der raum um die axt der anarchische freiraum des

Werbung
DER RAUM UM DIE AXT
DER ANARCHISCHE FREIRAUM DES
INDIVIDUUMS IM WERK VON MAX FRISCH
In der ersten Skizze „Der Graf von Öderland” heißt es an der entscheidenden
Stelle der Verwandlung des Oberrichters (später: Staatsanwalts) in den
Grafen von Öderland von dem Fremden, dass er da „steht mit der Axt in der
Hand, so, daß gewissermaßen ein Raum entsteht um diese Axt.” (2,42O).1
Auch Isidor, der Held einer jener ichspiegelnden Geschichten Stillers, findet
seinen Freiraum vor der ewigen Fragerei seiner Frau in der Fremdenlegion
(wenn er auch zu seinem „Glück” gezwungen werden muss); als er nach
siebenjähriger Abwesenheit zurückkehrt, und seine Frau ihn sofort wieder
mit der Frage belästigt: „wo bist du nur solange gewesen?” (3,395), nimmt
er „den Revolver aus dem Gurt, gab drei Schüsse mitten in die weiche,
bisher noch unberührte und mit Zuckerschaum verzierte Torte, was, wie man
sich wohl vorstellen kann, eine erhebliche Schweinerei verursachte."
(3,396). Stiller selbst, der am Tajo die Faschisten nicht erschossen hat, sich
als Mann der republikanischen Freiheit nicht bewährt hat, muss nun solches
hartes Sichwehren und ein solches Herstellen eines Freiraums zumindest in
der Phantasie nachholen: so ermordet er den Haaröl-Gangster Schmitz mit
dem Dolch, weil „dem in einem ordentlichen Rechtsstaat nicht
beizukommen ist"(3.377); rettet die Mulattin aus dem brennenden Sägewerk,
erschießt ihren Mann Joe, denn „ich vertrage keine verheirateten Männer,
auch wenn es Neger sind. Immer mit Rücksicht, das liegt mir nicht."(3,404)
Der wilde Westen, das exotische Mexiko dienen als Kulissen seiner
phantasierten, abenteuerlichen Freiheit: der Traum von der Anarchie, als
Machowelt im Stil von Karl May und Jerry Cotton. Symbol dieses durch
1
Zitiert nach: Max Frisch, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Werkausgabe
edition suhrkamp. Frankfurt/Main 1976 vgl. Gerhard P. Knapp, „Angelpunkt Öderland.
über die Bedeutung eines dramaturgischen Fehlschlags für das Bühnenwerk Frischs” .In:
ders., Studien zum Werk Max Frischs. Bd. 2, Aspekte des Bühnenwerks, Bern 1979,
S.223ff; Gody Suter, „Graf Öderland mit der Axt in der Hand", in: Thomas Beckermann
(Hrsg.), Über Max Frisch, Frankfurt/Main 1976, S.113ff; Derrick Barlow, „’Ordnung’
and ‘das wirkliche Leben’ in the works of Max Frisch” .In: GLL 19 (1965/66), S52ff;
Peter Horn, „Zu Max Frischs ‘Don Juan oder die Liebe zur Geometrie” .In: Manfred
Jurgensen, Frisch. Kritik - Thesen - Analysen, Bern 1977, S.121ff. Eine eingehende
Studie zu Max Frischs Anarchie-Konzept steht noch aus.
keine Fessel zu bindenden Ausbruchs ist im Stiller und bei Öderland der
Ausbruch des Vulkans. Öderlands Ziel ist der größte erloschene,
prähistorische Vulkan Europas, die griechische Insel Santorin, wo er leben
will „ohne Dämmerung, ohne Hoffnung auf ein andermal… hier sind unsere
Götter geboren, die wirklichen, hier sind sie aus den Fluten gestiegen,
Kinder der Freude, Kinder des Lichts.” (3.54). Und Stiller beschreibt den
Vulkan Paricutin in Mexiko:
Mitten aus der Finsternis von toten Schlacken, die der Mond
bescheint, ohne ihre Schwärze tilgen zu können, schießt sie hervor
wie hellichter Purpur, stoßweise wie das Blut aus einem
schwarzen Stier. Sie muß sehr dünn und flüssig sein, diese Lava,
fast blitzhaft schießt sie über den Berg hinunter, langsam an Helle
verlierend, bis der nächste Ausguß kommt, Glut wie aus dem
Hochofen, leuchtend wie die Sonne, die Nacht erleuchtend mit der
tödlichen Hitze, der wir alles Leben verdanken, mit dem Innersten
unseres Gestirns. Das müßten Sie sehen! In unserer Seele, ich
erinnere mich sehr genau, erwacht ein Jubel, wie er sich bloß im
Tanz entspannen könnte, im wildesten aller Tänze, ein
Überschwang von Entsetzen und Entzücken, wie er die
unbegreiflichen Menschen, die sich das warme Herz aus dem
Leibe schnitten, erfaßt haben mag.(3,4OO)
Das eben ist es, was die Anarchie der Helden von Max Frisch bezeichnet:
Die Überfülle des Spontanen, Rücksichtslosen, die höchste Lust der Libido,
die sich gegen die Widerstände der Erstarrung und der Ordnung gewaltsam
ihren Weg bricht. Orgasmus, Potenz und Gewalt erweisen sich als
verknüpfte Zeichen. Gewalt nämlich ist notwendig, so sieht es Öderland, „in
dieser Welt der Papiere, in diesem Dschungel von Grenzen und Gesetzen, in
diesem Irrenhaus der Ordnung” (3,55). An die Stelle der spontanen Freude
ist in dieser kargen Welt Trotz und Tugend getreten: „Nichts ist Geschenk,
alles bleibt Lohn. Und alles ist Pflicht. Und Überwindung ist das Höchste,
was man sich denken kann… Überwindung und Verzicht.” (3.53). Die
Einschränkungen, die die „Ordnung” der Kultur dem Menschen auferlegt, zu
überwinden, scheint es zwei Wege zu geben: die Ausfahrt nach Hawai, wie
sie Pelegrin in „Santa Cruz” versucht, die Rückkehr zu den „nackenden
Völkern, die den Schnee überhaupt nicht kennen, auch keine Angst, auch
keine Pflichten, keine Zinsen, keine schlechten Zähne." (2,19); das Santorin
Öderlands, das Amerika Stillers, wo Ordnung nicht mehr sein muss. Für
Öderland und Pelegrin sind es unter anderem das widrige europäische
Klima, was ein wirkliches Leben verhindert: „Es wächst uns die Muße nicht
an den Bäumen, die heitere, angstlose, freie, die der Anfang ist von allem,
was Mensch heißt … Denn unser Sommer ist kurz, und wehe dem
Menschen, der sich der Lust ergibt, wo sie nicht ausreicht, weil die Sonne
nicht ausreicht.” (3.55). So weist auch Freud „als Ursache der
menschlicheren Lebensweise” der tropischen Naturvölker auf das „Maß an
Lebenserleichterung (hin), das der Großmut der Natur und der
Bequemlichkeit in der Befriedigung der großen Bedürfnisse zu danken war.”
