Manfred Uschner Interview Mielkes - TP

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Mielkes Horchposten lauerten überall
Interview mit Dr. Manfred Uschner,
Persönlicher Mitarbeiter des Politbüromitgliedes Hermann Axen
Frage:
Herr Dr. Uschner, wenn Sie hören, daß Politbüromitglieder wegen der Toten und
Verletzten an der deutsch-deutschen Grenze wegen „Totschlag durch Unterlassen“
angeklagt worden sind, was assoziieren Sie da als langjähriger Mitarbeiter eines
Politbüromitgliedes, des verstorbenen Hermann Axen, und als kritischer Beobachter
dieses Gremiums, als der sie sich mit Ihrem Buch „Die zweite Etage –
Funktionsweise eines Machtapparates“ ja zweifellos ausgewiesen haben, als Erstes?
Dr. Uschner:
Ich kann nur Gorbatschow Recht geben. Er hat unmittelbar nach der Wende und
dann noch einmal im Zusammenhang mit den Politbüroprozessen betont, daß es vor
seinem Amtsantritt in der DDR keinerlei Möglichkeit gegeben habe, irgend etwas
Wesentliches zu verändern. Das betrifft natürlich auch das Grenzregime. Hinter
DDR-Grenzern standen ja sowjetische Divisionen und moderne Waffensysteme. Die
sowjetischen Militärs gaben den Ton an!
Frage:
Wie verhielt sich das nach Gorbatschows Amtsantritt?
Dr. Uschner:
Ich hatte seit April 1986 einen direkten informellen Kontakt in das Büro von
Gorbatschow, organisiert von Professor Wadim Sagladin über die extra in der DDR
postierten Journalisten Lew Jelissejew, der von Anatoli Kowrigin abgelöst wurde und
dieser wieder in der Endphase der DDR von Alexander Sjubenko. Sie waren
akkreditiert als Vertreter der „Neuen Zeit“ oder der Nachrichtenagentur „Nowosti“ in
Ost- und Westberlin. Sie suchten mich in bestimmten Abständen auf, um über meine
Kenntnisse der Lage und Stimmung in der DDR im Allgemeinen und in der SED im
Besonderen informiert zu werden. Es entwickelte sich auch ein enger familiärer
Kontakt. Es gibt Leute, die vermuten, daß die drei einem direkt Gorbatschow
unterstellten Geheimring namens „Lutsch“ („Der Strahl“) angehörten. Alle drei waren
aufgeklärte junge Leute, die auch Ende der 80er Jahre Kontakte in der sich
entwickelnden Bürgerbewegung der DDR aufbauten.
Sie verachteten die verbohrten Greise an der Spitze der DDR genauso wie ich. Sie
beurteilten die Mauer als Rettungsring des DDR-Regimes, aber auch als noch
vorläufig notwendige Grenzlinie zwischen NATO und Warschauer Vertrag. Sie
wussten um die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens und sahen richtig voraus,
was beim Fall der Mauer passieren würde.
Gorbatschow sitze noch nicht so fest im Sattel, um hinsichtlich der DDR-Führung
Veränderungen durchsetzen zu können, wenn dadurch militärisch die Westgrenze
des sowjetischen Machtsystems in Gefahr geraten könne, hörte ich von den
Moskauer Abgesandten immer wieder.
Das brauche seine Zeit, aber man arbeite daran. Dazu seien auch meine
Informationen aus dem inneren Machtzentrum und über die Stimmungslage in der
Bevölkerung sehr nützlich.
Jedoch es vergingen die Jahre 1986-88 und nichts passierte. Ich fragte meine lieben
Moskauer Freunde, woran das denn läge. Die Situation könne leicht außer Kontrolle
geraten. Ich merkte an den Reaktionen vor allem Kowrigins und Sjubenkos, daß
sowjetischerseits keine durchgreifenden Aktionen zu erwarten waren, daß
Gorbatschow zunehmend die Zügel entglitten und er schließlich unter den Einfluss
von teilweise recht undurchsichtigen Leuten geriet. Seine Fehler nahmen zu. Es
wuchs die Gefahr, daß die UdSSR selbst ins Schleudern geraten könne. Damit
verband sich die Gefahr einer plötzlichen Implosion der DDR, Polens und der
Tschechoslowakei, d.h. der „Westflanke“ Moskaus. An einem im Zusammenhang
damit ausbrechenden Bürgerkrieg und militärischen Konfliktes war man auch im
Westen, vor allem in den USA, nicht interessiert.
Frage:
Aus welchen Informationsquellen bezogen Sie Ihre Kenntnisse bzw. bedienten Sie
sich auch aus westlichen Informationsquellen?
Dr. Uschner:
Das erfuhr ich überraschender Weise im Mai 1988 in den USA. Als Mitarbeiter Axens
durfte ich ihn als Vorsitzenden einer Volkskammerdelegation begleiten, als er in
Washington und New York Vorträge hielt und mit namhaften Politikern der USA
zusammentraf. Bei einem großen Empfang in Washington wurde ich von den
amerikanischen Gastgebern an einen Tisch in einer hinteren Ecke des großen
Saales plaziert, fernab von den anderen Mitgliedern und Mitarbeitern der DDRDelegation und der DDR-Botschaft. An meinem Tisch saßen ausschließlich DDRund Ostexperten des State Departements und des CIA. Ohne viel Drumherum
begannen sie mit mir in brutaler Offenheit über den kommenden Zusammenbruch
der DDR zu sprechen. Kurz nach dem 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989
werde die DDR die akute Krise nicht mehr eindämmen können. Das müsse jedoch so
vor sich gehen, daß niemand die Nerven verliere und es nicht zu einem militärischen
Konflikt in Mitteleuropa komme, der sich rasch ausweiten könne. Man habe gute
Kontakte zu wichtigen Leuten in Moskau und in der DDR über 900 Spitzenagenten.
Frage:
Wie kam es, daß z.B. die Mitarbeiter des Ringes "Lutsch" oder die CIA so offen mit
Ihnen sprachen? Waren Sie auch deren Agent bzw. wollten sie Sie anwerben?
Dr. Uschner:
Von "Lutsch" hörte ich erst etliche Jahre nach der Wende. Die drei bereits namentlich
von mir genannten Journalisten waren mir von Prof. Wadim Sagladin,
stellvertretender Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen des ZK der
Kommunistischen Partei der Sowjetunion, zugeführt worden.
Die CIA brauchte mich nicht; sie hatte, wie ich ja in den USA erfahren hatte, genug
Agenten in der DDR und in Moskau. Man kannte aber meine Haltung, die sich im
Laufe der Jahre entwickelt hatte. Ich trug zudem mein Herz allzu sehr auf der Zunge,
und schon das machte mich für professionelle Geheimdienstarbeit sowieso
ungeeignet.
Man habe zwar schon vor Jahren überlegt, mich auch von der CIA anwerben zu
lassen, aber das wäre wohl bei mir - wie man inzwischen genau wisse - auf
kontraproduktive Reaktionen gestoßen. Außerdem sei ich schon lange im Visier von
Mielkes Leuten. Man kenne aber meine Verbindungen zum Büro Gorbatschow und
meine politischen Ansichten, aus sozialdemokratischen Quellen, aber auch von
DDR-Informanten.
Deshalb äußerten sie überraschend vertrauensvoll eine Bitte: Sie wüssten, daß ich
beim Grenzoberkommando der DDR in Pätz bei Königswusterhausen regelmäßig
Vorträge über die weltpolitische Entwicklung halten würde und dort mit den
Spitzenleuten sehr offen reden könne. Wenn es zum Aufruhr in der DDR komme,
solle ich nach Pätz fahren und die Grenztruppen veranlassen, noch etwa 6 Wochen
die Grenze stabil zu halten. Dann habe man mit den Sowjets alles Wichtige geregelt
und abgesprochen… Ich war mehr als erstaunt über diese Offenheit und das
Vertrauen. Aber eines wurde mir dabei schon damals klar: auch die USA sahen
amerikanisch-sowjetische Absprachen als Grundvoraussetzung für den „friedlichen“
Fall der Mauer und die Veränderung der Verhältnisse in der DDR an. DDR-Obere
würden nur mit- oder weglaufen können… Dazu kamen die Informanten, aber nicht
entscheidend Agierenden, weder auf der Straße, noch in den Apparaten!
Frage:
Wie dachte man im Politbüro?
Dr. Uschner:
An der Spitze der SED wurde jedes „Abirren“ von „der Parteilinie“, d.h. vom Kurs der
„Viererbande“ (Honecker, Mittag, Mielke, Hermann) mit oftmals brutaler Konsequenz
geahndet. Deshalb waren die Politbürositzungen auch stinklangweilig. Alles zu
Beschließende hatten die Beschlusseinreicher ja vorher als Vorlage an Honecker
geschickt. Wenn der sein „Einverstanden! „E.H.“ am rechten Rand der 1. Seite einer
Beschlussvorlage angefügt hatte, war sowieso alles gelaufen. Es gab also nur ganz
wenige Ausnahmen.
Frage:
Welche?
Dr. Uschner:
Zwei Beispiele sind mir in Erinnerung:
Da war der „Fall“ des 1. Sekretärs der SED - Bezirksleitung Berlin, Konrad Naumann.
Er war ein recht rüder Typ, der sich aber bei Auftritten in Berliner Großbetrieben
betont kumpelhaft gab. Das stärkte plötzlich seinen Einfluss, auch in der
Bezirksverwaltung des MfS, was ihm zu Kopf stieg. Er ließ öffentlich anklingen, er
würde eigentlich ein besserer Generalsekretär, als Honecker sein. Dieser war, wie
ich von einem Mitarbeiter Honeckers erfuhr, wirklich etliche Monate in Sorge.
Da brachte sich Naumann durch ein „dreistes“ Auftreten im beschwipsten Zustand
vor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED selbst um alle Chancen.
In seinem damaligen Vortrag kritisierte er, daß man den Künstlern der DDR alles in
den Rachen werfen würde, um sie zu halten, Westautos, Häuser, Westreisen u. ä.
Für die einfachen Bürger sei die Wohnungssituation dagegen prekär. Die SED-Spitze
kenne die wahre Lage überhaupt nicht.
Der Institutsdirektor berichtete umgehend. Kurt Hager (verantwortlich für Kultur und
Wissenschaften im Politbüro) gab den Bericht sofort an Honecker weiter. Es kam zu
einer lebhaften Politbürositzung, in der auch alle sonst Schweigenden, wie etwa
Hermann Axen, Naumann Unmoral und parteischädigendes Verhalten vorwarfen.
Naumann wurde einstimmig aus dem Politbüro und Zentralkomitee der Partei
ausgeschlossen und an das Landesarchiv in Potsdam strafversetzt. Seinem
Rausschmiss folgten keinerlei Aktionen aus der Berliner Parteiorganisation heraus…
Der zweite „Fall“ war der Herbert Häbers. Vom Direktor des „Instituts für
Internationale Politik und Wirtschaft“ zum Leiter der Westabteilung des ZK der SED
aufgestiegen, erregten seine produktiven und informativen Berichte über Gespräche
mit führenden Politikern der BRD die Aufmerksamkeit Honeckers. Auch einige
andere waren von den sehr interessant geschriebenen Berichten Häbers sehr
angetan. Häber wurde vom einfachen ZK-Mitglied in ungewöhnlich schnellem Tempo
zum Kandidaten und dann Vollmitglied des Politbüros „gewählt“.
Schon allein der schnelle Aufstieg Häbers stieß auf den Widerwillen und Neid vorher
gleichrangiger Funktionäre im Parteiapparat. Mielke und Mittag beargwöhnten den
wachsenden Einfluss Häbers auf die Gestaltung der Beziehungen der DDR zur BRD.
Häber wusste, daß die DDR nur eine – zumindest zeitweilige – Überlebenschance
hatte, wenn sie sich eigenständig mit der BRD arrangierte und eine wechselseitige
Annäherung vorantrieb. So handelte er auch. Das empörte Mielke und seinen
Apparat, aber auch besonders Günther Mittag, den Wirtschaftssekretär und
Haupteinflüsterer Honeckers. Die Stasi intrigierte mit immer größerem Aufwand
gegen Häber, Der Generalsekretär hatte aber einige Zeit Zweifel an deren Berichten,
in denen Häber als ein verkappter Westagent dargestellt wurde. Dann hätte er ja
„dem Feind“ in die Hände gearbeitet. Honecker zögerte einige Monate. Aber Mielke
und seine Häscher ließen nicht locker, gewiß mit Rückendeckung konservativer
Kreise in Moskau. Schließlich wurde Häber dann doch aus dem obersten
Parteigremium ausgeschlossen und in eine von der Stasi mit Wissen Honeckers und
anderer Politbüromitglieder gesteuerte psychiatrische Behandlung eingewiesen. Das
war einer der Methoden, mit denen Andersdenkende mundtot gemacht wurden,
natürlich im Machtapparat noch eher und aufwendiger, als etwa gegenüber
aufmüpfigen Kirchenleuten, die zudem den Rückhalt der Kirchen und anderer Kräfte,
auch der Medien der BRD, hatten. Einen solchen Rückhalt hatten ausgesonderte
Spitzenfunktionäre der SED nicht, vor der Wende überhaupt nicht und nach der
Wende nur vereinzelt und meistens sehr zurückhaltend. Entfernte Funktionäre
wurden von der Stasi weiter observiert oder in entsprechender Weise von
Vertrauensärzten der Stasi behandelt.
Erwähnen möchte ich auch, es ist fast ein Witz der Weltgeschichte, daß ich in der
zweiten Hälfte der 80er Jahre gerade beim Oberkommando der Grenztruppen in Pätz
bei Königswusterhausen auf Generale und Oberste traf, die konkrete Überlegungen
zum Sturz Honeckers, Mielkes und des gesamten vergreisten Politbüros der SED
anstellten. Man hatte dort die verlogene und phrasenhafte Parteipropaganda längst
satt und holte sich für „Weiterbildungslehrgänge“ Vortragende, die mutiger, als
andere waren, sich etwas trauten und Interessantes anboten. Ich sprach immer über
die weltpolitische Lage und insbesondere über Abrüstung und Entspannung. Als ich
einmal im Vortrag äußerte, daß ihnen diese letzten Endes Rang und Uniform kosten
könne, erntete ich lautes Gelächter.
