Die Angehörigenbürgschaft

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Einführung in die Pflegeethik
WS 2007/08
Institut für Ethik und Recht in der Medizin
O.Univ.Prof. Dr. Ulrich Körtner
Semesterplan
Ort:
Großer Hörsaal am Institut für Physiologie (MedUni),
Schwarzspanierstr. 17, 1090 Wien
Termine
 Mi, 10.10.07 Vorlesungsbeginn
 Mi, 17.10.07
 Mi, 31.10.07
 Mi, 7.11.07
 Mi, 14.11.07
 Mi, 28.11.07
 Mi, 5.12.07
 Mi, 12.12.07
 Mi, 9.1.08
 Mi, 16.1.08
 Mi, 24.1.08 Klausur
2
Aufbau der Vorlesung
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0.
Einleitung
0.1 Pflegeethik – ein neues Fachgebiet der Gesundheitsethik
0.2 Zielsetzung und Aufbau der Vorlesung
0.3 Literatur
1.
Ethik, Ethos und Moral
1.1 Ethik und Moral im Alltag
1.2 Begriffsbestimmungen
1.3 Grunddimensionen der Ethik
1.4 Typen der Ethik
1.4.1 Normative und deskriptive Ethik
1.4.2 Deontologische und teleologische Ethik
1.4.3 Pflichtenlehre, Tugendlehre und Güterlehre
1.4.4 Verantwortungsethik und Diskursethik
1.5 Theoretische Ethik, angewandte Ethik und Bereichsethik
3
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2.
Gesundheitsethik, Medizinethik, Pflegeethik
2.1 Ethik des Gesundheitswesens
2.2 Gegenstand und Aufgabe medizinischer Ethik
2.3 Ethik des Heilens und „therapeutischer Imperativ“
2.4 Medizinethik und Pflegeethik
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3.
Ethik und Recht in der Pflege
3.1 Medizinrecht
3.2 Rechtliche Bestimmungen für den gehobenen Pflegedienst und die
Pflegehilfe
3.3 Patientenrechte
3.3.1 Menschenrechte und Grundrechte
3.3.2 Spezielle Patientenrechte
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4.
Ethik und Anthropologie
4.1 Pflegeethik, Medizinethik und Menschenbild
4.2 Der Begriff der Person
4.3 Das Subjekt der Pflege und der Medizin
4
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5. Grundlagen und Probleme der Pflegeethik
5.1 „professional attitudes“ in der Pflege
5.2 Strukturprobleme des Pflegeberufs
5.3 Pflegeethik, Care-Ethik und Ethik des Helfens
5.3.1 Ethik des Helfens
5.3.2 Macht und Ohnmacht in der Pflege
5.3.3 Care-Ethik
5.4 Der Begriff Verantwortung
5.4.1 Begriffsgeschichte
5.4.2 Verantwortung als Begriff der Moral
5.4.3 Pflichtenlehre, Güterlehre und Tugendlehre aus
verantwortungsethischer Sicht
5.5 Ethosforschung und Geschichte der Pflege
5.6 Interkulturelle und transkulturelle Pflege
5.6.1 Pflege in einer multikulturellen Gesellschaft
5.6.2 Transkulturelle Pflege, Naturrecht und Menschenrechte
5
 6. Ethische Prinzipien und pflegeethische Kompetenz
 6.1 Ebenen pflege- und medizinethischer Probleme
 6.2 Prinzipien und Grundregeln der Pflegeethik und der
Medizinethik
 6.2.1 Kulturelle Normen und Werte
 6.2.2 Vier Prinzipien der Pflegeethik und der Medizinethik
 6.2.3 Gerechtigkeit in Pflege und Medizin
 6.2.4 Weitere ethische Regeln
6
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7. Schritte ethischer Urteilsbildung
7.1 Methoden der Ethik und ihre Grenzen
7.2 Modell der ethischen Urteilsbildung nach D. Lange
7.3 Einzelfallgerechtigkeit
 8. Arbeits- und Funktionsweise Klinischer
Ethikkomitees
 8.1 Ethik im Krankenhaus
 8.2 Arbeitsweise Klinischer Ethikkomitees
 8.3 Zusammensetzung eines Klinischen Ethikkomitees
 9. Ethik in der Pflegeforschung
 9.1 Pflegewissenschaft und Pflegeforschung
 9.2 Ethische Grundsätze der Pflegeforschung
7
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10. Menschenwürdig sterben
10.1 Das medizinisch begleitete Sterben
10.2 Die Einsamkeit der Sterbenden
10.3 Autonomie am Lebensende
10.4 Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit von Leiden
10.5 Tun und Lassen
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11. Behandlungsabbruch und Sterbehilfe
11.1 Palliative Care
11.2 Begriff und Formen der Sterbehilfe
11.3 Passive und indirekte Euthanasie
11.4 Tötung auf Verlangen und medizinisch assistierter Suizid
11.4.1 Euthanasie
11.4.2 Medizinisch assistierter Suizid
11.5 Leitsätze zum Verständnis von Menschsein und Menschlichkeit
im Blick auf das Euthanasieproblem
8
 12. Intensivmedizin und
Transplantationsmedizin
 12.1 Hirntod
 12.2 Zur Ethik der Transplantationsmedizin
 12.3 Gesetzliche Regelungen
 12.4 Ethische Probleme der
Transplantationsmedizin
 12.5 Organaustausch und Allokation
9
Literatur
 Körtner, U. (2004): Grundkurs Pflegeethik (UTB 2514),
Facultas, Wien
 van der Arend, A. (1998): Pflegeethik. Urban & Fischer,
München
 van der Arend, A. / Gastmans, Chr. (1996): Ethik für
Pflegende, Verlag Hans Huber, Bern
 Beauchamp, T.L. / Childress, J.F. (1994): Principles of
Biomedical Ethics, 4. Aufl. Oxford University Press, New
York / Oxford
10
 Benner, P. (2000): Stufen zur Pflegekompetenz. From
Novice to Expert, 3. Nachdruck. Verlag Hans Huber, Bern
 Bobbert, M. (2003): Pflegeethik als neue Bereichsethik:
Konturen, Inhalte, Beispiele, in: Zeitschrift für
medizinische Ethik 49, S. 43-63
 Fry, S.T. (1994): Ethik in der Pflegepraxis. Anleitung zu
ethischen Entscheidungsfindungen. Deutscher
Berufsverband für Pflegeberufe, Eschborn
 Großklaus-Seidel, M. (2001): Ethik im Pflegealltag. Wie
Pflegekräfte ihr Handeln reflektieren und begründen
können, Kohlhammer, Stuttgart
 Kemetmüller, E. (Hg.) (2001): Berufsethik und
Berufskunde für Pflegeberufe. Verlag Wilhelm Maudrich,
Wien
 Körtner,U. (2007): Ethik im Krankenhaus. Diakonie –
Seelsorge – Medizin, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
11
 Lay, R. (2004): Ethik in der Pflege. Ein Lehrbuch für die Aus-,
Fort- und Weiterbildung, Schlütersche Verlagsgesellschaft,
Hannover
 Remmers, H. (2003): Die Eigenständigkeit einer Pflegeethik, in:
Cl. Wiesemann/N. Erichsen/H. Behrendt/N. Biller-Andorno/A.
