Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde der KSZE eine

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Nach dem Ost-West-Konflikt
 Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts verschwanden auch die
gegenseitigen Bedrohungen.
Das Ende des Systemantagonismus hat freilich nicht automatisch ein europäisches Friedensreich anbrechen lassen. Konservative Machtanalytiker
befürchten einen Rückfall in die alten europäischen nationalstaatlichen
Gegensätze.
Die Ethno-Kriege auf dem Balkan und in einigen GUS-Staaten im Kaukasus
scheinen für diese Erwartungen zu sprechen. Dieser Denkansatz macht
allerdings nur dann Sinn, wenn man diese Konflikte nicht als isolierte Vorfälle
in rückständigen Regionen interpretiert, sondern als womöglich ansteckende
Krankheit des Ethnizismus und Nationalismus. Diese Hypothese erscheint
jedoch nicht als übermäßig plausibel.
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
Die genannten Konflikte offenbarten vielmehr eher ein
Rückständigkeitsproblem.
Der zentralistische Realsozialismus und vor allem die Rote Armee hatten die
ethnischen Konflikte auf ihrem Herrschaftsgebiet nur unterdrückt, diese aber
nicht bearbeitet und gelöst.
Nach dem Zerfall der zentralistischen Gewaltherrschaft traten deshalb alte
Nationalismen in ihrer antiquierten Form wieder zutage.
Darin drückte sich das Modernitätsgefälle zwischen Ost- und Westeuropa aus,
nicht der Rückfall Gesamteuropas in finsteren Nationalismus.
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 Eine wirkliche Bedrohung für die europäische Sicherheit geht mit
diesen Ethno-Konflikten nur bedingt einher. Sie sind in erster
Linie zerstörerische Bürgerkriege, welche die Beteiligten und die
entsprechenden Regionen ruinieren.
Historische Analogien gesamteuropäischer kriegerischer Auseinandersetzungen sind höchstwahrscheinlich falsch.
Solche lokalen Konflikte können nur dann größere Kriege provozieren, wenn
außerhalb potentielle Kriegsparteien darauf warten, sie als Anlass für eigene
Militäroperationen zu nutzen.
Szenarien, wie das eines deutsch-französischen Krieges wegen Bosnien oder
das eines deutsch-russischen Krieges wegen der Konflikte auf dem Balkan,
erscheinen jedoch ziemlich absurd.
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 Eine immer noch ernstzunehmende potentielle Bedrohung für
Europa liegt in den Nuklear-Potentialen, die auf dem Boden der
GUS-Staaten als Erbe der alten Sowjetunion und des Ost-WestKonflikts übriggeblieben sind.
Zwar haben sich die Ukraine und Weißrußland verpflichtet, den Status von
Kernwaffenstaaten aufzugeben und die Nuklearwaffen auf ihrem Boden
entweder zu vernichten oder an Russland auszuliefern, doch die Realisierung
hat sich bislang als langwierig und womöglich auch zweifelhaft erwiesen.
Insbesondere ein Proliferationsproblem in nach Atomwaffen strebende Staaten
wie der Iran und die Weitergabe an terroristische Gruppen bestehen fort.
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Als Restrisiko bleibt natürlich auch der immer noch hoch gerüstete
Atomwaffenstaat Russland mit seinem nach wie vor riesigen konventionellen
Potential. Auch wenn dort gegenwärtig nicht von unmittelbaren expansiven
Absichten ausgegangen werden muss, sind die Potentiale dafür noch
vorhanden.
Absichten könnten sich angesichts der instabilen, unberechenbaren innenpolitischen Situation und der Möglichkeit der Machtübernahme durch andere,
weniger reformistisch aber dafür mehr expansiv orientierte Gruppierungen
womöglich schnell ändern. Hier bleibt also ein erhebliches Restrisiko.