In den Vortragspausen, beim Imbiß, im ganz kleinen Kreis um Politchef Lorenz,
Generalleutnant, wurde von Mal zu Mal offener geredet. Hohe Generale und selbst
Abwehroberste der Grenztruppen äußerten zunehmend Zweifel an der Fortexistenz
der DDR bei der im Amt befindlichen SED-Führung, die sich nun auch noch gegen
Gorbatschow und damit die Schutzmacht Sowjetunion gestellt habe. Da in der Politik
niemand agiere, müsse man wohl aus den Grenztruppen und der von Stasi-Leuten
(„Gruppe 2000“) und Honecker-Getreuen an der Spitze gesäuberten Nationalen
Volksarmee heraus zum richtigen Zeitpunkt das Berliner Stadtzentrum besetzen und
die existierende Führung festsetzen.
Darüber gäbe es schon lange vertrauliche Gespräche, von denen der Chef der
Grenztruppen, Generalleutnant Baumgarten, wisse. Natürlich brauche man dann
neue politische Köpfe und die Zustimmung Moskaus. In beiden Punkten gäbe es
leider Probleme. Es wurden zunehmend Zweifel daran geäußert, daß wichtige Leute
in der Umgebung Gorbatschow überhaupt noch eine Fortexistenz der DDR wollten
oder nicht vielmehr an einen Ausverkauf der DDR und eine Wiedervereinigung
dächten. In so einer unklaren Situation könne man nicht isoliert handeln. Das waren
frappierende Gespräche und Erlebnisse!
Frage:
Sie erlauben, daß ich hier Zweifel anmelde. Gerade Baumgarten hat im 1. PolitbüroProzeß als Zeuge ausgesagt, daß Dauerfeuer grundsätzlich nicht gegen das
Grenzgesetz verstieß und damit sogar den Zorn der Politbüromitglieder auf sich
gezogen. Er gilt eher als Hardliner.
Dr. Uschner:
Ja, Baumgarten geriet nach der Wende offenkundig unter den Einfluss und Druck
orthodoxer ehemaliger SED-Leute, die „Mein Panier heißt Ehre!“ auf ihre Fahne
schrieben. Dass er von Plänen in „seinen“ Grenztruppen gegen die vergreiste SEDFührung gewusst hat, durfte er da einfach nicht zugeben. Er sollte und wollte
schließlich das „Ansehen der Grenztruppen der DDR“ (ich frage mich, ob es je so
etwas wirklich gegeben hat!) nicht infrage gestellt sehen.
Natürlich habe ich Respekt vor jenen Generalen und Offizieren, die, hochgebildet
und zumeist Absolventen der Moskauer Generalstabsakademie waren, so offen und
mutig mit mir sprachen. Das waren keine Idioten. Natürlich glaubten sie an die
sozialistische Idee. Sie sahen aber auch, daß die DDR und die anderen Staaten des
Warschauer Paktes immer mehr ins Schleudern gerieten. Sie wollten die DDR retten,
aber eine neue, demokratisch ausgestaltete errichten!
Sie wussten, daß sie mit ihrem Dienst an der deutsch-deutschen Grenze den
Niedergang der DDR verhindern sollten. Sie waren aber in Zweifel geraten, ob das
noch lange so weiter gehen könne und solle. So, wenn immer häufiger sowjetische
Offiziere und Soldaten in die BRD zu flüchten versuchten und das sowjetische
Oberkommando verlangte, auf die Flüchtenden zu schießen!
Frage:
Wie verhielt man sich im Politbüro dazu?
Dr. Uschner:
Im Politbüro der SED wurden solche ketzerischen Gedanken nicht einmal im Ansatz
vorgebracht. Man setzte auf Hardliner in der UdSSR, die Gorbatschow schon wieder
verdrängen oder zur Ordnung rufen würden, wie etwa Ligatschow.
Der Ausbau der Kontakte zur BRD sollte das Ansehen der SED-Spitze in der eigenen
Bevölkerung und international aufbessern, was auch eine Zeitlang in gewissem
Umfange gelang. Ich durfte einmal in 20 Jahren als Mitarbeiter des im Urlaub
befindlichen Hermann Axen an einer Politbürositzung als „schweigender Gast“
teilnehmen. Es ging um das Projekt von SED und SPD zur Schaffung eines
atomwaffenfreien Korridors in Europa. Den Kurzbericht hierzu durfte nicht ich halten,
der in der Materie stand, sondern der Leiter der Westabteilung des ZK, G. Rettner,
der überhaupt nicht an den Verhandlungen mit der SPD teilgenommen hatte. Ich saß
am Katzentisch, wie auch die „neuen“, etwas jüngeren Mitglieder und Kandidaten
des Politbüros, alle nach „Hackordnung“ plaziert. Ich spürte den stechenden Blick
Mielkes in meinem Rücken und drehte mich zu ihm um. Mich unverwandt ansehend
sagte er in drohenden Tone: „Vergeßt nicht, Sozialdemokraten bleiben
Sozialdemokraten!“ Alle nickten beifällig, besonders der an diesem Tage die Sitzung
leitende Egon Krenz. Ich fühlte mich wie in einem Gruselkabinett, als ich die zumeist
verschlossen-ängstlichen Gesichter der anwesenden Politbürokraten beim
Herausgehen näher betrachtete…:
Frage:
Die Staatsanwaltschaft hat ja die Politbüromitglieder wegen „Totschlag durch
Unterlassen“ angeklagt. Sie hätten nichts dafür getan, das Grenzregime zu
humanisieren. War denn da nichts in eigener Regie möglich gewesen, auf eine
Humanisierung hinzuwirken, ohne eine Konsultierung der Staaten des Warschauer
Vertrages?
Dr. Uschner:
Es war durchaus möglich – nicht im Politbüro –, aber in Einzelgesprächen mit
Honecker in Fragen auf ihn einzuwirken, die mit seiner eigenen Interessenlage zu tun
hatten. So hat Axen mit Krenz, unserem neuen Büronachbarn (das langjährige
Politbüromitglied Verner war mit Anzeichen von Demenz ausgeschieden) und
Honecker über die Splitterminen an der deutsch-deutschen Grenze gesprochen. Die
Sozialdemokratie der BRD habe sich darüber sehr aufgeregt und das als Verletzung
der Menschenrechtskonvention gegeißelt. Das mindere das Ansehen Honeckers bei
führenden westdeutschen Sozialdemokraten und in der westdeutschen Öffentlichkeit.
Hinweise kamen wohl in gleicher Richtung aus München von Franz-Josef Strauß
über Schalck-Golodkowski. Es folgte kurze Zeit später ein Abbau der Splitterminen.
Frage:
War dafür nicht auch der Milliardenkredit ursächlich?
Dr. Uschner:
Jein! Er mag eine Rolle gespielt haben, wurde aber selbst nie in Anspruch
genommen! Er diente der DDR vor allem dazu, bei anderen westlichen Banken den
Eindruck von Bonität zu erzeugen und von diesen neue Kredite zu bekommen. Die
Linie Honecker/Mittag/Schalck zu Strauß war vor allem eine Linie höchst
vertraulichen politischen Informationsaustauschs und vielfältiger gemeinsamer
Wirtschaftsaktivitäten. Man ging gemeinsam zur Jagd, Strauß durfte zur „Leipziger
Messe“ mit seinem Privat-Jet einfliegen, DDR-Handwerker arbeiteten auf seinem
Hof, Geschenke gab es immer reichlich…
Da ging es bei den Kontakten zur oppositionellen SPD wesentlich spärlicher zu!
Aber die Meinung nicht nur der SPD, sondern der gesamten „Sozialistischen
Internationale“ war für Honecker perspektivisch wichtig. Letztere hatte auch gegen
die Splitterminen Front gemacht. Also drängte Honecker Stasichef Mielke und
Armeechef Keßler auf technische Grenzkorrekturen, die dann nach Abstimmung mit
den Moskauer Militärs realisiert wurden.
Frage:
In Ihrem Buch die „Zweite Etage“ schreiben sie davon, daß die Mächtigen selbst ihre
Ohnmachtsgrenze hatten. Jenseits von ihr sei es ihnen nur um ihre Machtstellung
gegangen, die stets Vorrang gehabt habe. Die Einsicht, daß es auch für das eigene
Leben und die Partei besser sei oder ganz und gar im Interesse der Partei rechtzeitig
zurückzutreten, hätte niemand gehabt.
War die schlichte Untätigkeit von Politbüromitgliedern, die ja vom Gericht im 2.
Politbüro-Prozeß gegen Häber u.a. festgestellt oder unterstellt worden ist, demnach
mehr Machtinteressen geschuldet denn Interessen gegenüber der Sowjetunion bzw.
des Warschauer Paktes?
Dr. Uschner:
Über Jahrzehnte hinweg hatten diese Leute an den Sieg der Sowjetunion und ihrer
Verbündeten im „weltrevolutionären Prozess" geglaubt. Dass diese
„Gesetzmäßigkeit“ keine war, glaubten sie bis zuletzt nicht. Axen hat mir nach der
Wende und nach der Haftentlassung in unserem einzigen Gespräch nach meinem
Rausschmiss aus dem ZK-Apparat am 20.02.1989 im Jahre 1991 voller
Überzeugung gesagt: „Wir haben eine historische Niederlage erlitten. Aber unsere
Enkelkinder werden sie überwinden!“
So verbanden sich Sendungsbewußtsein, pauschale „Treue“ zur Sowjetunion mit
dem persönlichen Machterhalt zu einer organischen Einheit. Man fühlte sich auf
vorgeschobenen Posten „Im Dienste der Sache“. Die damit verbundenen Privilegien
sah man als selbstverständliche Zutat, als zusätzliches Entgelt für die „angespannte
Arbeit zum Wohle des Volkes“.
Mit den zunehmenden wirtschaftlichen Problemen der DDR, die sich auch aus der
Verringerung der sowjetischen Erdöllieferungen ergaben, mit dem Eintreten von
Gorbatschow für Perestroika und Glasnost machte sich bei den meisten
Politbüromitgliedern eine Mischung von Lethargie und krampfhafter Verteidigung der
eigenen Machtpositionen breit. Die Stasi nutzte und förderte diese Entwicklung. So
schob man Axen eine Luxusdatsche in Born an der Ostsee unter, weil nach
beschafften ärztlichen Auskünften Frau und Töchter Axens dringend die jodhaltige
Luft der Ostsee bräuchten. Er selbst ist nur einige Male dort gewesen. Aber er hat es
trotz mancher „Bauchschmerzen“ hingenommen…
Oder Werner Jarowinski, im Politbüro für den Außenhandel tätig, hatte plötzlich statt
einem gleich mehrere Segelboote. Dass es hier um verdeckte Korruption ging, wurde
nur heimlich unter Mitarbeitern (auch der Stasi) diskutiert, teilweise recht verbittert!
Natürlich waren alle Politbürokraten überzeugt, daß Moskau die DDR niemals fallen
lassen würde. Deshalb könne und müsse ja auch die Mauer bleiben.
Axen hatte von meinen zunehmend kritischen Äußerungen über den Lebensstil der
Parteioberen gehört. Bei einem Rückflug 1988 von Prag nach Berlin raunte er mir in
seiner Chefkabine des Sonderflugzeuges zu, er wisse von meiner Meinung über G.
Mittag und kenne auch meine Auffassung, daß er selbst als ehemaliger KZ-Häftling
kaum bestraft werden könne, wenn er den Mund aufmachen würde über die
Zustände im Land, die Mauer und anderes. Wörtlich Axen: „Gewiß hast du in vielen
Dingen zu 90% recht. Aber vergiß nicht: ich bin schon ein alter Mann und recht
krank. Außerdem ist meine Frau querschnittsgelähmt. Auch uns würde es schlimm
ergehen, wenn ich aufbegehren würde. Alles weißt du auch nicht, und das ist besser
so! Halte auch du dich künftig mehr zurück, auch im Interesse Deiner Familie!“
Das war deutlich! So hatte Axen noch nie mit mir gesprochen. Aber seine tief in ihn
eingefressene Angst war deutlich geworden.
Die erlebte ich auch im Mai 1988 beim bereits erwähnten Aufenthalt der
Volkskammerdelegation in den USA, die eine USA-Reise Honeckers vorbereiten
sollte. Axen war so voller Furcht, etwas zu sagen oder zu tun, was andere im
Politbüro gegen ihn ausnützen könnten, daß er sich wie ein Nervenbündel verhielt.
Am zweiten Aufenthaltstag schrie er den Journalisten Steiniger vom „Neuen
Deutschland“ beim Frühstück wegen angeblich zu schwacher Berichterstattung der
Parteizeitung über Axens USA-Reise an, und das extrem cholerisch. Steinigers Frau
war am Tag zuvor gestorben, was Axen wusste. Deshalb ging ich dazwischen, schrie
ihn in scharfen Worten an und fragte, ob er keinerlei Schamgefühl gegenüber einem
Menschen habe, dessen Frau gerade gestorben sei.
Axen sagte mir auf dem Rückflug, ihm seien die Nerven durchgegangen, denn die
USA-Reise werde im Politbüro sorgfältig beobachtet. Wenn etwas schief gegangen
wäre, wäre es um ihn geschehen. Kurzum: auch für Axen ging es um den
persönlichen Machterhalt! Seine panische Ängstlichkeit wirkte schon peinlich!
Frage:
Diese Angst hatten alle Politbüromitglieder?
Dr. Uschner:
Mehr oder weniger ja! Einmal hat Alfred Neumann, Bronzemedaillengewinner im
Kugelstoßen bei der Olympiade von 1936, im Politbüro in seiner bekannten
polterigen Art eine Lobrede Mittags unterbrochen und ihn gefragt, ob er denn auch
noch ein paar Dachziegel in der DDR belasse oder alles in den Westen verscherbele.
Es hat wohl Gelächter gegeben, aber sonst änderte sich nichts!
Frage:
Wie war das mit den Mitarbeitern? Konnten sie etwas tun?
Dr. Uschner:
In gewissem Umfange und mit einigem Geschick – so der Wille und Mut vorhanden
waren – schon.
Nur ein Beispiel: Im Geburtstagsband zu Egon Bahrs 70. Geburtstag „Das
Undenkbare denken“ hat der „rechts“ positionierte Sozialdemokrat Erwin Horn
geschrieben: “Manfred Uschner zeigte sich als Kollege von erstaunlicher Offenheit.
Er nutzte seine Stellung, um menschliches Leid zu vermindern und hat mir in sehr
vielen Fällen bei Familienzusammenführungen geholfen; oft gegen den Widerstand
von Behörden im eigenen Bereich.“
Frage:
Wie lief das?
