermittelnde
Symbolik atrophiert.
Die explosiv wachsende Zeichenwelt zerteilt die Gesellschaft in eine Vielfalt von neuartigen,
vergleichsweise armseligen Subkulturen. Es bleibt allerdings eine neuartige voraussetzungslose, undifferenzierte Mitmenschlichkeit – die wiederum brutal reaktionäre Reaktionen hervorruft.
* Sensu S.Freud (hirnneurologisch: Amygdala und Hippocampus?).
Die drohende globale Not muss, nach Zusammenbruch des Wachstums- und Fortschrittsglaubens, zu Rückbesinnung* auf ältere Kulturen** führen.
* Besinnung! „Blut und Boden“ oder Islamismus zeigen, was droht, wenn stattdessen intelligente Prediger und dumme (und oft deshalb notleidende) Massen ihr Glück in sturer Restauration suchen!
** Cicero prägte den Begriff „otium cum dignitate“. Das wäre ein Anhaltspunkt.
Wirtschaftlicher Fortschritt ermöglicht kulturellen Fortschritt: Ausweitung der Solidarität –
von Familie über Sippe, Gemeinde, Volk und Menschheit zu Tierschutz und Ökologie. Und
der kulturelle Fortschritt ist ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft.
Die neuzeitliche Kultur des Wachstums erwartet ihr Heil in Nachhaltigkeit. Sie umspannt
die Erde; aber die Erde spielt nicht mehr so mit; man kann nicht erwarten, dass das Wachstum
friedlich zur Ruhe kommt. Eine Übergangsphase weltumspannender Kriege und Bürgerkriege
ist zu erwarten.
PAUL GERHARDT (*1607) tröstete in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges mit seinem Lied
Gib dich zufrieden und sei stille: „Es wird einmal der Tod herspringen und aus der Qual uns
sämtlich bringen.“ Das war Hoffnung auf Erlösung durch Zusammenbruch – eine befremdliche Denkfigur.
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Die Medien haben je ihres eigentümliches Publikum. Nicht allein das Informationsbedürfnis
entscheidet über den Erfolg einer Information, sondern auch die Sicht der Dinge, die hier zur
Sprache kommt und mit der sich zu identifizieren das jeweilige Publikum bereit sein muss.
Alle Medien müssen insofern ihrem Publikum nach dem Munde reden.
In letzter Zeit war man, wachstumsgewohnt, allgemein alarmiert; jetzt kommt, spürbar für
alle, die Zeit des großen Wachstums an ihr Ende. Ein Verlangen nach Verheißungsvollem
kommt auf. Aber auch gegenüber Informationen in diesem Sinne ist Skepsis angebracht.
Zwischen Werden und Vergehen herrscht ein ungefähres, multistabiles Gleichgewicht – in
der Biosphäre und den menschlichen Gesellschaften mild chaotisch.
Genauer betrachtet: Risikofreudig opferbereiter Optimismus Einzelner ist ein gesellschaftliches Desiderat. Die Tradition verspricht Heldenverehrung und Lohn im Jenseits. Dieses Jenseits ist zwar eine Wunschphantasie; aber dieser jenseitige Lohn bildet die diesseitige Gratifikation ab, von sozialer Anerkennung unabhängig ein wertvoller Mitmensch zu sein.
„Solidarität in der Ratlosigkeit“ wäre wohl eine zukunftsfähige Kultur.
Religionen sind langlebige, Moden sind kurzlebige Kulturen.
Kultur ist ein Traditionsgut. Das antik griechische Gymnasion war eine Stätte der Kultur:
die Jungen trieben hauptsächlich Sport; die Alten saßen am Rand und guckten dem Spiel zu.
Und in den Pausen redete man mit einander.
Der Mord etwa an Alfred Herrhausen 1989 war eines der Signale, durch welche die „Rote
Armee Fraktion“ die Selbstherrlichkeit der herrschenden westlichen Kultur verunsicherte.
Die öffentliche Aufmerksamkeit wird, selbstverstärkend, durch die Massenmedien
aktualisiert. Das zieht die Aufmerksamkeit von den längerfristigen Problemen ab. Die
entsprechende Gedankenlosigkeit ist praktisch Fahrlässigkeit.
Eine Kultur ist ein – durch historisch-zufällige Präferenzen für bestimmte Koinzidenzen –
stabiles Zusammenspiel.
Ekstase ist ein Ausbruch aus der Normalität im Rahmen einer (quasistabil, langsam) sich
entwickelnden Kultur.
In einer (mit auch nur slow randomness*) chaotisch sich entwickelnden, natürlichen und sozialen Umwelt ergibt sich immer wieder ein riskantes vitales Bedürfnis nach struktureller Veränderung. Hier spielen neue Ideen von Sonderlingen eine unvorhersehbare Rolle.
* Terminus von B. Mandelbrot.
In älteren Kulturen gehörte Kriegsbegeisterung zur Normalität.
Der Glaube der Menschheit an sich selbst, der die Globalisierung trug, war naiv. Der neue
Nationalismus ist der Rückschlag.
Dem antiken Griechenland verdanken wir die Kategorie Tragik; dem alten Israel das Gebot
der Solidarität; dem Christentum die Solidarität in der mörderischen Tragik.
Eine Kultur ist Schwarmintelligenz. Bräuche und Moden sind Attraktoren, die das Zusammenleben zunächst (!) vereinfachen, und das stärkt die Handlungsfähigkeit des Kollektivs.
Kultur bessert nach. Sie passt die menschliche Natur an dauerhafte Lebensbedingungen an.
Die globale Ausbreitung des abendländischen Humanitätsideals hat der Menschheit zu einer
wohl verhängnisvollen Übermacht in der Biosphäre verholfen.
Das Big-data-Wissen in der globalen Massengesellschaft wirkt uniformierend auf die
menschlichen Aktivitäten zurück. Die Streuung der Individualitäten wird gemindert. Das
Individuum wird immer mehr reduziert – nicht ganz „zur Nummer“, aber doch je zu einem
kurzen Vektor in dem Unterraum* des steigend hochdimensionalen Vektorraums, als welcher
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die Menschheit sich in dieser Perspektive darstellt. Die vielfältige Bedingtheit der
Individualität wird bewußter – und dadurch für das Selbstverständnis relativiert.
Schon GOETHE** goss mit seiner Frage: „Was ist denn an dem ganzen Wicht Original zu
nennen?“ Wasser in den Wein des Persönlichkeitskultes; aber er dachte dabei nur an die
angeborenen ererbten Eigenschaften als „Elemente“ eines „Komplexes“ (den er noch für
abgrenzbarer hielt, als unsere Humanwissenschaften das sehen gelehrt haben.)
* = die je relevanten Dimensionen.
** Zahme Xenien VI.
Individualismus begünstigt Innovation.
„Das Ewige“ war nie die abstrakte, zeitlose Wahrheit einer Tautologie oder eines
analytischen Urteils; es war immer das unabsehbar Nachhaltige. Und dieses war früher
ambivalent*; heute ist es zerfallen in Angst vor dem Ende des Anthropozän einerseits und
eine mittelfristig beruhigende Idee anderseits.
* Es gab ein Kirchenlied „O Ewigkeit, du Donnerwort, du Schwert, das durch die Seelen
bohrt …“; es gab auch die ewige Hölle.
Das Massenzeitalter ist durch Technik ermöglicht; wir leben in vielen niedrigdimensional
optimierten sozialen Strukturen. Früher lebte man in hochdimensionalen schwächer
optimierten Systemen.
Die Summe der Kantenlängen der Dimensionen der Weltbezüge des Individuums ist wohl in
erster Annäherung konstant begrenzt.
Aus dem egozentrischen Spiel entwickelt sich ein Verstehen des Objekts und das
Zusammenspielen; ein minimales „Er wie ich; ich wie er“, das zu unberechenbaren
Rückkopplungen führt.
Die Menschen sind die höchstentwickelte Spezies und herrschen dank ihrer Instabilitäten*
in der Biosphäre! Diese werden durch Kultur notdürftig stabilisiert. Sie sind der Grund 1. unserer prekären Anpassungsfähigkeit, 2. des bisherigen evolutionären Erfolgs, 3. unserer
fundamentalen Ratlosigkeit und 4. der Nötigung zu unzureichend begründeten folgenschweren Entscheidungen.
Eine Kultur der Verantwortung ist für die Spezies lebenswichtig. Aber auch die Erhaltung der
Spezies ist zwar ein weitgehend** konsensfähiger, jedoch unzureichend begründeter Zweck.
* Im Sinne der Mathematik dynamischer Systeme, vornehmlich „Erfindungen“
(Emergenzen), besonders bei den „Produktionsverhältnissen“.
** Ein gibt eine breite Tradition der Hoffnung auf den Jüngsten Tag; von diesem Ende, als
Gottes letztem Wort, her sollen wir über unser Tun urteilen.
Der Mensch ist das animal rationale; Menschlichkeit (im Unterschied zu der spezifisch
menschlichen Bestialität) hat eine Moral der Nachhaltigkeit (sustainable development).
„Geschwurbel“ ist ein neues Wort – unbekannter Herkunft, lautmalerisch – für ein
schulemachendes Phänomen: wirre Scheininformation, ein Sprachmodus besonders der
Reklame in der Massengesellschaft.
Die große Zeit des Heldentums ist vorbei. Man ist dankbar für opferbereiten Einsatz, man
verehrt. Aber die große Zeit der einfachen Unterscheidung von gut und böse ist vorbei. Durch
Schaden sind wir klug geworden, und urteilen bescheidener.
„National-sozial“ ist eine Selbstbescheidung, groß geworden unter der kulturellen
Überforderung durch den rational vereinfachenden Internationalismus des technikgetragenen
Fortschritts der Produktionsverhältnisse.
