Interview Dirk Verheyen - TP

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DER POLITBÜRO-PROZESS: EPILOG DES KALTEN KRIEGES
Opfer und Verursacher der Tragödie
Interview mit dem Politologen Prof. Dr. Dirk Verheyen, Loyola Marymount University, Los Angeles
Teil I: Vor der Urteilsverkündung
TP: Herr Prof. Verheyen, Sie besuchen seit einigen Wochen in Berlin den sogenannten PolitbüroProzeß, der sich jetzt dem Ende zuneigt. Egon Krenz, Günter Schabowski und Günther Kleiber sind
da angeklagt. Worin liegt Ihr Interesse, diesen Prozeß zu beobachten?
Verheyen: Was mich als Politologe interessiert, ist der Prozeß als Politikum, vor allem wie die
Bundesrepublik mit der Vergangenheit umgeht. Bei diesem Prozeß spielt die Aufarbeitung der
Geschichte der Teilung Deutschlands und des Kalten Krieges eine entscheidende Rolle, und ich finde
das ein höchst interessantes und wichtiges Thema. Das bedeutet natürlich nicht, daß es sich bei
diesem Prozeß nicht an erster Stelle um juristische Fragen von Recht und Unrecht handelt. Meine
Beobachtung und Analyse beschäftigen sich aber hauptsächlich mit den historisch-politischen
Aspekten.
TP: Haben Sie auch ein privates Interesse daran, den Prozeß zu beobachten oder haben Sie lediglich
berufliche Ambitionen dabei zu sein?
Verheyen: Eigentlich beides. Ich bin persönlich einfach an Geschichte interessiert, und es ist für mich
eine doch einmalige Erfahrung, im Saal als Beobachter dabei sein zu können. Auf der anderen Seite
ist es natürlich auch für meine Deutschland-Forschung ganz wichtig, diese Eindrücke so unmittelbar
zu bekommen. Ferner werde ich beim Unterricht meinen U.S.-Studenten über diesen Prozeß und
seine Hintergründe und Konsequenzen erzählen können. Auch dazu habe ich viele Notizen gemacht.
TP: Geht sie denn richtig mit der DDR-Vergangenheit um, die bundesdeutsche Justiz oder die
gesamtdeutsche Justiz, wie es wohl richtiger heißt?
Verheyen: Ich glaube, daß man dies in einem breiten Kontext analysieren soll. Wenn sich eine
Aufarbeitung der Geschichte nur auf einer juristischen Ebene abspielt, wird fast zwangsläufig einiges
ausgeklammert. Ein Gerichtsverfahren hat so seine eigenen Aspekte, Methoden, vielleicht sogar
Befangenheiten. Aber das bedeutet auch, daß sich eine vollständige "Vergangenheitsbewältigung"
neben den juristischen auch mit den politischen, psychologisch-kulturellen und sozialen Elementen
beschäftigen sollte. Nun hat Herr Krenz im Kontext dieses Prozesses von "Siegerjustiz" gesprochen.
Das ist, wie bekannt, seit der frühen Nachkriegszeit ein belastetes Wort. Er vergißt dabei aber, daß
auch viele Bürger der früheren DDR diesen Prozeß gewollt haben. Dennoch ist dieser Vorwurf der
"Siegerjustiz", pur politisch gesehen, unvermeidbar, vor allem weil Herr Krenz sich, als Vertreter und
Verfechter der ehemaligen DDR, unter den "Verlierern" des Kalten Krieges befindet. Und man muß
doch annehmen, daß das für so jemand wie ihn, mit seinen Überzeugungen und zerstörten
kommunistischen Idealen, schwer zu akzeptieren und schmerzhaft ist. 1989 hat die Bundesrepublik
"gewonnen", um es mal ganz einfach auszudrücken, und die DDR "verloren". Trotz - oder vielleicht
gerade wegen - dieses eindeutigen "Sieges" der Bundesrepublik im deutsch-deutschen Wettkampf
des Kalten Krieges, tun sich die Westdeutschen dennoch sehr schwer mit der DDR-Vergangenheit. Es
gibt heute eine starke Tendenz, die ehemalige DDR ziemlich pauschal zu diffamieren und
delegitimieren. Angesichts des Unrechts, das es in der DDR gegeben hat, mag dies verständlich sein.