Dr. Uschner:
Ja, wie lief das? Nachdem mich Bahr und seine Mitstreiter kennen gelernt hatten,
gaben sie mir immer öfter einen Aktendeckel mit, der Bitten erhielt, DDR-Bürger zu
ihren erkrankten oder plötzlich allein stehenden Verwandten in der BRD zeitweilig
oder ganz ausreisen zu lassen. Anfangs zeigte ich diese Bitten Axen. Dann meinte
er: “Übernimm du das!“ Also rief ich z.B. den Sicherheitssekretär der SEDBezirksleitung in Dresden an und avisierte die Zustellung einer Bitte von Hermann
Axen an, deren wohlwollende Prüfung im Interesse der Partei und unserer
Verhandlungsführung gegenüber der SPD liegen würden. Der hat das dann über die
Stasi-Bezirksverwaltung geregelt. Zu oft durfte das natürlich am gleichen Ort auch
nicht geschehen. So habe ich auch einer namhaften Schauspielerin die Ausreise
nach München ermöglicht, wobei der damalige stellvertretende Kulturminister Höpke
half.
Ich weiß, daß auch andere Mitarbeiter so gehandelt haben, was nicht immer gut ging
oder, wie bei mir, nur für eine bestimmte Zeit! Das setzte aber ein bestimmtes
Verhältnis zu den Chefs voraus, nach dem Motto etwa „Wenn es schief läuft, habe
ich nichts gesehen und gehört!“ Eine sichere Rückendeckung hatte man nie. Aber
der Kultur- und Wissenschaftsverantwortliche im Politbüro, Kurt Hager, hat über
seine Mitarbeiter auch manches möglich gemacht!
In der Endphase der DDR verstärkten einige Politbüromitglieder ihre Kontakte zu
Moskau, etwa Krolikowski, Felfe, Jarowinski, zuletzt gar, um seine Haut zu retten,
Erich Mielke!
Volkskammerpräsident Sindermann nahm mich einmal beiseite und meinte: „So geht
es nicht weiter! Aber was können wir schon tun?“
Frage:
War diese Resignation allgemein in der Partei verbreitet?
Dr. Uschner:
Viele hofften in der SED und in der Bevölkerung auf den XI. Parteitag der SED, an
dem Gorbatschow teilnehmen würde. Es gab auch hoffnungsvolle Anzeichen. Die
Leipziger Parteitagsdelegierten hatten ein Buch über die Parteigeschichte in Leipzig
erhalten, in denen auch Krisen und der wahre Verlauf der Ereignisse vom 17. Juni
1953 dargestellt waren.
In der SED-Spitze herrschte Unruhe. So sollte der gehbehinderte Mittag
Gorbatschows Ehrenbegleiter sein, nicht der russisch sprechende Krenz. Honecker
wollte unbedingt die Rede Gorbatschows vorab haben und einen DDR-Dolmetscher
am nächsten Tag in die Dolmetscherkabine setzen. Doch die „sowjetischen Freunde“
spielten nicht mit. Honecker und alle Delegierten hörten die Rede erst, als sie
gehalten wurde und das über einen aus Moskau mitgekommenen russischen
Dolmetscher. Während der Rede, in der Geltungssucht, Realitätsferne und
abgehobener Lebensstil kritisiert worden war, herrschte absolute Stille im Saal.
Honeckers und seiner Vertrauten Köpfe wurden immer röter. Nach der Rede Stille.
Dann prasselnder Beifall der Delegierten, dem sich das Präsidium zögernd anschloß.
Das Bettuch schien zerschnitten.
In einer Parteitagspause wurde ich zu Axen gerufen, der mit Honecker und
Gorbatschow zusammenstand. Bei der Suche nach einem Thema, bei dem man
wenigstens annähernd übereinstimmte, war man auf das Projekt des
atomwaffenfreien Korridors zu sprechen gekommen. Gorbatschow sagte, seine
Experten würden in einer bestimmten Frage noch Abstimmungsbedarf sehen.
Lächelnd blickte er mich an und meinte, Genosse Uschner könne doch zu seinem
Beauftragten, Professor Sagladin, fliegen und noch jemanden vom Außenministerium
der DDR mitnehmen. Die Plätze im Flugzeug von Aeroflot seien schon gebucht.
War alles etwas merkwürdig! Aber gut: Wieder einmal nach Moskau! Dort
angekommen, wurden wir von alten Vertrauten überraschender Weise mit Eiseskälte
begrüßt.
Im Parteihotel „Oktjabrskaja“ erhielten wir die schlechtesten Zimmer, was immer ein
Signal für schlechte Beziehungen zwischen den Parteien war. Statt den Termin bei
Sagladin wahrzunehmen, sollte ich ein Revolutionsmuseum besichtigen. Es war klar:
Die SED galt zu diesem Zeitpunkt in Moskau als Feind Gorbatschows, und daß es da
noch andere gab, war noch nicht „durchgestellt“ worden. Also wandten wir das an,
was wir die „koreanische Methode“ nannten: wir sprachen gegen die Zimmerdecke,
wo wir die Wanzen vermuteten und lobten Gorbatschow über den grünen Klee,
während wir Honecker und Mittag madig machten. Schon Stunden später hatten wir
bessere Zimmer. Und der Termin „Morgen 9 Uhr im ZK“ (den man schon Bahr und
Voigt hatte zuschieben wollen, die wir in der Lobby des Hotels unter einer der
Kunstpalmen entdeckt hatten), stand auch wieder.
Frage:
Wurde er ein Erfolg?
Dr. Uschner:
Professor Wadim Sagladin schaute mir sehr tief in die Augen, als er uns in sein
geräumiges Arbeitszimmer bat. Die von Gorbatschow angesprochene Frage hatten
wir in 10 Minuten geklärt. Dann bat ich Sagladin, ihn unter vier Augen sprechen zu
dürfen. Er verstand und nickte. Ich sprach 3 Stunden, er eine, während sich im
Vorzimmer die Leute drängelten.
Ich hatte an diesem Tage das, was man bei Homosexuellen ein „Coming out“ nennt.
Alles, was sich in mir seit Jahrzehnten angestaut hatte an politischem Frust beim
Parteiausschluß meines Vaters, dem Tod meines Bruders infolge Lagerhaft, in der
Erinnerung an den XX. Parteitag der KPdSU, an die Invasion in der CSSR und an 18
Jahre Arbeit im Parteiapparat der SED, brach aus mir heraus. Ich beschrieb Sagladin
die zugespitzte Lage in der DDR, die Gorbatschow-Feindschaft der Führung. Als ich
fertig war, kam er um den Konferenztisch herum und umarmte mich weinend. Ja, es
würden schlimme Zeiten auf uns alle zukommen. Gerade deshalb müssten die
„Aufgeklärten“ und „Ehrlichen“ zusammenhalten. Man werde zu diesem Zwecke
schon in Kürze immer einen sowjetischen Journalisten in meiner Nähe postieren, der
im Auftrage des Generalsekretärs und in seinem Auftrage handele. Man würde mich
absichern, trotzdem müsse ich vorsichtig sein. Aber an meinen Lagebeurteilungen
sei man zutiefst interessiert. „Eure Greise sind wirkliche Arschlöcher, aber gefährlich.
Michail muß erst hier bei uns im Lande seine Positionen festigen, ehe bei Euch mit
Eurer sensiblen Grenze etwas geschehen kann. Es ist noch unsicher, ob wir
erfolgreich sind. Übe dich in Geduld. Wenn wir durch unbedachte Schritte die
Berliner Mauer öffnen, bricht alles zusammen wie ein Kartenhaus! Der gesamte
Warschauer Pakt! Dann kann die Bundeswehr letzten Endes vor Moskau oder
zumindest vor unseren Grenzen stehen! 4 – 5 Jahre werden wir benötigen, wenn
nichts schief geht. Aber vielleicht entsteht auch eine günstige Gelegenheit!“
Total aufgewühlt flog ich nach Berlin zurück. Dr. H., mein Begleiter vom DDRAußenministerium, hatte geduldig die 4 Stunden im Vorzimmer Sagladins gewartet.
Ihm war klar, daß etwas Besonderes vorgefallen sein musste, fragte aber nicht
weiter.
In Berlin ging es direkt vom Flugplatz Schönefeld in das ZK-Gebäude (heute
Auswärtiges Amt). Dort dachte ich, daß mich der Schlag trifft. Schon beim Betreten
der Politbüroetage fragten mich Mitarbeiter Honeckers, ob ich es denen in Moskau
„mal ordentlich gegeben“ hätte. Was sich Gorbatschow auf dem XI. Parteitag der
SED geleistet habe, sei unverfroren gewesen. Diesen „grünen Jungen“ müsse man
erst einmal mit „der kollektiven Weisheit von Bolschewisten“ konfrontieren, wie sie in
der SED-Führung vorhanden sei. Ich erschrak: Welch eine gespenstische,
weltfremde Szenerie! Immer war uns eingetrimmt worden: „Von der Sowjetunion
lernen, heißt siegen lernen!“ und „Ohne die Sowjetunion sind wir nichts!“.
Man verwies auf Äußerungen von Portugalow, Dassitschew und Schewardnadse und
brachte sie sehr schnell mit dem Wort „Verrat“ in Verbindung. Hanna Wolf, die
ehemalige Parteihochschuldirektorin, nun „persönliche wissenschaftliche
Mitarbeiterin Honeckers machte allen Hoffnung: Ligatschow (ein Hardliner) werde
sich schon durchsetzen.
Frage:
Das ist ja bekanntlich letzten Endes nicht geschehen.
Dr. Uschner:
Als ich 1988 im Herbst – aus Bonn von Gesprächen mit Egon Bahr kommend –
abends noch zu einer Parteiwahlversammlung in das ZK fuhr, wankte mir die
Sekretärin des früheren sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten
Mückenberger, nun Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission,
kreidebleich entgegen. „Was ist denn los, ist dir schlecht?“ fragte ich die Frau im
mittleren Alter. „Manfred, die wollen sich auf einem vorgezogenen XII. Parteitag noch
einmal wählen lassen. ich kann nicht mehr!“
Wutentbrannt betrat ich in den Versammlungsraum. Fast zuletzt berücksichtigte man
meine Wortmeldung. Ich fragte, ob man denn überhaupt noch die Stimmung der
Bevölkerung kenne? Was nutze eine friedliche Außenpolitik, wenn die Innen- und
Wirtschaftspolitik die DDR destabilisiere? Woher die vielen Ausreiseanträge kämen,
fragte ich und wie lange dies die DDR aushalten könne. Schweigen im
Versammlungsraum, aber etliche Kollegen folgten mir in mein Arbeitszimmer und
klopften mir kräftig auf die Schulter. Andere warnten: „Das wirst du wohl nicht
überstehen!“
Am nächsten Morgen gleich ein Anruf vom Parteisekretär der Politbüroetage,
Joachim W., „zweiter“ Mitarbeiter bei Honecker und eigentlich recht aufgeschlossen –
im Gegensatz zum 1. Mitarbeiter Frank-Joachim Hermann. „Du wirst wohl selbst
wissen, daß die Abschiedsglocken für Dich schlagen. Der Countdown läuft! Hanna
Wolf arbeitet schon am Bericht, und die Organe sind aktiviert!“
Einen Tag später tagte die zentrale Parteileitung unter dem früheren Nazi und nun
Kaderchef des ZK der SED, Fritz M., der zu Honecker gerufen worden war. Honecker
habe ihm wütend erklärt, in „seinem Hause“ gäbe es Leute und Stimmungen, die er
nicht dulden werde, also Anhänger von Gorbatschow. Einer der schlimmsten „Fälle“
sei der persönliche Mitarbeiter Hermann Axens, Manfred Uschner. Er und
seinesgleichen hätten im ZK-Apparat nichts zu suchen. Das sei – aber ohne großes
Aufsehen – in der Parteiorganisation unverzüglich auszuwerten. Danach wurde die
Parteiorganisation gleichgeschaltet und unter verstärkte Kontrolle der Stasi gestellt.
Eine Säuberungswelle erfaßte 64.000 Mitglieder und Funktionäre der SED. Ich war
nur einer davon!
Aber die letzten Jahre war schon am immer häufigeren Auswechseln der
Telefonbücher und an der Verteilung von „Änderungen“ mit „Zugängen“ und
„Abgängen“ erkennbar geworden, daß es aufmüpfige Mitarbeiter und vor allem
Anhänger von Gorbatschow gab, die kurzerhand entfernt wurden.
Frage:
Und das wurde von Moskau geduldet?
Dr. Uschner:
Moskau erwies sich als machtlos, das zu verhindern, und die PDS zeigte nach der
Wende keinerlei Interesse an diesen Menschen, die ihr Andersdenken und ihre
aufrechte Gesinnung vor dem Fall der Mauer offenbart hatten. Leute, die
geschwiegen hatten oder die Säuberungen mitgetragen hatten, verblieben bei der
SED/PDS, auch in ihrem Apparat noch einige Zeit und teilweise bis heute.
„Getreue“ Kommunisten sind gefragt!
Nachdem man 1968 3 ½ Stunden unter Leitung von Fritz M., dem Kaderchef,
aufbrachte, um mich unter Vorwänden und mit Drohungen für eine „befristete Zeit“
ins ZK zu holen, brauchte man nun, am Montag, den 20. Februar 1989 ganze 5
Minuten, um mir meinen Rausschmiss zu verkünden. Am Freitag zuvor war Egon
Bahr bei Axen im ZK gewesen und hatte sich sehr kritisch über die innere
Entwicklung der DDR geäußert. Ich war ihm, wie so oft, auf die Toilette gefolgt (zum
Flugplatz nach Tegel durfte ich ihn schon nicht mehr begleiten) und
merkwürdigerweise kam an diesem Freitag abend Erich Honecker um 19.30 Uhr
(absolut ungewöhnlich) auch auf diese Toilette und bemerkte: „Seltsam, wen man
hier alles trifft!“
Ich diktierte der Sekretärin noch den Vermerk über das Gespräch. Es war mein
letzter dort. Am 18.02.1989 früh um 9 Uhr wurde Axen von Honecker in seinem
Wandlitzer Domizil angerufen. Honecker verlangte meine sofortige Entfernung und
gab seine Absicht bekannt, mich in den Stasiknast Hohenschönhausen einliefern zu
lassen. Der geschockte Axen, der meine Arbeit bei ihm in den letzten Jahren
zunehmend schätzen gelernt hatte und wusste, wem er manchen Erfolg in den
Abrüstungsgesprächen mit der SPD zu verdanken hatte, der mir auch persönlich viel
Freiraum gelassen hatte, widersprach heftig. Eine Inhaftierung würde Aufsehen
erregen bei der SPD und Gespräche erschweren oder beenden. Nach einigem Hin
und her stimmte Honecker Axen zu, daß die „übliche stille Lösung“ die bessere
Variante sei: Sofortige Entlassung ohne Benennung der wahren Gründe,
Strafversetzung an die Akademie der Wissenschaften, strikte Kontrolle durch die
Stasi, Berufsverbot als Diplomat, Außenpolitikwissenschaftler und
Abrüstungsexperte, Ersetzung Uschners durch einen „zuverlässigeren Genossen“.