Es war in Deutschland, im Gefolge von Versailles und Weltwirtschaftskrise, eine
kulturgeschichtliche Regression, kristallisiert um einen Paranoiker.
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Das ist noch heute manchen kulturell Überforderten ein Vorbild. Und Ähnliches passiert im
Islamismus.
Gegen die skandalösen Folgen der natürlichen Machtkämpfe an, können bedrohliche Zerstörungswut von links und Solidarität von rechts zeitweise den Frieden stabilisieren.
Milieubildung vereinfacht die soziale Struktur. Man ist die Pseudospezies „Wir“.
Jeder sucht, aus dem Überlieferungsgut seine persönliche Symbolik zu entwickeln; sie stabilisiert ihn. Symbolik ist wesentlich Gemeingut; gemeinsame Sprache verlangt aber, aus individuell verschiedenen Gründen, immer auch ein Bisschen Selbstverleugnung. So können
Identitätsprobleme Einzelner koagulieren und zu kollektiver – benigner und maligner –
Wahnbildung führen.
Gewalt, Macht, Recht
Macht verführt dazu, den (global-)gesellschaftlichen Konsens gering zu achten. Das ist zunehmend gefährlich. Er muss kritisch, aber auch selbstkritisch, ernstgenommen werden.
Die Aushöhlung der Demokratie durch die Lobby konnte nicht ausbleiben. Die Mehrheit der
vom Volk gewählten Parlamentarier profitiert davon. Das System ist nicht stabil.
Ordnung: Wenn eine hierarchische Struktur zusammenbricht, ergibt sich wahrscheinlich eine konfliktreichere, aber stabilere Ordnung.
Recht ist jeweils eine konsensfähige Vorstellung von stabiler sozialer Ordnung. Das in einer
Gesellschaft geltende Recht muss ständig an die (sich immer schneller ändernden) Lebensbedingungen angepasst werden. „Gnade vor Recht“ ist eine persönlich zu verantwortende Ordnungswidrigkeit.
Nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive können Unrecht tun. Ein ganzes Volk kann
als Rechtsgemeinschaft Unrecht tun gegen eigene Mitbürger und gegen andere Völker. Es hat
sogar Sinn, von Schuld gegenüber der vergangenen und zukünftigen Generationen zu sprechen.
Jedes Gerichtsurteil müsste deshalb mit der Formel beginnen: „Im Wissen um die Fehlbarkeit
alles menschlichen Urteilens, urteile ich, nach bestem Wissen und Gewissen, im Namen unserer Rechtsordnung: …“
Der Mensch ist ein gewalttätiges Lebewesen. Politische Organisation setzt
Solidargemeinschaft voraus und wird immer wieder problematisch – in glücklichen Zeiten
rein theoretisch.
Das Gewaltmonopol des Territorialstaats ist durch die Macht der modernen Technik
fragwürdig geworden. Es ist von außen und von innen bedroht. Die wachsende Zahl der
gescheiterten und scheiternden Demokratien und Staaten ist beunruhigend.
Aber Autoritarismus kann in bedrückenden Ausnahmefällen (die heute wieder immer häufiger
werden) wirklich eine Entlastung sein.
Luther unterschied zwischen dem Reich Gottes zur Rechten und zur Linken; ich präzisiere:
einer Solidargemeinschaft und (als Normalfall) deren Verderbnis (wo obrigkeitliche Gewalt
herrschen muss).
Soziale Macht in dummen Händen akkumuliert sich bis zum Zusammenbruch.
Wirtschaft
Die europäische Wirtschaft schwächelt. Mit künstlicher Inflation steigert die Europäische
Zentralbank den Konsum über den echten Bedarf hinaus und verweist das Sicherheitsbedürfnis an Sachwerte, hauptsächlich Investitionsgüter und „Humankapital“ wie Bildung und Ausbildung; und so fördert sie die Wirtschaft.
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Aber der Wert der Produktion schwankt mit der Nachfrage; und mit zunehmendem Wohlstand nimmt diese ab. (Deshalb nimmt die Reklame überhand.) Die überschüssige Produktionskapazität muss, von Luxusgütern zurück, sich auf Deckung elementaren Bedarfs von Bedürftigen ausrichten. Diese nun können aber nicht bezahlen, was sie zum Leben brauchen.
Man sollte deshalb, statt Geld künstlich zu entwerten, den Armen in aller Welt Geld schenken
– zwar so, dass sie weniger auf Sex (als Ersatz für andere Freudenquellen) und Vermehrung
(als Alterssicherung) angewiesen sind.
Hoffnung auf weiter sinkende Preise ist in unserer Überflussgesellschaft vernünftig. Die
künstliche Geldentwertung hingegen droht, durch weitere Überproduktion mittelfristig in einem großen realwirtschaftlichen Zusammenbruch zu enden.
Um in der Wirtschaft aufzusteigen, bedarf es eines Grundvertrauens in die herrschenden
Selbstverständlichkeiten der Mächtigen, – wie katastrophenträchtig und schlecht begründet
auch immer diese sein mögen.
Ausbildung ist eine langfristige Investition – seitens der Unternehmen und seitens der Auszubildenden. In unsicheren Zeiten wie den unsrigen, ist sie für die Investoren so riskant, dass
sie, von der Gesellschaft durch den Staat, Zinsen für Risikokapital verlangen.
Man soll für sich selbst sorgen – einschließlich Vorsorge, besonders in unsicheren Zeiten.
Aber die Unsicherheit ist naturgegeben.
Raffgier ist eine kontraproduktive Reaktion: Sie nützt niemandem; sie schädigt nur die
Gesellschaft, – die doch die Unsicherheit mildert. Individualismus, mulitipliziert mit Angst,
ruiniert die Gesellschaft und reißt die Umwelt mit in den Ruin.
Man muss arbeiten um zu essen. Das organisiert sich schon bei Tieren familiär und tribal;
und in dieser sozialen Form herrscht Austausch.
Der Mensch entwickelte dann bessere Produktionsmittel und erfand den Tausch, das Rechnen
und das Geld. Die klassisch ökonomisierte Konkurrenz war additiv, ein KonstantsummenSpiel. Die Verbesserung der Produktionsmittel und deren Ungleichverteilung schuf aber
schon früh Arbeitslosigkeit und entsprechende soziale Spannungen.
Mit der Industrialisierung wurde die Konkurrenz multiplikativ. Das produzierte entsprechende
Arbeitslosigkeit und wurde zum schweren sozialen Problem.
Mit der sich globalisierenden Geldwirtschaft und endlich der Informatik wuchs die Produktivität und ihre Ungleichverteilung exponentiell. Die herkömmlichen Sozialformen werden
überlastet. Das Finanzsystem wird brüchig und verliert seinen Kredit.
Der Abschwung wird die Form einer Sequenz von katastrophalen Konflikten haben. (Der
sog. „Islamische Staat“ gibt einen Vorgeschmack.)
Verteilungskämpfe auf dem bescheideneren Anspruchsniveau in der Wachstumsphase
konnten, verglichen mit Abschwung auf hohem Niveau, mit weniger Gewalttätigkeit
ausgetragen werden.
„Wert“ ist eine gewöhnlich zur Einstelligkeit vereinfachte, mehrstellige Relation.
Geld
Es gibt jeweils situationsbedingte, aber keine konstanten „Werte“ im ökonomischen Sinn;
denn "Werte" sind hier letztlich menschliche Lebenswerte.
Die Preise sind nur konsensbedingte Indikatoren („Proxy-Variable“); aber sie drücken den
(immer situationsbedingten) Wert in Rationalzahlen aus – für Vergleich (ordinal und hyperordinal) und Berechnung praktisch, für reale Entscheidungen aber verführerisch vereinfachend!
Lebenswerte sind ungefähr austauschbar. Die Tauschlogik sieht ab von der Struktur der Gesellschaft, sie betrifft jeweils einzelne interagierende Subjekte. Geld ist eine konsensualer
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Durchschnittswert, welcher sich einer einfachen Verallgemeinerung der Tauschlogik verdankt.
Aber das Ganze ist bekanntlich mehr als die Summe seiner Teile, meist überkomplex. Eine
lebensfähige Gesellschaft ist Gemeinschaft! Die innere Logik des Geldes ist Verallgemeinerung einer Beschränktheit – für eine Gesellschaft zersetzend.
Das ist evolutionär ein unheimlicher Fortschritt.
Credo oder Kredit – Gott und Geld sind Glaubensfragen. Hier kann Wissenschaft nur Randbemerkungen machen und Dogmen ausarbeiten.
Die alten Philosophenschulen hatten je ihre δόγματα; und SENECA (Epist. 106) bemerkt einmal bissig: Non vitae, sed scholae discimus.
Schäubles Deutschland sträubt sich; aber das einst umstrittene Schwundgeld hat sich, unter
andern Titeln, weltweit durchgesetzt.
Die Menschheit gliedert sich vieldimensional in mehr oder weniger stabile Kooperativen.
Die Gesellschaft ist eine Kooperative, ein vieldimensionales Geben und Nehmen. Ein Markt
aber setzt ein einfaches konsensfähiges Medium voraus, das die (immer situationsbezogene)
Wertschätzung der verschiedenen Güter ungefähr vergleichbar macht – und das ist der Wert
des Geldes. Geld ist nötig nur als Tauschmittel.
Nur fürs Hier und Jetzt kann man schätzen, für wen was wie viel wert ist. Es gibt im Grunde
nur Liebhaberpreise. Der Markt ist deshalb chaotisch. Der Kunstmarkt definiert, was Kunst
ist!
Geld ist wesentlich ein Tausch-Mittel für den Markt. Die Ver-„mittel“-ung braucht Zeit; im
Tausch über Zeitdifferenzen hinweg ist der Geldwert auf die Dauer vielfach (durch Markt,
Marktaufsicht und Finanzpolitik und letztlich staatliche Gewalt) bedingt. Das stellt die
Funktion des Geldes als Wertaufbewahrungsmittels in Frage.