Ich sehe aber eine deutliche Gefahr der Verzerrung bei der historisch-politischen Analyse, denn am
Ende wird die DDR möglicherweise mehr und mehr aus der deutschen Nachkriegsgeschichte
ausgeblendet. So wird jene gescheiterte deutsche sozialistische Republik wieder zur "sogenannten"
DDR degradiert, wie in den Zeiten der Hallstein-Doktrin vor der Ost- und Deutschlandpolitik der 70er
und 80er Jahre. Dann wird also so über Nachkriegs-Deutschland geredet werden, als ob es eigentlich
nur die Bundesrepublik gab, während die verschwundene DDR zukünftigen Generationen als
künstlich, illegitim, historisch beiläufig und vielleicht sogar un- oder anti-deutsch dargestellt wird. Aber
Tatsache wird und muß bleiben, daß auch die DDR ein real-existierender deutscher Staat war. Damit
soll man sich ehrlich, offen und ohne ideologische Manipulation der Erinnerung und der Analyse
auseinandersetzen. Für mich ist es ungeheuer interessant zu beobachten, wie diese Aufarbeitung der
Geschichte politisch und psychologisch stattfindet, z.B., was in der Öffentlichkeit gesagt wird, aber
auch was nicht gesagt wird, was nicht diskutiert wird, und welche Behauptungen Politiker und andere
über die DDR machen. Wie schon gesagt, dabei fällt auf, daß mehr als häufig versucht wird, die DDR
auf einer ziemlich pauschalen Weise völlig zu diffamieren oder zu delegitimieren. Das Plädoyer der
Staatsanwaltschaft im Politbüro-Prozeß produziert, vielleicht zwangsläufig in diesem juristischen
Verfahren, ein Bild der DDR als Unrechtsstaat. Eine breitere Analyse zeigt uns aber natürlich eine
DDR, die nicht nur Menschen bespitzelt und verfolgt hat. Neben der Aufarbeitung des Unrechts darf
man das nicht vergessen. Die DDR war, trotz ihrer Fehler und Unrechtsaspekte, die Heimat für
Millionen von Deutschen. Dort haben Menschen ab 1949 unter oft ganz schweren Bedingungen ein
Leben, eine Gesellschaft und eine Wirtschaft aufgebaut. Dabei hat auch die SED ihre Rolle gespielt,
wie immer man sie beurteilen mag. Die Leistungen der ehemaligen DDR-Bürger soll man
respektieren, ja vielleicht auch würdigen, und nicht lächerlich machen oder schmälern als unwürdiges
Ossi-Erbe, nur weil man im Westen zum Teil das Glück gehabt hat auf der triumphierenden Seite in
der Kalten-Krieg-Auseinandersetzung gewohnt zu haben. Also, es besteht kein Zweifel, daß es in der
DDR sehr viel Unrecht gegeben hat und daß viele Menschen verfolgt worden sind und gelitten haben,
auch wegen des brutalen Grenzregimes, und es darf nun wahrlich kein vernünftiger Mensch
versuchen dies irgendwie zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite hat es aber nicht nur Unrecht in der
DDR gegeben. Ich denke, daß erst künftige Generationen sich damit vollständiger und gelassener
befassen werden können. So etwas ist jetzt wahrscheinlich einfach unmöglich für diejenigen (Politiker,
Juristen, Akademiker), die vom Kalten Krieg mental geprägt sind. Ob Kohl oder Krenz, sie sind
sozusagen politisch und ideologisch völlig "vorbelastet". Man bräuchte also vielleicht 20 oder 30 Jahre
bis ein gelassenerer Umgang mit dieser gesamtdeutschen Tragödie der nationalen Spaltung möglich
wird.
TP: Stehen diese Leute Ihrer Meinung nach zurecht vor Gericht, beziehungsweise hat die Justiz ein
Recht, sich mit dieser DDR-Vergangenheit juristisch auseinanderzusetzen Ihrer Meinung nach?
Verheyen: Dabei spielen verschiedene Elemente eine wichtige Rolle, und wiederum nicht nur
juristische. Per Einigungsvertrag ist es der bundesdeutschen Justiz erlaubt solche Prozesse wie
diesen durchzuführen, aber nur wenn Verstöße gegen ehemaliges DDR-Recht vermutet werden.
Dabei wird das so heftig diskutierte Rückwirkungsverbot (verknüpft mit dem Prinzip "nulla poena sine
lege") eigentlich ganz entscheidend modifiziert, wenn nicht aufgehoben. Insofern kann und wird die
Bundesrepublik behaupten das Recht zu haben, unter gewissen juristischen Bedingungen und
Einschränkungen, über Geschehenes in der früheren DDR zu urteilen. Das ist neulich eigentlich auch
vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Insoweit die den Angeklagten angelasteten
Straftaten auch unter internationalem Recht strafbar sind, ist dieser Prozeß auch auf dieser Weise zu
rechtfertigen. Nur wäre hier ein internationaler Prozeß wahrscheinlich vorzuziehen gewesen. Dennoch
lassen sich Justiz und reale Politik nicht so einfach trennen. Der Rechtsstaat ist politisch und
ideologisch oft weniger neutral als es deutsche Theoretiker darstellen möchten. Eine juristische und
rechtsstaatliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hat, wie schon gesagt, ihre unvermeidbaren
Mängel und Beschränkungen, obwohl das nicht bedeutet, daß sie deshalb unmöglich ist. Es besteht
aber durchaus die Gefahr, vor allem in der breiteren Öffentlichkeit, daß die DDR und alles, was mit der
DDR irgendwie in Verbindung steht oder mal gestanden hat, durch spektakuläre und leicht mit der
Schwarzweiß-Malerei der Nachrichtendarstellung umrahmte Prozesse pauschal "kriminalisiert" wird.
Und das verhindert, glaube ich, eine größere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - sowohl der
DDR als auch der Bundesrepublik während des Kalten Krieges. Es gab doch auch vielfältige
Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten, wobei bundesdeutsche und DDR-Politiker
Verhandlungen durchgeführt und sogar Geschäfte gemacht haben, die man vielleicht auch mal richtig
beurteilen (und verurteilen?) sollte (aber nicht juristisch). Bei diesem maßgeblich von westdeutschen
juristischen und geschichtlichen Gesichtspunkten beeinflußten Politbüro-Prozeß geschieht das aber
eigentlich kaum, denn es gibt hier die politisch unvermeidbare Realität von "Siegern" und "Verlierern".
Die Sieger haben jetzt selbstverständlich das letzte Wort, und obwohl die große Mehrheit der
Bevölkerung der früheren DDR sich auch als politischer Gewinner gegen das SED-Regime fühlen
wird, kontrollieren doch die alte Bundesrepublik und ihre politische Führungselite an erster Stelle
weitgehend die offizielle (und das heißt auch, die juristisch-politische) Interpretierung, Deutung und
Aufarbeitung der Vergangenheit der nationalen Spaltung und der DDR.