Das war dann mein früherer Sektorenleiter, Prof. Dr. Joachim B.
Am 20.02.1989 – Axen hatte das Wochenende aufgeregt und ohne etwas zu essen,
wie mir seine Familie und Wachpersonal berichteten – kam er früh in meinen
Arbeitsraum: Fast väterlich raunte er mir zu: “Um 15 Uhr findet bei mir eine streng
geheime Beratung statt, na, das kennst du ja! Bis dahin ruhe dich etwas aus!“
Merkwürdig war nur: Meine Telefonverbindungen waren gekappt, ich bekam keine
Zeitungen zur Auswertung. Nun war klar: Es ist soweit! Von 7.45 Uhr bis 15 Uhr saß
ich allein in meinem Raum an einem leeren Schreibtisch und wartete auf die
„Urteilsverkündung“. Nur meine Sekretärin flüsterte mir, als ich mal zur Toilette
musste, auf dem Korridor zu, der andere Mitarbeiter und die Sekretärinnen seien zu
15.10 Uhr zu Axen bestellt worden. Ex-Nazi M., und zum damaligen Zeitpunkt
Kaderchef des ZK, sei den ganzen Vormittag immer wieder mit als „Geheim!“
gekennzeichneten Aktenheftern zu Axen gegangen.
Punkt 15 Uhr betrat ich das große Arbeitszimmer Axens zum letzten Mal. Axen saß
hinter dem Schreibtisch mit hochrotem Kopf und lauter kleinen blauen Zetteln in den
Händen, von denen er abzulesen begann: „Manfred, dir müssen die
Abrüstungsgespräche zu Kopf gestiegen sein. Sonst könnte ich mir nicht deine
unverschämte Kritik an führenden Genossen erklären. Offensichtlich bist du dem
Einfluss der Sozialdemokratie erlegen. Du bist ab sofort fristlos entlassen, hast deine
Sachen zu übergeben, vor allem die streng vertraulichen, und das Haus unverzüglich
zu verlassen!“
Frage:
Wie haben Sie reagiert?
Dr. Uschner:
Ich war nicht überrascht. Aus ihrer Sicht hatten die da ja Recht. Ich war in wichtigen
Fragen nicht oder nicht mehr ihrer Meinung. Ich blieb auch ganz ruhig. Ich fragte den
Kaderchef: „Nennt mir doch wenigstens nur ein Beispiel für mein Fehlverhalten!“ M.
antwortete harsch: „Ach, was soll das! Da sind über Jahre Tausende von Dingen
zusammen gekommen! Du müsstest nur mal mit Hanna Wolf reden (das war die
ehemalige Parteihochschulsekretärin und nunmehr wissenschaftliche Mitarbeiterin
bei Honecker), aber das willst du ja nicht! Schade ist nur, daß es jetzt schwer für
Hermann wird, der dich gerade jetzt bei den Abrüstungsgesprächen bräuchte!“ Unter
beifälligem Nicken von Axen fügte er in gespielt kumpelhaftem Ton hinzu: „Was dir
jetzt passiert, ist Millionen in unserer Bewegung in viel schlimmerer Weise passiert.
Du kannst froh sein, daß dich Hermann vor Schlimmeren bewahrt hat. Du wirst an
die Akademie der Wissenschaften zu Professor Buhr versetzt mit halbem Gehalt. Alle
Einzelheiten klärt dann die Kaderabteilung!“ Ich ging hinaus und schrie erst zu Hause
meine Wut heraus.
1991 traf ich den „Kadermüller“ im Wartezimmer einer Zahnärztin. Ich setzte mich
absichtlich auf den freien Stuhl neben ihn. Mit leiser, heiserer Stimme sagte er: „Du
willst gewiß mit mir nichts mehr zu tun haben. Das verstehe ich. Aber was sollten wir
denn damals machen. Gegen die Stasi-Abteilungen kamen wir doch nicht an! Die
haben doch eure richtigen Personalakten geführt. Und da lag sehr viel gegen dich
vor!“ Später, als Nazi enttarnt und nach Uschner befragt, verwehrte er Reportern von
„Kontraste“ den Zugang zu seiner Wohnung, spielte seine Nazivergangenheit
herunter und bezeichnete mich als „Schwein, den man niemals in die Partei hätte
aufnehmen dürfen.“ Dabei hatte er mich doch zur Arbeit im ZK genötigt. Übrigens die
gleichen Urteile gaben die älteren Herren von sich, die als Zuschauer am Prozess
gegen Häber meine Zeugenaussage hörten.
Frage:
Sie kamen ja eigentlich aus der Wissenschaft und wollten nie in die Politik?
Dr. Uschner:
Ja, plötzlich erinnerte man sich bei meinem Rausschmiss wieder daran und erzählte
auch den SPD-Vertretern um Egon Bahr auf der meinem Rausschmiss folgenden
ersten Sitzung der gemeinsamen sicherheitspolitischen Arbeitsgruppe von SED und
SPD, Manfred Uschner sei in die Wissenschaft zurückgekehrt. Das habe er ja immer
gewollt. Er sei ja nur zeitweilig „ausgeliehen“ worden. Ich weiß heute, daß es da kein
Anzweifeln und kein Nachfragen seitens der SPD-Vertrauten gab.
Frage:
Keine Nachfragen, Bemerkungen oder ähnliches?
Dr. Uschner:
Nein, ich hatte ja mal auf eine verdeckte Kontaktaufnahme oder eine Nachricht
gewartet, etwa einen Briefkasteneinwurf über einen Kirchenmann abends im
Dunklen. Ich habe dann im Frühsommer dem italienischen Handelsvertreter Antonio
Grimaldi eine ganz klein auf einem Zettel geschriebene Botschaft an Karsten D. Voigt
in Frankfurt/M. mitgegeben, die diesen auch erreichte. Grimaldi hatte sie voller Angst
in seinem Slip in die BRD transportiert.
Als danach über die amerikanische Botschaft in Ostberlin ein Kontaktversuch
gestartet wurde, brannte wenige Tage danach unser PKW „Wartburg“ vor dem
Kindergarten unseres Sohnes. Eigentlich, so die Mitteilung eines Abgesandten der
„Hauptabteilung Aufklärung“, sollte der PKW nachts in der Garage explodieren und
unseren im Kinderzimmer darüber schlafenden Sohn töten. Man sei davon
ausgegangen, daß „Uschner danach keine Politik mehr macht“!
Das alles war schon schockierend, widerspiegelte aber auch die Nervosität und
zunehmende Perfidie des Regimes. Der Sommer 1989 war durch die Abwesenheit
Honeckers, die totale Lähmung der SED-Führung – seltsamer Weise vom
schwerkranken Mittag statt von Krenz (was eigentliche Beschlußlage war) „gelenkt“ die Zunahme der Botschaftsbesetzungen und Tausende Ausreiseanträge
gekennzeichnet. Die Führungsetagen von Stasi und SED bekamen nun mit, daß es
doch für sie ein baldiges Ende geben könne. Die Stasi-Generalität las bereits das
Buch „Geheimakte Odessa“, in welchem die Absetzaktivitäten der Nazioberen bei
Ende des 2. Weltkrieges beschrieben worden waren. Man hatte in der BRD ganze
Auflagen für die kostbaren Valuta aufgekauft!
Frage:
Dann kam der heiße Herbst, wie er Ihnen nach Ihrer Schilderung von den
Amerikanern im Mai 1988 angekündigt worden war!
Dr. Uschner:
Ja, ich nahm an allen Demonstrationen teil, am 4. November 1989 auf dem
Alexanderplatz, an den Demonstrationen vor dem Gebäude des ZK. Da stand ich
nun in Jeans und Lederjacke auch jenen gegenüber, mit denen ich rund 20 Jahre im
gleichen Gebäude zusammen gearbeitet hatte. Sie mischten sich auftragsgemäß
„unter die Genossen“, um „beruhigend zu wirken.“ Da war aber nichts mehr zu
beruhigen! Vor dem ZK-Gebäude standen bei jeder Demo und Kundgebung viele
tausend vor allem jüngerer Leute aus der Akademie der Wissenschaften, aus der
Humboldt-Universität und dem Werk für Fernsehelektronik voller Empörung den
Parteioberen gegenüber. Sie kamen mit Zustimmung ihrer Parteileitungen, gegen
den Willen des ZK und verlangten durchgreifende Reformen und personelle
Veränderungen. Auf den Stufen des ZK-Haupteinganges klagten wir erst Schabowski
und dann Krenz an, die Dinge nur aussitzen und verzögern zu wollen. Das DDRFernsehen war da und übertrug live!!! Das Ende der nun Ohnmächtigen war nahe!
Die Mitarbeiter der „zweiten Etage“ hielten sich – mit einer Ausnahme – von mir fern
und sahen von weitem auf mich wie auf einen Feind.
Gary Bindenagel, amerikanischer Gesandter in der Ostberliner USA-Botschaft, der
mich Ende 1989 einlud und dem ich davon erzählte, sagte mir lachend: „Natürlich
waren Sie in diesem Moment deren Feind! Die haben bis zum Schluss mitgemacht
und Sie nicht! Die werden sich nie bei Ihnen entschuldigen oder Ihnen Genugtuung
widerfahren lassen. Diese KPD-Leute und Kominternerben haben noch nie einen von
ihnen Bestraften wirklich rehabilitiert und entschädigt. Die lassen Sie auch an keinen
ihrer Schreibtische zurück. Sie werden es erleben! Und die Bürgerrechtler werden
Ihre Vergangenheit einseitig beurteilen und Ihre Sachkompetenz und Ihre
Verbindungen fürchten! Man will keine ehemaligen SED-Leute und wird
propagandistisch alle in einen Topf werfen. So war es denn auch!
Markus Wolf, am 4. November 1989 bei der großen Kundgebung auf dem
Alexanderplatz ausgepfiffen, half noch bei der personellen Rettung der SED/PDS.
Dann landete er im „Ältestenrat“ der PDS. Gerade Wolfs „leiser Abgang“ nach
Moskau und vorher schon Häbers Abschuß hatte viele nachdenklichen
Parteifunktionäre gelähmt. Sie wollten ja eine bessere DDR und keinen
bedingungslosen Anschluß an die BRD, wie er dem Mauerfall folgte.
Tausende kluger und volksverbundener Funktionäre wurden unter den
fadenscheinigsten Gründen in der Parteigeschichte der SED aus ihren Funktionen
entfernt, nicht wenige von ihnen inhaftiert oder massiv bedroht.
Darüber wird in der PDS kaum gesprochen, und den Bürgerrechtlern ist dieses
Thema, wie ich auf vielen Nachwendeveranstaltungen erleben konnte, völlig obsolet.
Dabei ist nicht neu, daß diktatorische Machtcliquen vorrangig ihre Umgebung
überwachen. Die meisten Arbeitsräume im ZK waren verwanzt, aber selbst die
Räume des Politbüropavillons im Regierungskrankenhaus in Buch, auch die Suiten
von Honecker und Mielke! Eine Tochter Hermann Axens beschrieb mir erst kürzlich,
daß sowohl Axens Haus in Wandlitz (Haus 21), wie auch das Grundstück in Born in
jedem Raum total verwanzt war, also auch die Schlafzimmer und Toiletten. Man kann
sich denken, was die STASI bei einem Besuch von Egon Bahr in Born alles
mitgeschnitten hat…
Die Familie Hermann Axens – und das ist der Gipfel – musste sich in der Wendezeit
bei der Auflösung der Grundstücke das laute Lachen und hämische Bemerkungen
eben jener Stasi-Experten anhören, die all die Gerätschaften eingebaut hatten! Noch
Fragen zum Verhältnis von Partei und Stasi?
Frage:
Erzählen Sie ruhig weiter...
Dr. Uschner:
Zwei Stasi-Mitarbeiter meldeten sich 1985 bei mir in meinem Arbeitsräumen des ZK.
Sie wiesen sich aus und erklärten, sie hätten den Befehl – in Abstimmung mit dem
Hauskommandanten – durch mein Zimmer hindurch eine Abhörleitung in den
Gesprächsraum zu legen, in dem am nächsten Tag Axen erstmals mit Bahr sprechen
wollte. Als das Krenz und Herger (letzter Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen im ZK)
das mitbekamen, hielten sie das für Unsinn und bliesen die Aktion nach Rücksprache
mit Axen ab. Die beiden Stasileute packten ihre Technik wieder zusammen und
sagten beiläufig: „Sollten die ihre Meinung wieder ändern, wir sind ja jede Nacht hier
im ZK tätig. Wir haben zu allen Räumen und Safes Nachschlüssel!“
Wenn Bürgerrechtler über die Stasi als „Schild und Schwert der Partei“ sprechen,
lassen sie diesen Grundtatbestand absichtlich außen vor: Die Stasi konnte in jeden
Raum der Partei hinein, sogar in die Safes. Zwei Stunden nach jeder Politbüro- und
Sekretariatssitzung hatten die Abteilungsleiter des MfS die Protokolle abgeschrieben
auf ihrem Tisch. Und umgekehrt? Niemand, selbst Honecker nicht, hätte
unkontrolliert in Räume der Stasi gelangen, an Safes und Aktenunterlagen des MfS
herankommen können. Die Partei hatte auch gar nicht die materiell-technische Basis,
um die Stasi überwachen zu können.
Frage:
Ist das nicht eher eine Rechtfertigung, daß die Stasi die Partei und nicht umgekehrt
die Partei die Stasi in der Hand hatte?
Dr. Uschner:
Nein, immer nach 1917 hatten die geheimen Unterdrückungsapparate die Partei
unter Kontrolle, legten Dossiers an, arbeiteten falsche Beschuldigungen aus und
betrieben auf unkontrollierbare Weise ihre Art von Personalpolitik. Natürlich gab es,
wenn der Sicherheitschef auch im Politbüro saß, eine gewisse Personalunion, aber
eben nur in seiner Person und mit seiner doppelten Machtfülle. Die Stasi durfte
keinen Mitarbeiter des Parteiapparates der SED anwerben, aber es gab natürlich
Tausende von verwandtschaftlichen Kontakten und viele enge Bekanntschaften, und
sei es nur über die Datschennachbarschaft, über medizinisches und
Betreuungspersonal. Und dann das Wanzenwissen!!!