Im Gegensatz zu diesem zumindest scheinbar einfachen, bedürfnisarmen,
glücklichen Leben, habe der Europäer seine eigene Kultur als Quelle des
Leidens erfahren: „Man fand, daß der Mensch neurotisch wird, weil er das
Maß von Versagung nicht ertragen kann, das ihm die Gesellschaft im
Dienste ihrer kulturellen Ideale auferlegt, und man schloß daraus, daß es
eine Rückkehr zu den Glücksmöglichkeiten bedeutete, wenn diese
Anforderungen aufgehoben oder sehr herabgesetzt würden.”2 (Freud weist
allerdings daraufhin, dass sich diese Auffassung bei genauerer Beobachtung
fast immer als falsch erweist.) Dieser Traum von exotischen Landen, wo der
Mensch noch Mensch sein kann, mögen sie nun Indien, Nepal, Südseeinseln,
Hawai, Afrika, Jamaika heißen, möge der Traum Zen, Yogi oder Rastafari
genannt werden, blieb aber, möge er auch immer wieder enttäuscht werden,
ein überdauernder Traum. Und so beschließt, - obwohl er es dann doch nicht
fertigbringt - der Rittmeister nach einem langen Leben der Pflichttreue und
der ehelichen Treue, dass auch „meine Sehnsucht reisen darf” - „da mir die
Kürze unseres Daseins bewußt geworden ist."(2,42) Genau das fasst auch
der Wahlspruch Öderlands zusammen: „Lang ist die Nacht, kurz ist das
Leben, verflucht ist die Hoffnung, heilig der Tag, und es lebe ein jeder, wie
er will, herrlich sind wir und frei.” (3,41). Freilich so leicht findet die
Anarchie der Dropouts heute keinen realen Ort mehr. Früher, so meint
Columbus in der „Chinesischen Mauer”: „Da gab es noch Inseln, die
niemand betreten, Länder von keinem Menschen entdeckt, Küsten der
Hoffnung”. Heute dagegen ist die Erde ein „Globus, ausgemessen ein für
alle Mal, eine Kugel, die handlich auf dem Schreibtisch steht: ohne Räume
der Hoffnung! Denn überall ist schon der Mensch, und alles, was wir fortan
entdecken, es macht die Welt nicht größer, sondern kleiner...” (2,184). So
bleiben denen, die aus der unbehaglichen Kultur aussteigen wollen, weil sie
erkannt haben, daß Europa der Tod ist, nur noch die Kontinente der eigenen
Seele, das Abenteuer der Wahrhaftigkeit"(2,184) oder die fiktive „Reise
2
Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur,
Frankfurt/Main 1952, S.83
nach Peking", um der „grauen Asche der Erfahrung” zu entkommen (1,627).
Auch Öderland wird schließlich nur mit dem Spielzeugschiff „Esperanza”
mit den Segeln aus Pergament nach Santorin fahren.
Der zweite Weg aber ist der der anarchischen Gewalt. Nun ist Gewalt kein
notwendiger Teil des Anarchischen, im Gegenteil: Kant z.B. definiert völlig
richtig Anarchie als „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt.”3 Die populäre
Auffassung von Anarchie als Unordnung hat sich zwar bis heute erhalten,
die anarchistische Theorie aber ebenfalls ein davon deutlich unterschiedenes
Konzept bewahrt. So umschreibt Malatesta, der bedeutendste italienische
Anarchist, Herrschaftslosigkeit oder Anarchie als Synonym für die
natürliche Ordnung, für die Harmonie der Bedürfnisse und Interessen, für
die vollständige Freiheit in voller Solidarität”.4 Wegen der populären
Assoziationen hat man allerdings die Wahl des Wortes durch Proudhon
einen monumentalen Irrtum genannt, der seit 130 Jahren zu den größten
Mißverständnissen geführt habe.5 Allerdings gab es zwischen 1880 und
1900 eine Gruppe von Anarchisten, die durch ihr Verhalten dieses populäre
Vorurteil schürten. So verfaßte Johann Most 1884/85 ein Handbuch mit dem
Titel: „Revolutionäre Kriegswissenschaft. Ein Handbüchlein zur Anleitung
betreffend Gebrauch und Herstellung von Nitroglyzerin, Dynamit,
Schießbaumwolle, Knallquecksilber, Bomben, Brandsätzen, Giften usw.”
.Die „Dynamiteurs” der Epoche nahmen diesen Gedanken der „Propaganda
durch die Tat” auf; ihren Attentaten fielen 1894 der französische
Staatsprädident Carnot, 1897 der spanische Ministerpräsident Canovas, 1898
die Kaiserin Elisabeth von Österreich, 1900 König Umberto von Italien und
1901 der amerikanische Präsident McKinley zum Opfer. Der QuasiAnarchist Ravachol, der 1891 eine Reihe sinnloser Morde und
Bombenanschläge ausführte, und Emile Henry, der 1894 ein vollbesetztes
Pariser Café in die Luft sprengte, waren in aller Munde.6 Johann Most
verteidigte das Attentat auf den Zaren Alexander II. als gerechte
Hinrichtung des
scheußlichsten Tyrannen Europas und als einen
„erfolgreichen Angriff auf die Autorität als solche.” Von nun an zittern die
Herrschenden „von Konstantinopel bis nach Washington um ihre längst
verwirkten Köpfe.” 7 Es ist, nach Auffassung des Staatsanwalts die Ordnung
3
Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798, Leipzig 1922,
S.287.