TP: Das sind klare Worte, die Sie hier jetzt ausgesprochen haben. Wie wird denn diese deutschdeutsche Vergangenheitsbewältigung in der amerikanischen Öffentlichkeit gesehen?
Verheyen: Lassen Sie mich die amerikanische Perspektive ein bißchen ausführlicher darstellen. Die
offiziellen und publizistischen amerikanischen Reaktionen auf die damalige Deutschlandpolitik zeigten,
glaube ich, eine Mischung von ideologischer Skepsis, wenn nicht Ablehnung, und realpolitischer
Akzeptanz. Ideologisch gesehen gibt es in Amerika häufig eine auf der Totalitarismus-Theorie
fundierte Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus. Für viele Amerikaner sind, trotz aller
Unterschiede, eine faschistische und eine kommunistische Partei ziemlich ähnlich. Man sieht sie als
gleichermaßen totalitäre Parteien, wobei die von ihnen verübten Unrechtstaten in Prinzip auf der
selben Weise zu verurteilen und beurteilen seien. Ich denke, daß die amerikanische Öffentlichkeit
deshalb letztendlich kein Problem mit der heutigen bundesdeutschen Justiz hat. Das bedeutet aber
rückblickend auch, daß die ganze Deutschlandpolitik damals aus ideologischen Gesichtspunkten
schon mit großer Skepsis beobachtet wurde. Mit anderen Worten: Mit Kommunisten sollte man keine
Geschäfte machen. So tun sich auch jetzt die Amerikaner aus ziemlich "irrationellen" Gründen noch
immer sehr schwer mit dem kubanischen Regime. Daneben gab es aber in den 70er Jahren in
zunehmendem Maße ein wichtiges Element der entspannungsorientierten Realpolitik in der USAußenpolitik, und da fiel das Urteil über die deutsch-deutschen Beziehungen schon nuancierter aus.
Beschränkte Geschäfte mit Kommunisten seien vielleicht doch noch möglich, weil es der
internationale Frieden und das eigene kommerzielle Interesse fordern, was sich z.B. auch in der
amerikanischen China-Politik immer wieder zeigt. Es ist nicht zu leugnen, daß es am Anfang der Ära
Brandt, also der Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition, in der US-Aussenpolitik eine Mischung von
ideologischer und realpolitischer Skepsis den Absichten der westdeutschen Diplomatie gegenüber
gegeben hat, und diese Skepsis gab es auch noch in den 80er Jahren. Hatte man doch angenommen,
die Deutsche Frage sei endgültig gelöst worden, gab es da plötzlich die Deutschen in ihren zwei
Staaten wieder, die dabei waren, den Status-Quo durch Annäherung zu ändern. Da ergab sich
zwangsläufig die Frage: wohin treiben die BRD und die DDR? Wird sich Deutschland nun doch noch
neutralisieren und wiedervereinigen? Werden die zwei deutschen Staaten versuchen aus
Warschauer-Pakt und NATO auszutreten und sich zu vereinigen? Die Deutschlandpolitik wurde also
ziemlich zwiespältig beurteilt: auf der einen Seite realpolitisch als friedenssichernd und stabilisierend,
aber auf der anderen Seite auch als eine möglich strategisch unberechenbare Außenpolitik.
TP: 1987 hat man Erich Honecker mit allen militärischen Ehren hier in der Bundesrepublik empfangen,
aber nachdem die DDR zusammengebrochen war, hat man ihn vor Gericht gestellt. Was sagen
Amerikaner dazu? Finden sie die Deutschen nicht ein bißchen verrückt? Einerseits laden sie diesen
Mann als hohen Staatsgast ein, und kaum ist die DDR nicht mehr da, stellen sie ihn vor Gericht. Ist
das nicht unglaubwürdig?
Verheyen: Was die amerikanische Reaktion betrifft, muß man die ganze Sache wieder mit einer
Mischung von Ideologie und Realpolitik analysieren. Ideologisch gesehen werden die Amerikaner es
wahrscheinlich leicht verstehen können, daß führende DDR-Politiker sich heute vor einem
bundesdeutschen Gerichtshof der Justiz stellen müssen, vor allem wenn man ihnen erklärt, wie das im
Einigungsvertrag vorgesehen ist. 1987 lebten wir aber in einer Welt, wo realpolitische Kontakte
zwischen demokratischen und kommunistischen Staaten keineswegs außergewöhnlich waren und wo
die Gorbatschow'sche Reformen schon angefangen hatten die Ost-West-Beziehungen zu ändern. In
diesem Zusammenhang war ein Besuch von Honecker in Bonn also nicht allzu aufsehenerregend.
Und was die Haltung der Bundesrepublik damals und heute betrifft: natürlich könnte man sagen, daß
die heutige Politik, im Vergleich mit der damaligen Haltung, nicht gerade glaubwürdig ist. Auf der
anderen Seite ist es aber auch klar, daß 1987 die Bundesregierung das DDR-Regime als ein
Unrechtsregime gesehen hat, aber dennoch aus realpolitischen Gründen formale diplomatische
Beziehungen akzeptiert hat. Umgekehrt hat dies die DDR natürlich auch gemacht, trotz ideologischer
Bedenken. Wie hätte man sonst die Ost-West Reisemöglichkeiten für BRD- und vielleicht für DDRBürger vergrößern oder das Grenzregime irgendwie ein bißchen lockern können? Man kann also den
Empfang für Honecker in Bonn als Preis der Entspannung darstellen, ohne daß man damit behauptet,
die BRD hätte die DDR und ihre Politik ideologisch akzeptiert. Einen Zusammenbruch der DDR und
eine deutsche Wiedervereinigung hat damals fast niemand vermuten können. Viele Themen die heute
so stark debattiert werden, wären in jener Zeit als ziemlich theoretisch und unrealistisch beiseite
geschoben geworden. Aber rückblickend war doch auch zu erwarten, daß es im Fall eines Endes des
Kalten Krieges über eine juristische und politische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit heftige
Auseinandersetzungen geben würde. Was also heute geschieht, soll niemand wirklich überraschen.