„Die Partei, die Partei hat immer recht?“ Nein recht hatten immer die Dossiers der
Stasi, die Berichte der IMs und vor allem jene, die sie dazu gemacht haben. Letztere
sind nach der Wende zumeist unbehelligt geblieben, pflegen heute ihre
Kameradschaft oder sind neuen Auftraggebern zu Diensten!
Frage:
Wie gestaltete sich konkret das Verhältnis Honeckers zu Mielke?
Dr. Uschner:
Ohne Mielke ging in Sicherheitsfragen gar nichts. Er hatte wohl nicht nur den „roten
Koffer“ mit z.B. Unterlagen über Honeckers erste Ehe mit einer Zuchthauswärterin in
Verwahrung, sondern wusste auch um die Leichen anderer in ihrem Keller.
Zumindest kannte er ihre Schwach- und Angriffspunkte und nutzte sie aus.
Rein formal und dem Verlauf der Amtsgeschäfte und protokollarischen Normen nach
war natürlich Honecker der offiziell unumstrittene Generalsekretär der SED und
Staatsratsvorsitzender der DDR. Er war in der Tat die „Spinne im Machtnetz der
DDR“. Aber nachdem dem Moskauer Vorbild folgend der Staatssicherheitsminister
und der Armeeminister Vollmitglieder des Politbüros geworden waren (in
Reformzeiten der 50er Jahre waren die Vertreter der Stasi aus der Parteiführung
entfernt worden!), bildete sich allmählich ein neues Kräfteverhältnis heraus. Beide
Minister verbanden in Personalunion ihre Machtposition als Politbüromitglieder mit
ihrer Machtposition als Chefs der beiden wichtigsten Sicherheitsapparate! Das ist der
generelle Aspekt.
Dazu kamen Besonderheiten. Nach dem Amtsantritt Gorbatschows in Moskau folgte
Mielke nach jeder Politbürositzung (dienstags) unmittelbar nach Sitzungsschluß
Honecker in dessen Arbeitszimmer zu einem Gespräch unter vier Augen und –
möglicherweise – unter vier Ohren…
Die Verweildauer Mielkes wurde von Mal zu Mal länger. Auf dem Weg zur (einzigen)
Herrentoilette auf der „zweiten Etage“ musste ich ja immer an Honeckers Zimmer
vorbei und sah Mielkes „Schatten“ vor Honeckers Tür warten. Nicht selten wurde ich
von anderen Politbüromitgliedern mit ängstlichem Unterton gefragt, ob Mielke noch
immer bei Honecker sei. In diesen Gesprächen wurden die „Spitzenangelegenheiten“
und „Problemfälle“ besprochen. Daran kann es keinen Zweifel geben. Aber es könnte
auch durchaus sein, daß Mielke nicht nur in der letzten Politbürositzung Honecker mit
einem „Auspacken“ des "Roten Koffers" gedroht hat, sondern auch schon früher,
wenn Honecker nach Meinung Mielkes gegenüber der BRD zu flexibel und
gegenüber Gorbatschow-Anhängern nicht hart genug agierte. Nach der Wende war
von diesem „Roten Koffer“ mit dem belastendem Material gegen Honecker häufig die
Rede. Ob der Koffer rot war oder nicht, das weiß ich nicht. Dass belastendes Material
vorhanden war, zeigte Mielkes Auftreten in der erwähnten letzten Politbürositzung
und zeigen Äußerungen hoher Vertreter der SED und Stasi in der Wendezeit. Man
kann sie in einschlägigen Publikationen nachlesen.
Frage:
Was war denn an den Materialien in dem "roten Koffer" möglicherweise noch so
brisant gewesen, wenn man von der verschwiegenen Ehe mit einer
Gefängnisaufseherin der Nazis absieht?
Dr. Uschner:
Nun diese Sache allein hätte – wäre sie bekannt geworden – Honeckers gesamte
Nachkriegskarriere sofort beendet. 4 ½ Monate war Honecker dank dieser Frau und
anderer Helfer außerhalb des Zuchthauses Brandenburg in Berlin als Dachdecker
tätig und kehrte dann kurz vor der Befreiung des Zuchthauses Brandenburg durch
die „Rote Armee“ dorthin zurück! Das alles wurde ja in seiner offiziellen Biographie
verschwiegen oder falsch dargestellt. Schon das Wissen darum gab eine genügende
Grundlage für Erpressungsmöglichkeiten. Aber in etlichen Veröffentlichungen nach
der Wende wurde auch das Verhalten Honeckers bei Gestapo-Verhören in Zweifel
gezogen. Aus Gesprächen mit antifaschistischen Widerstandskämpfern weiß ich,
daß es da etwas gab.
Es muss noch mehr Material gegeben haben, das Mielke erlaubte, Honecker zum
Schluss bei einer Verweigerung des Rücktritts mit dem „Auspacken“ zu drohen. Auf
jeden Fall war Honecker unter Druck zu setzen und gegebenenfalls zu erpressen.
Mielke konnte Honecker auch durch gezielt eingesetzte Informationssteuerung über
hohe Parteifunktionäre beeinflussen.
Die „Personalpolitik“ hinsichtlich hoher und höchster Parteifunktionäre lag bei der
Stasi, bei der Hauptabteilung Kader und Schulung (für deren Akten sich
Bürgerrechtler ganz offenkundig bislang wenig interessiert haben!!!) sowie bei der
„Arbeitsgruppe Minister“, nicht aber bei der Kaderabteilung des Zentralkomitees der
SED, wenngleich es da engste Arbeitsbeziehungen gab.
Frage:
Wie zeigte sich dieses Zusammenwirken in Ihrem Fall?
Dr. Uschner:
Ja, 1985/86 geriet ich mit den Abrüstungsgesprächen SED/SPD zunehmend ins
Visier jener, die alle Verbindungen von Parteifunktionären zum „Klassenfeind“, d.h.
vor allem auch zur SPD unter Kontrolle zu nehmen hatten.
Kam ich auf dem Flugplatz Köln/Wahn an, warteten 2 Autos auf mich: eines mit dem
offiziellen MfS-Vertreter in der Ständigen Vertretung der DDR in der BRD, Bernd L.
und eines der SPD mit dem persönlichen Mitarbeiter von Egon Bahr, Uwe S. Ich bin
immer in das Auto des Gastgebers, also der SPD gestiegen und zum ErichOllenhauer-Haus gefahren worden. Hängte sich L. dran, was einige Male geschah,
ließen wir den jungen Mann draußen im Sekretariat warten.
Kam es zu Reisen ins Land, z.B. zum Mainzer Antichemiewaffenkongreß in Mainz
(mit einem damals noch als Abrüstungsanhänger anzusehenden Rudolf Scharping),
fuhr mich Bernd L., in seinem PKW, wobei er mir u.a. erzählte, daß er auch bei den
streng geheimen Treffen von G. Mittag mit dem Textilfabrikanten Schießer und dem
VW-Chef Hahn immer dabei sei.
Warnungen, vorsichtiger zu sein, erhielt ich von Mitarbeitern der Ständigen
Vertretung, von Mitarbeitern der „zweiten Etage“ (darunter Mitarbeitern Honeckers)
und von Mitarbeitern der Abteilung Internationale Verbindungen und anderer
Abteilungen. Zunächst seien von Neid geprägte Äußerungen notiert worden: „Wer ist
denn der Uschner schon, warum ist der andauernd in den Ost- und Westmedien,
wieso kann der allein zur SPD-Spitze fahren, wieso reist der andauernd in der Welt
herum!?“ Dann ging man an die Beeinflussung Axens heran, um unser
Vertrauensverhältnis anzukratzen. So teilte mir dieser eines Tages mit, Kaderchef
Müller habe eine so „komische Bemerkung“ über mich gemacht. Ich würde mich nur
noch über die Abrüstungsgespräche mit der SPD äußern, nicht aber den inneren
Fragen den gebührenden Rang einräumen. Er habe das in der Kaffeestube gehört.
Eine Nachfrage ergab, daß Müller nie selbst die Kaffeestube aufsuchte, sondern sich
das Frühstück in sein Büro bringen ließ.
Frage:
Also hat man es ihm möglicherweise hintenrum gesteckt?
Dr. Uschner:
Ich ahnte, woher das Ganze kam. Denunziationen gehörten zum Arbeitsalltag vieler
„innerer“ Abteilungen, die ja auch enge Kontakte zu den STASI-Fachabteilungen
pflegten. Sch., ein Mitarbeiter der Propagandaabteilung des ZK, hatte mich einmal
angesprochen und lobend festgestellt: „Was Ihr da mit der SPD in Sachen Abrüstung
macht, kommt bei der Bevölkerung gut an!“ Ich antwortete: „Wenn wir schon in der
Innen- und Wirtschaftspolitik nicht vorankommen, müssen wir es wenigstens in der
Außenpolitik versuchen!“ Sch. stimmte scheinheilig zu, meinte gar, im ZK-Gebäude
werde nur noch das Märchen von des Kaisers neuen Kleider gespielt, aber keiner
rufe: „Der Kaiser ist nackt!“ Das solle man wohl vorläufig auch besser lassen…
Aber war man einmal auf das Tapet gehoben und die Stasileute glaubten, im ZKApparat für ihre Recherchen Gehör zu finden, ließ man nicht mehr locker! Da folgten
dann Verdächtigungen, Abstempelungen, „warnende Bemerkungen“ – zum Beispiel
vom heute in Österreich lebenden Finanzchef Wildenhain – und schließlich die
Einflußnahme auf die Chefs und danach die unmittelbaren Vorbereitungen auf die
politische und berufliche Eliminierung.
Unsere sicherheitspolitischen Gespräche waren von Anfang an ein Dorn im Auge der
orthodoxen Stasi-Leute, die Gefahr für die innere „ideologische Stabilität“ der Partei
witterten. Dementsprechend wurden auch „Kundschafterberichte“ aus dem
Bundesgebiet ausgewertet. Eines Tages gab mir Axen eine der MfS-Informationen –
in grünem Pappumschlag, eingeschweißt in einer weißen Plasteschiene – über die
Gespräche SED-SPD (eigentlich durfte ich so ein streng geheimes Material „Streng
geheim! Nur für den persönlichen Gebrauch! Keine Quellenangabe!“ nie in die Hand
bekommen!). Darin wurden „Quellen“ aus SPD-Führungskreisen „zitiert“, wonach es
Ziel der Gespräche mit der SED sei, diese aufzuweichen. Ich schrieb ganz dünn mit
wegradierbarem Bleistift in Druckbuchstaben auf die Seite 8 des Materials:
„Hermann, das richtet sich gegen unsere Verhandlungen und Dich persönlich!“. Als
ich ihm das Material zurückgab und auf meine Anmerkungen, die ich wieder
wegradieren wollte – in seinem und meinem Interesse – aufmerksam machte,
reagierte er überaus wütend. Er benutzte meine Anmerkungen und schrieb auf den
Umschlagdeckel der MfS-Information eine scharfe Replik. Er warf die Frage auf, ob
das MfS für die Desinformation der Parteiführung zuständig sei. Das war ein
schwerer Vorwurf! Gerade, als ich Axen bitten wollte, meine Bleistiftanmerkungen
ausradieren zu dürfen, ließ die Sekretärin Hermann Axens den Kurier des MfS
herein, der das ihm von Axen entgegen gestreckte Material sofort in der an sein
Handgelenk angeketteten Kuriertasche verschwinden ließ.
Frage:
Hatte das Konsequenzen für Sie?
Dr. Uschner:
Wie im Nachwendebuch „Wolfs Westspione sagen aus“ (allerdings bewusst mit
einer zeitlichen Verschiebung um 1 Jahr!) nachzulesen ist, löste dieser „Vorfall“ in der
Auswertungsstelle des MfS einen großen Aufruhr aus: Noch nie hatte ein
Politbüromitglied etwas auf eine MfS-Information geschrieben und dazu noch kritisch!
Die MfS-Truppe musste einen Rückzieher machen, aber nur zeitweilig. Der Urheber
der Bemerkungen Axens war leicht zu ermitteln. Das hat wohl mein Dossier weiter
anwachsen lassen und die Vorbereitungen für meine Entfernung beschleunigt!
Überhaupt hatte ich zum Verhältnis Partei/Staatssicherheit einige interessante
Erlebnisse. Schon 1972 war ich mit einer Sondermaschine der „Interflug“ über
Gander in Kanada nach Kuba geflogen. Mit in der Maschine ein Mitarbeiter des
DDR-Außenministeriums, mit dem ich im kubanischen Außenministerium die
Dokumente für den bevorstehenden Honeckerbesuch abstimmen sollte sowie eine
große Gruppe von Technikern und Personenschutzleuten des MfS. Nach Erledigung
der Arbeiten in Havanna hatten wir noch einige Tage Zeit. Man brachte uns nach
Varadero in ein abgesperrtes Erholungsgebiet für hohe Regierungsgäste, wo dann
auch die offizielle Delegation einkehrte. Manche Stunde saß man auch mit MfSLeuten an diesem oder jenem Pool zusammen, süffelte die kubanischen
Rumgetränke. Da äußerten sich dann MfS-Leute nach einigen Drinks begeistert über
Castros Gewohnheit, bei Staatsbesuchen 30 km links und rechts der Fahrtroute alle
Geisteskranke, Kriminelle und „politisch Unzuverlässige“ zu „entfernen“. Da fielen
dann auch Sätze, wie: „Ja hier sind Partei und Sicherheit eins, bei uns leider nicht!“
Und mit Blick auf uns „Zivilisten“ leicht provokatorisch: “Aber wir haben Euch auch so
unter Kontrolle!“
12 Jahre später durfte ich Hermann Axen – natürlich in einer „Regierungsmaschine“
der „Interflug“ - zum 5. Jahrestag der nikaraguanischen Revolution nach Managua
begleiten. In der Maschine saßen in „Chefsesseln“ zwei mir unbekannte Personen.
Als Sekretär der Delegation fragte ich Axen, wer diese Leute denn seien. Das seien
Generale des MfS, um die sollte ich mich nicht kümmern. Die hätten ihre eigenen
Gastgeber und ihr eigenes Programm. Einer der beiden, General Fiedler, überlebte
wohl nach der Wende einen Fenstersturz, soll aber in Untersuchungshaft Selbstmord
begangen haben (er bot mir übrigens auf dem Rückflug an, mir über die
Sonderversorgung des MfS alles zu besorgen, was ich bräuchte, Westküchengeräte
etwa oder Exportfliesen, na ja…).