Garant der Währungsstabilität war anfangs der Gehalt der Münzen an Edelmetall. Und hier
wurde schon immer gemogelt; das Münzregal monopolisierte die Betrugsmöglichkeit – bis
hin zum Papiergeld.
Existenzsicherung durch Ersparnisse muss ihrerseits realwirtschaftlich fundiert sein; sonst
führt sie durch Teuerung sich selbst ad absurdum. Das ist eine neue Gefahr der
Überflußgesellschaft; sie relativiert den traditionellen Wert staatlicher Haushaltsdisziplin.
Aber ein Wirtschaftswachstum, das mit dem Bevölkerungswachstum schritthielte, würde in
die ökologische Katastrophe führen. Will man das? Wir haben die Wahl zwischen Pest und
Cholera.
Durch die maximale Tauschbarkeit des Geldes sind Finanzen verführerisch intransparent.
Die modernste Finanzpolitik nimmt dem Geld seine Bedeutung als
Wertaufbewahrungsmittel – auf Kosten der Sparer gut für die Wirtschaft.
Geld ist die flexibelste Macht. Es kann nicht umhin, die Ungleichverteilung zu
beschleunigen.
Geld ist ein Tauschmittel, nur ein (auch zeitüberbrückender) Zwischenwert, vielfach
umständebedingt.
Das macht seine Funktion als Wertaufbewahrungsmittel für allgemeine Vorsorge
unzuverlässig.
Geld ist Vertrauenssache. Deshalb pflegt es an Wert zu verlieren; gegenwärtige Leistung für
zukünftige Gegenleistung ist, auf die Länge, ein Verlustgeschäft. Die zurückliegenden
Leistungen verblassen.
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Man sagt abgekürzt, Geld „arbeite“. Tatsache ist: Arbeitskräfte schätzen Produktionsmittel,
mit denen sie erfolgreicher arbeiten können. Diese kann ein Unternehmer für Geld
anschaffen. (Der Kapital-Eigentümer läßt sein Geld in der Regel durch eine Bank an
erfolgversprechende Unternehmen mit ihren Arbeitskräften ausleihen.)
Information ist je realisiert als Teil von materiellen Einheiten (formae substantiales).
Geld ist Information, jeweils kontextabhängiges Stück aus einem materialisierten Informationssystem. Bewertungen sind höchst umständeabhängig!
Friedrich II. von Preußen sagte zu Johann Bernhard Basedow († 1790), der ihm in Dessau
sein Philanthropinum zeigte: „Er kennt die Canaille nicht!“
Die Echolosigkeit von Götz Werners so einleuchtenden Vorschlägen zur Steuerreform erinnert daran.
Geld ist Tauschmittel im wirtschaftlichen Geben und Nehmen der Gesellschaft, – wo
dasselbe Gut einen für jeden in seinen jeweiligen Umständen etwas verschiedenen Wert hat.
Der Tausch findet statt, wenn zwei Subjekte Sachen besitzen, die für den andern derzeit
wertvoller sind. Infolge der gestiegenen Vielfalt der Bedürfnisse bietet sich Gelegenheit für
direkten Tausch selten. In aller Regel bietet einer für ein erwünschtes Gut des anderen diesem
Geld an; und wer etwas besitzt, das für ihn selbst vermutlich weniger wert ist als anderen,
bietet dieses, als Anbieter, zum Tausch gegen Geld an.
Dieses Tauschmittel heißt Zahlungsmittel; denn sein Tauschwert ist eindimensional in
rationalen Zahlen quantifiziertbar uns also können Wertverhältnisse zwischen allen Gütern
berechnet werden. So hat der Geldwert, trotz all seiner unbeherrschbaren
Kontextabhängigkeit*, sich als der zentrale Bezugswert durchgesetzt.
* Diese war zur Zeiten des Goldstandards schwächer.
Ein Markt nennt man „nervös“, wenn er überreagiert. Der Tauschwert Geld ist dafür
natürlich besonders anfällig.
Die Grundvorstellung ist eine Schwächung der zentralen Kontrolle eines Organismus durch
die Vernunft. Subsysteme ohne Überblick reagieren, unzureichend kontrolliert, selbständiger;
und dabei ist in erster Linie an das Nervenystem gedacht.
Die größten Kursveränderungen an der Börse sind negativ. Man weiß: ein Absturz ist ein
(durch Rückkopplung des kollektiven Wissens) selbstverstärkender Prozess, und ist alarmiert!
Kollektive Überreaktionen unter Angst sind natürlich.
Ernüchterung und Erholung folgen. Aber der Aufstieg ist dann vorsichtig und vollzieht sich in
kleineren Schritten.
Die Wirklichkeit ist chaotisch. Der Finanzmarkt ist chaotisch, weil er seine Dynamik von
den Erwartungen, den Hoffnungen und Befürchtungen, der wirklichen Menschen hat, die sich
selbst verwirklichen wollen.
Solidarität
Solidarität relativiert das Individuum – erlösend!
Die Apokalyptik kam in böser Zeit im alten Judentum auf und ist im Neuen Testament (Dokumenten einer verfolgten Gemeinde!) vielfach repräsentiert. Die heutige öffentliche Meinung ist gespalten in Realismus auf Sicht (hier wird weiterhin, gedämpft hoffnungsvoll,
Wachstum gepflegt) einerseits und einen apokalyptischen Ausblick aufs anthropogene Ende
des Anthropozän anderseits. Apokalyptik hofft auf den "erlösenden Zusammenbruch".
Der individuelle Tod ist ja in der Neuzeit vielfach als Erlösung verstanden. Ich glaube, die
"Erlösung" im Zusammenbruch ist - sit venia verbo - Solidarität mit Gott.
Historisch gibt es dazu das biblische Konzept des göttlichen Geistes der Endzeit*, der schon
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in der weltlichen Gegenwart Wunder an und durch Menschen tut.
* Apg 2 nach Joel 3, 1-5. Das wurde dann in der Trinitätslehre festgeschrieben.
Das deutsche Wort „Liebe“ bezeichnet (wie das französische* amour) primär eine geschlechtliche Beziehung. „Solidarität“ hingegen ist, von Hause aus, im Römischen Recht,
Bezeichnung für die soziale Struktur bestimmter Eigentumsverhältnisse.
* Es war ein Franzose, Pierre-Henri Leroux, der – exegetisch richtig! – vorschlug, das Wort
aus dem biblischen Liebesgebot durch „Solidarität“ zu ersetzen.
Solidarität relativiert das Individuum.
Der „Geist der Endzeit“* – ein psychologisch bemerkenswertes biblisches Konzept ! – ist zu
verstehen als Relativierung der eigenen Spezies durch Solidarität mit Gott.
* Joel 3: „Ich will meinen Geist ausgießen über alles Fleisch“ als Anfang des Weltendes. Lukas illustriert die Erfüllung dieser Weissagung mit seiner Erzählung von der Ausgießung des
Heiligen Geistes (Apg 2). Paulus spricht in seinen Briefen vom Wirken dieses wundertätigen
Geistes im Gemeinde-Alltag.
Der Mensch ist ein geselliges Tier; Solidarität gehört zu seiner Lebensbasis.
Es bilden sich kleine und größere, einander überschneidende, auch gewaltbereite Solidargemeinschaften als Hoffnungsträger.
Die Zugehörigkeit zu einer Solidargemeinschaft ist oft mörderisch strittig.
Ratlosigkeit erlebt bescheidene Hoffnung in Solidarität.
Weltweite Solidarität ist sehr begrenzt. Sie ist noch am größten gegenüber Widrigkeiten der
(unbelebten und der lebendigen) äußeren Natur.
Es gab keine sauberen Lösungen für die neuen Probleme. An der Trauer um den nationalsozialistischen Kompromiss-Traum (eine Idee von Friedrich Naumann, †1919!) kann man
Anteil nehmen.
In christlichem Sündenbewusstsein ist dem Menschen Solidarität geboten auch mit denen, die
wünschen, was er selbst verurteilt.
Interesse und Solidarität sind benachbarte Begriffe!
Albert Schweitzer war ein Prophet der Solidarität – in mancher Hinsicht ein Fluch. Die
Bevölkerung Afrikas wächst beängstigend!
Der Sinn unseres Lebens ist Solidarität in der Ratlosigkeit. Solidarität ist unscheinbar
kreativ, christlich symbolisiert in Jesus, dem auferstandenen Gekreuzigten: Der Sinn des
menschlichen Lebens ist Gott, der Heilige Geist.
Individuum
Wir wuseln mit wenig Umsicht durcheinander. Zeitweise sehen wir für uns Sinn darin. Das
Lebensgefühl ist vielfältig wechselvoll. Bestimmte Gefühlslagen wiederholen sich immer
wieder überraschend; und es dient der Stabilität der Person, sie zu identifizieren, zu benennen
und zu bedenken.
Angst kann man lindern durch Identifikation mit anderen.
Angst und Schmerz sind Rückkopplungen, die das Leben stabilisieren. (Ihr Vergehen ist
eine Freude. „Gehabte Schmerzen hab ich gern.“)
Dankbarkeit – fürs Werden und fürs Vergehen, fürs Gedenken und fürs Vergessen – ist eine
Freude, die das Leben stabilisiert.
Das Leben ist eine Abfolge von großen und kleinen Hoffnungs- und
Enttäuschungsereignissen.
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Das Überwiegen von Hoffnung – Erwartungen, an denen „etwas* Wahres daran“ ist – ist dem
Leben erblich und gehört zu unserer Natur.
* Man möchte wissen: Was. Aber man ahnt es immer nur; darum ist es ein Feld der Dichtung
– zu dieser wäre hier auch ERNST BLOCHs Das Prinzip Hoffnung zu zählen.