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 Dies gilt besonders für Mittelosteuropa. Russland hatte sich mit
seiner Militärdoktrin des „nahen Ausland“ vom November 1993
eine Einflusszone vorbehalten, die von den früheren Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts außerhalb der GUS als Wiederaufleben des russischen Expansionismus interpretiert worden ist.
Diese Staaten mochten deshalb nicht in einer Zone minderer Sicherheit
verbleiben und suchten Schutz bei der NATO. Die Ablehnung der
Osterweiterung der NATO durch Russland war ein deutliches Signal an die
früheren Satellitenstaaten. Russland blieb unter Jelzin unberechenbar.
Die russischen Optionen für das demokratische Lager oder für eine eigene
machtstaatliche Außenpolitik, womöglich auch ein Hüh und Hott, sind offen.
Das deutsche Interesse gegenüber Russland ist klar ausgedrückt zweifach:
„mit den Russen sich gut zu stellen, so eng wie möglich, und Russland auf
Abstand halten, so weit wie möglich.“ Unter Putin stieg das gegenseitige
Vertrauen.
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 Außereuropäische Bedrohungsfaktoren, wie etwa im Nahen
Osten durch die dortigen islamischen Staaten, die den
Kernwaffenstatus anstreben, z. B. Iran, Irak, Libyen usw., sind
schwer abzuschätzen aber real. Der islamistische Terrorismus
entsprang den islamischen Gesellschaften nicht den Staaten.
Die Stoßkraft des radikalen Islamismus ist eine zweifelhafte Größe, die militärtechnologische Leistungsfähigkeit dieser Staaten erst recht. Auch wenn wir dort
von mittel- und längerfristigen Bedrohungen für die europäische Sicherheit
ausgehen können, ist das mehr als Zukunftsmusik.
In den Neunzigern wurde diese potentielle Bedrohung eher als Lobbyargument
für nicht allzu große Einschnitte in die Verteidigungshaushalte gebraucht. Seit
dem 11. September 2002 ist es ein valides, aber in der Bedeutung und
Reichweite noch unscharfes Bedrohungsbild.
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 Europa und damit Deutschland mittendrin befanden sich bis 2010
in der komfortablen Situation, nicht eigentlich bedroht zu sein und
deshalb sich mit der Fortentwicklung der gemeinsamen vorhandenen oder neuen Sicherheitsregimen Zeit lassen zu können.
Europa konnte sich also den Luxus des Experimentierens mit den
überkommenen Sicherheitsinstitutionen leisten und sich bei der Ausformung
seiner Sicherheitsarchitektur Zeit lassen. Dieser Komfort ist im September
2002 erschüttert worden.
Diese Institutionen sind deswegen hier im Hinblick auf Deutschlands Rolle in
diesen Regimen sowie auf deren Leistungsfähigkeit hin zu analysieren.
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 NATO
 Im Großen und Ganzen kann die NATO für die Phase des OstWest-Konflikts als erfolgreiche Sicherheitsorganisation bewertet
werden. Ihr Doppelziel, die Eindämmung der Sowjetunion und
Deutschlands, war erreicht worden.
Die Bundesrepublik wurde integriert, Gesamtdeutschland blieb NATO-Mitglied.
Zumindest für eine längere Übergangszeit dürfte die NATO weiterhin die
wichtigste Rolle für die europäische Sicherheit spielen.
Vereinbarungen aus der Endphase des Ost-West-Konflikts werden noch
umgesetzt. Dazu gehören in erster Linie die Rüstungsbegrenzungsmaßnahmen im konventionell- und nuklearstrategischen Bereich.
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Das Beharrungsvermögen der NATO-Institutionen und die amerikanische
Dominanz dürften für einige Jahre noch als Kitt für die NATO ausreichen. Da
ihr aber der Gegner abhanden gekommen ist, bleibt nur die langsame
Auszehrung oder ein grundsätzlicher institutioneller Umbau.