4
Erwin Oberländer (Hrsg.), Der Anarchismus, Olten und Freiburg 1972, S.12
5
Oberländer, [Anm. 4], S.12
6
Oberländer, [Anm. 4], S.227
7
Oberländer, [Anm. 4], S.294
selbst, die die Gewalt der Anarchisten herausfordert: „Wenn sie nicht lebbar
sind, eure Gesetze, sondern tödlich, wenn sie es sind, die uns krank
machen?” ((3, 54). Diese Ordnung der polizierten Gesellschaft, gegen die
sich schon Werther auflehnte, steht dem, was der Mensch will, selbst mit
institutioneller Gewalt gegenüber: „Und immer, wenn man gehen will,
immer ist eine Art von Gendarm da, der wissen muß, wohin und woher, und
überall gibt es Stäbe … Stäbe, Schranken, Gitter, Stäbe … Wie die Stämme
im Wald, die man fällen möchte, wenn man eine Axt hätte.” (2,27). Und
Don Juan zwingen die Verwandten Donna Annas den Degen in die Hand, als
sie dem „Verführer” ihrer Tochter, der nun nicht mehr heiraten will, das
Gesetz der Konvention aufzwingen wollen. Die Gesellschaft in der Form
von Don Gonzalo steht da und sagt: „Nur über meine Leiche.” (3,27). Also
geht Don Juan über seine Leiche. Es gilt, kurz gesagt, jenes Messer der
Kastration, die Axt, den Degen, den die konstituierte Gesellschaft gegen den
Einzelnen anzuwenden droht, wenn er sich den Diktaten des kulturellen
Über-Ichs zu fügen nicht bereit ist, gegen jene zu wenden, die das Ich
bedrohen. Fallen muß dabei jenes Schuldgefühl, das aus der Unterdrückung
der Libido selbst entsteht, oder wie Freud es formuliert: „daß die
Verhinderung der erotischen Befriedigung ein Stück Aggressionsneigung
gegen die Person hervorruft, welche die Befriedigung stört und daß diese
Aggression selbst wieder unterdrückt werden muß. Dann aber ist es doch nur
die Aggression, die sich in Schuldgefühl umwandelt...”8 Wir brauchen also
zur Erklärung der aggressiven Komponente mancher Formen des
Anarchismus gar nicht auf Freuds Konstruktion eines „Destruktions- oder
Todestriebes” zurückgreifen; in dem eben zitierten Satz zeigt sich die
Aggression und Gewalt ja bereits als Libidoenergie, die notwendig ist, die
Libido gegen die Hindernisse der Gesellschaft zu befriedigen: Die Bomben
richten sich gegen die von der Gesellschaft gesetzten Grenzen; der
Todestrieb aber ist nichts anderes als die gegen die eigene Person gerichtete
Aggression. Anarchie wäre so der Versuch, das Schuldgefühl, das das
gesellschaftliche Über-Ich dem einzelnen einzuimpfen versucht, zu
überwinden, und damit jener Aggression freien Lauf zu lassen, die zur
Befriedigung der Libido notwendig ist. In dieser Weise von der
verinnerlichten Autorität befreit, empfindet sich das Individuum als eine
Naturgewalt, keinem moralischen Zwang mehr unterworfen: „Ich bekenne",
sagt Don Juan, „ich komme mir wie ein Erdbeben vor oder wie ein Blitz”
(3,138). So kommt Don Juan schließlich auch zu der totalen Absage an jede
8
Freud, [Anm. 2], S.122
Art von Autorität, formuliert als Absage an den „Himmel” oder
„himmlischen Vater”:
den
und hofft nicht, daß ich weine. Und tretet mir nicht in den Weg.
Jetzt fürchte ich nichts mehr. Wir wollen sehen, wer von uns
beiden, der Himmel oder ich den andern zum Gespött macht!
(3,139)
In seiner Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Bischof von Cordoba,
Don Balthasar Lopez, kann sich Don Juan darauf berufen, daß seine
Auflehnung gegen die Autorität bisher geglückt ist:
Jetzt sind es zwölf Jahre schon, Eminenz, seit dieses Denkmal
steht mit dem peinlichen Spruch: DER HIMMEL
ZERSCHMETTERE DEN FREVLER, und ich, Don Juan
Tenorio, spaziere dran
vorbei, sooft ich in Sevilla bin,
unzerschmettert wie irgendeiner in Sevilla. (3,147)
Don Juans Freiheit heißt: Es gibt kein Gericht” (2,147f). Ähnlich wundert
sich Öderland, „ob es wirklich nichts gibt, was mich zum Stehen bringt. Ich
höre das Ächzen in den Bäumen und komme mir vor wie der Wind."(3,67)
Er beschreibt sich selbst:
Ich war dein Graf - ich, der keine Fessel kennt, und niemand kann
mich halten, Graf Öderland mit der Axt in der Hand, und wenn sie
meinen Namen hören, verstummen sie mit offenem Mund, es
gefriert ihnen das Blut in den Adern: Ich gehe durch ihre Mauern,
als wären sie aus Nebel, und wo ich hinkomme, da stürzt ihre
Ordnung zusammen wie ein Kartenhaus - und ich bin frei… frei…
(3,85)
Es ist die Frage, ob das „Glück” sei, ob das die „Freiheit” sei, was ein
beständiger Bestandteil infantiler Wunschträume ist: alle Widerstände gegen
das Glück fast widerstandslos zu durchschneiden - mit dem Messer, mit der
Axt, mit dem Degen - allen Widerspruch einfach fallen zu sehen, fast ohne
eigenes Zutun; die Übersteigerung der eigenen Macht und Potenz ins
Ungeheuerliche, bis dahin, wo Widerstand gegen diese Macht undenkbar
wird. Sowohl der Schluß von „Don Juan", „Graf Öderland", „Die große Wut
des Philipp Hotz", „Santa Cruz” als auch die ironische Behandlung der
Phantasien von Stiller lassen das bezweifeln. Bevor diese Zweifel aber
formuliert werden können, müssen zwei andere Fragen beantwortet werden:
1. Was genau ruft jenes Unbehagen hervor, gegen das der von Frisch
dargestellte Anarchismus sich wendet? 2. Welcher der vielen Spielarten des
Anarchismus ähnelt die „Öderländerei", der von Frisch dargestellte
Ausbruch aus dem Gesellschaftlichen, die Flucht in Phantasiewelten und die
gegen das Gesellschaftliche angewandte Gewalt?