Frewer (Hg.), Pflege und Ethik. Leitfaden für Wissenschaft und
Praxis, Kohlhammer, Stuttgart, S. 47-70
 van Schayck, A. (2001): Ethisch handeln und entscheiden.
Spielräume von Pflegenden und die Selbstbestimmung des
Patienten, Kohlhammer, Stuttgart
 Wallner, J. (2004): Ethik im Gesundheitssystem (UTB 2612),
Facultas, Wien
 Wallner, J. (2007): Health Care zwischen Ethik und Recht,
Facultas, Wien
 Wiesemann, Cl./Erichsen, N./Behrendt, H./Biller-Andorno,
N./Frewer, A. (Hg.) (2003): Pflege und Ethik. Leitfaden für
Wissenschaft und Praxis, Kohlhammer, Stuttgart
12
Nachträge zu Kap. 2.2:
Krankheit als Selbsterfahrung
 Die „Verborgenheit der Gesundheit“ (H.-G. Gadamer)
 Gesundheit: „ein Leben unter dem Schweigen der Organe“
(R. Leriche, frz. Chirurg)
 „Krankheiten verleihen der Beziehung von Körper und
Kultur neue Dimensionen. Im Kranksein wird dem
Menschen sein Körper oft erst bewußt. [...] Das durch
Krankheit veränderte Körpergefühl verändert das Raumund Zeitgefühl wie die sozialen Kontakte und das
Selbstbild des Kranken.“ (D. v. Engelhardt)
13
 Krankheit erschließt den grundlegenden
„Lastcharakter des Daseins“ (M. Heidegger),
dessen Bewältigung zu einem guten Leben gehört
(F. Akashe-Böhme und G. Böhme).
14
Illness, Sickness und Disease
 Illness/Sickness: subjektives Krankheitserleben
 Disease: objektiver Krankheitsbegriff
 Aus Sicht der Medizin kann jemand eine
Krankheit haben, ohne sich subjektiv krank zu
fühlen (to feel sick).
15
 Die Sichtweise der Psychosomatik: Thema der Medizin und der
Pflege sind nicht von der Person abgespaltene Krankheiten,
sondern ist der kranke Mensch.
 WHO-Definition: Gesundheit ist der Zustand vollständigen
körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht
nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.
 Kritik der WHO-Definition
 Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern
die Kraft, mit ihnen zu leben (D. Rössler).
 Es kann also gesunde Kranke und kranke Gesunde geben.
16
Begriffliches Geviert:
„gesund“ – „nicht gesund“
„krank“ – „nicht krank“
17
Krankheit als gesellschaftliche Konstruktion
„Medizin ist Naturgeschichte und
Kulturgeschichte, sie kann nicht auf Biologie oder
Physik begrenzt werden. Gesundheit und
Krankheit sind stets deskriptive und zugleich
normative Begriffe, sind Seins- und Werturteile –
für den einzelnen Menschen wie für die
Gesellschaft. (D. v. Engelhardt)
18
Ein biokulturelles Krankheitsmodell
 David B. Morris (2000) plädiert für ein biokulturelles
Krankheitsmodell, das auch die spezifischen
Bedingungen von Krankheit und Gesundheit in der
postmodernen Gesellschaft verstehen lehrt.
 Die Einwirkungen der menschlichen Kultur auf die
Natur führen nicht nur zu veränderten
Interpretationen, sondern zu Eingriffen in Natur und
Umwelt, wodurch die Ausbreitung von Krankheiten,
aber auch ihre Gestalt verändert werden. Alte
Krankheiten verschwinden, völlig neue entstehen.
19
 Würdigt man zusätzlich die Eigenständigkeit
der Psyche, gelangt man schließlich zu
einem bio-psycho-sozialen
Krankheitsmodell, wie es J. Willi und E.
Heim (1986) vorschlagen.
20
 Ein biokulturelles bzw. bio-psycho-soziales Modell von
Krankheit und Gesundheit verbessert das Verständnis für die
Zusammenhänge zwischen Krankheit und sozialer Stellung,
zwischen Krankheit und Geschlecht (in der doppelten
Bedeutung von gender und sex) oder auch für die
Besonderheiten von Krankheit im Alter.
 Männer haben z.B. eine durchschnittlich geringere
Lebenserwartung als Frauen, diese dagegen eine höhere
Morbidität als Männer.
 Eine Differenzierung der Krankheiten nach Geschlechtern hat
sich aber nicht nur am biologischen Geschlecht zu orientieren,
sondern auch an unterschiedlichen Krankheitsverläufen, die von
sozialen bzw. kulturellen Geschlechterrollen abhängen.