Der neue Ersatzgegner wie islamisch-fundamentalistische Staaten und
nukleare Schwellenländer bleiben als Überlebensphilosophie fragwürdig, weil
unklar ist ob die NATO dagegen und gegen den Terrorismus geeignet ist.
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 Mittlerweile hat die NATO das Sicherheitsvakuum in Osteuropa
füllen können. Gerade die mittelosteuropäischen Länder wollten
schnell beitreten. Sie sahen in der amerikanischen Führungsrolle
eine Sicherheitsgarantie gegenüber Russland und Deutschland.
Die Vision einer neuen erweiterten NATO, die die Mitgliedsstaaten des
früheren Warschauer Pakts einschloss, war schon mit dem NATOKooperationsrat vom November 1992 angedeutet worden. Einen Schritt
weiter ging das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ vom Januar 1994.
Damit wurde Russland ausdrücklich nicht ausgegrenzt, es akzeptierte dieses
Programm allerdings erst nach längerem Zögern im Sommer 1995. Dass
dieses Konzept tragfähig war, hat sich heraus gestellt.
Die NATO war immer das Bündnis einer Wertegemeinschaft von
Demokratien. Da der demokratische Weg in den GUS-Staaten noch längere
Zeit unsicher bleiben dürfte, bleibt aber auch das Verhältnis zu diesen
problematisch. Die Beitrittskandidaten in Osteuropa verstanden die
Partnerschaft für den Frieden als Hinhaltetaktik gegenüber der von ihren
angestrebten Vollmitgliedschaft.
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 Die primäre Herausforderung für eine Osterweiterung der NATO
aus deutscher Sicht stellte die Sicherung der ostmitteleuropäischen Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei
vor potentiellen neuen Machtansprüchen Russlands gegenüber
seinem verlorenen Herrschaftsgebiet dar.
Besonders Polen, drängte möglichst schnell unter den westlichen
Schutzschirm. Deutschland wollte darauf früher eingehen als die meisten
anderen NATO-Partner. Aber auch in der Bundesrepublik selbst war der Weg
umstritten, weil eine Bevorzugung der oben genannten Gruppe den
Sicherheitsstatus etwa der drei Baltenstaaten und der Ukraine zu verringern
drohte. Letztere könnten damit indirekt als von der NATO stillschweigend
akzeptierte Einflusszone Russlands erscheinen.
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Außenminister Kinkel teilte diese Einschätzung noch im Herbst 1994 und
optierte folglich für eine langsamere Gangart bei der NATO-Erweiterung,
Verteidigungsminister Rühe hingegen zog den schnelleren Kurs vor.
Bereits im Herbst 1995 zeichnete sich eine Vollmitgliedschaft für Polen und
Tschechien ab. Die NATO hatte zwar erst einmal eine Studie in Auftrag
gegeben, die sich mit dem „Warum“ und dem „Wie“ einer Osterweiterung
beschäftigte. Danach wurde dann in einem zweiten Schritt auch noch das
„Wer“ und „Wann“ studiert. Klar war aber, dass es die NATO mit der
Erweiterung trotz aller Bedächtigkeit ernst meinte und Russland kein Vetorecht
einräumte.
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
Russland war selbst gegen eine „weiche“ Erweiterung, d. h. ohne
die Stationierung von fremden Truppen und Nuklearwaffen auf
dem Territorium der neuen Mitglieder.
Konservative Militärs in Russland hatten die Herausforderung für ihre eigenen
Vormachtambitionen erkannt und wie etwa der General Alexander Lebed,
drohend reagiert und die Erweiterung sogar als Beginn des Dritten Weltkrieges
bezeichnet.
Besonders ein Beitritt Polens missfiel den russischen Militärs. Gerade der war
aber aus deutscher Sicht attraktiv, um im Bündnis von der Randlage in eine
bequemere Mittellage zu kommen.