„Die Menschen streben nach Glück, sie wollen glücklich werden und so
bleiben. Dieses Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel,
es will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, andererseits
das Erleben starker Lustgefühle.”9 Freud nennt das das „Lustprinzip".
Allerdings, so Freud weiter, „alle Einrichtungen des Alls widerstreben dem
Lustprinzip”.10 Von drei Seiten her wird jenes Glück gefährdet: „vom
eigenen Körper her, der zu Verfall und Auflösung bestimmt ist, sogar
Schmerz und Angst als Warnsignale nicht entbehren kann, von der
Außenwelt, die mit mächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen
uns wüten kann, und endlich aus der Beziehung zu anderen Menschen. Das
Leiden, das aus dieser Quelle stammt, empfinden wir vielleicht
schmerzlicher als jedes andere; wir sind geneigt, es als eine gewissermaßen
überflüssige Zutat anzusehen, obwohl es nicht weniger schicksalsmäßig
unabwendbar sein dürfte als das Leiden anderer Herkunft”.11 Dieser letzte
Satz Freuds dürfte bei all denen auf Widerspruch stoßen, die sich als
Liberale, Antiautoritäre, Sozialisten und Kommunisten verstehen, und Freud
selbst muß zugestehen: „Nicht alle Kulturen gehen darin (in der
Einschränkung des Sexuallebens) gleich weit; die wirtschaftliche Struktur
beeinflußt auch das Maß der restlichen Sexualfreiheit.”12 Obwohl nun (vor
allem auch bei den Spätwerken) bei Max Frisch das Thema des Todes und
der Krankheit, seltener das Ausgeliefertsein des Menschen an die physischen
Kräfte der Natur eine Rolle spielen (wobei auch diese nicht immer einfach
als Schicksal hingenommen werden), ist es doch vor allem die
Einschränkung des Individuums durch die formierte Gesellschaft, die schon
früh auf den Widerspruch von Max Frisch stieß, der dann im „Öderland", im
„Don Juan", im „Philipp Hotz” und anderen Werken als anarchischer
Widerstand gezeichnet wird. In „Bin oder Die Reise nach Peking” gibt es
einen Menschen, der „erzählt nicht, wo er rühmlich, sondern wo er glücklich
gewesen ist. Und Glücklichsein, das gilt ja nicht als Leistung, die uns Ehre
einträgt” (I/632). Es geht um ein „Glück der morgendlichen Frühe,
9
10
11
12
Freud, [Anm. 2], S. 74
Freud, [Anm. 2], S.75
Freud, [Anm. 2], S.75
Freud, [Anm. 2], S.96
Erinnerung an ein götterhaftes oder kindliches Jungsein” (1,61O). Wer oder
was verhindert nun dieses Glück. Max Frisch ist da sehr vage:
Geld: das Gespenstische, daß sich alle damit abfinden, obschon es
ein Spuk ist, unwirklicher als alles, was wir dafür opfern. Dabei
spürt fast jeder, daß das Ganze, was wir aus unseren Tagen
machen, eine ungeheuerliche Schildbürgerei ist; zwei Drittel aller
Arbeiten, die wir während eines menschlichen Daseins verrichten,
sind überflüssig, also lächerlich, insofern sie auch noch mit einer
ernsten Miene vollbracht werden. Es ist Arbeit, die sich um sich
selbst dreht. Man kann das auch Verwaltung nennen, wenn man es
sachlich nimmt, oder Arbeit als Tugend, wenn man es moralisch
nimmt. Tugend als Ersatz für die Freude. Der andere Ersatz, da die
Tugend selten ausreicht, ist das Vergnügen, das ebenfalls eine
Industrie ist, ebenfalls in den Kreislauf gehört."(2,406, TB1)
Das ist natürlich eine Analyse, die nur einige Oberflächenelemente der
kapitalistischen Gesellschaft aufdeckt, den Zwang des Individuums, in
diesen „sinnlosen” Kreislauf einzutreten, aber in keiner Weise erklärt. Auch
das folgende Argument dürfte einem Arbeiter völlig unverständlich sein, der
arbeitet, weil er seine Arbeitskraft verkaufen muß, um überleben zu können,
und der die „Mehrarbeit” keineswegs freiwillig sondern unter der Drohung
des Verhungernmüssens verrichtet: „Das Ganze mit dem Zweck, der
Lebensangst beizukommen durch pausenlose Beschäftigung.” (2,406).
Frisch bewegt sich hier auf einer Argumentationslinie, die der Pascals sehr
ähnlich ist, der ebenfalls Arbeit und Vergnügen als ein Weglaufen vor den
eigentlichen, nämlich den religiösen Fragen sah. Nur durch die säkularisierte
Form unterscheidet sich Frischs Argument von diesem Mißverständnis der
bürgerlichen Leistungsgesellschaft. Ebenso unzulänglich ist daher sein
Ausweg, der in sich bereits den Keim von „Santa Cruz", „Öderland” und
„Don Juan” enthält: die folgende Überlegung steht wohl nicht zufällig
unmittelbar vor der ersten Skizze des „Graf Öderland”. Max Frisch fragt
sich, warum wir aus diesem „sinnlosen Kreislauf” nicht einfach ausbrechen:
Es genügte, wenn man den Mut hätte, jede Art von Hoffnung
abzuwerfen, die nur Aufschub bedeutet, Ausrede gegenüber jeder
Gegenwart, die verfängliche Hoffnung auf den Feierabend und das
Wochenende, die lebenslängliche Hoffnung auf das nächste Mal,
auf das Jenseits - es genügte, den Hunderttausend versklavter
Seelen, die jetzt an ihren Pültchen hocken, diese Art von Hoffnung
auszublasen: groß wäre das Entsetzen und wirklich die
Verwandlung. (2,2)
Richtig an diesem Argument ist, daß die Vertröstungen der Religion - und
auch die Freizeitreligion von Quelle und Neckermann ist eine solche
Religion - den Menschen geneigter machen, jede Art von Ausbeutung,
Sklaverei, Leibeigenschaft und Unterwerfung zu ertragen. Der Ungetröstete
ist der Wahnsinnnige, der Selbstmörder oder der Anarchist mit Dolch,
Schwert, Bombe und Axt. Die andere, und gewichtigere Komponente aber
ist die „Notwendigkeit", die „Einsicht", ohne die Zwangsarbeit ginge es
nicht: „Wir wissen schon", meint Freud, „daß die Kultur dabei dem Zwang
der ökonomischen Notwendigkeit folgt, da sie der Sexualität einen großen
Betrag der psychischen Energie entziehen muß, die sie selbst verbraucht.”13
Ein individualistischer Anarchismus glaubt von dieser Notwendigkeit
absehen zu können; ein deterministischer Ökonomismus dagegen macht
diese „Notwendigkeit” zum Fetisch, oder wie Freud zum „Realitätsprinzip",
an das das Ich sich anzugleichen habe. Beide laufen auf eine ständige
Oszillation zwischen Revolte und Assimilation hinaus. Denn da das