Etwas verheißungsvolles Ausarbeiten ist Glück.
Lebensfreundlichkeit sagt Ja zum Leben als Ereignis – und kann somit, trauernd, willig
sterben, kann sterbenlassen und kann töten.
Unser Befinden ist standpunktbedingt. Die Welt ist in jeder Richtung größer als wir jeweils
sehen (unsere „Weltanschauung“).
Albträume wecken das Kind; Imaginationen, pavor nocturnus. Man redet darüber mit ihm,
man erzählt ihm Märchen mit happy end; und es entwickelt Symbolik und weniger
beängstigen Träume. Der Schlaf wird zur schöpferischen Pause für Ideen, die dann
weiterentwickelt werden wollen.
Tief in der Seele tragen wir, von Resignation überdeckt, eine Sehnsucht*. Nach was?
Vielerlei Dinge repräsentieren notdürftig das eigentlich Ersehnte, das wir symbolisieren, aber
nicht benennen können.
* Jacques Lacan: désir.
Man hat Angst vor der Realität, die eine immer wieder in die „Enge“ treibt.
Anxious ist „dringlich bestrebt“; pavor und peur blicken in die andere Richtung.
Denken ist zuerst Nachdenken und Mitdenken.
Das Wort „Witz“ meint von Hause aus: Intelligenz. Einen Witz Verstehen ist exemplarische
Selbstbestätigung. Witz beleuchtet unser Ungefähr durch kurz vorgetäuschte Täuschung; so
„ent-täuscht“ er und belustigt – manchmal überwältigend.
Necken ist Einladung zu Selbstbestätigung in einem belustigenden Aggressionsspiel.
Jeder ist irgendwo beschädigt, Potenziale sind zerstört. Meist sind andere Potenziale
dadurch stärker entwickelt. („Durch Schaden wird man klug.“)
Gut arbeiten setzt Einfühlung voraus, ist die Person in Aktion. Durch Arbeit bringt man sich
ein, integriert sich sozial. So ist Arbeit ein Antidepressivum!
Die mörderischen klassischen Ehrenhändel waren Kampfspiele; man beehrte den andern mit
Satisfaktionsfähigkeit. Die Duelle setzten, wie heutige Wettkämpfe, „Sportlichkeit“ – d.h.
Solidarität in aller Gegnerschaft* –, voraus.
*
Dies erklärt die enorme Wichtigkeit des Fußballs in unserer Kultur der vereinzelnden Egozentrik.
Das Subjekt sucht sich zu stabilisieren, indem es sich auf Dauerhaftes bezieht. Das wirkliche Dauerhafte* symbolisiert das imaginäre Ewige.
* Je dauerhafter, desto schwächer! Wirkung ist Energie mal Zeit.
Dezentriertes* Denken stärkt uns gegen die Angst**.
* Sensu Piaget (vs. egozentriertes Denken).
** OSKAR PFISTER (Das Christentum und die Angst, 1944) entfaltet 1Joh 4,18: „Die Liebe
treibt die Furcht aus.“
Jeder versucht die Welt nach seinen Vorstellungen zu stabilisieren.
Moral
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Gute Subjekte (individuelle und auch kollektive) sind nicht habgierig; sie wollen, nehmend
und gebend, nicht mehr, als was (global-)gesellschaftlich konsensual „recht und billig“ ist.
Und es gibt solche Subjekte – auch manche Firmen, obwohl die Anonymität verführerisch
ist* (ganze Staaten versinken deshalb in Korruption). Die (informelle) sog. „soziale Kontrolle“ muss die individuelle Moral stützen.
* Man denke an das Misstrauen gegen die Transatlantic Trade and Investment Partnership
(TTIP) oder den Volkswagen-Skandal. Klassischer Archetyp ist der platonische, von HEBBEL
auf die Bühne gebrachte Gyges und sein Ring.
Man muss die species humana als Tierart, die auf survival angelegt ist, verstehen und alles
menschliche Verhalten als Beitrag hierzu* beurteilen. Das ist der Maßstab für den Umgang
mit einander und mit der Natur.
* Es geht in der Ethik um Erhaltung nicht des Einzelnen, sondern der Art! Und die fitness,
vom der das survival der Spezies abhängt, ist nicht, wie das Wort suggeriert, eine Qualität,
eine einstellige Relation, sondern umständebedingt, also eine mehrstellige Relation.
Aus göttlicher Solidarität rät der Schöpfer den Menschen, in ihrer ratlosen Erwartung und
flackernden Hoffnung auf einen erlösenden* Zusammenbruch**, zu Solidarität in ihrer Ratlosigkeit.
* Erlösung ist immer ein Zusammenbruch. Aber Zusammenbruch ist Erlösung im vollen Sinne nur in der Solidarität mit Gott, dem Vater Jesu Christi.
** Das ist ein altes apokalyptisches Konzept aus bedrängten Kulturen. Aber mir scheint heute
wieder – verdeckt unter der Power of positive thinking der veröffentlichten Meinung, aber
triftig begründet – ein apokalyptisches Grundgefühl sich auszubreiten. Unabhängig davon,
gibt es eine breite Tradition der Hoffnung auf Erlösung aus diesem „Jammertal“ (ein geflügeltes Wort nach Ps 84,7).
Jeder will wirken; und man wirkt, ob man will oder nicht. Was und wie man, direkt oder indirekt, bewirkt, ist nie sicher. Man kann bestenfalls Wahrscheinlichkeiten erhöhen. Jeder ist
nur eine Variante aus einer Spezies mit unendlich vielen, einander unüberblickbar vielfach
beeinflussenden, einmaligen Varianten.
„Ein dicker Mensch in einem engen Gange ist sich des rechten Weges wohl bewußt!“ (ein
weiser Schülerwitz frei nach Goethe).
Jeder soll mitverantwortlich seinen eigenen Weg erfinden und gehen. Säuberliche Unterscheidung zwischen den „Individuen“ ist immer nur (individuell oder kollektiv) menschlich
subjektiv.
Wir sind uns selbst nicht ganz verständlich und deshalb immer nur „mitverantwortlich“.
Das Leben erzwingt unausgereifte Entscheidungen.
Als Erben einer kulturellen Tradition und in Fühlung mit unserer Gesellschaft müssen wir
doch ständig unsere persönliche Symbolik für „das Gute“ finden und ihr folgen.
Ideale versteht man heute als „Grundwerte“ einer Gesellschaft. „Werte" sind Bedürfnisbefriedigungen; nicht logische Prinzipien eines moralischen Systems, sondern Symbole mit ihrem Ungefähr.
Man möchte nach bestemWissen und Gewissen das Beste machen – und dafür das beste
Material haben.
Ich soll genau mein Ungefähr leben – „in letzter Ehrlichkeit“*.
* Abschiedsbrief meines Vaters, Klaus Bonhoeffer († 1945), an uns Kinder.
Reife Vernunft erweist sich in ihrem Umgang mit Dummheit.
Glück ist: harmonisches Spiel mit Spannungen.
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Volle Verantwortung ist eine juristische Vereinfachung.
Aber man ist vielfach mitverantwortlich – in erster Linie für sich selbst; sodann für den
„Nächsten“ im neutestamentlichen Sinne, Familie und nähere Arbeitswelt. Dann für die Gesellschaft, der man angehört, die Mächte, denen man dient, die Globalgesellschaft und die
Biosphäre.
Alter
Natürlicherweise verschiebt der Mensch im Lauf des Lebens seinen Egoismus auf seine
Nachkommen; und diese sind ihm in tätiger Dankbarkeit verbunden.
Aber die technikbedingte, neue Mobilität schwächt den Zusammenhalt, nicht nur der Familien, und anonymisiert die Gesellschaft; dünne, aber viele Kontakte werden immer wichtiger.
Bei alledem wächst die Zahl der einsamen Alten.
Man lebt sich auseinander. Immer neue Ansprüche stellt das Leben, und jedermanns Bedürfnisse ändern sich verschieden. Der Austausch mit alten Bekannten wird rar – und noch
rarer infolge der hohen Mobilität. Vereinsamung nimmt zu.
Jeder muss, quer durch die Menge, seinen eigensten Weg zu seinem eigenen Tod finden –
aber oft, eben dafür, verwunderliche neue Bekanntschaften machen.
Ereignisse brauchen viel Speicherplatz im Gehirn. Das Gehirn wird im Alter kleiner. Mit
Denkstrategien spart man Speicherplatz. Für Faktensuche kann man typische Zusammenhänge nutzen.
Besonders im Umgang mit eigenen Enkeln erlebt man ein natürliches Auferstehen, sich
selbst als Wunder, als Teil eines Schöpfungsprozesses.
Ohne diese natürliche Beglückung durch eigenen Nachwuchs kann man sich immerhin durch
Miterleben tiefer hineinführen lassen in das Wunder des menschlichen Lebens.
Man will noch nicht sterben. Jeder ist ein ihm selbst anvertrautes Gut. Man will Gutes tun,
mehr geben als nehmen. Aber was man gibt ist inkommensurabel mit dem, was man nimmt.
Im Alter hat man wieder mehr Zeit zum Staunen und kommt zu neuen Einsichten.
Die alten Bezugspersonen werden weniger. Die soziale Wechselwirkung stirbt ab. Was wir
noch machen können, wird für andere allmählich uninteressant. Die Vernichtungsdrohung
transzendiert jedes Ziel.
Aber wir sind einander Existenzsymbole. Als solche unterliegen wir Verwandlungen, der
Creatio continua. Wir sollen das Zeitliche segnen und ins Sterben einwilligen.
Ich lebe, etwas ängstlich, in einem Grundgefühl verwunderter Verständislosigkeit, als
Mensch in der Schicksalgemeinschaft Jesu, wie wohl alle: in Hoffnung wider alle Hoffnung.