21
 Menschen mit niedrigem Einkommen und schlechter
Bildung haben ein höheres Krankheitsrisiko als z.B.
Akademiker.
 Spezifische Krankheitsrisiken und Versorgungsprobleme
von Migranten
Ursachen:
- Ausgrenzung
- Stigmatisierung
- kulturelle Unterschiede
- Sprachprobleme
22
Krankheit, Schmerz und Leiden
 Wie die Krankheit ist auch der Schmerz bio-kulturell zu
verstehen. Auch er ist Natur und Kultur zugleich und bedarf der
Interpretation.
 Kulturgeschichte des Schmerzes
 Krankheit und Schmerz sind zu unterscheiden, können aber
auch zu einer ununterscheidbaren Einheit verschmelzen. Das gilt
vor allem für chronische Schmerzen, die von akuten Schmerzen
zu unterscheiden sind.
 Die moderne Schmerzmedizin geht davon aus, daß der Schmerz
in vielen Fällen nicht etwa nur als Symptom von Krankheit,
sondern selbst als Krankheit begriffen werden muß.
23
 Ein biokulturelles bzw. bio-psycho-soziales
Modell des Schmerzes lehrt uns, den Schmerz
nicht nur als Symptom, auch nicht nur als
Krankheit zu begreifen, sondern wie Krankheit
auch als Metapher (S. Sontag) zu verstehen und
zu deuten.
 Das bedeutet aber auch, daß individuelle oder
kollektive Bedeutungszuschreibungen die
Schmerzerfahrung wesentlich beeinflussen
können.
24
 Wie grundsätzlich zwischen Krankheit und Schmerz zu
unterscheiden ist, so auch zwischen Krankheit und Leiden.
 Entsprechend der Unterscheidung zwischen „disease“ und
„illness“ bzw. „sickness“ kann man eine Krankheit haben,
ohne an ihr zu leiden.
 Das Leiden ist aber auch vom Schmerz zu unterscheiden,
insoweit man auch Schmerzen haben kann ohne zu leiden
oder leiden, ohne Schmerzen zu haben.
25
 Die Frage des Leidens hat die moderne Medizin – sieht
man von der Psychosomatik ab – aus ihrem
Zuständigkeitsbereich weitgehend ausgegrenzt und an die
Seelsorge oder an die Psychotherapie verwiesen.
 Das Problem des Leidens führt zur Frage nach dem Sinn
von Krankheit, zum Problem der Schuld und von
Schuldgefühlen, sowie zum mehrschichtigen Begriff des
Opfers (victim oder sacrifice) und der Opferrolle, die
Kranken zugeschrieben wird, oder die sich selbst
zuschreiben.
26
 Trotz seiner Verknüpfung mit biologischen
Prozessen ist Leiden also keine feststehende
Größe, „sondern ein fließender sozialer Zustand:
ein Status, den wir einem anderen zubilligen oder
verweigern“ (D.B. Morris).
 Dabei spielen Werthaltungen einschließlich
religiöser Grundorientierungen eine erhebliche
Rolle.
27
Krankheit und Biographie
 Jede Krankheit ist Teil einer Biographie.
 Die Krankengeschichte geht über die
Datensammlung in der Krankenakte weit hinaus.
Nicht nur sind die Ursachen von Krankheit
möglicherweise in der Biographie eines Patienten
zu suchen, sondern Krankheiten strukturieren auch
das Leben.
 „Das war vor, das nach meiner Operation.“
28
 D. Ritschls medizin- und pflegeethisches Story-Konzept
 W. Schapp: „In Geschichten verstrickt“
 Ethische Entscheidungen am Krankenbett setzen eine
intensive Beschäftigung mit der Biographie des Patienten
voraus. Dazu gehört einerseits seine bisherige
Lebensgeschichte in Form seiner „’stilisierte[n]’
Vergangenheit“, andererseits aber auch die „antizipierte
Lebensstory“ des Patienten (D. Ritschl).
 Ohne solche Antizipation läßt sich die Sinnhaftigkeit
medizinischen und pflegerischen Tuns und
Unterlassens nicht beurteilen.
29
 Im Kontext einer Lebensgeschichte bekommt Krankheit
ihren spezifischen Sinn. Krankheiten sind
Krisenerfahrungen, die einem Leben eine ganz neue
Richtung geben können.
 Und schließlich kann Krankheit geradezu zu einer
Lebensform werden, wenn sie einen chronischen oder
progredienten Verlauf nimmt.
 Die Krankheit in das eigene Leben bzw. in die Selbstsicht
zu integrieren, stellt den Einzelnen, aber auch seine
Familie oder Umgebung vor eine große Herausforderung.
30
Krankheit und Religion
 Von jeher sind Krankheit und Gesundheit religiöse
Themen. Dazu gehört nicht nur die Frage nach dem
Zusammenhang von Krankheit und Schuld bzw. Krankheit
und Sünde, sondern auch die Frage nach der möglichen
Verbindung von Heil und Heilung.
 Die Kulturgeschichte von Krankheit und Gesundheit ist bis
in die Moderne weitgehend auch Religionsgeschichte.
 Erst die naturwissenschaftlich begründete moderne
Medizin führt zu einer Trennung von Medizin und
Religion, damit aber auch von Heil und Heilung.
31
 Die heutige Aufwertung der Gesundheit zum
höchsten Gut („Hauptsache gesund“) ist als neue
Form von Religion und Transzendenzsuche im
Diesseits einer Gesellschaft zu verstehen, die unter
Transzendenzverlust leidet.
 Auch bei den unterschiedlichen Spielarten einer
Alternativ- oder Ganzheitsmedizin, die sich gegen
das technokratische Denken der sogenannten
Schulmedizin richtet, sind die religiösen
Konnotationen unübersehbar.
32
◊ Die Sinnfrage:
• Warum gerade ich?
• Warum ausgerechnet diese
Krankheit?