In Nikaragua war auch die Spitze des kubanischen Geheimdienstes anwesend. Sie
sorgte dafür, daß die Sicherheitsleute aus den befreundeten Ländern in einem
klimatisierten Raum bei gastronomischen Spitzenleistungen den 5. Jahrestag der
nikaraguanischen Revolution feiern konnten. Die Parteienvertreter, zumeist
Politbüromitglieder, darunter Hermann Axen, durften sich in einem nicht klimatisierten
großen Saal „unter das Volk mischen“, wie Sicherheitsleute hämisch bemerkten.
Kubas legendärer Geheimdienstgeneral Pineiro, den ich seit dem Aufenthalt 1972 in
Varadero und einem Besuch im Revolutionsmuseum kannte (ich hatte ihn dort
weinend vor dem Foto eines im Kampf gegen Batista gefallenen Kameraden
getroffen und mein Mitgefühl ausgedrückt), machte mir gegenüber noch eine bissige
Äußerung: “Mit den alten Parteigreisen in Moskau und bei Euch werden wir uns nicht
halten können. Das können nur die Sicherheitsorgane!“
Nun, in der DDR waren die Parteioberen überall von Sicherheitsleuten umgeben. Sie
wurden abgehört. Ihre Sonderleitungen liefen über ein Stasi-Zentrum. Ihre Fahrer,
Begleiter, Haushälterinnen, Gärtner, Handwerker, Piloten, die Angehörigen des
Wandlitzer Sonderversorgungssystems, die Wachen in den drei Sicherheitszonen in
Wandlitz, in den Partei- und Regierungsgebäuden, Erholungsheimen,
Krankenhäusern waren Angehörige des MfS, also zumindest seines Wachregiments.
Die Parteioberen waren keine Minute unter sich. Alle Arbeits- und Privaträume waren
verwanzt.
Frage:
Auch die Schlafzimmer?
Dr. Uschner:
Da erinnere ich Sie nur an meine vorhin gemachten Ausführungen zu den
Wohnräumen Axens! Selbst die Krankensuiten im Regierungskrankenhaus Buch
(Station 9) waren mit Wanzen und versteckten Kameras bestückt!.
Auch in unserer Wohnung waren Wanzen eingebaut. Daran scheiterte zum Beispiel
eine Bandaufnahme des Radio-DDR-Reporters Thomas Silberstein, die dieser am
30.12.88 in meiner Wohnung aufnehmen wollte. Es ging um einen außenpolitischen
Jahresrückblick. Das neue japanische Aufnahmegerät war durch eine elektronische
Fremdquelle so gestört, daß ich in das Studio von Radio DDR fahren musste, um die
Aufnahme zu wiederholen.
Ja, und als dann mein Rausschmiß feststand, brauchte man wohl noch etwas
„besonders verwerfliches“ Zusatzmaterial – so wie bei Herbert Häber mit der
Beschuldigung seines Vaters. Im Dezember tauchte ein Stasi-Beauftragter nicht etwa
bei einigen Stasi-Offizieren auf, die in unserer Nachbarschaft wohnten, auf, sondern
bei einem parteilosen Querulanten, der in der Nähe ein großes Privatgrundstück
besaß und besitzt und mich seit Jahren wie die Pest hasste. Der erzählte dann dem
Stasi-Mann von Besäufnissen und einer Orgie im Swimmingpool einer benachbarten
Familie und forderte gerade diese am nächsten Tag auf, bei der Stasi auszusagen.
Er habe das stundenlang getan. Der Mann würde am nächsten Tag wiederkommen.
Da kam aber keiner….
Um aber Hermann Axen zu beeinflussen, reichte ein entsprechender Bericht aus. Ich
weiß inzwischen, daß diese „Drecksarbeit“ in fast allen ähnlichen Fällen ausgeübt
wurde. Meine Stasiakte enthält nur Reste bis zum 19. Lebensjahr. Da sind es schon
rund 70 Seiten! Mein für die Stasi „interessantes“ Leben begann aber erst später: es
soll dicke Aktenordner gegeben haben, die im Herbst 1989 vernichtet wurden. Auf
dem obersten Aktendeckel soll nach aussagen eines Offiziers L. gestanden haben:
„Der feindlichen Einflußnahme (SPD) erlegen“.
Frage:
Sie haben vorhin Dinge erwähnt, die Mielke in seinem Panzerschrank gegen
Honecker in der Hand gehabt haben soll. In einem Buch über Honecker, das kürzlich
erschienen ist, werden solche Dinge in den Bereich der Legende gerückt.
Dr. Uschner:
Nun es gibt andere Bücher, wie etwa die hervorragende Mielke-Biographie von
Dr. W. Otto, die Mitglied der historischen Kommission der PDS ist. Die ist
anerkanntermaßen seriöser. Die Zahl der Versuche, das wirkliche Geschehen im
nachhinein zu vertuschen, nimmt gegenwärtig zu. Das erinnert an das Verhalten
ehemaliger Nazis in der Nachkriegszeit. Zunächst hat man sich verkrochen, nun
halten einige Ewiggestrige die Zeit für reif, zum „Gegenangriff“ überzugehen.
Wissen Sie, ich habe selbst im Urlaub auf der Insel Hiddensee die zweite Frau Erich
Honeckers, Edith Baumann, gesprochen. Ihren Platz hatte inzwischen Margot
Honecker eingenommen. Ich war allein auf die Insel gekommen, und Edith Baumann
freute sich, beim Wandern über die Inselhügel sich endlich einmal ihren Frust von der
Seele reden zu können. Sie erzählte mir von Honeckers erster Ehe und daß er nach
der Verhaftung durch die Nazis wohl „weich“ geworden sei. Das könne von den
„Organen“ mal gegen ihren Exmann ausgenutzt werden! Aber darüber rede man
besser nicht. Ich war damals total überrascht und habe erst viel später das Gehörte
verstanden.
Nun hat Mielke in der letzten Politbürositzung der SED, bei der Absetzung von
Honecker, gedroht, mit der „ganzen Wahrheit“ herauszurücken. Das muss schon
gewichtig gewesen sein. Also die verschwiegene erste Ehe mit einer
Gefängnisaufseherin, sein monatelanger (unbewachter) Außeneinsatz als
Dachdecker in Berlin, seine freiwillige Rückkehr in das Zuchthaus Brandenburg kurz
vor seiner Befreiung durch sowjetische Truppen. Außerdem die Hinweise, daß sein
Verhalten bei Gestapoverhören den Nazis geholfen habe, z.B. bei der Enttarnung
von Parteikurieren.
Frage:
In diesem Zusammenhang wurde auch behauptet, eine Frau Fodorova sei aufgrund
einer Denunziation Honeckers durch die Nazis umgebracht worden. 1992, so in dem
nun neu erschienenen Buch über Honecker, habe sie sich aber aus Israel gemeldet
und erklärt, Honecker habe sie entlastet, wodurch sie freigekommen wäre. Was
meinen Sie dazu?
Dr. Uschner:
Ich kenne das genannte Buch nicht, aber die Namen einiger Verfasser. Da habe ich
schon Vorbehalte. Aber es ging ja auch in den Verhören nicht nur um Frau Fodorova.
Ich weiß aus vertraulichen Gesprächen mit Professor Walter Bartel, der KPDLagervorsitzender in Buchenwald gewesen war, nach dem Kriege Vorsitzender des
Buchenwaldkomitees, daß nach seinen Informationen etliche Häftlinge Honecker
nicht für „echt“ ansahen. Das hätte sich auch immer wieder bei den Treffen der
ehemaligen Häftlinge des Zuchthauses Brandenburg gezeigt (dort habe übrigens
Honecker als einziger einen Rundfunkempfänger gehabt!). Man sei deutlich sichtbar
auf Distanz zu Honecker gegangen!
Ich habe erlebt, wie es Hermann Axen bei zwei Treffen der Buchenwaldhäftlinge
ähnlich ergangen ist. Auch Axen ließ die letzten Jahre einen Rostocker Professor an
seiner Biographie arbeiten. Es gab wohl 15 Entwürfe. In der letzten wollte Axen mit
einer Maschinenpistole in den Händen einen SS - Wachturm gestürmt haben… Wir
Mitarbeiter bekamen diese kläglichen Versuche der Legendenbildung offiziell gar
nicht zu sehen!
Beim zweiten Besuch in Buchenwald gelang es mir nach stundenlangen nächtlichen
Gesprächen im SED-Gästehaus Erfurt, Axen zu überreden, in seine Rede am
nächsten Tage die Juden als Hauptopfer der Nazi-KZs zu bezeichnen. Obwohl selbst
Jude, hatte er sich immer geschämt, das herauszustellen, wohl um den
Antisemitismus in der UdSSR wissend.
Seine Äußerung zu den schweren Opfern der Juden, die seine Rede dann enthielt,
wurde selbst in den USA positiv aufgenommen und öffneten mental den Weg zur
USA-Reise Axens im Mai 1988, die wiederum eine Reise Honeckers in die USA
vorbereiten sollte.
Was mir selbst in Buchenwald auffiel: Axen wurde von vielen ausländischen
Kameraden sehr kühl und zurückhaltend begrüßt. Im KZ hatte er als relativ junger
Mensch keine Rolle gespielt, zumindest keine auffallend positive.
Schabowskis Behauptung in seinem ersten Nachwendebuch über das Politbüro,
wonach Axen gar nicht in Auschwitz und Buchenwald gewesen sei, sondern in der
Sowjetunion, ist purer Unsinn. Ich weiß von vielen Häftlingen, darunter vom
verstorbenen Schriftsteller Bruno Apitz, der neben ihm auf der Pritsche lag, daß
Hermann Axen KZ-Häftling gewesen ist.
Frage:
Sie haben in Ihrem Buch „Die zweite Etage“ auf ein Kapitel über die "Mafia" im ZK
verwiesen. Das fehlte dann seltsamerweise. Warum?
Dr. Uschner:
Der Verlag wurde durch anonyme Anrufe eingeschüchtert, andere auch. Auch ich
bekam anonyme Drohungen. Außerdem war mir bekannt, daß Mafiosi in Krisenfällen
immer Geld beiseite schaffen, das ihnen gestattet, sich die teuersten Rechtsanwälte
zu leisten, Anklagen zu widersprechen, die Glaubwürdigkeit von Zeugen in Zweifel
ziehen zu lassen. Manches hat man auch nur selbst miterlebt, ohne darüber
schriftliche Dokumente, wie Quittungen, Beschlüsse usw. in der Hand zu haben.
Frage:
Wer war die Mafia im ZK-Apparat?
Dr. Uschner:
An der Spitze stand die Familie Gisela und Günther Glende. Sie leitete das Büro des
Politbüros. Ihr Vater war der „Thälmann-Kurier“ Walter Ehrengott Trautzsch
gewesen. Das öffnete der eher unscheinbaren Sekretärin den Weg in diese
Schlüsselposition. Damit hatte sie jederzeit Zugang zum Generalsekretär, fertigte die
Vorlagen für die Politbüro- und Sekretariatssitzungen aus, die Beratungsprotokolle,
die internen Parteiinformationen, bereitete maßgeblich mit der Abteilung
Parteiorgane unter Horst Dohlus die Plenartagungen des ZK und die Parteitage vor.
Dem Büro des Politbüros unterstanden der Zentralcomputer, die Benutzung der
Sonderflugzeuge durch Parteifunktionäre, die Auslandsurlaubsreisen, die
Auslandskuren, die Planung für die Verlegung der Parteiführung im Ernstfall in den
vorbereiteten Bunker, die Erfüllung von persönlichen Wünschen der
Politbüromitglieder, die jeden Freitag mittag auf die schwarzen Taschen mit den
Beschlußvorlagen für die Politbürositzungen am Dienstag und die
Sekretariatssitzungen am Mittwoch warteten. Sie wurden ihnen von Mitarbeitern des
Büros des Politbüros ausgehändigt.
Günter Glende war Leiter der Abteilung „Verwaltung der Wirtschaftsbetriebe beim ZK
der SED“. Ihm unterstanden der Fuhrpark, die gastronomischen Einrichtungen, die
Gästehäuser des ZK, die Wohnungsvergabe, die Beschaffung von Ersatzteilen, die
Datschenzuweisung, das ZK-Gebäude selbst, die Druckereien, etwa 70 Handwerker.
Als er sich von seiner angeblich krebskranken Frau scheiden ließ und eine neue Ehe
mit Gisela Trautzsch einging, entstand eine enorme, unkontrollierte
Machtzusammenballung, gegen die mehrere Abteilungsleiter und ZK-Mitglieder
vergeblich bei Honecker Einspruch einlegten. Durch Querverbindungen zum
Sekretariat des Ministerrates und zum MfS wurde das Spektrum der verdeckten
Machtausübung von der Personalpolitik bis zur Belieferung von Westwaren noch
erweitert. Günter Glende ließ sich auch zur „zusätzlichen Absicherung“ zum
Vorsitzenden der Revisionskommission der Parteiorganisation im ZK wählen, damit
ja alles ganz „wasserdicht“ blieb. Hinzu kam der Leiter der Finanzverwaltung und
Parteibetriebe, Karl-Heinz W., dem auch der Parteibetrieb „Fundament“ und die
Auslandsbetriebe der Partei unterstanden, die enorme Devisengewinne machten und
das „Genex“-Programm realisieren halfen.
All das wurde von Horst Dohlus, Leiter der Abteilung Parteiorgane gedeckt, auch
wenn er nach außen hin immer einen unscheinbaren Eindruck machte.
Die Glendes zogen sich allmählich eine Clique von engen Vertrauten heran, der auch
der Parteisekretär und Kaderchef des Hauses sowie etliche Abteilungsleiter, einige
Sekretärinnen von Politbüromitgliedern und der Hauskommandant angehörten.
Wer sich über diese Clique kritisch äußerte, wurde bald scharf verwarnt, wie ich
mehrfach von Honeckers Sicherheitschef, General Siegfried O. Aber
Sondervergünstigungen und –lieferungen, Berichte über Arbeitsleistungen ohne
Rechnungslegung sprachen sich im Hause herum und produzierten starken Unwillen
unter den Mitarbeitern. Von ihnen stammt der aburteilende begriff „Die Mafia im
Hause“! Wer sich allzu sehr auflehnte, war bald weg vom Fenster! Das hätte selbst
Politbüromitglieder treffen können! Aber die wollten ihre Privilegien nicht gefährden!
Die „Mafia“ schuf eine gespenstische Atmosphäre der Unaufrichtigkeit,
Einschüchterung und Verletzung aller Parteinormen.