„Realitätsprinzip” ökonomische „Notwendigkeit” auch dort sieht, wo er
bereits gesellschaftlich gesehen nicht mehr nötig wäre, kann eine solche
Psychologie auf nichts anderes hinauslaufen als auf eine Anpassung ans
System. Nicht daß Freud das gar nicht gesehen hätte:
Dabei benimmt sich die Kultur gegen die Sexualität wie ein
Volksstamm oder eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere
unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der der
Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln. Einen
Höhepunkt solcher Entwicklung zeigt unsere westeuropäische
Kultur.”14
Man bräuchte bloß das „wie” wegzulassen und die Hypostase „Kultur” und
„Sexualität” aufzulösen, dann wäre das eine beachtliche Einsicht. Freud
selbst liefert auch die Argumente für die periodisch notwendige Revolte:
„Nur Schwächlinge haben sich einem so weitgehenden Einbruch in ihre
Sexualfreiheit gefügt.”15 Er sieht auch die katastrophalen Folgen einer
solchen Beeinträchtigung: „Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch
schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung
13
14
15
Freud, [Anm. 2], S.97
Freud, [Anm. 2], S.97
Freud, [Anm. 2], S.97
befindlichen Funktion”16 Aber da eben diese „Notwendigkeit", diese
„Realität” nicht näher untersucht wird, da ihre Betrachtung nicht zwischen
gesellschaftlich notwendiger Arbeit (einschließlich des gesellschaftlich
notwendigen Mehrwerts) und sinnloser, nur dem Profit dienender Arbeit
unterschieden wird, kann von einer solchen Position her (ob sie nun wie
Freud die Anarchie einfach für falsch hält oder wie Frisch sie grundsätzlich
bejaht), die Unterdrückung immer nur in zielloser Revolte, die Revolte
immer nur in fragloser Unterwerfung unter die „Realität” enden. Der
Ausbruch bleibt ein Kreislauf: der Rebell Pelegrin braucht die
Zuhausegebliebenen, die Arbeitenden, die Ordentlichen ebenso wie diese
von Pelegrin immer träumen müssen. Und am Ende bekommt Dorli ihren
Philipp Hotz wieder, weil er für die Fremdenlegion zu „kurzsichtig” war: es
ist auch wirklich nichts für ihn, was sollte der Intellektuelle in einer Welt
staubiger Legionäre und aufgepflanzter Bajonette, in der man einen
Gewehrkolben in den Rücken geschlagen kriegt, wenn man nicht marschiert.
(IV,453). Don Juan endet in der Ehe mit Miranda, gezähmt und zu den
Ausschweifungen der Geometrie nicht mehr tauglich. Es ist sogar als wollte
Max Frisch eben die Freiheit, die Don Juan anstrebt, die Freiheit von der
Frau und der Gesellschaft, die Freiheit der Geometrie, als unerreichbares
Ziel hinstellen; denn während er der Ehe mit Anna und Miranda entflieht,
fand er keine Ruhe zur Geometrie, nun da er im sanften Gefängnis der Ehe
schmachtet, fehlt ihm die Kühnheit der Kreativität und er reibt sich im
Alltäglichen auf. So notwendig der Ausbruch aus den Fesseln des
Konventionellen ist, so sehr die Freiheit selbst ein absolutes Gut ist, sie
scheitert an der größeren Notwendigkeit zu leben: „Ich habe nur die Wahl,
tot zu sein oder hier".(3,164). Vor genau derselben Wahl steht am Ende Graf
Öderland: „Sind Sie bereit, Herr Doktor, als Mörder hingerichtet zu werden,
oder ziehen Sie es vor, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen, die
Regierung zu bilden?” (3, 88). Der Kreislauf ist beendet: am Anfang
verbrannte der Staatsanwalt die Akten und Ordner, die für ihn die Arbeit in
der bestehenden Ordnung bedeuteten; dann sah ihn der Hellseher Mario
hinter schwarzen Ordnern mit weißen Etiketten: „überall sehe ich schwarze
Ordner mit weißen Etiketten, überall, und dahinter: - Angst … Angst,
Rauch, Blut … Ich sage es in jeder Vorstellung, die Leute werden blaß, aber
zum Schluß klatschen sie.” (3,37). Am Ende ist die Residenz bereit, die
Eingliederung des Anarchischen in die bestehende Ordnung vollzogen, und
der Präsident formuliert das Bonmot: „Wer, um frei zu sein, die Macht
16
Freud, [Anm. 2], S.98
stürzt, übernimmt das Gegenteil der Freiheit, die Macht, und ich verstehe
ihren persönlichen Schrecken vollauf.” (3,89)
Diese Art der Darstellung, die Macht als nicht abschaffbar ansieht und
Freiheit als Forderung zwar anerkennt, die Forderung aber für unerfüllbar
hält, es sei denn eben als Ausbruch, der notwendig in sein Gegenteil
zurückkehren muß, gibt uns bereits einen Hinweis auf die besondere Spielart
des Anarchismus, die als vortheoretisch bleibende gedankliche Struktur Max
Frischs fiktionale Welt strukturiert: nennen wir ihn einen extrem
individualistischen Anarchismus, der, indem er die sozialen Komponenten
des historischen Anarchismus in Frage stellt, eine wirkliche Veränderung
der gesellschaftlichen Totalität nach den Erfahrungen des Zwanzigsten
Jahrhunderts nicht mehr für möglich hält, sich auf jene abstrakte Revolte des
Nichts zurückzieht, deren Wurzeln im frühen neunzehnten Jahrhundert
liegen, gleichzeitig aber die „Unhaltbarkeit” dieser Revolte erkennt, und
daher neben ihrer Berechtigung immer auch ihr tragisches Scheitern
darstellen muß. Denn hinter dem Genre der Farce und der Komödie
versteckt sich jenes schrecklichere Scheitern, dem die Tragödie nicht
gewachsen ist. Das führt bei Frisch dazu, Sinn, Seiendes und menschliche
Existenz überhaupt zu verneinen, ihre Sinnlosigkeit in der Leere des Alls zu
erkennen: „ganze Milchstraßen ohne eine Spur von Hirn.”17
Der Keim des Öderlanddramas ist ohne Zweifel jener Abschnitt im ersten
Tagebuch, mit „Aus der Zeitung” überschrieben, der von einem Kassierer
berichtet, der nachts auf dem Weg zur Toilette mit der Axt „seine gesamte
Familie, inbegriffen Großeltern und Enkel” erschlägt: „einen Grund für
seine ungeheuerliche Tat, heißt es, könne der Täter nicht angeben.” Und
Max Frisch notiert sich dazu: „Unser Bedürfnis nach dem Grund: als
Versicherung, daß eine solche Verwirrung, die das Unversicherte des
menschlichen Lebens offenbart, unsereinen niemals heimsuchen kann”.