• Warum jetzt?
◊ Schuld und Schuldgefühle
◊ Angst
◊ Hoffnung
◊ Glaube
33
Heil und Heilung
 Medizinische Heilung und Heil im religiösen
Sinne sind zu unterscheiden, aber nicht strikt zu
trennen (Gefahr des Reduktionismus).
 Gesund und Heil, Heilung und Erlösung, Sein und
Sinn betreffen den in sich unteilbaren Menschen,
der mehr ist als die Summe seiner anatomischen,
physischen und mentalen Teile.
34
 Praktisch bedeutet dies, daß nicht nur die
somatische Medizin und Psychotherapie, sondern
daß auch Medizin, Philosophie und Theologie
noch stärker als bisher miteinander ins Gespräch
kommen müssen, und zwar nicht nur auf dem
Gebiet einer im wesentlichen auf
Risikoabschätzung reduzierten medizinischen
Ethik, sondern im Bereich anthropologischer
Grundfragen.
35
 An die Stelle hochgradiger Arbeitsteilung muß das
Teamwork aller heilenden Berufe einschließlich
der Seelsorge treten, soll der Mensch als Person
nicht aus dem Blickfeld geraten.
36
Nachträge zu Kap. 2.4:
Pflegeethik – Begriff und Gegenstand
 Pflegeethik: ein Gebiet der angewandten Ethik
bzw. eine Bereichsethik
 Engl.: nursing ethics/ethics in nursing
 Andere Beispiele für Bereichsethiken:
Medizinethik, Wirtschaftsethik,
Wissenschaftsethik, Umweltethik, Technikethik,
Medienethik
37
 Gegenstand von Pflegeethik ist die ethische
Reflexion pflegerischen Handelns.
 Pflegeethik befaßt sich nicht nur mit Einzelfragen
oder Einzelkonflikten im Alltag des Pflegeberufs,
sondern reflektiert auch die ethischen Grundlagen
und Prinzipien von Pflege und Pflegeberufen.
38
Krankheit, Gesundheit und Pflegebedürftigkeit
 Frage: Inwiefern sind Krankheit und Gesundheit nicht
nur für die die Medizin, sondern auch für die Disziplin
der Pflege die legitimatorische bzw. die teleologische
Kategorie?
 Die legitimatorischen Kategorien der Pflege sind
Pflegebedürftigkeit und Pflegebedarf. Teleologische
Kategorie der Pflege sind Wiedererlangung der
Selbständigkeit (d.h. auch Fähigkeit zur
Selbstpflege!), Wohlbefinden, Lebensqualität.
39
 Ist Krankheit der einzig mögliche Grund für
Pflegebedürftigkeit? Ist Selbständigkeit oder
Wohlbefinden gleichbedeutend mit
Gesundheit?
 Berufsbezeichnung und Berufsbild der
Gesundheits- und Krankenpflege beziehen
sich auf jenes Feld, in dem sich Krankheit
und Pflegebedürftigkeit überschneiden.
40
Verhältnis der Leitbegriffe von Medizin und Pflege
Medizin
Pflege
Krankheit/
Gesundheit
Der kranke
u. pflegebedürftige
Mensch
Pflegebedürftigkeit/
Selbständigkeit/Wohlbefinden
41
Entsprechend der verschiedenen Handlungsfelder
der Pflege reflektiert Pflegeethik
▷ Pflegepraxis
▷ Pflegemanagement
▷ Pflegepädagogik
▷ Pflegewissenschaft (science in nursing)
(Lay 2004: 64ff;
im Anschluß an Weidner 2000:12)
42
Verbindungen der Pflegeethik zu anderen
Bereichsethiken
 Ethik in der Pflegepraxis:
☞ Ethik in der Medizin
☞ Ethik in der sozialen Arbeit
● Ethik im Pflegemanagement:
☞ Wirtschaftsethik
☞ Sozialethik
☞ politische Ethik
43
 Ethik in der Pflegepädagogik:
☞ Pädagogische Ethik
 Ethik in der Pflegewissenschaft:
☞ Wissenschaftsethik
☞ Forschungsethik
(vgl. Lay 2004: 66)
44
Pflegeethik: Angewandte Ethik oder Bereichsethik?
 Lay wählt als Oberbegriff „Ethik in der Pflege“ und
grenzt den Begriff „Pflegeethik“ auf die Ethik in der
Pflegepraxis ein.
 Die Bezeichnung „Ethik in der Pflege“ entspricht
dem Konzept Angewandter Ethik, die hier
vorgeschlagene Terminologie dem Konzept der
Bereichsethik. Beides ist zu unterscheiden,
wogegen Lay die Begriffe „angewandte Ethik“ und
„Bereichsethik“ synonym verwendet.
45
Pflege: Aufgabe und Begriff
„Pflege ist eine Praxisdisziplin und hat die
Aufgabe einzelne Menschen und Gruppen von
Menschen verschiedenen Geschlechts, Alters und
kultureller Prägung in ihrer Gesundheit zu fördern
und zu beraten, sie während einer Krankheit im
Genesungsprozess zu unterstützen oder, in
chronischen nicht heilbaren Stadien,
Wohlbefinden zu ermöglichen und Schmerzen zu
lindern.“
(Kühne-Ponesch 2004: 11)
46
 „Pflege ist eine Disziplin, bestehen aus Elementen
der Forschung, der Philosophie, der Praxis und der
Theorie.“
(Kühne-Ponesch 2004: 14)
● Pflege entwickelt sich international immer mehr
von einer erfahrungsbezogenen zu einer
wissenschaftsbasierten Disziplin.
(Mayer 2002)
47
Die Aufgaben der Pflege nach dem ICN-Ethikkodex für
Pflegende
(Fassung 2000)
● Gesundheit fördern
● Krankheit verhüten
● Gesundheit wieder herstellen
● Leiden lindern.