Die NATO spielte die zentrale Rolle als Übergangs-Sicherheitsregime, weil es
keine andere leistungsstarke Institution gibt. Die NATO ist und bleibt vorläufig
das Kernstück der europäischen Sicherheitsarchitektur. Ihr weiteres Schicksal
dürfte nicht zuletzt davon abhängen, ob sie unter Wegfall jeglicher Bedrohung
überflüssig wird, oder ob neue Bedrohungen wieder Sinn stiften.
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
Eine osterweiterte NATO dauerhaft ohne Russland hatte eine
antirussische Stoßrichtung. Eine NATO aller Staaten der Nordhalbkugel hätte eine Stoßrichtung gegen den Süden vor allem
gegen den staatlichen und gesellschaftlichen Radikalislamismus.
Das wäre also Ausdruck eines Nord-Süd-Konflikts, den es in dieser Form
bislang nur als Reichtumsgefälle, aber nicht als Sicherheitsdilemma gab.
Die NATO als Wächter nördlichen Reichtums und Schutzschirm gegenüber
einer islamistischen Bedrohung aus dem Süden wäre freilich eine qualitativ
völlig neue Institution, die mit der alten NATO nur noch den Namen gemein
hätte.
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Wie die neue Gross-NATO letztlich aussehen wird, hängt vom Sicherheitsbedarf ab, der derzeit noch schwer abzuschätzen ist. 2010/11 steht zu
befürchten, dass diese Heterogentität die NATO aushöhlen würde.
Seit dem Irak-Krieg ist angesichts des Alleingangs auch die Rolle der Vormacht
USA umstritten. Eine Quasispaltung der NATO könnte eintreten.
Auch der Einsatz in Afghanistan ist für deren Zusammenhalt riskant. Auch die
Folgen eines Abzugs und einer Quasi-Niederlage sind unklar. Ein Imageverlust
liegt nahe, ein kluges Niederlagenmanagement könnte aber auch eine breite
globale Legitimation gegen den Terrorismus bewirken und in eine Arbeitsteilung
mit anderen Akteure wie Indien und China münden.
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
KSZE/OSZE

Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
(KSZE) umfasste bei ihrer Startphase im Jahr 1975 35 Mitgliedsstaaten.
Die alte Rolle war die eines Forums für Ost und West gewesen. Sie sollte von
der Sicherheitskonfrontation zur Sicherheitskooperation führen.
Unbestreitbar hat sie zum Spannungsabbau in Europa beigetragen und
Vertrauen zwischen den früheren Blöcken gebildet. Noch viel mehr hat sie
freilich als Legitimationsgrundlage für Menschenrechte die Dissidentenbewegungen in Osteuropa gefördert.
Obwohl ursprünglich eigentlich eine Idee der östlichen Realsozialisten, hat die
KSZE mit zum Legitimationszerfall der östlichen Herrschaftssysteme beigetragen. Dies erfolgte allerdings nicht direkt, sondern auf subtile Art und Weise,
indem mit der KSZE die östliche antikapitalistische Propaganda sich selber
desavouierte.
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 Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde der KSZE eine
wachsende Rolle neben der NATO zugewiesen.
Eine vorsichtige Form der Institutionalisierung mit dem Konfliktverhütungszentrum in Wien unter deutscher Leitung wertete die KSZE erheblich auf.
Ab Januar 1995 wurde aus der Konferenz eine Organisation (OSZE) mit 53
europäischen Mitgliedsstaaten. Als Kooperationsforum aller gutwilligen Mitglieder stieß sie aber auch zugleich an ihr funktionales Grenzen. Nützlichkeit
und Überflüssigkeit lagen sehr nahe beieinander. Solange alle gutwillig
mitmachten, hatte sie sicher eine Überwachungsrolle bei den vereinbarten
Rüstungskontroll- und Abrüstungsmaßnahmen. Wo Bedrohung und Konflikt
fehlen, wird ein Konfliktverhütungszentrum aber zur Sandkastenübung.