TP: DDR-Politiker, die heute vor Gericht stehen, bzw. auch DDR- Funktionsträger - ob nun Politiker
oder andere in das Staatsgefüge Involvierte, wollen wir mal dahingestellt sein lassen - beziehen sich
sehr gerne darauf, daß die DDR ja international anerkannt war. Diese internationale Anerkennung: ist
das irgendwie möglicherweise ein Hinderungsgrund, aus Ihrer Sicht, diese Leute vor ein Gericht zu
stellen?
Verheyen: Das ist kein Hinderungsgrund, wenn man wirklich beweisen kann, daß die jetzt
Angeklagten gegen internationales oder DDR-Recht verstoßen haben. Wie schon gesagt, so hat es
auch der Einigungsvertrag vorgesehen. Wenn aber unter internationalem oder DDR-Recht das, was
damals passiert ist, insbesondere an der deutsch-deutschen Grenze, nicht eindeutig strafbar war,
dann gibt es bei einer juristischen Verfolgung heute selbstverständlich ein Problem. Im internationalen
Recht wäre hier die Frage zu beantworten, wo die Trennlinie zwischen nationaler Souveränität (z.B.
die Grenze als sog. "Act of State") und übernationalen Menschenrechtsprinzipien liegt. Also, wo hört
die nationale Souveränität auf und wo fängt die übernationale Rechtsordnung an? Daneben gibt es
dann noch die Debatte über das Rückwirkungsverbot, wie wir schon diskutiert haben.
TP: Wenn gegen DDR-Recht verstoßen worden ist, dann dürfte, laut Einigungsvertrag, die
gesamtdeutsche Justiz darüber befinden. Das ist schon klar. Geht es aber um die Bewertung von
internationalem Recht, so darf darüber nach Ansicht von Rechtsexperten nur dann geurteilt werden,
wenn das internationale Recht in innerstaatliches Recht umgewandelt worden ist.
Verheyen: Ja, wenn man also solche Argumente benutzt, dann müßte man einfach feststellen, ob die
DDR verschiedene internationale Abkommen unterschrieben hat, und welche. Und diese wären dann
Teil des DDR-Rechts geworden. Aber ich glaube, daß es international-rechtlich auch möglich ist, die
Regierungsführer eines Staates vor Gericht zu stellen, wenn ihre Politik allgemeine internationale
Menschenrechtsprinzipien verletzt hat. Das haben wir damals bei den Nürnberger Prozessen
gesehen. Sonst wäre das Schicksal der Menschheit von der Bereitwilligkeit der einzelnen Staaten
abhängig, internationale Menschenrechte im nationalen Recht zu verankern. Das wäre meiner
Meinung nach eine beträchtliche Verengung des Konzeptes des internationalen Rechtes. Anders
gesagt: sollen nur die Staaten das als internationales Recht entwickeln, was ihren Interessen
entspricht, oder gibt es auch übernationale Prinzipien, die eine uneingeschränkte, globale Gültigkeit
haben?
TP: Bei uns in der Bundesrepublik wurde das Rückwirkungsverbot, wie es die europäische
Menschenrechtskonvention vorsieht, nicht relativiert. Diesen Mangel behebt man heute mit der
sogenannten Radbruch'schen Formel, indem man sagt, daß Recht, das zu den allgemeinen
Menschenrechten im Widerspruch steht, eben kein Recht ist. In Anbetracht dessen, daß die
Bundesrepublik Deutschland 1952 dieses Rückwirkungsverbot nicht relativiert hat, es selbst bis heute
nicht für nötig empfindet: Ist die sog. Radbruch'sche Formel Ihrer Meinung nach nicht eine gewisse
Willkürkonstruktion?
Verheyen: Wie gerade gesagt, es ist bei diesem Politbüro-Prozeß eine wichtige Frage, wo die Grenze
der nationalen Souveränität liegt, denn das entscheidet auch zum Teil, ob sich ein
Rückwirkungsverbot aufheben läßt. Wenn man sozusagen sehr viel auf nationaler Ebene zuläßt, dann
bleibt von den übernationalen Menschenrechts- und anderen Prinzipien ja nicht allzu viel übrig. Zur
Radbruch'schen Formel möchte ich hier nicht viel sagen, denn ich bin ja kein Jura-Theoretiker, aber
man sollte auf jeden Fall überlegen, inwieweit nationales Recht nicht nur mit Menschenrechten zu tun
hat und deshalb nicht nur aufgrund von internationalen Menschenrechtsprinzipien zu beurteilen wäre.
Das macht es alles ja richtig kompliziert für die Anwälte und die Richter bei den heutigen Prozessen!
TP: Kommen wir mal wieder zu konkreteren Dingen! Sie beobachten jetzt diesen Prozeß seit ein paar
Wochen. Wie beurteilen Sie, was konkret in diesem Prozeß geschieht? Wie sich, beispielsweise die
Angeklagten durch ihre Verteidiger oder durch sich selbst verteidigen?
Verheyen: Wir haben es hier zu tun mit einem Prozeß auf drei, allerdings verknüpften Ebenen: also
ein juristisches, aber auch ein zutiefst politisches Verfahren, und dazu noch die menschliche Ebene.