48
Bereiche der Pflegepraxis
(nach P. Benner)





Helfen
Beraten und Betreuen
Diagnostik und Patientenüberwachung
Wirkungsvolles Handeln bei Notfällen
Durchführen und Übverwachen von
Behandlungen
 Überwachung und Sicherstellung der Qualität der
medizinischen Versorgung
 Organisation und Zusammenarbeit
(Benner 2000: 64)
49
 Es gibt einen engeren und einen weiteren
Begriff der Pflege.
 Weiter Begriff: Pflege als allgemeine
menschliche Fähigkeit, Bedingungen für das
Überleben oder Wohlbefinden von Menschen zu
sichern (care/caring)
 Enger Begriff: Pflege als Beruf bzw. als
professionelles Handeln (nursing)
50
 Pflegeethik im Sinne von „nursing
ethics“ setzt den engeren Begriff der
Pflege voraus.
 Eine wichtige Aufgabe für die
Grundlegung der Pflegeethik besteht darin,
das Verhältnis von caring und nursing
zu bestimmen.
51
Nachtrag zu Kap. 3.1
Auch berufsrechtlich wird anerkannt, daß
Pflegende es aus Gewissensgründen ablehnen
können, an bestimmten Maßnahmen mitzuwirken,
auch wenn diese gesetzlich erlaubt oder straffrei
sind (Beispiel: Schwangerschaftsabbruch).
52
Nachtrag zu Kap. 4.2:
Personbegriff und Leiblichkeit
 Wenn Personsein und Menschsein in
gleichzusetzen sind, gehört die Leiblichkeit
wesensmäßig zu unserem Personsein.
 Was den Leib und die Psyche betrifft, ist von der
Person einerseits zu unterscheiden und betrifft
andererseits immer auch die Person selbst. Eben
darum folgt aus der Würde der Person das Recht
auf Leben und Unverletzlichkeit.
53
Was das Verhältnis von Leib und Person betrifft, gilt ein
Doppeltes:
● einerseits: Ich bin Leib,
● andererseits: Ich habe einen Leib.
Der Leib ist der Träger unserer Personalität und das
Medium, durch welches wir mit unserer Umwelt und
anderen Menschen kommunizieren.
Wenn die Tradition den Menschen als „animal rationale“
(Aristoteles), d.h. als Vernunftwesen definiert, so ist doch
unsere Vernunft leibliche Vernunft (M. Merleau-Ponty).
54
Nachtrag zu Kap. 4.3:
Frailty – ein neues Konzept in der Geriatrie
 „Frailty“: „Gebrechlichkeit“, Hinfälligkeit“,
„Pflegeabhängigkeit“, „vielfältige Reduktion von
Fähigkeiten und funktioneller Autonomie“
 Mit diesem Konzept sollen das (vor)schnelle
organische Altern des Menschen und die fragile
Stabilität bei vielen Hochbetagten beschrieben
werden.
 Der Begriff „Frailty“ stammt ursprünglich aus der
Neonatologie. Dort wird der Umstand, daß
Frühgeborene trotz Unauffälligkeit der üblichen
Laborparameter und Vitalfunktionen nicht gedeihen,
als „failure to thrive“ bezeichnet.
55
 Außerdem taucht der Frailty-Begriff in demographischen
Studien zur Mortalität auf. Z.B. wird das „correlated frailty“Modell im Rahmen von Zwillingsforschung für die genetische
Analyse von todesursachenspezifischer Sterblichkeit genutzt.
 Gebrechlichkeit und Multimorbidität gehören zu den
Merkmalen, die man typischerweise mit dem (hohen) Alter
verbindet. Hochbetagte haben z.B. ein erhöhtes Risiko von
Stürzen, die eine häufige Ursache von Verletzungen,
Behinderungen und Tod darstellen.
 Ein weitere Faktor für Gebrechlichkeit im Alter sind
Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes oder
Ernährungsmängel wie Sarkopenie.
56
 Allerdings stellt sich die Frage, ob „Frailty“ ein
klar umrissenes geriatrisches Konzept oder ein
ähnlich unscharfer und subjektiv interpretierbarer
Begriff wie „Lebensqualität“ ist.
 In beiden Fälle ist es nicht leicht, sich auf
objektive Parameter zu einigen. Gebrechlichkeit
ist schließlich keine Einzelkrankheit, sondern ein
krankheits- und alterungsbedingtes, aber auch von
lebensweltlichen und sozialen Faktoren
abhängiges Syndrom.
57
 Bei „Frailty“ handelt es sich um einen „umbrella term“,
der sich der Begriff auf sehr unterschiedliche körperliche,
psychische oder mentale Zustände und eine mit ihnen
verbundene Hilfsbedürftigkeit anwenden läßt.
Entsprechend vieldeutig ist die therapeutische und
pflegerische Zielsetzung, Gebrechlichkeit durch
entsprechende Prophylaxe zu vermeiden oder durch
geeignete Konzepte der Rehabilitation zu reduzieren.
 Gebrechlichkeit und dauerhafte Pflegebedürftigkeit sind
nicht selten die bleibenden Folgen von Schlaganfällen, die
freilich auch bei jüngeren Menschen auftreten können und
insofern kein ausschließlich geriatrisches Krankheitsbild
sind. Gebrechlichkeit entsteht schließlich auch im
Zusammenhang mit Demenzerkrankungen.
58
 Trotz der definitorischen Schwierigkeiten ist der Begriff
der Gebrechlichkeit aber im geriatrischen Kontext sinnvoll,
weil er eine „ganzheitliche“ Sichtweise von
Multimorbidität und ihrer Anwirkungen auf die
individuellen Lebensumstände und die subjektiv
empfundene Lebensqualität alter Menschen fördert.
 Unzureichend wäre es freilich, Gebrechlichkeit unter rein
medizinischen Gesichtspunkten zu diskutieren. Ein
umfassendes Konzept von Gebrechlichkeit muß
sozialwissenschaftliche, anthropologische und ethische
Aspekte einbeziehen.