Da, wo es in Europa manifeste Konflikte gab wie auf dem Balkan, hat die
KSZE/OSZE keine Frieden stiftende Rolle spielen können. Sie war so hilflos
wie die UNO, erst die NATO konnte effektiv wirken. Für solche Fälle fehlten der
OSZE die Zähne. Das deutet auf ihre zukünftige Bedeutung hin. Sie blieb das
Forum für den gesamteuropäischen Sicherheitsdialog, hatte aber erhebliche
Defizite bei der Regulierung und Befriedung manifester Konflikte.
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 In der deutschen Außenpolitik kam der KSZE/OSZE stets ein
hoher Stellenwert zu.
In der Anfangsphase erwies diese sich als nützliches Entspannungsforum, das
einen deutschen Akzent bei der Ost- und Sicherheitspolitik jenseits von NATO
und amerikanischer Bevormundung ermöglichte.
Nach der Vereinigung wurde die OSZE zu einer Bühne für deutsche
Vorstellungen und Aktivitäten für eine kollektiv gemanagte europäischen
Sicherheitsarchitektur.
Damit sollten neben dem Ausdruck der deutschen Wertschätzung dieser
Institution auch die latenten Befürchtungen vor einer neuen Machtpolitik
Deutschlands abgebaut werden.
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 WEU/ESVP und EU-Sicherheit
 Die Westeuropäische Union (WEU) stand immer im Schatten der
NATO und erreichte nie die Qualität eines Sicherheitsregimes
Der WEU fehlten eigene militärische Strukturen. Westeuropa war mit Recht in
der NATO, weil es seine Sicherheit nicht selber garantieren konnte.
Die Kritik an der amerikanischen Vorherrschaft drückte zugleich immer auch
die eigene Unfähigkeit aus, sich selbst zu schützen.
Ein eigenständiges europäisches Sicherheitssystem, unabhängig von den
USA, scheint allerdings längerfristig möglich.
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
Aus der WEU wurde keine Verteidigungsorganisation der EU.
Solange die westeuropäische Sicherheit nicht bedroht ist, reichte eine WEU als
Debattierforum aus.
Sollte diese einmal, aus welcher Richtung auch immer, wirklich bedroht sein,
sind die USA durch die NATO automatisch im Spiele, es sei denn, die USA
zögen sich isolationistisch auf Nordamerika zurück und verweigerten, sich am
Schutz der Europäer zu beteiligen.
Hier gibt es also ein Feld für Spekulation, je nachdem welche Bedrohungsszenarien aus dem Süden oder Osten zur Grundlage gemacht werden.
22

In der Kommission der EU wird mittlerweile ein gewachsener
Bedarf für einen eigene Sicherheitspolitik gesehen.
Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) war in den
Vertragstext von Maastricht programmatisch aufgenommen worden. Dafür
brauchte die Europäische Verteidigung eine eigene Identität und die EU musste
sich einen Sicherheitsarm mit eigener Schlagkraft anschaffen. Damit war die
Frage nach der Konkurrenz zur NATO unausweichlich.
Lange wurde mit Hilfskonstruktionen operiert, z. B. dass die EU Streitkräfte
innerhalb der NATO operieren könnten und deshalb bei unabhängigen EU
Aktionen auch auf die Mittel der NATO zurückgreifen könnten.
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1999 wurde der Aufbau einer eigenständigen Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik (ESVP) beschlossen. Ziel ist die Komplettierung und
damit Stärkung der äußeren Handlungsfähigkeit der EU durch den Aufbau
ziviler und militärischer Fähigkeiten zur internationalen Konfliktverhütung und
Krisenbewältigung.
Auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember 2002 erfolgte eine Konkretisierung der ESVP durch die Vereinbarung zwischen EU und NATO, die bei
ESVP-Einsätzen der EU erlaubt auf NATO-Planungskapazitäten zurückzugreifen.
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 Ab Mitte der neunziger Jahre wurde parallel zur NATO auch die
Osterweiterung der WEU betrieben.