Frage:
Was war Voraussetzung, um in den Genuß von Privilegien zu kommen?
Dr. Uschner:
Abgesehen von absoluter Verschwiegenheit war Voraussetzung, daß man selbst der
Clique nützlich war oder nützlich werden könnte. Das betraf den politischen und
materiellen Einfluss, den Schutz vor Nachforschungen, die Übereinstimmung mit den
politischen Ansichten und moralischen Haltungen der Führungsclique. Man musste
selbst etwas zu bieten haben und „absolut zuverlässig“ sein – wie in einer Mafia eben
üblich. Das heißt, man zog einflußreiche Leute gerade auch der Parteikontroll- und
Revisionskommission an sich heran, einige Sekretärinnen, die ihren Chef
beeinflussen konnten. Man band Leute an sich, die einen Diplomatenpaß benutzen
und nach Westberlin einkaufen fahren konnten, akkreditiert bei bestimmten
Grenzübergangsstellen. Das waren die „Beschaffer“. Glende fuhr aber auch schon
mal selbst nach Westberlin. Man hatte Kontakt zu Scheinfirmen der SED im Westen.
Einzelne Gruppen der Clique hatten ihre Luxusdatschen in der gleichen Gegend,
fuhren gemeinsam in den Urlaub, meist ins Ausland. Man kannte sich immer intimer
untereinander, wusste viel übereinander und war so zunehmend voneinander
abhängig. Das zusätzlich Schlimme daran ist, daß sich diese korrupten Leute nach
außen und gegenüber den normalen Parteimitgliedern als Vorreiter sauberen
moralischen Verhaltens ausgaben!
Deshalb war die „Mafia“ auch westlicherseits unterwandert, wie ich im Mai 1988 in
den USA erfuhr und nach der Wende, was meinen „Fall“ anbelangte: Das Sekretariat
des ZK entschied erst am 22.02.1989 über meine fristlose Entlassung, die aber
schon 2 Tage vorher vollzogen war. Der Bericht darüber und der Beschlußentwurf
lagen aber bereits am 20.02.1989 in Bonn auf dem Schreibtisch eines nicht
unbedeutenden Politikers!
Frage:
Kehren wir noch einmal zum Politbüro-Prozeß gegen Häber und andere zurück.
Werner Großmann hat in seiner Biographie „Bonn im Blick“ geschrieben, daß er sich
gegenüber Mielke für das „Zürcher Modell“ eingesetzt habe. Dieses sah vor, der
DDR Milliardenkredite zu gewähren, wenn rund 5 Millionen DDR-Bürger ins westliche
Ausland hätten fahren können. Dafür hatte sich vor allem auch Herbert Häber
eingesetzt. Nun war Großmann der letzte Leiter der Hauptabteilung Aufklärung
(HVA). Wenn man das von ihm Aufgeschriebene liest, könnte man den Eindruck
gewinnen, HVA habe in Wirklichkeit „Hauptabteilung Auflösung“ bedeutet und nicht,
wie es ja richtig ist, "Hauptverwaltung Aufklärung"; denn, wenn so viele DDR-Bürger
in den Westen hätten reisen können, hätte das ja zwangsläufig die Auflösung der
DDR forciert.
Ich kann mir daher nicht vorstellen, daß er sich sozusagen für die Auflösung der DDR
eingesetzt hat, sondern daß er höchstens, was die HVA ja wirklich bezweckte,
Aufklärung betrieben hatte und sonst gar nichts.
Dr. Uschner:
Ja, so muss man das wohl sehen. Mit Mielke über die massenhafte Ausreise von
DDR-Bürgern zu sprechen, wo der jeden Ausreisewilligen brutal verfolgte – das klingt
schon eher unwahrscheinlich und wie eine späte Aufbesserung des eigenen
Ansehens. Wenn, dann hätte Markus Wolf in aller Vorsicht an Mielke herantreten
können, keineswegs offiziell. Großmann war für uns eher unscheinbar, galt als „stilles
Wasser“ ohne Hang zu Eigeninitiativen. Eine Selbstauflösung der DDR wollte
Großmann auf keinen Fall, mehr Aufklärungsmöglichkeiten in der BRD schon. Aber
deshalb 5 Mio. DDR-Bürger ausreisen zu lassen – das hätte doch sehr bald das Aus,
auch seines Apparates bedeutet. Also: das klingt sehr unglaubwürdig. Das muss
nicht heißen, daß er nichts vom „Zürcher Modell“ wusste. Er hat vielleicht eine
beobachtende und abwartende Position eingenommen. Vielleicht würde Honecker
mal wieder unter Mittags Einfluss eine „Kurve“ nehmen. Nach offizieller Lesart waren
„jähe Wendungen“ ja nie ausgeschlossen!
Frage:
Welche Bedeutung hat Großmanns Aussage Ihrer Meinung nach gehabt?
Dr. Uschner:
Aus meiner Sicht und der Häbers keine wesentliche! Auch die des MfS-Mitarbeiters
Behrendt nicht. Diese Leute stehen zwischen Baum und Borke. Da ist einerseits der
Druck der ehemaligen Tschekistengenossen und andererseits der menschliche
Drang nach Anpassung an sich verändernde Situationen. Sie haben die DDR nicht
verteidigen können, eine verheerende Niederlage erlitten und suchen die
Verantwortung dafür bei anderen, etwa bei Gorbatschow, aber nicht bei sich selbst!
Frage:
Ihnen wird bescheinigt, daß Sie Ihre Position nutzten, um menschliches Leid zu
mindern.. Warum haben das viele andere SED-Funktionäre und DDRVerantwortliche nicht getan? Es hat ja keiner, wie Honecker in seinen „Moabiter
Notizen" bemerkt hat, mit der Maschinenpistole hinter den Leuten gestanden und
zum Kadavergehorsam gezwungen.
Dr. Uschner:
Nein, aber Mielkes Horchposten waren überall. Und an der Grenze und in den
Haftanstalten, da standen schon Mielkes Männer mit der Maschinenpistole. Auch vor
und in allen offiziellen Gebäuden. Davon gingen sichtbare und erfahrbare
Bedrohungen aus. In die Haftanstalten kamen ja nicht nur Parteilose und zeitweilig
nicht einmal an erster Stelle. So wurden schon nach dem 17. Juni 1953 nicht wenige
Parteimitglieder und KVP-Angehörige aufgegriffen und verurteilt. Die SED hat in ihrer
Geschichte viele Schauprozesse, aber noch viel mehr „stille Abstrafung“ von
Mitgliedern mit eigenen Ansichten zu verantworten.
Die DDR war ja aufgrund ihrer geographischen Lage und als Teil des gespaltenen
Deutschlands und aufgrund mangelhafter demokratischer Legitimation stets
besonders gefährdet. „Revolutionäre Wachsamkeit“ war „hier vorn“ alles andere, als
nur ein Schlagwort.
Also: Es gehörte schon eine feste Treue zu bestimmten politischen und moralischen
Werten dazu und natürlich Mut und Findigkeit , um trotzdem etwas zu
bewerkstelligen, was eigentlich verboten war und unter Strafe stand. Dagegen stand
die natürliche Neigung des Menschen zur Anpassung, zur Bequemlichkeit, zur Furcht
vor „unnützen Problemen“. Es haben nicht wenige SED- und DDR-Verantwortliche
etwas getan. Die meisten wurden ausgespäht, ihrer Ämter verwiesen und
schlimmeres. Keiner der heutigen Machthaber fragt nach ihnen… Dafür ernten sie
noch bis heute den Hohn und Spott jener, die sie verfolgt und „ausgesondert“ haben.
Eigentlich abstoßend und makaber!!!
Frage:
Sind Sie als ein Querulant angesehen worden im SED-Apparat?
Dr. Uschner:
Als „Querulant“ wurde jeder in Partei und von den „Organen“ abgestempelt, der
„meckerte“, also Kritik an Personen oder bestehenden Zuständen übte.
Das ist nichts anderes, als gezielte Diffamierung. Hatte man diesen Stempel erst
einmal aufgedrückt bekommen, konnte man härter rangenommen werden.
Das Wort „Querulant“ stößt schon viele Menschen ab. Es ist pauschalisierend und
wenig konkret! Aus der Sicht der Parteiorthodoxen und der Stasi war ich jemand, der
immer lauter und unvorsichtiger wider die offizielle Parteilinie Front machte. Aus
deren bis heute bestehende Sicht wurde ich zu recht und viel zu spät bestraft! Da
steht der Vorwurf mit im Raum, durch meine aktive und unkonventionelle Rolle in den
Abrüstungsgespräche mit der SPD zum Untergang der DDR beigetragen zu haben.
Die SED sei dadurch brüchiger geworden, und die Sozialdemokratie habe in der
DDR an Einfluss gewonnen.
Über den wirtschaftlichen Niedergang der DDR, die Mangelwirtschaft, die nicht
vorhandene Demokratie, die Selbstisolierung der SED-Spitze vom Volk, die
Repressionspolitik der Stasi, die unheilvolle, verlogene Erfolgspropaganda, den
Ausverkauf der DDR an Westkonzerne und Westbanken wird von den gleichen
Leuten kaum oder nur abwehrend gesprochen.
Und Sozialdemokratismus, den man mir vorwarf und vorwirft, war immer der
Hauptangriffspunkt der deutschen Kommunisten seit Gründung der KPD.
Er ist auch bei vielen älteren PDS-Mitgliedern, die ja alle aus der KPD-Richtung
kommen, tief verwurzelt! Deshalb hat die PDS-Spitze auch wachsende Probleme bei
ihrem pragmatischen Herangehen an rosa-rote Regierungsbündnisse und
hinsichtlich einer wirklich aufrichtigen Aufarbeitung ihrer Geschichte.
Frage:
Die SPD hat sie Mitte der 90er Jahre nicht in ihre Reihen aufgenommen bzw. eine
Mitgliedschaft in Berlin-Kreuzberg für ungültig erklären lassen. Nun sagen Sie, daß
Sie nicht mehr wollen und alle Angebote entschieden zurückweisen. Warum?
Dr. Uschner:
Entscheidend war eine schwerwiegende und bis heute zuungunsten der SPD
nachwirkende Entscheidung des SPD-Präsidiums. Da Willy Brandt krank war, hatte
in der Präsidiumssitzung, in der es um den Umgang mit der SED/PDS und früheren
Verhandlungspartnern ging – es war wohl im Dezember 1989 – Hans-Jochen Vogel
den Vorsitz. Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, der die
Abrüstungsgespräche SED/SPD erst angeregt hatte und seit 1985 immer Mitte Mai
bei Honecker zu längeren Gesprächen aufkreuzte, verlangte nun den völligen
Kontaktabbruch zu den früheren SED-Verhandlungspartnern und erhielt eine
Mehrheit. Er wollte wohl das, was vordem „Vorzug“ gewesen war und nun im Lichte
der CDU-Hetze und der wenigen Ost-Neusozialdemokraten als Makel, durch
besonders scharfe Anti-SED-Erklärungen und Maßnahmen von sich abstreifen. Er
drängte damit Egon Bahr und andere in die Defensive. Er hatte wohl auch Furcht vor
allzu scharfen Angriffen der CDU auf die frühere „SED-Nähe“ einiger SPD-Politiker
und deren „Nebenaußenpolitik.
Entsprechend dem gefaßten Beschluss wurde nun die am 7. Oktober in Schwante
bei Berlin – zumeist von Pfarrern und reichlich stasiunterwandert – gegründete SDP
als einziger Partner in der DDR anerkannt. An der Spitze der stand einige Monate
der Stasimann Ibrahim Böhme, mit dem sich andere Sozialdemokraten schon lange
vor der Wende getroffen hatten, und eigenartige Figuren wie Angelika Barbe, die
heute in der CDU rumrudert. Dieser reichlich späte gegründete Ostableger der SPD
legte auch gleich los in Richtung übersteigerter Anti-DDR-Hetze, lehnte alle Kontakte
mit SED-Funktionären völlig undifferenziert ab und griff sogar das gerade erst
angenommene Berliner Programm der SPD an, das eine scharfe Kapitalismuskritik
enthält und auf den demokratischen Sozialismus orientiert.
Diese Richtung, die bis heute anhält, hat zunächst nur der rechtsgerichteten „Allianz
für Deutschland“ genutzt und später dann auch der PDS. Inwieweit da auch
Stasileute ganz bewusst mögliche Wahlsiege der SPD in allen ostdeutschen neuen
Bundesländern – mit historisch gesehen traditionellem sozialdemokratischen
Wählerpotential - verhindert haben, weiß ich nicht.
Frage:
Die SPD in den neuen Bundesländern scheint auch heute nicht gerade Höhenflüge
zu erreichen.
Dr. Uschner:
Jedenfalls ist die SPD in den neuen Bundesländern mitgliedermäßig ein
sektenartiges Gebilde, ein closed shop geblieben. Es erlangten Menschen Mandate
und Positionen, von denen man vor der Wende nie gehört hatte, daß sie
sozialdemokratisch dachten. Sie haben bis heute eine unüberwindliche Furcht vor
sachkompetenten Bürgern, die mal in der SED waren und in einer anderen
Besatzungszone nach dem Kriege woanders gewiß ihren Weg gemacht hätten. Sie
gehen lieber „Zählgemeinschaften“ mit der CDU ein, um ihre
Wendebesitzstandsgewinne abzusichern. Das erkannte die Bevölkerung
zunehmend. Aber auch in der SPD Westberlins und der alten Bundesländer begriffen
klügere Funktionäre, welchen historischen Fehler die SPD gemacht hatte und mit
welchen fatalen Auswirkungen. Man hätte die SED/PDS 1989/90 in ihre
ursprünglichen Bestandteile SPD und KPD zerlegen können. Die heutige PDS wäre
wieder die alte KPD geworden, natürlich auch mit Erneuerungsdruck.
Aber die SED/PDS hat im Winter 1990, als sie noch aus drei Plattformen bestand
(Plattform „Dritter Weg“, „Kommunistische Plattform“ und „Sozialdemokratische
Plattform“) letztere isoliert und sehr schnell aus der Partei herausgedrängt. Die
konstituierte sich im Januar neu als „Sozialdemokratischer Arbeitskreis e.V.“ Der
bekam sofort eine Klageandrohung (5000 DM) von Wolfgang Thierse über den
Rechtsanwalt Lancelle: Der Begriff „sozialdemokratisch“ sei namensrechtlich
geschützt. Daraufhin benannte sich der Arbeitskreis mit damals etwa 1000
Mitgliedern und ständigem Zulauf in den „Kautsky-Bernstein-Kreis e.V.“ um (Anfang
Mai 1990). Es gab dann bald verdeckte Kontakte zu einzelnen Funktionären der
SPD, die aber wenig produktiv waren: Wir sollten etwa 10 Jahre „Asche auf unser
Haupt streuen“ – so der heutige SPD-Parteivorsitzende eines ostdeutschen
Bundeslandes.