59
Nachtrag zu Kap. 7.2
▷ Beachte: Viele vermeintlich ethische Probleme in
Pflege und Medizin sind in Wahrheit
Kommunikationsprobleme.
▷ Die Schritte 1-3 dienen der Klärung folgender
Frage: Handelt es sich bei dem konkreten
Problem tatsächlich um ein ethisches? Was ist
die ethische Komponente im konkreten
Konfliktfall?
60
Nachtrag zu Kap. 10.1:
Recht auf Leben – Recht auf Sterben
 Allerdings ist ethisch und rechtlich zu beachten, daß aus
dem Recht auf Leben keine Pflicht zum Leben abzuleiten
ist.
 Praktisch folgt hieraus das Recht auf Verweigerung einer
Heilbehandlung.
 Wie das Sterben zum Leben gehört, so gibt es auch ein
Recht auf das Sterben.
 Frage allerdings, ob das Recht auf den eigenen Tod auch
im Sinne eines Rechts, sich zu töten oder auf Verlangen
getötet zu werden, auszulegen ist.
61
Nachträge zu Kap. 10.3:
Autonomie und Souveränität
 Gehören Krankheit und Sterben zum Leben dazu, ist nicht
Autonomie, sondern Souveränität das angemessene
Persönlichkeitsideal. „Ein Mensch ist souverän, wenn er
mit sich etwas geschehen lassen und Abhängigkeiten
hinnehmen kann.“ (Akashe-Böhme/Böhme 2005: 62).
 Dieser Gedanke berührt sich mit wesentlichen Einsichten
des christlichen Glaubens und seines Verständnisses von
Menschenwürde, die auch Schwerstkranke und Menschen
mit Behinderungen nicht verlieren können.
62
Patientenverfügungen
Für den Fall, daß ein Patient oder eine Patientin selbst
nicht (mehr) entscheidungsfähig ist, besteht die
Möglichkeit, seine Selbstbestimmung durch eine
Patientenverfügung oder eine Patientenvollmacht zu
sichern.
• Eine Patientenverfügung ist ein Dokument, in dem die
Patientin oder der Patient für den Fall, daß er seinen Willen
nicht mehr bilden oder äußern kann, Verfügungen über
Anwendung oder Verzicht auf lebenserhaltende
Maßnahmen oder den Einsatz bestimmter Therapien trifft.
63
Eine Vorsorgevollmacht ist ein Dokument, in
dem der Patient oder die Patientin für den Fall
eigener Entscheidungsunfähigkeit eine Person
ihres Vertrauens bevollmächtigt, an ihrer Stelle
alle erforderlichen Entscheidungen über ihre
ärztliche Behandlung zu treffen und sie mit dem
behandelnden Arzt oder der Ärztin abzusprechen.
64
Verbindlichkeit und Reichweite von
Patientenverfügungen
Die Verbindlichkeit und die Reichweite von Patientenverfügungen ist
rechtlich und ethisch umstritten.
Fragen:
1. Was sind die Kriterien für die Verbindlichkeit von
Patientenverfügungen?
2. Sollen Patientenverfügungen nur für „irreversibel zum Tode
führenden Grundleiden“ und für die „Sterbephase“ gelten? (Sog.
Reichweitenbegrenzung)
3. Was heißt „mutmaßlicher Wille“? Trägt diese Gedankenfigur z.B.
noch bei Patienten mit fortgeschrittener Demenzerkrankung oder bei
langjährigem Wachkoma?
65
Argumente für Reichweitenbegrenzung
 Die Pflicht zur Fürsorge kann in Spannung und
Konflikt zum Postulat der Selbstbestimmung
treten.
 Im Zweifel für das Leben
 Ohne Reichweitenbegrenzung können Patienten
durch ihre Umgebung unter Druck gesetzt werden.
 Mißbrauchsmöglichkeiten und mangelnde
Abgrenzung gegen Euthanasie und Suizidbeihilfe.
66
Argumente gegen Reichweitenbegrenzung
 Formulierungen wie „Wille des Patienten“
oder Begrenzung auf ein „irreversibel zum Tod
führendes Grundleiden“ täuschen eine
Exaktheit vor, die es so im wirklichen leben
nicht gibt
 Bei Multimorbidität kann Therapiebegrenzung
oder –abbruch ethisch gerechtfertigt sein,
obwohl keines der einzelnen Leiden
irreversibel zum Tode führt.
67
 Umgekehrt kann trotz irreversiblen Grundleidens –
z.B. einer Krebserkrankung – über Jahre ein
weitgehend normales Leben möglich sein, d.h. vor
einem eintretenden Notfall eine relativ günstige
Prognose bestehen.
 Patienten dürfen nicht durch das Fürsorgeprinzip
paternalistisch bevormundet werden. Der Respekt vor
der Selbstbestimmung des Patienten ist vielmehr eine
Implikation der Fürsorge.
68
Patientencharta (BGBl 153/2002):
Art. 18: „Patienten und Patientinnen haben das
Recht, im Vorhinein Willensäußerungen
abzugeben, durch die sie für den Fall des Verlustes
ihrer Handlungsfähigkeit das Unterbleiben einer
Behandlung oder bestimmter
Behandlungsmethoden wünschen, damit bei
künftigen medizinischen Entscheidungen so weit
wie möglich darauf Bedacht genommen werden
kann.“
69




Rechtlich bedeutsam sind v.a.
Art. 110 StGB (Verbot der eigenmächtigen
Heilbehandlung)
Art. 8 EMRK
Österreichisches Patientenverfügungsgesetz 2006
(PatVG; BGBl Nr.55, 8.5.2006)
Novelle des Sachwalterrechts: § 284 f-h
Sachwalterrechts-Änderungsgesetz (SWRÄG)
2006 (BGBl Nr. 92, 23.6.2006)
70
Hauptinhalte des PatVG
 Eine Patientenverfügung ist eine Willenserklärung,
deren Gegenstand nur Ablehnung einer bestimmten
medizinische Maßnahme sein kann. Gegenstand sind
also keine Maßnahmen der Pflege!