Neben die 10 Vollmitglieder und die drei assoziierten Mitglieder sowie die
fünf mit Beobachterstatus waren neun assoziierte osteuropäische Partner
hinzugekommen.
Die südeuropäischen Mitglieder Frankreich, Italien, Portugal und Spanien
hatten 1995 zwei Korps vereinbart:
Euroforce, eine schnelle Eingreiftruppe von 10 000 Mann mit einem
multinationalen Generalstab in Florenz und Euromarforce für gemeinsame
Marineübungen.
Damit war die WEU/ESVP auf den Weg von einer vor allem politischen
Organisation zu einem militärischen Bündnis gebracht worden. Zum tatsächlich
wirksamen Verteidigungsarm der EU wurde die WEU/ESVP allerdings nicht.
Der Irak-Krieg offenbarte dann den innereuropäischen Dissens.
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
Deutschland unterstützte diesen Kurs, die WEU/ESVP aufzuwerten, nachhaltig. Dadurch sollte aber aus deutscher Sicht die
NATO gestärkt und nicht untergraben werden.
Als Nicht-Nuklearmacht kann Deutschland keine europäische Verteidigungsidentität ohne Klärung der nuklearen Komponente wollen.
Solange die europäischen Atomwaffenbesitzer Frankreich und England privatisieren und keine europäische multilaterale Nuklearlösung wollen, bleibt der
Widerspruch zwischen europäischem Anspruch und der Wirklichkeit erhalten.
Deutschland wird hier nicht drängen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen,
nach Atomwaffen zu streben.
Das deutsche Sicherheitsdilemma des atomaren Verzichts aber bleibt virulent
und braucht längerfristig eine glaubwürdige europäische Lösung. Solange
bleiben die Sicherheitsaktivitäten der EU ein Hoffnungsträger, stellen aber noch
keine überzeugende europäische Verteidigungsorganisation dar.
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 Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologien
Für den Bereich der Nonproliferation gibt es je nach Feld unterschiedliche
Kontrollregime, die allerdings alle aus Sachgründen nicht auf Europa
beschränkt sind und auch nicht beschränkt sein können. Die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen ist exemplarisch ein globales Problem.
Die wichtigsten nuklearen Schwellenländer, also solche die Nuklearwaffenprogramme durchführen, befinden sich alle außerhalb Europas. Von
islamischen Ländern über Indien, Israel bis nach Nord-Korea wird aus
unterschiedlichen Gründen nach eigenen Atomwaffen und Trägertechnologien
gestrebt.
Von Erfolg gekrönt können solche Bemühungen aber nur sein, wenn der
Westen, Russland, die Reformländer, die Volksrepublik China und Japan an
einem Strang ziehen. Diese Aufgabe zu erfüllen, dürfte nicht einfach sein, weil
insbesondere die Volksrepublik China hier eigene Wege ging.
27

Wenn diese Nicht-Verbreitungsbemühungen scheitern, dann
wird über kurz oder lang die Mehrzahl der Industriestaaten
eigene Atomwaffen entwickeln.
Dies könnte dann auch für Deutschland gelten, obwohl hier schwerwiegende
innen- und außenpolitische Hindernisse entgegenstehen. Wahrscheinlich käme
es dann aber zu einer echten multilateralen europäischen Lösung, was allemal
besser wäre als unilaterale Wege. Dies allerdings immer noch ein Tabuthema.
Auf diesem Feld existiert auch kein Handlungsbedarf für Deutschland. Das
Gebot ist vielmehr die Stärkung der Nonproliferation.
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Welche nukleare Welt wirklich sicherer wäre, ist umstritten. Die Antwort darauf
hängt vom Weltbild ab. Die Mehrheit sieht in der Verbreitung eine riesige
Gefahr, weil verantwortungslosen Regimen unterstellt wird, diese Waffen auch
einzusetzen.