Ich beobachte diese Mischung von den ersten zwei Aspekten sowohl bei der Staatsanwaltschaft, z.B.
im Plädoyer des Herrn Jahntz, aber auch bei den Herren Krenz, Schabowski und Kleiber und ihren
Verteidigern. Die Argumente sind nicht allzu oft nur sachlich-juristischer Art, sie sind häufig sehr
politisch gefärbt, selbst wenn dies z.B. die Staatsanwaltschaft wahrscheinlich nicht wahrhaben wollen
würde. Insgesamt ist Egon Krenz von den drei Angeklagten deutlich am meisten politisch und
ideologisch orientiert in seinen Aussagen, denn er redet natürlich von Siegerjustiz und westlicher
Rache. Für ihn ist aber auch der historische Kontext von großer Bedeutung, als wenn er behauptet,
die DDR hätte angesichts des Grenzregimes nur ganz beschränkte Souveränität gehabt und die Toten
an der Mauer seien eigentlich Teil einer ideologischen Auseinandersetzung und eines welthistorischen
Schicksals gewesen. Es steckt da natürlich ein Stück Rechtfertigung drin, aber auch wichtige Aspekte
einer geschichtlichen Erklärung, die es ernstzunehmen gilt. Doch wenn alles bei den juristischen,
politischen, und historischen Argumenten bleibt, verliert man aber schnell den Blick auf das, was am
Ende am entscheidendsten sein soll: die menschliche Dimension der Tragödie an der Mauer. Das
machte für mich die ganz kurze Erklärung von Frau Schmidt so eindrucksvoll. Als Nebenklägerin und
Witwe eines Opfers hat sie im Laufe der Wochen und Monate alle manchmal technischen oder sogar
esoterischen Argumente angehört oder in der Zeitung gelesen. Der Richter gab ihr die Möglichkeit,
sich auch noch mal im Gerichtssaal zu äußern, und dann sagte sie leise aber eindringlich so etwas
wie: "Herr Krenz, Sie haben gesagt, es war die Sowjetunion, es war die Geschichte, es waren zwei
Militärblöcke usw., die für die Mauer am Ende verantwortlich waren, aber als mein Mann an der Mauer
ermordet worden ist, war's die DDR, die bei mir zu Hause geklingelt hat." Nach all den Plädoyers war
da plötzlich eine völlig andere Ebene, und die war während des Prozesses eigentlich insgesamt nicht
so oft sichtbar gewesen. Man kann über die Opfer als statistische Daten reden, aber wenn da eine
Witwe sitzt, oder die Mutter oder Vater eines Opfers, dann zeigt das plötzlich eine ganz andere
Dimension. Und dann kann man schon verstehen, daß die Angehörigen der Opfer irgendwie
Gerechtigkeit empfinden möchten. Ob eine Verurteilung von Krenz und den anderen Angeklagten das
herbeiführen vermag, kann ich nicht sagen, denn das ist etwas, das nur die Angehörigen der Opfer für
sich selbst entscheiden können. Aber nimmt man nun die menschlichen und politisch-historischen
Aspekte zusammen, dann ergibt sich meiner Meinung nach folgendes: Politisches Handeln ohne
Verantwortung (und ihre möglichen juristischen Konsequenzen) darf es nicht geben, aber Politik ohne
historischen Kontext kann es nicht geben. Das Erste bedeutet für Krenz, daß er sich deutlich dieser
Verantwortung UND ihren Konsequenzen stellen muß, selbst wenn ihm das schwerfällt. Die
Geschichte und die internationale Politik dürfen also nicht als eine Art pauschale Rechtfertigung oder
Entschuldigung angewendet werden. Das Zweite bedeutet aber für die Staatsanwaltschaft und auch
für die Nebenkläger, daß der historische und weltpolitische Kontext mitberücksichtigt werden sollte,
und daß dies dann zwangsläufig ein juristisches Urteil und eine Determinierung der persönlichen
Verantwortung eines Angeklagten beeinflussen muß. All dies macht ein ausgewogenes Urteil bei
diesem Prozeß außergewöhnlich schwierig.
TP: Sie haben sich sehr viele Notizen gemacht, habe ich beobachtet am Donnerstag während des
Plädoyers des Verteidigers des Angeklagten Kleiber. Können Sie mal aus Ihrer Sicht darauf eingehen,
wie Sie dieses Plädoyer des Herrn Dr. Studier beurteilen?