Gezielte Verständigungsversuche gingen vor allem von Egon Bahr aus. Willy Brandt
hatte mich und andere schon auf dem „Vereinigungsparteitag der SPD“ eingeladen,
der SPD beizutreten (das erste Aufnahmeformular hatte ich übrigens 1987 in
Schleswig-Holstein von einem SPD-Unterhändler erhalten. Da gab es die Rubrik
„Frühere Parteizugehörigkeiten“ noch nicht. 1993 hatte mir jemand (wie ich heute
weiß, in provokatorischer Absicht) einen Aufnahmeantrag der SPD auf die Terrasse
geschmuggelt. Dann erhielt ich einen Brief mit einem neuen Aufnahmeantrag.
Absender: Der Berliner Landesvorstand der SPD mit der genauen Bezeichnung der
SPD-Abteilung in Altglienicke (Abteilung 007).
Nach Rücksprache mit westdeutschen sozialdemokratischen Freunden füllte ich das
Formular aus und fügte einen kurzen Brief über meinen Werdegang und die Spezifik
meines Antrages bei. Ich bekam die Antwort, daß die SPD Treptows vorläufig keine
ehemaligen Mitglieder der SED oder PDS aufnehme.
Diesen Wisch hielt ich immer jenen hohen westdeutschen SPD-Funktionären unter
die Nase, die mich auf SPD-Parteitagen, wo ich einige Male als Gast eingeladen war,
und auf Veranstaltungen der Friedrich-Ebert-Stiftung fragten, warum ich nicht längst
Mitglied der SPD sei. Da gab es dann Aktivitäten von Bahr bis Walter Momper,
dieses „endlich“ zu ändern. Als Treptow erneut ablehnte, wurde meine Aufnahme in
Kreuzberg vorbereitet. Momper, der damals in einem Votum gegen die schwache
Frau Stahmer antrat, sah die Sache als „gelaufen“ an. Doch er irrte und scheiterte!
Im Landesausschuß stimmte man 5:2 für meine Aufnahme, doch im
Landesausschuß hatte Frau Barbe, heute CDU, fleißig Stimmung gegen mich
gemacht.
Interessant war, daß die Kreuzberger SPD-Abteilung ihre Genossen aus Treptow
eingeladen hatte, um mit ihr zu diskutieren und zwar in meiner Anwesenheit. Als ein
Fernsehteam aufkreuzte, ließen die Kreuzberger und ich uns selbstverständlich
filmen. Meine Treptower „Freunde“ hielten die Hände vor das Gesicht. Warum wohl?
Übrigens soll nach Aussage eines ehemaligen Landesvorsitzenden der SPD am
Abend vor der Abstimmung im Landesausschuß ein Anruf aus Bonn den Ausschlag
gegeben haben…
Frage:
Kann man sagen, daß das DDR-System nicht lebensfähig war, wenn es Probleme
hatte und nicht lösen konnte, die woanders keine waren?
Dr. Uschner:
Deutschlands Teilung war Ergebnis des Zweiten Weltkrieges. Sie sollte ja nicht ewig
dauern. Aber dann kam der „Kalte Krieg“ und in dessen Verlauf zur Rettung der DDR
und des sowjetischen Vorfeldes die Mauer. Das brachte tragische menschliche
Schicksale hervor. Ich konnte in etlichen Fällen helfen, indem ich mit Axen sprach
oder seine Funktion nutzte. Auch sein durch die Abrüstungsverhandlungen mit der
SPD zeitweilig enorm gewachsenes Ansehen.
Frage:
Hatte Axens Ansehen auch eine gewisse Immunitätsfunktion gegenüber der von
Ihnen scharf kritisierten "Mafia im Politbüro"?
Dr. Uschner:
Nein, wir waren nur fast jeden Tag in den Medien mit den Berichten über die Treffen
mit der SPD. Und Honecker lobte, wie wir mit geringen Mitteln das Ansehen der DDR
auf dem Felde der Außen- und Deutschlandpolitik wesentlich vergrößert hatten, bis in
die Kirchenbewegungen hinein, wie der gemeinsam mit den Parteien organisierte
„Palme-Marsch“ in beiden Teilen Deutschlands unterstrich. Ich durfte in seinem
Verlauf in Bremen auftreten, westdeutsche Friedensfreunde in der DDR.
Mir verschaffte das einen ungeheuren Freiraum. Ich reiste im Auftrage Axens viele
Male allein nach Bonn, Moskau, Prag, einmal nach Stockholm und einmal nach Kuba
zu einer internen Beratung. Ich war laufend unterwegs, was im Hause des ZK
massenweise Neid, bei der Mafia aber Mißgunst und Wut hervorrief.
Ja und nach der Wende wollte die Ost-SPD von diesen ergebnisorientierten
Aktivitäten gar nichts hören!
Auch die PDS hat ja keinen der „Ausgesonderten“ und Bestraften nach der Wende
angesprochen. da haben sich ganz andere Leute nach vorn gedrängelt! Ich wurde
formal von der SED/PDS am 1.02.1990 „rehabilitiert“. In den Wisch steht aber nur,
daß ich am 20.02.1989 unter Verletzung arbeitsrechtlicher und moralischer Normen
aus dem ZK-Apparat entfernt wurde. Vorher hatte ich vor der
Parteikontrollkommission über vier Stunden meine Kenntnisse über die Mafia
mitgeteilt, aber darüber wollte man danach nichts mehr wissen und mir auch nichts
etwas Ausführlicheres über meinen Rausschmiss geben, weil dieses „der Partei
schweren Schaden zufügen“ könne. Ich hatte das Gefühl beim Verlassen des
heutigen Gebäudes des Auswärtigen Amtes (übrigens sitzt nun u. a. Karsten D.
Voigt, der Verantwortliche für die Gestaltung der deutsch-amerikanischen
Beziehungen, mein früherer Verhandlungspartner in der „Zweiten Etage“, ganz in der
Nähe meines früheren Arbeitszimmers…), hier geht etwas für immer zu Ende.
Sowohl in der Ost - SPD, wie auch in Teilen des PDS-Apparates weiß man um
meinen Anteil bei der Verhinderung eines militärischen Konflikts im Herbst 1989 in
der DDR. Aber man fürchtet wohl, daß ich versuchen könnte, daraus politisches
Kapital zu schlagen und Nachwendelegenden anderer ins Zwielicht zu rücken. Das
führte sofort zu Blockierungen.
Was war geschehen: am 8. Oktober 1989, als sich in etlichen Städten der DDR
Bevölkerungsgruppen empört in Kundgebungen zusammenfanden, hatte ich drei
wichtige Informationen aus „vernünftigen“ MfS-Kreisen und aus der Westabteilung
des ZK der SED („Manfred, die Kriegskasse wird in den Bunker geschafft!) über
meinen damaligen Verbindungsmann zum Büro Gorbatschow, Anatoli Kowrigin, mit
dem ich mich gegen 18 Uhr in einem Wäldchen traf, nach Moskau gegeben. Die
Amerikaner haben sowohl den Anruf Kowrigins über die Sonderleitung im
sowjetischen Hauptquartier Karlshorst abgehört, wie auch die Antwort Moskaus:
„Sagen sie unseren deutschen Freunden, daß wir in keinem Fall militärisch eingreifen
werden, wenn unsere Truppen nicht selbst angegriffen werden!“ Das teilte mir der
amerikanische Gesandte in Ostberlin schon kurz nach der Wende mit. Damit war
natürlich die Bürgerbewegung bald im Bilde: Die Sowjets werden nicht eingreifen! So
konnten sie und andere, professionelle Kräfte, mit einer ganz anderen
Bewegungsfreiheit ihre Aktionen erweitern.
Frage:
Sehen Sie in den Blockierungen bei Ost-SPD und PDS ein bewußtes Ignorieren der
Tatsache, daß es auch in der SED Menschen gab, die sich für Konfliktverhinderung
einsetzten oder gar reine Eifersüchteleien?
Dr. Uschner:
Ja, das war es vor allen Dingen. Ich weiß inzwischen natürlich aus verschiedenen
Quellen noch mehr darüber.
Als es um meine SPD-Aufnahme in Berlin-Treptow ging, hatte ich mit den dort bis
heute tonangebenden SPD-Funktionären eine widerliche Aussprache. Es ging
einigen gar nicht so sehr um meine frühere Funktion, sondern darum, daß ich
feststellte, seit 1985 enge Kontakte zur SPD in Bonn gehabt zu haben (was ein
Privileg war, aber zur Wende etwas beigetragen hat, wie Steffen Reiche, der
Mitbegründer der SDP am 25.03.02 auf einem Empfang des Bundeskanzlers zu
Ehren des 80. Geburtstages von Egon Bahr erneut öffentlich festgestellt hat) und
daß ich Befürwortungsbriefe von Willy Brandt und Egon Bahr vorlegte. Das wurde als
Mißachtung des Willens der „Basis“ gewertet. Ich hätte mich auch früher bei dem
Häuflein Treptower Neusozialdemokraten melden sollen (sie gründeten sich am
28.11.1989 bei einer Flasche Kognak in einer Wohnung!). Ja, vor der Wende hatte
ich keinen Sozialdemokraten in Treptow erkennen können, und nach der Wende gab
es das Verdikt aus Bonn und von rechtsgerichteten Westberliner Sozialdemokraten,
wie dem Neuköllner Frank B., eine scharfe Linie gegen ehemalige SED-Mitglieder.
Es hat mich übrigens sehr berührt, daß der Vorsitzende der Kreuzberger SPD, HansChristoph Wagner, aus Protest gegen meine Nichtaufnahme sein Amt niederlegte,
seine frisch renovierte Wohnung mit seiner Familie verließ und nach Holland zog. Hut
ab vor solchen SPD-Genossen!
Frage:
Wie war das mit der Stasi und der Wende?
Dr. Uschner:
Einige liefen sofort über. Schon 1987 hatten Stasi-Offiziere in der BRD fast alle
Auflagen des Buches „Geheimakte Odessa“ aufgekauft, in dem geschildert wird, wie
hohe Naziführer schon 1943 begannen, in Hinblick auf die sich abzeichnende
Kriegsniederlage Fluchtwege anzulegen, gefälschte Papiere herstellen zu lassen,
Zivilkleidung griffbereit zu halten, über den „römischen Weg“ nach Südamerika zu
fliehen oder vorläufig mit falscher Identität unterzutauchen. Nur, wohin sollten die
DDR-Machthaber fliehen? Nach Nordkorea? Das wollten sie sich nicht zumuten. In
die UdSSR? Die wollte sie nicht mehr. Kuba und Chile waren weit weg. Nach der
nicht ganz beendeten Aktenvernichtung blieb ein hilfloser Haufen übrig, der nichts
getan hatte, um jene zu verteidigen oder ihnen zu helfen, die sie in höchste
Rangstufen versetzt und mit höchsten Orden ausgezeichnet hatten. Die Generalität
äußerte sich auch nicht zur organisierten Verfolgung der „Inoffiziellen Mitarbeiter“.
Sie duckten einfach ab oder nahmen neue Dienste an. Natürlich nicht alle. Die
Verfolgung trifft die Kleinsten, die Großen beziehen eine nun aufgestockte Rente und
so manche Unterstützung. Einige schreiben Rechtfertigungsbücher. Man sieht sich
auf Kameradschaftstreffen.
Für Honecker und seine Truppe hat die Stasi nichts getan. Ich weiß bis heute nicht,
warum mich Honeckers chilenischer Schwiegersohn Ende November eine Nacht
lang immer wieder aufgeregt anrief. Man müsse sich an der Boutique Spittelmarkt
treffen. Ich solle mich aber vor den „eigenen Verfolgern“ nicht erwischen lassen. Es
gehe um das Schicksal seines Schwiegervaters, also Erich Honeckers. Ob man
Honecker vielleicht meine Kontakte zur SPD viel zu hoch angesiedelt dargestellt hat,
so dass er von dort die Chance einer Ausreise etwa nach Schweden erhoffte? In
Richtung Moskau hatte er doch ganz andere Möglichkeiten, als ich… Es bleibt mir
ein Rätsel.
Gewiß trifft man auf deutsch-deutsche Seilschaften, an denen ehemalige Stasileute
beteiligt sind. Auch die SED/PDS hat Geld beiseite geschafft. Aber der Ermittler
Hammerstein kam wohl in vielen Fällen zu spät! Wenn ich daran denke, was die
„Islamische Religionsgemeinschaft“ unter Herrn Younes an Geld aus
Mitgliedsbeiträgen früherer SED-Mitglieder erhielt, werde ich richtig böse!
Was die Stasi-Akten anbelangt, so gab es einen „Spiegel“-Bericht, wonach mein
letzter Verbindungsmann nach Moskau, Alexander Sjubenko und sein Chef
Prinzipalow die Mikroverfilmung aller Geheimakten in Karlshorst übernahmen und an
die Amerikaner verkauften („Aktion Rosenholz“). Sie kamen beide am Lenkrad ihrer
Autos unter mysteriösen Umständen in Moskau um.
Frage:
Wenn es die DDR wieder gäbe, was könnte anders gemacht werden, damit sie nicht
wieder zusammenkracht?
Dr. Uschner:
Das ist eine rein hypothetische Frage. Mit diesen Verbündeten, mit diesem von
Moskau übernommenen undemokratischen System, wäre sie immer wieder
zusammengekracht, wie sie es nennen.
Eine modernere Wirtschaftsstruktur wäre nötig, eine Leitung aller gesellschaftlichen
Belange durch wirklich kompetente Fachleute, ein echtes Mehrparteiensystem ohne
führende Rolle einer Partei, Machttransparenz und Demokratie auf allen Ebenen. An
dieser Utopie ist auch Gorbatschow, in den ich mal alle meine Hoffnungen gesetzt
habe, gescheitert!
Frage:
Ginge das mit oder ohne Mauer?
Dr. Uschner:
Wenn sich das, was ich in meiner Antwort auf Ihre vorige Frage sagte, mit den guten
Seiten der DDR-Gesellschaft und wirklicher sozialer Gerechtigkeit verbinden ließe,
natürlich ohne Mauer! Warum sollte man dann weglaufen in eine BRD, die uns
Ostdeutschen nichts mehr Neues zu bieten hat!
Interview: Dietmar Jochum, 7. Februar 2002
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