Die konkurrierende Betrachtungsweise einer Minderheit unterstellt, dass mit
dem Besitz von Kernwaffen der Zwang zur Vernunft einkehrt, weil wie im OstWest-Konflikt auch die Selbstzerstörung immer mit als Risiko eingeschlossen
ist. Dies wird zweifellos eine heftige Zukunftsdebatte, wenn die Nonproliferationregime versagen sollten.
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 Nukleare Exportkontrollen sollen über den Nichtverbreitungsvertrag (NVV, englisch NPT) gewährleistet werden.
Dieser Atomwaffensperrvertrag war 1970 in Kraft getreten und galt für 25 Jahre.
Er stand 1995 vor der Nagelprobe einer befristeten oder unbegrenzten
Verlängerung. 179 Staaten haben den Vertrag unterzeichnet.
Deutschland warb vor und auf der Konferenz der Vertragsstaaten vom 17. April
bis 12. Mai 1995 in New York für die unbegrenzte Verlängerung, das gebot
angesichts des einseitigen Verzichts schon das Selbstinteresse.
Am 11. Mai 1995 wurde der NVV unbegrenzt verlängert. Größter Problemfall
war seit 1994/95 Nord-Korea, das die mit dem Vertrag verbundenen Inspektionen verweigerte und sogar aus dem Vertrag aussteigen wollte.
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Zur Sicherstellung der Nichtverbreitung besteht der sogenannte ZanggerAusschuß aus 27 Staaten, die sich 1977 in den „Londoner Richtlinien“ für
Nukleartransfers verpflichtet haben, nukleartechnologisches Know-how nicht
weiterzugeben.
Diese Nuclear Suppliers Group (NSG) hat 1992 in Warschau ein neues
Exportkontrollregime für nuklearbezogene Mehrzweckgüter verabschiedet.
Motor der NSG sind die USA, die osteuropäischen Länder arbeiten mittlerweile
alle mit.
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 1974 wurde unter dem Vorsitz Australiens die sogenannte
„Australische Gruppe“ gegründet, die versucht, die Verbreitung
chemischer Waffen zu verhindern.
22 vorwiegend westliche Industriestaaten versuchen, Stoffe, die sowohl zivil
als auch zur Produktion chemischer Waffen genutzt werden können, zu
kontrollieren. Mit einer Liste von 54 sensitiven Chemikalien soll dies erreicht
werden.
Die australische Gruppe arbeitet auch nach der Unterzeichnung der
weltweiten Chemiewaffen-Verbots-Konvention weiter. Sie ist jetzt über den
OECD-Kreis hinaus gewachsen, weil auch hier die osteuropäischen Länder
nunmehr größtenteils mitarbeiten.
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 Das Trägertechnologie-Kontrollregime MTCR (Missile Technology
Control Regime) wurde 1987 von den Teilnehmern des Weltwirtschaftsgipfels (G7) als Instrument der Exportkontrolle geschaffen.
Die Weiterverbreitung von nuklearwaffenfähigen Raketentechnologien soll
unterbunden werden.
1995 arbeiteten 27 Staaten mit, darunter auch Russland. China und Israel
wenden die Exportregeln angeblich freiwillig an.
Alle Waren und Technologien, die zur Herstellung nuklearwaffenfähiger
Trägersysteme mit einer Nutzlast von 500 kg aufwärts und einer Reichweite von
mindestens 300 km, werden kontrolliert.
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 Alle drei Regime weisen erhebliche Schwächen auf und bedürfen
schneller Optimierung, wenn Erfolgsaussichten bestehen sollen.
Deutschland ist als Nicht-ABC-Waffenstaat an allen Regimen beteiligt und
gehört zu den aktiven Mitgliedern.
Bei der deutschen Exportkontrollpolitik war aber auch häufig deutlich
geworden, dass hier erhebliche Lücken bestanden.
Der Fall der libyschen Giftgasfabrik in Rabta und Lieferungen an den Irak, die
beim irakischen Atomprogramm eine Rolle gespielt haben sollen, hatten
erhebliche nationale und internationale Skandalwirkung. Deshalb sind die
deutschen Exportkontrollbestimmungen auch zweimal verschärft worden.