Verheyen: Ich fand das Plädoyer von Dr. Studier ein sehr sachliches und "ruhiges" Plädoyer. Er hat
z.B. nicht versucht, den Prozeß als solchen sofort zu polemisieren oder zu politisieren. Er hat einfach
gesagt: so sind ja die Fakten, wir stimmen da im Grunde zu, und diese Dinge sind passiert, es war
tatsächlich sehr unrecht, was damals alles geschehen ist, es ist überhaupt nicht zu rechtfertigen, daß
da Menschen umgekommen sind, und es gab keine absolute militärische Notwendigkeit, diese
Flüchtenden zu erschießen, usw. Dann hat er einfach und sachlich hinzugefügt, sein Mandant sei
aber nicht schuldig, weil er kein unmittelbarer Täter gewesen sei und überhaupt nicht die Möglichkeit
gehabt hätte die Lage irgendwie zu ändern. Und dann hat er verschiedene Dokumente noch mal
gezeigt, diskutiert und dargestellt, Protokolle der Politbüro-Sitzungen usw., hat auch den Lebenslauf
von Kleiber wieder erwähnt, also was der Mann gemacht hat als Wirtschafts- oder Industrieminister:
Kleiber als fleißiger, aber für das Grenzregime unwichtiger Funktionär. Also insgesamt eigentlich ganz
ruhig, ganz vorsichtig, und ja eigentlich auch in der Argumentation sehr beschränkt. Studier hat also
nicht versucht, im Gegensatz zur Verteidigung von Krenz, das Geschehen an der Mauer im Kontext
der ganzen Weltgeschichte darzustellen oder über Siegerjustiz zu streiten. Wie gesagt, da hat Krenz
selbst schon ganz anders argumentiert und eine völlig unterschiedliche Strategie der Verteidigung
verfolgt. Ich glaube, daß eine Verteidigungsstrategie auch etwas zur Persönlichkeit und
Weltanschauung eines Angeklagten sagt, vor allem in einem politisch so höchst brisanten Prozeß wie
diesem. Ich gehe also davon aus, daß die verschiedenen Angeklagten den jeweiligen
Verteidigungsstrategien ihrer Anwälte zugestimmt haben, und daß diese Strategien den Einsichten
und Auffassungen der Angeklagten entsprechen. Ob da Krenz oder Kleiber die bessere Strategie
haben, sei dahingestellt; das wird sich noch zeigen müssen, wenn das Urteil kommt und die Richter
auf die Argumente der Verteidiger und Angeklagten reagieren. Es könnte sein, daß die Strategie von
Kleiber insgesamt vernünftiger ist als die von Krenz, aber man muß natürlich auch bedenken, daß die
Kleibersche Strategie einfach besser zum weniger bekannten Funktionär paßt als zum letzten SEDund Staatschef. Oder, anders gesagt, die Kleibersche Strategie wäre für Krenz sehr wahrscheinlich
eine kaum glaubwürdige. Auf der anderen Seite sind die von Krenz und seinen Anwälten
herbeigeführten weltpolitischen und welthistorischen Argumente für mich als Politologe besonders
wichtig und, wie ich schon gesagt habe, für diesen Prozeß als solchen auch unentbehrlich. Die Gefahr
wäre allerdings, daß sich die Richter durch den Vorwurf der "Siegerjustiz" ziemlich angegriffen fühlen
werden, und das könnte sich auf das Urteil direkt oder indirekt auswirken.
TP: Sind Sie der Meinung, daß bundesdeutsche Politiker aus dem Westen auch Schuld daran
getragen haben, letzten Endes, was an der Mauer oder der Grenze damals passiert ist?
Verheyen: Ich denke, daß "Schuld" hier das falsche Wort wäre und daß selbst das Wort
"Verantwortung" vielleicht schon sehr umstritten wäre. Trotz des Kontextes eines Kalten Krieges, einer
deutschen Teilung und zweier nicht gerade hundertprozentig souveränen deutschen Staaten, müssen
einzelne Politiker oder andere führende Persönlichkeiten sich ihrer persönlichen Verantwortung oder
sogar Schuld stellen. Daß es im Bereich solcher Verantwortung oder Schuld für die Geschehnisse an
der Mauer ein großer und qualitativer Unterschied zwischen der ehemaligen DDR und der ehemaligen
BRD gibt, steht natürlich außer Zweifel. Dennoch, eine saubere und klare Beurteilung der jeweiligen
Verantwortung auf BEIDEN Seiten bleibt für eine wahrhafte Aufarbeitung dieser tragischen
Vergangenheit unerläßlich. Wie aber schon gesagt, dies kann und darf ohne Berücksichtigung des
politisch-historischen Kontextes und der sich daraus ergebenden persönlich-moralischen
Verstrickungen nicht wirklich und effektiv erfolgen. Teilung und beschränkte Souveränität waren für
beide Seiten die bittere und unveränderliche Realität. Der Handlungsspielraum war auf beiden Seiten
ideologisch und realpolitisch besonders eng. Weder BRD noch DDR hätten eine Politik gegen das
eigene Bündnis, NATO und Warschau Pakt, erfolgreich durchsetzen können. Die Mauer war nicht nur
die Staatsräson der DDR, sie war auch eine Grenze, deren Erhaltung für die UdSSR von
hochrangigem Interesse war. Man kann, wie dies jetzt geschieht, die Grenze erhaltende und prosowjetische Politik der DDR-Führung als politische und moralische Unterlassung und deshalb als
strafbar bezeichnen, aber dabei riskiert man doch auch, in eine zum Teil sehr unhistorische und
vielleicht sogar naive Beurteilung des Geschehenen abzugleiten. Am Ende soll eine historisch und
politisch richtig "kontextualisierte" Beurteilung des Verhaltens eines jeden politisch
Verantwortungtragenden diese Frage mit hineinbeziehen: welche konkreten Möglichkeiten und
Optionen hatte der Angeklagte, bestimmte Entscheidungen zu treffen, unter den gegebenen
Umständen? Wenn aber, wie bei diesem Prozeß, die Notwendigkeit einer Verurteilung schon von
vorne herein mindestens teilweise politisch festzustehen scheint, dann wird es schwieriger auf diese
Frage eine sachliche und nuancierte Antwort zu geben.
TP: Also ist die Argumentation von Egon Krenz gar nicht so ganz falsch?