Gebet: „Du hast uns geschaffen, Gott; du hast Jesus geschickt, am meinem menschlichen
Schicksal teilzunehmen. Du hast mich geschaffen, nimm mich wieder auf!“
Mit der zunehmenden Reife, altert auch der individualisierte Lebenswille des Menschen.
Das leibliche „Da“-sein erweist sich, im Alter wieder zunehmend, als wichtig: Im einen
Stockwerk wollte man etwas aus dem andern holen; dort aber, oder schon auf der Treppe, hat
man vergessen, was man wollte.
Man lernt im Leben zuerst Einzelnes, dann Besonderes und endlich Allgemeines. Das kompensiert auch im Alter den Gedächtnisschwund.
Im Alter sucht man Stabilitäten im Chaos der Erinnerungen.
Tod
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Ein Todesfall ist Abbruch einer Beziehung, unfinished business. Geprägt von der
Beziehung, muss man weiterleben, aus der gewohnten Umwelt zurückgeworfen auf diese
Prägung. Man muss diese Prägung nicht konservieren, sondern weiterleben, sich entwickeln
und sich auswirken lassen.
Der eigene Tod ist beängstigend: zunächst Autonomieverlust, Schmerzen, Passivität, Sterben.
Eine beruhigende Perspektive ist, dass man hineingenommen wird in den sicheren,
ungleichzeitig doch gemeinsamen Weltuntergang.
Nach einem Konzept für die Therapie von Psychosen ist der Tod als „Mineralisation“ eine
heilsame Phantasie. Es gilt, radikal Abschied von allem Leben zu nehmen. Es gibt für uns,
unsere Kinder und unsere Werke kein ewiges Weiter!
Trauer
„Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, ergriffen, fühlt er* tief das Ungeheure“, sagt
Faust**. „Ergriffen“, weint*** man, plötzlich der Selbstverständlichkeit von vertrauter, auch
frustrierender Normalität beraubt – oder von tätigem Glaubensmut beschämt über den eigenen Kleinmut.
Die Hände sinken; Weinen ist reines Empfangen von Ent-täuschung.
Solidargemeinschaft, präsent oder erinnert, tröstet. Sie verleiht neuem Handeln Sinn.
* Scil.: der Mensch.
** GOETHE, Faust II, Erster Akt, Finstere Galerie; Zz. 6272f.
*** SCHILLER (Das Ideal und das Leben): „… in den heiteren Regionen, wo die reinen Formen wohnen, …keine Träne fließt hier mehr dem Leiden, nur des Geistes tapfrer Gegenwehr.“
Gegen Trauer braucht man einen Mut zur Wirklichkeit, der die Trauer anerkennt. Aber nicht
Blick zurück, sondern Umsicht. Dieser jedem angeborene Wille zum Leben (wie traurig, wie
mörderisch, ja mordlustig er auch sei) ist ansteckend – bis man friedlich sterben kann.
Durch einen Verlust wird der Stabilitätsbereich eines Systems verändert. Der Mensch ist
multistabil, „das noch nicht definierte Tier“ (Nietzsche?). Trauerarbeit ist Suche (mit trüben
Aussichten) nach neuer Stabilität.
Trauer kann das Selbstbewusstsein vertiefen.
Trauer ist Reaktion auf einen Bruch. Ein Kontinuum ist durch ein Ereignis gebrochen.
Hintergrund ist das Glück der (wenngleich immer nur symbolisierten) Ureinheit.
„Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich“ (SCHILLER, Nänie).
Existenzsymbolische Kommunikation der Trauernden tröstet und befreit zu einem
bereicherten Weiterleben.
Gegenwart
Geld beschleunigt die gesellschaftliche Dynamik.
Soziale Macht ist Eigentum an knappen „Gütern“ (im weiten Sinn). Der Finanzkapitalismus
macht Mächtige noch schneller noch mächtiger und Machtlose noch schwächer. Immer weniger Reiche stehen immer mehr Armen gegenüber. Das ist empörend. Aber der gesellschaftliche Gesamtkonsum und die Umweltbelastung wird dadurch tendenziell beschränkt. In letzter
Zeit kreuzen sich das soziale und das ökologische Problem. Mehr Gleichverteilung der knappen Güter hat negative Folgen für die Umwelt.
Das Wachstum bewegter Massen in neue Größenordnungen schafft neue Strukturen. Das ist
Übergang von Quantität in Qualität, sog. Emergenz. Die Machtverhältnisse ändern sich. Nur
umsichtige Umorientierung kann retten.
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Fußgänger nehmen kaum noch Augenkontakt mit Entgegenkommenden. Diese werden nur
im unscharfen Rand des Blickfeldes wahrgenommen. Man geht geradeaus und weicht dem
andern, ohne Verständigung, nur notfalls in letzter Sekunde aus.
Oberflächliche Augenblickskontakte hat man schon zu viel. Man pflegt Smartphone-Kontakt
mit näheren Bekannten. Man hat viele inaktive freundschaftliche Beziehungen und ein paar
Freunde. Das weitere Umwelt ist notorisch für jeden hoffnungslos überkomplex. Auf dieser
Basis gibt es eine undifferenzierte mitmenschliche Solidarität.
Früher hatte jeder seinen Bekanntenkreis. Bei der heutigen vielerlei Mobilität hat man dafür
zu vielerlei Lebensbereiche – und darin Bekanntschaften.
Die Arbeitslosigkeit war das zentrale Problem von Gesellschaft und Politik der Zwanziger
und Dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und trug Hitler zum Sieg. Arbeit war der
zentrale gesellschaftliche Wert; der Arbeitslose war entwürdigt und wirtschaftlich entrechtet.
Heute ist das Problem Arbeitslosigkeit nicht mehr so giftig. Jetzt ist Geld (der liquideste,
tauschbarste Wert, der natürlich den Weltmarkt integriert) zum dominanten Wert – und zum
für die Solidarität giftigsten Problem geworden. Die überproportional wachsende Ungleichverteilung verschärft es. Gesellschaft, Kultur und Politik sind ratlos.
Die hoch innovative Standardisierungswelle der Massenware überfordert unsere Anpassungsfähigkeit.
Hier wird ein neuer Markt für persönliche Dienstleistungen, hauptsächlich Beratung, entstehen, die aber ihrerseits durch kurze Halbwertszeit der Kompetenzen ständige Fortbildung der
Berater erfordert.
Die großen Firmen müssen Fortbildung für ihre Produkte anbieten und können sich dadurch,
ohne eigene Verpflichtung, eine Armee von Zulieferern halten.
Der relative Marktwert von höherer Intelligenz steigt steil. Durchschnittliche Intelligenz hungert, wird kriminell oder macht, angeführt von Intelligenteren, Krieg und Bürgerkrieg. Die
Chaotik steigt.
Ein Endzeitgefühl breitet sich aus. Paradoxerweise infolge der menschlichen Kreativität,
wird global das Menschenleben in unsern Tagen immer mehr zu einem Herumirren – sowohl
in der lokalen Mobilität wie weltanschaulich.
Dazu mag die Bibel Mut machen, etwa mit dem Anfang des Bekenntnisses (5Mose 26,5-10),
das der Bauer im alten Israel bei seiner Darbringung der Erstlingsfrucht zu sprechen hatte:
„Ein herumirrender Aramäer war mein Vater* [die Erzväter]“.
Mit dem neutestamentlichen: „Wir haben hier keine bleibende Stadt“ (Hebr. 13,14), schwingt
dies in einer späteren Kultur nach. In alttestamentlicher Tradition, ist im Neuen Testament die
Weltlichkeit gebrochen durch ein eigenartiges Lebensgefühl, das man den „Geist der Endzeit“
genannt hat. (Der wurde später allerdings kirchlich dogmatisiert als die dritte Person der Heiligen Dreieinigkeit und ontologisiert.) Die volle Wahrheit beirrt.
* Dies ist Übersetzung der hebräischen Textüberlieferung. Die Septuaginta und die Vulgata
weichen davon ab.
Auch die Häufigkeit von Emergenz stabiler neuer Gestalten, die Vielgestaltigkeit der Welt,
wächst exponenziell – bis zum nächsten Zusammenbruch.
Die moderne Technik macht jeden Einzelnen zunehmend gefährlich und gefährdet dadurch
die Gesellschaft.
Die immer verschiedenere Bedingtheit der menschlichen Aktualität beschränkt
differenzierte Kommunikation zunehmend auf Subkulturen mit je ihren immer exklusiveren
Sondersprachen und Vokabeln. Wie der Facharzt für Allgemeinmedizin, bleibt aber eine
rudimentäre allgemeine Umgangssprache als Medium fundamentaler Mitmenschlichkeit.
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Man muss die Traditionen kennen, – die eigene und die der näheren Umwelt; aber
Konservatismus ist heute keine brauchbare Antwort mehr, sondern Nostalgie. Das
kulturgeschichtliche Kontinuum ist ereignishaft aufgebrochen durch die schnelle Veränderung
unserer Lebenswelt.
Mein Vater wußte noch, was er soll; für ihn gab es, wie für Dietrich, seinen Bruder, noch
Gebote. Ich bin im Grunde ratlos; ich muss heulen, statt gleich mit dem Teufel zu kämpfen.
Nicht mehr Ausbeutung, sondern die Technik ist heute global das soziale Hauptproblem.
Die Arbeit ist, als der allgemein anerkannte Verteilungsschlüssel für die knappen Güter, durch
diese Konkurrenz ausgehebelt.
Empörend ist Not infolge der Ungleichverteilung*. Die Empörung manifestiert sich in (entsprechend weltweit) zunehmender Gewalttätigkeit.
* Not gibt es überall; aber einige darben, wie man sagt, auf hohem Niveau.