 Die Grundversorgung mit Nahrung und Flüssigkeit als
Teil der Pflege kann durch eine Patientenverfügung
nicht ausgeschlossen werden.
 Das gilt jedoch nicht für die Sondenernährung, da es
sich hierbei um eine medizinische Maßnahme handelt.
 Grundsätzlich gibt es keine Reichweitenbegrenzung.
71
 Der Patient oder die Patientin kann nichts rechtlich
Verbotenes vom Arzt oder der Ärztin verlangen. Es ist
daher ausgeschlossen, den Wunsch nach aktiver
Sterbehilfe in einer Patientenverfügung zu formulieren.
Derartige Bestimmungen wäre nichtig.
 Patientenverfügungen können sich nur auf medizinische
Maßnahmen erstrecken, die dem Stand der Forschung
entsprechen. Der Patient oder die Patientin kann keine
medizinisch nicht indizierte Behandlung verlangen.
72
 Ist nur eine einzige Behandlungsform nach ärztlicher
Wissenschaft und Erfahrung indiziert, dann ist diese
durchzuführen, vorausgesetzt, es liegt die Zustimmung des
Patienten (informed consent) vor.
 Nur wenn zwei oder mehrere verschiedene
Behandlungsmethoden vorliegen, steht dem Patienten oder
der Patientin die Entscheidungsbefugnis über die Wahl der
Methode zu, indem er oder sie die nicht gewünschte(n)
Maßnahmen ablehnt.
73
Die Verbindlichkeit ist an folgende Bedingungen geknüpft:
 Eine Patientenverfügung kann nur von einem einsichts- und
urteilsfähigen Patienten errichtet werden (ab 14 Jahren!).
 Sie muß frei und ernstlich erklärt sein; sie darf nicht durch
Irrtum, durch List, durch Täuschung oder durch physischen oder
psychischen Zwang veranlaßt sein.
 Der Errichtung einer Patientenverfügung muß eine der
Krankheitssituation und der medizinischen Behandlung
entsprechende ärztliche Aufklärung vorausgehen, die der Arzt in
der Patientenverfügung urkundlich zu bestätigen hat.
 Zusätzlich ist eine rechtliche, urkundlich bestätigte Aufklärung
erforderlich.
74
 Die Patientenverfügung muß schriftlich errichtet werden,
indem der Patient die Urkunde entweder eigenhändig
schreibt und unterfertigt oder in Gegenwart von drei
unbefangenen und eigenberechtigten Zeugen unterfertigt.
 Kann der Patient die schriftliche Patientenverfügung nicht
selbst unterfertigen, so hat er, nachdem ihm die Verfügung
in Gegenwart von drei unbefangenen und
eigenberechtigten zeugen vorgelesen wurde, zu
bekräftigen, daß sie seinem Willen entspricht. Das ist von
den Zeugen durch eigenhändige Unterschrift zu bestätigen.
75
 Die Krankheitssituation und jene medizinischen
Maßnahmen, die Gegenstand der Ablehnung oder
Einwilligung sind, müssen konkret beschrieben sein oder
eindeutig aus dem Gesamtzusammenhang der
verbindlichen Patientenverfügung hervorgehen.
 Eine verbindliche Patientenverfügung ist spätestens fünf
Jahre nach ihrer Errichtung oder ihrer letzten Erneuerung
unter Einhaltung der genannten Formerfordernisse
(Schriftlichkeit) zu erneuern. Dafür ist abermals eine
entsprechende ärztliche und rechtliche Aufklärung
erforderlich, die jeweils neu zu dokumentieren ist.
76
 Patientenverfügungen, die nicht verbindlich sind,
sind jedenfalls als Orientierungshilfe
heranzuziehen.
 Eine Patientenverfügung, die von vornherein als
Orientierungshilfe gedacht ist – und das werden in
der Praxis die meisten Patientenverfügungen sein
– kann entweder schriftlich (eigenhändig
verfertigt) oder mündlich gegenüber einem Arzt
errichtet werden.
77
Erlöschen oder Aufhebung der Verbindlichkeit von
Patientenverfügungen
 Eine Patientenverfügung erlischt, wenn der Patient selbst zu erkennen
gibt, daß er an diese nicht mehr gebunden sein will.
 Eine Patientenverfügung verliert ihre Verbindlichkeit, wenn der Stand
der medizinischen Wissenschaft seit der Errichtung der Urkunde eine
für den konkreten Fall oder die sonstigen Lebensumstände eine
erhebliche Veränderung erfahren haben.

Patientenverfügungen, die ihre Verbindlichkeit verlieren, sind
jedoch weiterhin als Orientierungshilfe bei der Ermittlung des
mutmaßlichen Patientenwillens heranzuziehen.
 Bestimmung für Notfälle: Patientenverfügungen sind nicht zu
beachten, Sofern der mit der Suche nach einer Patientenverfügung
verbundene Zeitaufwand das Leben oder die Gesundheit des Patienten
ernstlich gefährden würde.
78
Grundsätzliche Überlegungen zur Sinnhaftigkeit von
Patientenverfügungen
 Das PatVG kann zwar in etlichen Fällen für mehr
Rechtssicherheit sorgen. Es werden aber genügend Fälle
bleiben, bei denen eine verbindliche und eindeutige
Verfügung nicht vorliegt und wo es auch künftig schwierig
bleibt, den mutmaßlichen Patientenwillen zu ergründen
und zu befolgen.
 Die meisten Patientenverfügungen werden auch in Zukunft
nur eine Orientierungshilfe und nicht rechtlich strikt
verbindlich sein. Für die verantwortlichen Ärzte bleiben
Entscheidungsspielräume.