Verheyen: Ich denke, einiges ist schon richtig, was er gesagt hat. Denn er hat natürlich teilweise nur
behauptet, was eigentlich historische Gegebenheiten gewesen sind, so wie die letztendlich
beschränkte Souveränität der DDR (und der Bundesrepublik), die Realitäten des Kalten Krieges, die
abnormalen Aspekte einer Grenze zwischen den beiden militärisch-ideologischen Blöcken, usw. Das
Problem für Krenz liegt meines Erachtens aber auf der anderen Seite: wenn dies also die
internationale Realität war, wo bleibt dann eigentlich die menschliche Verantwortung in der Geschichte
und der Politik? Wenn man einfach alles darstellt als das Wirken von kaum zu kontrollierenden
geschichtlichen Kräften - und die Argumente von Krenz tendieren in diese Richtung -, dann bleibt von
der menschlichen Verantwortung in der Politik und der Gesellschaft nicht viel übrig. Und das wäre
doch eine sehr gefährliche Entwicklung in einer Welt, in der die Möglichkeiten der politischen
Machtausübung und technologischen Manipulation so gewaltig gewachsen sind. Also, man muß
urteilen und, wenn nötig, verurteilen und juristisch strafen können, aber ohne eine schädliche
Politisierung des Verfahrens, und in jener Beziehung habe ich bei diesem Prozeß schon meine
persönlichen Bedenken.
TP: Eine politische Verantwortung hat Egon Krenz ja immerhin übernommen.
Verheyen: Er hat natürlich das DDR-System mitgetragen. Da ist die Sache klar. Nur bleibt die Frage,
wie verbindet man diese Verantwortung für das DDR-System insgesamt, also seine Führungsrolle
oder seine Rolle im Politbüro, mit diesen Toten an der Mauer? Und das ist, glaube ich, keineswegs so
einfach zu zeigen, wie es viele zu glauben scheinen. Es war z.B. in der Verteidigung von Dr. Studier
ganz klar, daß sich das Politbüro in den 80er Jahren nicht immer besonders detailliert oder sogar
überhaupt nicht mit dem Grenzregime beschäftigt hat, weil viele Grundentscheidungen schon früher
getroffen worden waren. Deshalb trugen vielleicht der Nationale Verteidigungsrat oder, in den letzten
10, 15 Jahren, Honecker selbst, möglicherweise in enger Zusammenarbeit mit auserwählten Kollegen,
viel mehr praktische Verantwortung. Und wenn Krenz, Schabowski und Kleiber weniger aktives Tun
als Unterlassung eines Versuches zur Änderung des Grenzregimes angelastet wird, dann werden die
Aspekte des Kontextes immer wichtiger, wie ich soeben argumentiert habe.
TP: Sind Sie der Meinung, daß das Gericht zu einem Schuldspruch kommen wird?
Verheyen: Ich denke, daß es zweifellos zu einem Schuldspruch kommen wird. Obwohl das Gericht
sein Urteil an erster Stelle natürlich juristisch begründen und argumentieren wird, meine ich aber auch,
daß es im jetzigen politischen Klima unvermeidbar ist, daß die drei Angeklagten verurteilt werden. Es
wäre doch politisch kaum vorstellbar, daß die "kleinen Leute", also die Grenzsoldaten, oder andere
Regime-Prominente wie die Generäle verurteilt und verhaftet werden (was schon geschehen ist), aber
die Mitglieder des ehemaligen DDR-Politbüros auf freiem Fuß bleiben. Ich denke, daß es deshalb
auch einen gewaltigen Druck der Erwartungen auf die Richter gibt, zu einem Schuldspruch zu
kommen. Inwieweit sich das junge Alter der Richter und der Richterin auf das Urteil auswirken wird,
weiß ich natürlich nicht.
TP: Wird das Urteil historisch haltbar sein?
Verheyen: Insgesamt wahrscheinlich ja, weil auch in weiterer Zukunft die Unrechtsaspekte des DDRRegimes noch deutlich in öffentlicher Erinnerung bleiben werden. Auf der anderen Seite wird es auch
eine gewisse Nuancierung des Geschichtsbildes geben werden, wobei andere Aspekte der DDRVergangenheit, denke ich, stärkere Betonung finden werden. Das sieht man eigentlich jetzt schon ein
bißchen, aber die persönlich-emotionale Betroffenheit ist doch oft noch stärker. Jedoch wird sich
schließlich irgendwann in der Zukunft die Suche oder Wunsch der Opfer nach persönlicher
Gerechtigkeit und nach Bestrafung der Verantwortlichen irgendwie erledigt oder erschöpft haben, und
dann bleibt "nur" die allgemeinere Erinnerung an die DDR. Aber ob sich dann auch die öffentliche
Meinung über das Urteil gegen Krenz & Co. wirklich grundlegend ändern wird, bezweifle ich.
Teil II: Nach der Urteilsverkündung
TP: Heute haben wir den Tag nach der Urteilsverkündung im Politbüro-Prozeß. Sie haben
möglicherweise heute die Reaktionen darauf gesehen. Gestern vielleicht auch schon Kommentare im
Fernsehen. Wie beurteilen Sie die öffentlichen Stellungnahmen zu diesem Prozeß?
Verheyen: Wenn ich mal ausgehe von den ersten Reaktionen, und das sind vornehmlich die der
Journalisten, Kommentatoren, Rechtsexperten und Politikern, dann gibt es da kaum irgend etwas
Überraschendes. Diejenigen, die eine Verurteilung erwarteten und wollten, sind zufrieden, und andere
nicht. Juristische Argumente werden viel benutzt, aber die politischen und ideologischen Elemente in
den Reaktionen sind auch sehr deutlich wahrnehmbar, denn es handelt sich da um Gefühle der
Genugtuung und auch der Bestätigung von den eigenen politischen und ideologischen
Überzeugungen. Die alten Fronten des Kalten Krieges sind noch mal ganz deutlich spürbar, vor allem
wenn man die Atmosphäre im Gerichtssaal miterlebt hat. So könnte man sagen, daß dieser und
ähnliche Prozesse den Epilog des Kalten Krieges bilden. Neben den soeben erwähnten Reaktionen
wäre es auch interessant, die Ergebnisse einer zuverlässigen Umfrage zu sehen, aber eine Umfrage
jetzt wäre kein exaktes Instrument, weil die ersten Reaktionen immer stark gefühlsbedingt sind. Man
müßte also mindestens einige Wochen warten, bis sich die Meinungen einigermaßen stabilisiert
haben. Wenn Sie jetzt Umfrageergebnisse sehen, müssen Sie bedenken, daß die einen nur sehr
beschränkten Wert haben.