(2,4O3f). Die reine Destruktion, der es gleichgültig geworden ist, was sie
zerstört, die auch keine Gründe mehr hat, es seien denn die
allerallgemeinsten: das Bestehende als Ganzes. Nicht einmal Lust vermag
diese Destruktion mehr zu verleihen: sie ist selbst ebenso absurd wie das,
was sie zerstört, kann auch durch die Zerstörung von Bestehendem ihre
eigene Zerstörung nicht mehr wettmachen. Der Mord ist ebenso sinnlos wie
die Entlassung des Mörders aus dem Gefängnis, seine Wiederfestnahme und
sein Tod auf der „Flucht". Von diesem crime gratuit, diesem völlig
17
Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag,
1981, S.88 ( = suhrkamp taschenbuch 734)
willkürlichen und sinnlosem Mord, der eine ungezielte Revolte gegen alles
und nichts ausdrückt, ist Öderlands und Don Juans Revolte nur abgeleitet:
im Vergleich zu dieser „reinen” Destruktion ist Öderlands Anarchismus
bereits theoretisch höchst bewußt, fähig die Revolte zu artikulieren, hat Don
Juans erster Mord noch ein „sinnvolles” Motiv. Beide „begreifen” sich als
„eingesperrt” in eine sinnlose Ordnung, gegen die sie sich mit der Axt und
mit dem Schwert wehren. Eine Karikatur des revolutionären Anarchismus
des späten neunzehnten Jahrhunderts zeichnet Frisch in Biedermann und die
Brandstifter in den Charakteren Schmitz, Eisenring und dem intellektuellen
Theoretiker Dr. phil., der allerdings nur zu Worte kommt, um sich am Ende
von den andern beiden zu distanzieren: „Die machen es aus purer Lust.”
(IV,388). Obwohl Biedermann, augenscheinlich der kapitalistischen Klasse
zugehörig (er ist Millionär (IV,399)), die beiden Brandstifter als Vertreter
der untersten Klassen bezeichnet werden, geht es in diesem Stück ohne
Zweifel nicht um einen Klassenkampf; der wird zwar angesprochen, wenn
Eisenring die Tatsache, daß in Biedermanns Welt so selten einer
„geschnappt” wird, auf den „Klassenunterschied” (IV,364) zurückführt; dem
Dr. phil. werfen die beiden dann aber vor, er sei bloß so ein
„Weltverbesserer!" und er sei immer „so ideologisch, immer so ernst, bis es
reicht zum Verrat” (IV,368). Zwar werden allgemein und vage die
Rahmenbedingungen des Kapitalismus als Keimgrund der Anarchie
angesprochen - Schmitz und Eisenring sind (wie das Nachspiel ja deutlich
macht) aber eher Gestalten eines satanischen Anarchismus, der eine
„sinnlose” Freude hat „an Feuersbrünsten, an Funken und prasselnden
Flammen, an Sirenen, die immer zu spät sind, an Hundegebell und Rauch
und Menschengeschrei - und Asche”; eine mephistophelische Haltung, die
alles was existiert, als wert für den Untergang sieht. Die Ähnlichkeit mit
etwa Bakunins Anarchismus bleibt auf das Oberflächlichste beschränkt.
Zwar sieht auch Bakunin als Mittel der Revolution die „organisierte
Entfesselung dessen, was man heute die schlechten Leidenschaften nennt
und in der Zerstörung des in derselben Bourgeoissprache öffentliche
Ordnung genannten.” Aber er ruft die Anarchie aus als „Manifestation des
Lebens und der Aspiration des Volkes, aus der Freiheit, Gleichheit,
Gerechtigkeit, die neue Ordnung und die Kraft der Revolution selbst
hervorgehen sollen.”18 Die Feindschaft gegen alles, „was autoritäres
System, Prätention auf offizielle Leitung des Volkes ist”19 teilt Frisch mit
18
Michail Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, Hrsg. von
Horst Stucke, Ullstein 1972, S.73
19
Bakunin, [Anm. 18], S.72
Bakunin z.B. im „Öderland", die Hoffnung und das „Vertrauen in die
Instinkte der Volksmassen”20 kaum. Es bleiben in jedem Fall einzelne, die
bei Frisch anarchisch handeln, auch wenn Öderland schließlich unter dem
Zeichen der Axt Tausende anführt: die Köhler, die ihm vertrauten, läßt er am
Ende der 5. Szene mittellos und obdachlos zurück, Inge, die ihm von Anfang
an folgte, läßt er ausrichten, es sei jetzt „keine Zeit, um krank zu sein”
(3,63); er allein tritt aus der Kloake ans Licht und übernimmt schließlich die
Macht. Statt zur Macht des Volkes, der Abschaffung jeder Autorität kommt
es bei Frisch nur zum Ersatz einer Autorität durch eine andere, und zwar
nicht wegen einer verhängnisvollen Anlage des Staatsanwalts, einer bloß
persönlichen Schwäche, sondern notwendigerweise: der Rebellierende kann
schließlich nur überleben, wenn er die Macht an sich reißt: „Man läßt mir
keine Wahl. Ich habe keinen andern Ausweg mehr, Kind, als die Macht zu
ergreifen.” (3,66). Bakunin dagegen besteht darauf: „die Revolution, wie wir
sie verstehen, muß vom ersten Tag an den Staat und alle Staatseinrichtungen
radikal und vollständig zerstören.”21 Das bedeutet aber nicht, daß der „Graf
Öderland” überhaupt keine Bezugspunkte zum Anarchismus hat. Bakunin
selbst analysiert als eine der Formen des vortheoretischen, volkstümlichen
Anarchismus das Räuberwesen in Rußland, das mit der Handlungsweise
Öderlands und der im Volke lebenden Öderland-Legende einige Ähnlichkeit
hat: „Der Räuber ist ein Held, ein Verteidiger, ein Retter des Volkes. Er ist
der unversöhnbare Feind des Staates und der ganzen vom Staate errichteten