Ausblick
Wenn, in Anbetracht schrumpfender Ressourcen, jeder nach seinem Vermögen besser für
sich vorsorgen will, steigern die Vermöglicheren mit größter Selbstverständlichkeit die soziale Spannung ins sinnlos Explosive.
In der postrevolutionären Chaotik folgen Ausscheidungskämpfe der Revolutionsführer. Die
Ärmeren aber haben auch unter dem neuen Regime zu leiden.
Die numerisch und interaktionell gewachsene Gesellschaft braucht neue Strukturen.
Es gibt sehr verschiedene , teils missionarische Zivilisationen. Der aufgeklärte Westen verliert seine zivirisatorische Dominanz. Und mit der Perfektionierung der Funktionalität stieg
die Störanfälligkeit. Der verstärkte Fortschritt hat zu restaurativem Reaktionen geführt, die
Spannung ist katastrophenträchtig geworden.
Im Chaos entsteht Apokalyptik. Nach alttestamentlicher Erwartung wird ein „Heiliger Rest“*
Demut gelernt haben und ist der wahre Erbe der Verheißungen.
* Sach 8, 6.12.
Überall sind besonders Kinder und Jugendliche in Not. Die meisten Alten haben schlecht
und recht für sich vorsorgen können.
Der Nachwuchs braucht langfristige Investitionen; aber in Zeiten schneller und beschleunigter
Veränderungen zwingt die Konkurrenz, kurzfristig zu kalkulieren.
Die Folgen werden verheerend; unsere Spezies dezimiert* sich selbst.
* Im römischen Heer Strafe für einen Truppenteil: Jeder zehnte Mann wurde exekutiert.
Das Leben geht ziellos weiter und wünscht – und produziert kleine und große ungefähre
Wunschvorstellungen.
Die Finalität der Geschichte, ein allmächtiger Gott als zielbewusster Akteur, war ein spätalttestamentliches zukunftsorientiertes Konzept, Kontrastprogramm aus einer bedrängten Kultur.
Das bedrängte neutestamentliche Christentum hat das fortentwickelt, die (durchs römische
Imperium bereits unterminierten) traditionellen Selbstgewissheiten in Frage gestellt – und, in
der „konstantinischen Wende“, gesiegt.
Die alte fernöstliche Kultur war gegenwarts- und ewigkeitsorientiert*. Das Abendland war
davon zunehmend beeindruckt**; aber auch der Osten vom Westen. Heute mischt sich beides.
* Exemplarisch: „Der Weg ist das Ziel“ (Konfuzius).
** Es gibt sogar in Israel buddhistische Gruppen!
Nicht die Todesfälle, sondern die Geburten sind global mittel- und langfristig das
Hauptproblem.
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Die Evolution der menschlichen Natur scheint ihrem Höhepunkt, der Selbstzerstörung, nahe
zu sein.
Die Erben unseres Wirtschaftswunders werden unsere Solidarität bemängeln!
Jeder belohnt jeden, der ihm voranhilft*. Deshalb geht es mit der wachsenden Menschheit
als ganzer voran; das Gedränge wird unerträglich. Weltbürgerkrieg, eine Folge von
katastrophalen Abstürzen steht zu erwarten.
Unglücksprophetie kann, wie bei dem biblischen Jona, zu Umbesinnung führen und Unglück
verhindern.
* Am liebsten direkt; sonst durch doppelte Verneinung, etwa Beseitigung von Gegnern.
Produktionsmittel-Entwicklung, multipliziert mit den Bedürfnissen der wachsenden
Bevölkerung, beschleunigt die Transformation von natürlichen Ressourcen in Müll.
Jahrtausende haben sich mit der Aussicht auf ein (allmähliches oder plötzliches) Ende
unserer Welt abgefunden. Alles sustainable development ist natürlich endlich. Das Natürliche
überblenden wir zwar mit Kulturellem; aber die Kultur liegt an der Kette des Natürlichen.
Zerstörung ist billiger und Zusammenbruch geht schneller als Aufbau. Deshalb gehört auch
Zerstörung zu der fitness, die jeweils den Kampf ums Dasein entscheidet.
Aber der Räuber-Beute-Zyklus kann, mit der Ausrottung der Beute, den Räuber ausrotten.
Das ist eine Banalität; jeder weiß es. Aber auch die Menschheit ist evolutionär träge. Die
anthropogene Umweltzerstörung ist bedrohlich.
Eine apokalyptische Phase weltweiter Not, mit Mundraub und Notwehr, Flüchtlingsmassen
und Gewalt, hat begonnen.
Die Masse von Kreativität in der gewachsenen Menschenmasse hat eine immer
beängstigendere Lebens-Inkompetenz des Einzelnen zur Folge. Die Halbwertszeit von
Warenkunde nimmt ab. Das ist ein selbstverstärkender Prozess.
Der Informatik kommt eine Schlüsselrolle zu. Der Informatiker als Einzelkämpfer aber ist
überfordert; eine Kooperation ist erforderlich, die ihrerseits eine große und flexible
Organisation erfordert. In dieser ist das Individuum zeitweilig eingeschmolzen – ein niedriger
Schmelzpunkt ist von Vorteil.
Die große Zeit der Individualität ist vorbei! Aber „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ hat in
eine Katastrophe geführt. Soziale Chaotik ist heute für die ganze Menschheit gefährlich; aber
bedenkenlose Ordnung zerstört die Menschlichkeit und ist katastrophenträchtig.
Die Gesellschaft setzt immer neue Machteliten aus sich heraus. Das Geld ist allerdings zentral geblieben.
PAUL WINDOLF hat 2005* den Begriff Finanzmarkt-Kapitalismus aufgebracht. Dieser löse
den „Manager-Kapitalismus“ (James Burnham) ab. Jedermanns Haupt-Geschäftspartner ist
heute „der Markt“ schlechthin; die Realwirtschaft ist nur noch von nachgeordneter Wichtigkeit.
Die ordnende Macht des Geldes hat ihren Höhepunkt erreicht – und vielleicht schon überschritten. Das globalgesellschaftliche Chaos wächst wieder einmal** bedrohlich, und das Instrumentarium der Destruktion ist heute unkontrollierbar.
* In einem Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.
** Großer Vorgänger (neuerer Forschung zufolge): das schnelle Ende der mediterranen Bronzezeit, Systemzusammenbruch eines globalisierten Wirtschaftsraums.
Die Erde wächst nicht mit. Die sich verschärfende Konkurrenz fordert vom einzelnen Menschen immer volleren Einsatz hier und jetzt im Kampf ums Dasein. Damit verengt sie zunehmend seinen Horizont. Besinnung kostet Zeit; und time is money (wenn man nicht schon arbeitslos ist).
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Rest
Mit thematischer Zuordnung
ExSy: „Das“ Jenseits ist, ähnlich „dem“ Unbewussten, ein Negativbegriff. Das Diesseits
und das (Vor-)bewusste sind endlich; das Jenseits und das Unbewusste hingegen sind unendlich. Der Horizont, der eines vom andern trennt, ist eine unheimliche, traum-ähnliche Übergangszone.
Im Jenseits des Bewussten liegt „das Eigentliche“; das Diesseits ist das Uneigentliche. Unsere
evolutionsbiologischen Grundstrukturen bestimmen unsere Ahnung von Eigentlichkeit* und
sind Quelle unserer abenteuerlichen Phantasien bezüglich des Jenseits.
* HEIDEGGER stellte in Sein und Zeit die Angst ins Zentrum.
Wirk: Jedermanns Wirklichkeit ist weder die Außen-, noch seine Innenwelt, sondern deren
Zusammenspiel, das Dasein, – eine lebendige Symbolwelt, die uns das imaginäre „Ganze“
repräsentiert, kommunikabel abgebildet hauptsächlich in der natürlichen Sprache.
Sy: In einer grob differenzierten, relativ einfachen Welt, wie auch Tiere sie haben, gibt es
hinreichend eindeutige Zeichen.
In einer komplizierten Welt, wie wir sie haben, gibt es als Kommunikationsmittel die weniger
eindeutigen Symbole der natürlichen Sprachen.
Wissenschaft extrahiert aus der vieldeutigen menschlichen Sprache einfache eindeutige Zeichensysteme und aus dem Dasein relativ einfach handhabbare entsprechende Weltteilmodelle.
Rel: Der Heilige Krieg und Gottes mörderischer Hass begegnet schon im Alten Testament.
Der Mörder ist da in Gottes Hass geborgen.
Solidarität hält nicht nur die Menschen mit einander, sondern auch den (in Identität und Alternative gespaltenen) Einzelnen zusammen.
Tr: Zerfall höchst komplexer Ordnungen* gehört zum Leben. Die Regression der Trauer ist
Vorarbeit für neuen Aufbau.
* SCHILLER (Nänie): „Auch das Schöne muss sterben… Ach da weinen die Götter, da weinen
die Göttinnen alle…“.
Ggw: Die persönliche Identität zerlegt sich in numerische Identitäten (PINs) in verschiedenen Zusammenhängen. Worüber man vor hundert Jahren klagte, das ist uns heute selbstverständlich: nur noch eine Nummer in einem Kollektiv und als Person nur Störfaktor zu sein.
Im weltweiten Konkurrenzkampf hat man kaum noch Zeit für die Pflege differenzierter persönlicher Beziehungen, – in denen doch die unverzichtbare globalgesellschaftliche Mitmenschlichkeit wurzelt.
Rel: Das Kreuz Jesu ist Symbol der Ratlosigkeit.
Evangelische Predigt ist aktuelles Symbol des Wunders der Hoffnung in der Ratlosigkeit – im
Zeichen des Glaubens an die Auferstehung* des Gekreuzigten.
Gemeinde unter dem Kreuz ist hoffnungsvolle Solidarität in der Ratlosigkeit.
* Eine alt-iranische, weltweit ansprechende Vorstellung, die durch die babylonische Gefangenschaft ins Judentum eingedrungen ist.