79
 Daher ist die Koppelung einer
Patientenverfügung an eine Vorsorgevollmacht
ratsam, in der ein Patient für den Fall seiner
Entscheidungsunfähigkeit eine Person seine
Vertrauens benennt.
 Eine gesetzliche Reichweitenbegrenzung ist nicht
ratsam. Der österreichische Gesetzgeber hat davon
Abstand genommen. Wer die Reichweite von
Patientenverfügungen begrenzen will, provoziert
letztlich nur neue Rechtskonflikte darüber, was im
Einzelfall unter Todesnähe zu verstehen ist.
80
Recht auf Leben – Recht zu sterben
 Das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) bedeutet keine
Pflicht zum Leben um jeden Preis. Der Grundsatz des
Lebensschutzes legitimiert weder ethisch noch
rechtlich die Bevormundung und Entmündigung von
Patienten.
 Sofern die Grenzen geachtet werden, die das
österreichische Strafrecht gegenüber aktiver
Sterbehilfe und Suizidbeihilfe zieht, ist die Freiheit
der Menschen zu achten. Wer glaubt, mündige Bürger
vor sich selbst schützen zu müssen, gibt letztlich der
Forderung nach einer Liberalisierung der Euthanasie
neue Nahrung.
81
Töten und Sterbelassen
 Es bleibt rechtlich und moralisch ein Unterschied, ob ich
verfüge, daß man mich sterben läßt, oder aber, daß man
mich tötet. Dennoch: auch die ausgefeiltesten Gesetze
werden nicht verhindern, daß wir an den Grenzen des
Lebens in ethische Dilemmata geraten, in denen das Urteil,
ob es sich um ein Sterbenlassen oder eine aktive
Herbeiführung des Todes handelt, eine Frage des
Blickwinkels ist.
 „Ein ethisch verantwortungsvoller Umgang mit Sterben
und Tod läßt sich nicht durch Präzisierung von
Gesetzesformulierungen erreichen, sondern setzt eine
Reflexion und Integration des Sterbens in unser
alltägliches Leben voraus.“ (G. Ehninger, FAZ, 31.1.2005)
82
Nachtrag zu Kap. 10.5:
Leben als Fragment
 Menschliches Leben ist fragmentarisch. Endlichkeit
bedeutet nicht nur Sterblichkeit, sondern zum Leben
gehören auch unsere Unvollkommenheit, Mißlingen und
Brüche. Der Tod ist das Ende, aber nicht die Vollendung
des Lebens.
 Hoffnungen können zerbrechen und enttäuscht werden.
 Christlicher Glaube hofft auf eine höhere, vom Mensch
nicht leistbare Vollendung.
83
 Zur Endlichkeit und Fragmenthaftigkeit des Lebens gehört
auch die Begrenztheit ärztlicher Heilkunst.
 Sowohl in der Medizin als auch in der Pflege gilt es sich
von Allmachtsphantasien, deren Enttäuschung zu
narzißtischen Kränkungen führen muß, freizumachen. Das
gilt gerade im Umgang mit Krebserkrankungen.
 Patienten, Ärzte und Pflegende sollen sich hier
wechselseitig nicht mit unrealistischen und somit
unmenschlichen Erwartungen und Hoffnungen
überfordern.
84
Nachtrag zu Kap. 11.3:
Rechtliche Grundlagen für Therapieverzicht oder Therapieabbruch
§ 110 StGB verbietet die eigenmächtige Heilbehandlung.
„(1) Wer einen anderen ohne dessen Einwilligung, wenn auch nach den
Regeln der medizinischen Wissenschaft, behandelt, ist mit
Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360
Tagessätzen zu bestrafen.
(2) Hat der Täter die Einwilligung des Behandelten in der Annahme
nicht eingeholt, daß durch den Aufschub der Behandlung das Leben
oder die Gesundheit des Behandelten ernstlich gefährdet wäre, so ist er
nach Abs. 1 nur zu bestrafen, wenn die vermeintliche Gefahr nicht
bestanden hat und er sich dessen bei Aufwendung der nötigen Sorgfalt
( § 6) hätte bewußt sein können.
(3) Der Täter ist nur auf Verlangen des eigenmächtig Behandelten zu
verfolgen.“
85
Verweigerung oder Einstellung der Sondenernährung
 Unter die Bestimmungen des § 110 StGB fällt auch die
Sondenernährung (PEG-Sonde).
 Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr gehören grundsätzlich
zum pflegerischen und nicht zum medizinischen Bereich
(eigenverantwortlicher Tätigkeitsbereich der Pflege. Die
Sondenernährung gehört aber zum mitverantwortlichen
Tätigkeitsbereich der Pflege, wie sich z.B. aus den
Bestimmungen des GuKG für den Tätigkeitsbereich der
Pflegehilfe eindeutig ergibt.
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 § 84 GuKG
„(4) Im Rahmen der Mitarbeit bei therapeutischen und
diagnostischen Verrichtungen dürfen im Einzelfall nach
schriftlicher ärztlicher Anordnung und unter Aufsicht von
Angehörigen des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und
Krankenpflege oder von Ärzten folgende Tätigkeiten
durchgeführt werden:
...
4. Durchführung von Sondenernährung bei liegenden
Magensonden“
87
 Grundsätzlich spielt bei der Entscheidung für oder gegen
therapeutische Maßnahmen ihre Einordnung in die
Biographie des bzw. der Betroffenen eine wesentliche
Rolle (Biographiearbeit; Story-Konzept).
 Beispiel: Zwei Patienten haben die gleiche infauste
Karzinomprognose. Während aber die eine Patientin in
Rücksprache mit den behandelnden Ärzten und Ärztinnen
auf eine weitere Chemotherapie verzichtet, weil sie mit
ihrem Leben abgeschlossen hat und den Tod nicht länger
hinauszögern will, möchte der andere noch einige Wochen,
vielleicht Monate an Lebenszeit gewinnen, vielleicht weil
er noch die Hochzeit seines Kindes oder die Taufe seines
ersten Enkels erleben möchte.
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