sozialen und bürgerlichen Ordnung; er ist ein Kämpfer auf Leben und Tod
gegen die ganze Zivilisation der adeligen Tschinowniks und
Regierungspopen.”22 Die Sympathie, die Öderland und selbst den
Lumpenproletariern Schmitz und Eisenring gegen die Staatsmaschinerie und
gegen den bürgerlichen Kapitalisten entgegengebracht wird, beruht darauf,
daß solche Räubergestalten Revolutionäre im Sinne des Volkes sind, „ohne
Phrasen, ohne Bücherrhetorik, ein unversöhnbarer, unermüdlicher und
unbezähmbarer Revolutionär der Tat, ein volkstümlich sozialer, aber kein
politischer und zu keinem Stande gehöriger Revolutionär”.23 Man hat in der
Sekundärliteratur Verbindungen von der Öderländerei zu dem
„Anarchismus” der französischen Revolte im Mai 1968, zur APO und zur
Stadtguerilla geschlagen; es könnte sich da natürlich höchstens um eine
Vorwegnahme Frischs handeln, der zukunftsträchtige Komponenten des
20
21
22
23
Bakunin, [Anm. 18], S.72
Bakunin, [Anm. 18], S.87
Bakunin, [Anm. 18], S.98
Bakunin, [Anm. 18], S.99
Zeitgeists gewisssermaßen vor dem Ereignis formuliert. Nach den Revolten
1968 hat sich Frisch bezeichnenderweise zu diesem Thema nicht mehr
geäußert, so als wäre er von den Ereignissen nicht nur überholt, sondern
auch gleichzeitig korrigiert worden. Natürlich gab es auch da individualanarchistische Komponenten, Zerstörungslust als existentielle Geste gegen
die Übermacht des Staates. Diese Komponente des APO-Anarchismus
formuliert z.B. „Bommie” Baumann in seinem Bericht „Wie alles anfing”:24
Die Macht der Ohnmächtigen kriegt doch gerade in ihren
spontanen Aktionen ihren klaren Ausdruck, aber das ist wirklich
eine Sache, die ist wirklich rein individuell. So ist ja auch der
Individualterror der alten Anarchisten zu erklären.25
„Bommie” Baumann besteht zwar darauf, daß diese Entwicklung innerhalb
einer „Massengeschichte” stattfindet, „ganz konkret in einer
Straßenschlacht. Da bildest du die Propaganda der Tat, indem du irgendwo
in einer Reihe stehst und Steine gegen die Knülche wirfst", 26 das
Entscheidende für ihn ist aber:
Die Revolution machst du ja auch für dich selber, die muß alle
Spektren enthalten, damit du dich darin entfalten kannst und
irgendwie in die richtige Bahn kommst, damit dich nicht wieder
kleinbürgerliche Geschichten zurückwerfen, je radikaler du
rausbrichst, um so besser eigentlich. Die herkömmlichen
Mechanismen, die auf die einwirken, sind viel stärker, als wenn du
für dich selber eine extreme Ausnahmesituation schaffst durch
irgend’ne Handlung, irgend’ne Tat, mit der kommst du dann doch
besser klar, weil du an irgendeiner Stelle das Handeln bestimmst.
Da wird nicht mit dir gemacht, sondern du hast noch Einfluß
darauf.27
Auch „Bommie” Baumann beruft sich übrigens über Mao auf die
Räuberbande als Urform anarchistischer Lebensweise: „Die theoretische
Grundlage war Mao ‘über die Mentalität umherschweifender
Rebellenhaufen’" .28
24
25
26
27
28
„Bommie” Baumann, Wie alles anfing, 2. Auflage, o.O., o.J.
Baumann, [Anm. 24], S.32
Baumann, [Anm. 24], S.32
Baumann, [Anm. 24], S.32
Baumann, [Anm. 24], S.55
Trotz solcher oberflächlichen Anklänge an die Tradition des politischen
Anarchismus von Proudhon, Bakunin, Kropotkin bis zu den „Haschrebellen”
und der „RAF", sollte man Max Frisch wohl eher in der Nähe einer anderen
Form des Anarchismus sehen, einer Variante, die das PolitischGesellschaftliche fast völlig vernachlässigt und fast ausschließlich am
vereinzelten Ich interessiert ist. Stammvater dieses in Intellektuellenkreisen
weit verbreiteten individualistischen Anarchismus ist ohne Zweifel Max
Stirner mit seinem folgenreichen Buch Der Einzige und sein Eigentum, das
etwa seit Anfang diese Jahrhunderts neben Nietzsches Werk wohl den
weitreichendsten Einfluß auf die rebellierende bürgerliche Intelligentsia
gehabt hat. Nun ist die Freiheit des Individuums ein zentrales Thema jeder
Form des Anarchismus. Dies gilt auch, wenn Anarchisten sich Attribute wie
kommunistisch, kollektivistisch oder syndikalistisch zulegen. Neben Anselm
Bellegarrigues Anarchistischem Manifest ist Stirners Buch aber wohl
Ausdruck jener entschiedendsten Form des Individualismus, mit der wir es
auch in Max Frischs „Öderländerei” zu tun haben. Stirners zentraler Satz
lautet: „Meine Freiheit wird erst vollkommen, wenn sie meine - Gewalt ist;
durch diese aber höre ich auf ein bloß Freier zu sein, und werde ein
Eigener”.29 Ähnlich entschieden formuliert Bellegarrigue:
… ich verneine alles, ich bejahe nur mich selbst; denn die einzige
Wahrheit, die mir materiell und moralisch, durch fühlbare,
wahrnehmbare und denkbare Beweise dargetan ist, die einzig
wirkliche, schlagende, nicht willkürliche und nicht der Auslegung
unterworfene Wahrheit bin ich selbst. Ich bin, das ist eine positive
Tatsache; alles übrige ist abstrakte Ableitung und fällt unter das
mathematische X, unter das Unbekannte: Es geht mich nichts
an.”30
Da die Gesellschaft aber das Individuum daran hindert, sich auf Grund