ExSy: Radikalismus ist Verleugnung der Ratlosigkeit, zum peinlichen Scheitern verurteilt.
Skepsis, die sich als Weisheit versteht, ist ein Radikalismus.
Erk: Die Vigil ist in verschiedenen Klöstern irgendwann nach 2 Uhr morgens festgelegt.
Nach meiner Beobachtung ist die Zeit nach dem ersten Schlaf, zwischen 2 und 5 Uhr morgens, gut für fundamentale intuitive Klärungen; für kritische Überarbeitung der helle Tag.
Jede Existenzsymbolik ist ein Quid pro quo und erschöpft sich.
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Ges: Kollektive Empörung der Entehrten führt zum Heiligen Krieg.
Recht: Konsensfähige Verteilung ist nicht möglich, wenn die begehrten Güter allzu knapp
sind.
Da muss Gewalt für Recht sorgen – aber mit Augenmaß!
Sol: Wohltätigkeit kann Solidarität nicht ersetzen.
G: Gott ist gegenwärtig im Nebeneinander. Um Gott wahrzunehmen, muss man das unvermittelte Nebeneinander wahrnehmen.
Kult: Offene Aussprache verlangt Geduld und Zuversicht. Oft kann man erst nach Jahren integrieren, was da gesagt wurde!
Sol: Scheitern in einem Teil gefährdet das Ganze. Das macht Solidarität nötig.
Kult: Auch die Menschen-Masse ist „träge“. Neue Einsichten setzen sich nur langsam
durch.
Ausbl: Intraspezifische Aggression bremst durch Fragmentierung den Fortschritt ins gemeinsame Scheitern.
Alter: Unsere aktuelle Vermehrung setzt sich zusammen aus Fruchtbarkeit und Überalterung.
In der Frühzeit wurde der Mensch etwa dreißig Jahre alt. Die Alterung als Basis der Sammlung von Erfahrung war ein selbstverstärkender Prozess; und Altersweisheit war wertgeschätzt. Die Erfindung der Schrift entwertete das – heute verschärft durch die Informatik.
Das Alter ist jetzt sozial entwertet. Aber Religion und Gesetzgebung reagieren natürlich träge;
und die Kirchen gehören bei uns zu den größten Lobbyisten.
Gott wird dem Kind illustriert durch die Mutter, – die aber dem Kind nur transparent, auf
l’autre* (den Vater) bezogen, komplett ist.
* Zentralbegriff bei Jacques Lacan.
Gott ist aktiv in unseren Selbstverständlichkeiten. Erst wenn sie aufhören, uns selbstverständlich zu sein, können wir die Transparenz des Verwunderlichen wahrnehmen.
Ind: Schmerzliche Erinnerung an eigenes Verkennen kann trösten, wenn man verkannt wird.
„Es wird dir noch einmal leidtun“ und zur Reifung beitragen.
ExSy: Man braucht das Wochenende, um wieder zu sich zu kommen.
Ausbl: Ökonomie ist ein System aus vornehmlich kurzfristigen, Ökologie aus langfristigen
Zusammenhängen.
Kurzfristige Prognosen sind ceteris paribus sicherer als langfristige. Auch deshalb hat das
ökonomische Denken für große Entscheidungen der Menschen, wie sie nun einmal sind, die
Übermacht.
Die langfristigen Aussichten verdüstern sich entsprechend.
Kult: Das „Deutschtum“ war ein gutes Ergebnis der Kleinstaaterei, das dann (z. B. von
Thomas Mann) zunächst borniert nationalistisch idealisiert wurde.
Macht: Verschiedene Menschen brauchen verschieden viel Macht, um sich sozial wohl zu
fühlen. Und das ist auch gut so. Moralisch entscheidend ist erst, wie sie die Macht brauchen.
Gewalt: Brutalität* gehört, als Barbarei, doch zur menschlichen Natur. Kultur tendiert, Brutalität wenigstens durch geordnete Gewalt zu ersetzen.
* Wörtlich: Der Mensch verhält sich „tierisch“.
Neu
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Die Frage nach „dem“ Sinn „des“ Lebens ist ein post-religiöses verlangen nach Ideologie.
Das Leben hat bestenfalls akut, auf kurze und mittlere Sicht, angebbaren Sinn. Langfristig
oder gar ewig gedacht, führt die Sinnfrage in Ratlosigkeit.
Die Öffentlichkeit ist vermarktet.
Kinder chaotisieren. Die Einstellung der Erwachsenen zu Kindern war schon immer chaotisch. Seit Langem zunehmend, bedroht die Zahl der Menschen da und dort das ökologische
Gleichgewicht. Diese Überzähligkeit spürt jeder, und dieser wachsende Druck beschädigt
immer mehr Einzelne. Die Zahl der profund Verunsicherten und damit die Gefahr massenpsychologischer Regressionen und Explosionen wie des „Islamischen Staates“ wächst.
Die Gemeinschaftsbedürftigkeit vieler Menschen ist in hoffnungslose Vereinsamung oder
Sektenbildung verjagt. Gutenteils darauf beruht auch der Zulauf zu so etwas wie dem „Islamischen Staat“*.
* AHMAD MANSOUR, Generation Allah, 2015 (besonders Kapitel „Wie ich Islamist wurde“).
Den radikalen Islamisten fehlt die Erfahrung von Solidarität in der Ratlosigkeit.
Im modernen lonely crowd* Vereinsamte vereint man am schnellsten durch einen gemeinsamen Feind. Verfolgungswahn verfestigt die Gemeinschaft.
Hassprediger sehen sich, durch ihren Erfolg, vom Allmächtigen bestätigt.
* DAVID RIESMAN, 1950, dt.: Die einsame Masse.
Klare Gemeindebildung ist eine entlastende Vereinfachnung.
Monotheismen sind Vereinfachungen; so können sie Massen begeistern. Aber sie sehen einander nicht als Spiegel, sondern als teuflische Karikatur.
Die trinitarische Explikation Gottes ist im Christentum entstanden, ist aber eine allgemein
menschliche Struktur.
Monotheismus
Judentum
Christentum
Islam
Nationalsozialismus
Das auserwählte Volk
Gemeinde
(Heiliger Geist)
Umma
Nation/Rasse
Der Gesalbte (König,
Priester, Prophet)
Jesus (Sohn)
Mohammed
Führer
Der Herr der Heerscharen
Gott (Vater)
Allah
Die Vorsehung
Der Mensch ist kreativ.
Ebenso das mutationsfreudige human immunodeficiency virus.
Was HIV für den Menschen ist, ist der Mensch für die Biosphäre.
Die Symbolik ist der enorm entwicklungsfähige, entscheidende Selektionsvorteil des Menschen; sie ist nun, mit der Innovationsgewalt der wuchernden Zeichensysteme der verwissenschaftlicht-technisierten Welt, bedrohlich gefährlich geworden.
Der Weg des Fortschritts ist mit Scheiterhaufen markiert; ein Zurück ist ein Boko Haram*.
Idealisten waren und sind Ansätze zur überlebensnotwendigen weiteren Evolution der
Menschheit, Hoffnungsschimmer. Sie werden von der trägen Masse nachträglich zu Halbgöttern heroisiert; das distanziert entlastend. In Wahrheit sind sie seltene, natürliche Mutationen.
* In der Hausa-Sprache ~ „Bücher sind verflucht.“
Das Vergessen ist eine natürliche Form von Vereinfachung.
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Das sexuelle Triebleben war der Mortalität die längste Zeit stabil angepasst. Die Menschheit
vermehrte sich langsam.
Dann senkte Kultur die Mortalität. Die ererbte Sexualität gefährdete nun das ökologische
Gleichgewicht durch Raubbau wie den sozialen Frieden.
Heute gibt es Empfängnisverhütungsmittel, die die Gefährlichkeit der Sexualität entscheidend
reduzieren. Die Kultur außerhalb der institutionalisierten Religion ist volatil und hat sich angepasst. Religionen aber sind träge.
Vereinfachungen sind energetische Minima stabiler Systeme; ihr Stabilitätsbereich kann nur
mit besonderem Energieaufwand verlassen werden.
Soll eine kaum belastungsfähige, allzu einfache Vereinfachung multistabil tragfähig gemacht
werden, muss sie versuchsweise suspendiert werden. Und das bedeutet Anstrengung, kognitive und oft auch emotionale, und verlangt Selbstvertrauen und Mut.
Idealerweise heiligt der Zweck die Mittel. Aber real stellen die Mittel und das Ergebnis den
Zweck in Frage.
Der „Sinn“ des Lebens wäre vom Ergebnis des Lebens her zu bestimmen; aber dieses ist uns
zu Lebzeiten noch unbekannt. Er wird in mancherlei Annäherungen proklamiert; aber in diesem anspruchsvollen Sinn bekannt ist uns nur der jeweils kurzsichtige „Sinn“ des Sinnenfälligen.
„Die Sinnfrage“ ist eine Überforderung unserer Vernunft und verführt zu Institutionalisierung
von vielversprechendem Geschwätz. Im Grunde ist der Mensch ratlos*.
Das Beste** ist „Solidarität in der Ratlosigkeit“ – so verstehe ich das christliche Liebesgebot.
* In der Antike wurde von den Sokratikern – vor allem von PLATO (Apologie, 21d–22a) – als
Bekenntnis des Sokrates, verschieden präzisiert, überliefert: Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Diese deutsche Formulierung gibt korrekt den Sinn des – wohl nicht ganz korrekten – Sokrates-Verständnisses in dem Varro-Referat CICEROs, Academica posteriora, I, 15f., wieder.
** Nach Marcus Terentius Varro: im sokratischen Sinn lebenspraktischer Weisheit.
Als „Sünde“ bezeichnet eine Gemeinde Ungehorsam gegen Gott (Symbol der Solidarität),
den König der Welt, der die (sonst ratlose) Gemeinde orientiert.