TP: Die Richter haben davon gesprochen, es sei eine Illusion, anzunehmen, daß man die
Vergangenheit mit Recht, mit Strafrecht bewältigen kann. Dennoch haben sie es ausschließlich getan
- Widerspruch oder Zwangsläufigkeit?
Verheyen: Also, man kann, so wie die Richter es auch richtig gesagt haben, die Vergangenheit nicht
nur juristisch aufarbeiten. Aber das bedeutet natürlich nicht, daß man die Vergangenheit nicht
mindestens zum Teil juristisch aufarbeiten kann. Die Richter haben nur gesagt, wir haben unsere
Arbeit getan, aber hierbei soll es nicht bleiben, nicht bei diesem Urteil, nicht bei diesem Prozeß. Ich
verstehe die Aussage des Richters Hoch als eine deutliche, an die gesamtdeutsche Gesellschaft
gerichtete Aufforderung zur aktiven und multidimensionalen Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit. Die Aufarbeitung einer Geschichte, wenn sie überhaupt möglich ist, kann nur die
Aufgabe einer gesamten Gesellschaft sein, in der Politik, beim Unterricht, in der Presse und Literatur,
und auf der privaten Ebene der Familie und des eigenen Lebens, und das letzte ist natürlich die
schwierigste Ebene einer "Vergangenheitsbewältigung". Ich sehe also keinen Widerspruch in dem,
was die Richter gesagt haben. Die mögliche Politisierung der Justiz und die sich daraus ergebenden
Schwierigkeiten für eine effektive und ehrliche Aufarbeitung der Geschichte sind weitere Probleme,
und wir haben die schon mal diskutiert, aber ich glaube nicht, daß die Richter ihre Rolle in diesem
Sinne politisch interpretiert haben.
TP: Krenz, Schabowski und Kleiber sind verurteilt worden, weil sie Tote und Verletzte an der Mauer
und der Grenze billigend in Kauf genommen hätten. Nun hat Egon Bahr gesagt, wenn die DDR das
Grenzregime billigend in Kauf genommen hat, und die Toten und Verletzten an der Grenze, dann
haben wir es, also die bundesdeutsche Seite, "mißbilligend" in Kauf genommen. Was meinen Sie
dazu?
Verheyen: Ich denke, daß das zum Teil wahrscheinlich richtig ist. Es ist aber auch, sagen wir mal so,
die bittere historische Realität. Es handelte sich nicht um eine normale Grenze, und die BRD und DDR
waren nicht zwei normale deutsche Staaten, selbst wenn das die heutige politische Führung der
Bundesrepublik vielleicht nicht wahrhaben will. Die Grenze und die zwei deutschen Staaten waren
also Ergebnisse des zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges, NATO-bedingt im Westen und
sowjetisch überwacht im Ostteil Europas. Dabei bleibt das Ausmaß an Souveränität der DDR eine
Frage, die ganz wichtig und inhärent kontrovers ist, aber dasselbe gilt, obwohl auf einer anderen
Ebene, für die Bundesrepublik und ihre Deutschlandpolitik in den 70er und 80er Jahren. Welche
realistische Möglichkeiten hatte da die BRD, die DDR zu zwingen das Grenzregime zu lockern, usw.?
Solche Fragen werden auch in der Zukunft noch sehr viel diskutiert werden.
TP: Gegen die Grenze mag ja im Grunde genommen nichts einzuwenden sein, oder die
Verantwortung auch dafür wo anders liegen, aber hätte es unbedingt Tote und Verletzte an Mauer und
Grenze geben müssen?
Verheyen: Das ist am Ende natürlich die entscheidende Frage, denn dann kommen wir wieder zur
menschlichen Tragödie des Mauerregimes. Selbst wenn die Grenze wegen der internationalen Politik
und der DDR-Staatsräson fast unvermeidbar war, bleibt die Frage ihrer spezifischen Gestaltung und
der Verantwortung dafür stehen. Ohne Abriegelung der Grenze Richtung Westen hätte übrigens keins
der Regimes des Warschauer Paktes wirklich lange überleben können, denn wir sollen nicht
vergessen, daß die Grenzen der UdSSR mit Finnland und der CSSR und Ungarn mit der BRD und
Österreich auch sehr stark überwacht wurden. Die Geschichte trägt keine Verantwortung, nur
Menschen die handeln und entscheiden, tragen letztendlich Verantwortung. Wie groß war die
Verantwortung von Krenz & Co. denn schließlich? Ich bin nicht sicher, ob uns da dieser Prozeß eine
zuverlässige oder endgültige Antwort geboten hat. Menschen sind Opfer der Tragödie des Kalten
Krieges geworden, und Menschen haben diese Tragödie mitverursacht. Und es sind Menschen, die
jetzt diese Vergangenheit beurteilen müssen und, wie bei diesem Prozeß, die angeblich
Verantwortlichen verurteilen. Das Letzte ist ein keineswegs perfekter oder idealer Vorgang, aber die
Alternativen des absichtlichen Vergessens oder der rechtfertigenden Gleichgültigkeit wären schon viel
schlimmer.
TP: Herr Prof. Verheyen, vielen Dank für dieses Interview.
Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin
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