dieser Einsichten selbst zu verwirklichen, meint Stirner: „Ich muß mich
empören, um empor zu kommen”.31 Nur die Axt und der Degen, notfalls die
Bombe, verschaffen mir jenen Freiraum, den ich brauche: „Die Gewalt ist
eine schöne Sache, und zu vielen Dingen nütze; denn man kommt mit einer
Hand voll Gewalt weiter, als mit einem Sack voll Recht.’ Ihr sehnt euch
29
Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Charlottenburg 1911, Privatausgabe
für John Henry Mackay, S.163 (1845)
30
A. Belleguarrigue, „Anarchie ist Ordnung", aus: ders., „Manifest", L’Anarchie,
Journal de l’Ordre, No. 1, April 185O. zit. nach Oberländer, [Anm. 4], S.78
31
Stirner, [Anm. 29], S.246
nach der Freiheit? Ihr Thoren! Nähmet ihr die Gewalt, so käme die Freiheit
von selbst. Seht, wer die Gewalt hat, der ‘steht über dem Gesetze’."32 Der
„Egoismus", weiß Stirner, ruft uns „zum Selbstgenusse", während die
„Freiheit” bloßer romantischer Klagelaut ist. Dagegen ist die „Eigenheit”
eine Wirklichkeit, „die von selbst gerade soviel Unfreiheit beseitigt, als euch
hinderlich den eigenen Weg versperrt.”33 Aus dieser Haltung heraus kann
Öderland den Fahrer verspotten, als der ihn verraten und töten will. Für
Öderland gelten die moralischen Gesetze des Altruismus, der
Opferbereitschaft und des Dankes nicht mehr, er ist im Stirnerschen Sinn der
„Eigene", und daher dem Fahrer, der vor seiner eignen Tat Angst hat,
überlegen: „sie haben mit meinem Gewissen gerechnet, Sie haben gehofft,
sie können mich aufhängen an meiner Dankbarkeit … Ich fürchte das
Sterben kaum, aber ich opfere mich nicht, solange ich lebe - aber Sie
fürchten das Sterben, sehen Sie, und darum zittern Sie,” (3,67). Das Einzige,
was den „Eigenen” physisch zerstören kann, ist die Übermacht der Gegner.
„Ich aber gebe oder nehme Mir das Recht aus eigener
Machtvollkommenheit, und gegen jede Übermacht bin Ich der
unbußfertigste Verbrecher. Eigener und Schöpfer meines Rechts - erkenne
ich keine andere Rechtsquelle als - Mich, weder Gott, noch den Staat, noch
die Natur, noch auch den Menschen selbst mit seinen ‘ewigen
Menschenrechten’, weder göttliches noch menschliches Recht.”34 Das aber
ist die Position sowohl Don Juans als auch Öderlands. Vor Öderland bricht
schließlich der Staat mit seinen Gesetzen, Verurteilungen, Gerichten
zusammen. Der Gewalt ausübt und von den anderen nur Gewalt erwartet, ist
weder entsetzt noch gelähmt, wenn diese Gewalt auf ihn zukommt. Die
Gewalt des Staates erscheint ihm daher eher lächerlich in dem Bemühen, den
radikalen Anarchisten zu zähmen. Auf die Nachricht, man habe ihn zum
Tode verurteilt, antwortet der Staatsanwalt daher nur ganz sachlich: „Und
Sie sind die Herren, die mein Todesurteil unterschrieben haben?" (3,73).
Diejenigen, die aus Angst vor ihm die Mittel des Staates einzusetzen
versuchen, können ihm keine Angst machen. Wer diese Angst einmal
aufgibt, so erscheint es Max Frisch wie Max Stirner, dem kann keine Gewalt
mehr etwas anhaben, vor dessen eigener Gewalt erweisen sich die
staatlichen Zwangsmittel als Papierdrachen. Selbst die kleinen Mieter
bekommen den Mut zu sich selbst und schaffen sich so ihr eigenes Recht:
der Hausbesitzer, der zu einem Mieter ging, um die Kündigung
32
33
34
Stirner, [Anm. 29], S. 164
Stirner, [Anm. 29], S. 161
Stirner, [Anm. 29], S. 198
auszusprechen - „Was sein gutes Recht ist” - bekommt von seinem Mieter
zur Antwort eine kleine blecherne Axt gezeigt, Abzeichen der Öderländerei;
der Hausbesitzer, von Schrecken ergriffen, beschließt sein Haus zu
verkaufen. Dieser Anarchismus hat, noch stärker als andere Spielformen des
Anarchismus, eine stark antirationale Komponente. Vernunft, das
Vernünftige, die vernünftige Ordnung erscheinen ihm als „beschränkte
Freiheit”: denn „Herrscht aber die Vernunft, so unterliegt die Person”.35 Die
Vernunft, die „allgemeine Gesetze gibt", schlägt eben durch diese
allgemeinen Gesetze „und durch den Gedanken der Menschheit den
einzelnen Menschen in Bande”.36 Gegenüber der beschränkten Freiheit des
Liberalismus, der einerseits das Individuum als höchste Idee verherrlicht,
andererseits die Freiheit des Individuums dem sogenannten allgemeinen
Wohl unterwirft, sieht sich Stirners Anarchismus als konsequentes
Zuendedenken des antiautoritären Elements, das dem Bürgertum eigen ist.
Er übersieht, daß die konsequenteste Art dieses Anarchismus nicht Schmitz,
Eisenring und Öderland, nicht der Held Don Juan und nicht der kleine
Intellektuelle Hotz, auch nicht der Träumer Pelegrin ist, sondern
komischerweise der miefige Kleinbürger Biedermann: er allein tut, was
sonst nur Traum ist. Er folgt seinen eigenen Profitinteressen als absolut
„Eigener", als „Besitzer” nämlich, dem das Besitzen auch das Recht gibt,
das Stirner der Gewalt zuschreibt. Der perfekte Einzige nämlich, so stellt es
sich heraus, schafft sich seinen Freiraum nicht mit der Axt und dem
Schwert, sondern mit dem Kapital.
35
36
Stirner, [Anm. 29], S. 1O5
Stirner, [Anm. 29], S. 1O5
Herunterladen