Aber Massen von stabil strukturierten Elementen strukturieren sich, auch religiös, (für unsern
menschlichen Verstand:) zufällig.
Bedingt durch die rapid gewachsenen Ansprüche der rapid gewachsenen Weltbevölkerung
und die entsprechende Knappheit der Ressourcen, kommt der moderne Kampf gegen die Not
in aller Welt zum Stehen und verwandelt sich in postmodern-archaischen Verteilungskampf.
Tragische Zusammenstöße zwischen entlastend wohlumrissenen Gemeinden sind die Folge.
Ohne solche Gemeindezugehörigkeit nimmt die Ratlosigkeit überhand; und deren Last ist nur
in (prekärer) Solidarität* zu ertragen.
* Der Aufklärer G. E. LESSING (Autor von Nathan der Weise!), legte seine letzte Weisheit
dem alten Johannes in den Mund: „Kindlein, liebet euch unter einander!“ (Das Testament des
Johannes) .
Eine Symbolik orientiert uns ungefähr inmitten letzter Ratlosigkeit. Sie ist ein (auch kollektiv) subjektives Zeichensystem mit allenthalben unscharfen Übergängen.
Der wirtschaftlich abgesicherte Großbürger ist selbstsicher und zuversichtlich weltoffen.
Der Kleinbürger ist wirtschaftlich vital gefährdet und entsprechend ängstlicher.
Was als „Schöpfungsgnade“ erlebt wird, ist die langsam entstandene, ererbte approximative
Harmonie eines Lebewesens mit seiner natürlichen Umwelt.
Das menschliche Leben ist komplex und wird immer komplizierter.
Radikalismus ist lebensfeindlich einfach.
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Ein „erfülltes Leben“ wäre das Gefühl, genug erlebt – und ungefähr gegeben zu haben, was
man konnte; so dass man, in Frieden mit dem Wunder des Lebens, sterben kann.
Aber das Leben ist tragisch. Letzten Trost findet man in der Solidarität.
Sachlagen haben Tendenzen. Zielkonflikte führen zu Emergenzen („Kreativität“).
Neukaufen ist meist billiger als reparieren. (Dieses ist schon immer häufiger unmöglich.)
Im Vergleich zur Leistung maschinell hergestellter Produktionsmittel, ist menschliche Arbeit
fast unbezahlbar geworden. Die relativ billigen Produkte sorgen für rasanten Umsatz, Materialverbrauch und Müllproduktion.
Der durchschnittliche, ökologisch durchaus verantwortungsbewusste Konsument ist heute
moralisch überfordert. Erst wenn weltweit eine tragfähige Mehrheit, in einer Art Kriegsbegeisterung, bereit wäre, dem Allgemeininteresse schmerzliche Opfer zu bringen, könnte sich
das Blatt wenden. Es ist aber nichts Besseres zu erwarten als da und dort Solidarität in der
Ratlosigkeit.
Menschliches Leben ist mitleben, vieldimensional – mit einem stabilen Kern. Unsere jeweiligen Selbstverständnisse sind praktische, vereinfachende Vorstellungen von diesem.
Stabilität ist immer beschränkt, diese hier ist vieldimensional bedingt, zunehmend prekär.
Jeder ist sterblich und lebt mit in einem sterblichen Kontext.
Ältere Kulturen haben, unter vergotteten Gestirnen, mit der als lebendig erlebten Natur mitgelebt.
Die letzte Vereinfachung ist die Solidarität mit dem solidarischen Schöpfer, das vielfach*
bezeugte**, unergründliche Gottesgeschenk: das Gottvertrauen.
* Am explizitesten im Christentum.
** „Das Wort ‚Gott‘ ist das bloße Wort schlechthin, das reine Glaubenswort“, schrieb ich
1962 in RGG3 VI. Heute (2015) könnte ich auch sagen: Wir leben glaubend in einer Symbolwelt; und das Wort Gott ist das Symbol schlechthin.
„Sünde“ ist primär nichts Individuelles, sondern „Erbsünde“, – ein Problem der menschlichen Solidargemeinschaft, an dem alle teilhaben. Die mönchisch reformatorische Selbstquälerei war ein Problem des Individualismus vor einem dualistischen Hintergrund.
Man sollte seinen Erben Unvollkommenheit entlastend vorleben – als „Sünder unter der Vergebung“, sagte die christliche Tradition im Zeichen des Glaubens an ein Paradies. (Das einst
rëifizierte „Jenseits“ ist heute entmythologisierend zu präzisieren als: „Jenseits unseres Verstehens“.)
Unsere Grundmodelle von Einheit als Ereignis sind Wellen von Wachstum und Schrumpfung.
Überlagerungen führen zu Wachstum (bzw. Schrumpfung), Katastrophen und Chaos.
Ignoramus ist der Horizont, Regression die Zuflucht; Glaube an Symbolik ein Neubeginn.
Die Kahlheit des Islamismus ist ein Fußabdruck der kapitalistischen Kolonisierung. Allzu
einfache rationale (statt naturwüchsig komplexer) Symbolik strukturiert das Verhalten der
globalen Massengesellschaft.
Gleiche kleine Elemente sind zählbar und kalkulierbar. Solche Mengen lassen sich aus der
neuzeitlichen Gesellschaft einer Masse von nur oberflächlich sozialisierten Individuen leicht
abstrahieren. Aber die konsensual übervereinfachte Wirklichkeit wird dadurch so chaotisiert,
dass von Barbarei zu reden eine Beschönigung wäre.
Symbolik ist der erste Schritt aus der Ratlosigkeit.
Die Mächtigsten betreiben Zuchtwahl: Sie verbessern die Lebenschancen der Unterwürfigen. Das Machtgefälle in der Gesellschaft steigt. Ein Umsturz aber ist ein ungemütlicher Personalwechsel, den die Mächtigen zu vermeiden trachten. Sie tun deshalb gut daran, das
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Machtgefälle erträglich und möglichst berechenbar zu halten.
So wurden die Menschen aus Gruppentieren zu Herdentieren.
Spannungen gehören zur Grundlage des Lebens; aber sie können zu mörderischem Streit
führen. Deshalb gehört Angst auch zum Leben jedes Individuums und jeder Gemeinschaft.
Gegen gesunde Angst ist das gesundeste Mittel die symbolische Überlieferung von Gottvertrauen.
Angst vor letzter Vereinsamung ist natürlich. Aber man hat auch Angst, vor Gott zu kommen, Angst vor letzter Enttäuschung. Man erinnert sich an die Gebetserlebnisse von vertieftem Ernst – einem Ernst, der alle Sicherheit lebensbedrohlich in Frage stellt.
Man soll glauben, was die Gesellschaft glaubt, und scheut das Gebet als Regression – wenngleich eine „Regression im Dienste des Ich“.
In der Öffentlichkeit finden selbstsicher übertrieben ausgearbeitete Ideen das meiste Gehör.* Anregungen bleiben zunächst Privatsache: Jesus schien den Historikern zunächst bedeutungslos.** Sokrates wurde erst durch die Sokratiker (vor allem: Plato) berühmt.
* „Prestige muss beansprucht werden“ lehrte Emile Durckheim.
** Das Testimonium Flavianum bei Josephus ist eine spätere Interpolation.
Gott ereignet sich, „gibt es“ als Ahnung. Unser Wissen und Weissagen, als Gottes Wort zur
Sprache gebracht und zur Orientierung im Leben festgehalten, ist, mit Paulus zu reden, doch:
„Stückwerk“ (1Kor 13, 9).
Sterben ist die Kehrseite des Lebens. Wir sollen das Sterben menschlich leben.
Die Leute in der Bahn gucken rein rezeptiv.
Entscheidungen betreffen bedingte Erwartungen. Sie gehören in unsere symbolisch ungefähr strukturierte Lebenswelt.
Der von Jesus inspirierte Glaube an Gott überwindet die Angst, indem er der Angst Raum
gibt. Die Beengung weicht der göttlichen, schöpferischen Bevollmächtigung*, dem Anspruch
des Evangeliums. „Der Tod ist verschlungen in den Sieg“ (1Kor 15, 55) der Solidarität**
Gottes!
* Gemeinhin wird das Evangelium und der christliche „Glaube“ geistlos kirchlich-gesetzlich
verstanden, – das Evangelium keineswegs als Bevollmächtigung, das Wort Gottes keineswegs
als wundertätig und der Glaube keineswegs als schöpferisch.
** PIERRE-HENRI LEROUX, De l’humanité, 1845, I/1, Buch IV, Kap. I (Ce qu’il faut entendre
aujourd’hui par charité, c’est la solidarité mutuelle des hommes), hat darauf aufmerksam
gemacht, dass heute die Übersetzung „Solidarität“ den alten, biblischen Sinn von „Liebe“
besser trifft.
Unsere ungeheuer angewachsene Spezies organisiert sich in neuartigen kurzlebigen Kulturen. Bislang bildeten die konkreten Einheiten (Individuum, Familie, Dorf, Stand, Betrieb,
Staat) dauerhafte, wesentlich hierarchische wenige Organisationen.
Heute gehört fast jeder Einzelne vielen verschiedenen, unter einander kaum vernetzten Kulturen an.
Wenige naturwüchsige Sprachen setzen sich, verstümmelt, als Weltsprachen durch; daneben
gibt es, für die neu erfundenen Entitäten und ihre kurzlebigen, sich aufsplitternden Fachkreise, eine wachsende Unzahl von Spezialsprachen*.
In, mit und unter alledem aber breitet sich, wie mir scheint, eine (noch sehr amorphe)
menschheitliche Solidarität aus.
* Die unbändig wachsenden Listen von Akronymen in der Wikipedia vermitteln eine Ahnung
davon. Da kann kein Konversationslexikon mehr mithalten!
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