Die EU hat sich aber noch nicht zu effizienten gemeinsamen Kontrollbestimmungen durchringen können. Im Binnenmarkt könnten also die
schwächsten Kontrollglieder, wie etwa Griechenland, die Hintertür für sensitive
Exporte sein.
34

Große Verbreitungsgefahren existieren nach wie vor in den GUSStaaten. Die Gefahr von sensitiven Exporten aus der wirtschaftlichen Not heraus und die Abwanderung arbeitslos gewordener
Nuklearwaffenspezialisten müssen als die größten Verbreitungsrisiken angesehen.
Das im November 1992 gegründete internationale Wissenschafts- und
Technologiezentrum (IWTZ) sollte diese Abwanderungsgefahr mindern, indem
Wissenschaftlern aus der ehemaligen Sowjetunion mit westlichem Geld die
Möglichkeit gegeben wird, zivilorientierte Projekte zu entwickeln.
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Russische Spezialisten sollen dadurch abgehalten werden, als „Nuklearsöldner“
in Schwellenländern zu arbeiten. Das ist sicher alles nützlich und gut gemeint,
ob es reicht, wird sich zeigen.
Wenn die Nichtweiterverbreitung scheitert, wird für Deutschland eine neue
sicherheitspolitische Lage entstehen, auf die uni- oder besser multilateral zu
reagieren sein wird.
Ob es dann trotz der in Deutschland weit verbreiteten Antiatomkultur beim guten
Beispiel des einseitigen Verzichts und dem Urvertrauen auf den Schutzschirm
anderer ohne eigene Beteiligung und wirkliche Mitsprache bleiben wird, steht zu
bezweifeln.
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 Welche konkrete Sicherheitsarchitektur sich in Europa auch immer
herausbilden mag, deutsche Alleingänge dürften auf diesem Feld
auf absehbare Zeit ausgeschlossen sein.
Deutschland wird hier aller Wahrscheinlichkeit nach der mittlerweile jahrzehntelangen Übung und der eigenen Interessenlage wie der seines Umfelds
folgend Teamplayer in der NATO und der UNO bleiben.
Deutsche Sicherheitspolitik wird sich in den dafür vorhandenen oder auch
womöglich neu entstehenden Institutionen abspielen.
Diese werden über kurz oder lang europäischer werden, was auf eine
Verminderung, aber kein baldiges Ende der amerikanischen Beteiligung
hinausläuft.
Der deutsche Einfluss dürfte dann zunehmen, aber auf diesem Feld noch
unabsehbar lange sehr vorsichtig und zurückhaltend ausgeübt werden. Wie
schwierig „deutsche Wege“ sind, zeigt die umstrittene Position gegen einen
Krieg im Irak.
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
Auslandseinsätze der Bundeswehr im Rahme multilateraler
Aktivitäten sind mittlerweile ein außenpolitisches Standardinstrument.
Der Einsatz in Afghanistan war darunter der teuerste Einsatz mit nur geringen
Erfolgen bei der Stabilisierung des Landes und der Eindämmung der Taliban.
2010 kostete er rund 1,54 Mrd. €, das war gegenüber 2009 eine Erhöhung um
ca. 50 Prozent.
Davon entfielen 1,04 Mrd. € auf das BMVg, 10 Mio. auf das Innenministerium
für den Polizeiaufbau, 250 Mio. auf das Entwicklungshilfeministerium, 180 Mio.
auf das Außenministerium und 2 Mio. auf das Landwirtschaftsministerium.
Quelle: Wirtschaftswoche 52, 24.12.2010, S. 12
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S: Gesamt-Kosten des deutschen Afghanistaneinsatz in Mio. €,
Mio. €
1600
1400
1200
1000
Quelle: DWI
D
BMVg
AA
BMZ
800
600
400
200
0
2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
39
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