Diabetes im Jahr 2016

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ÜBERSICHTSARTIKEL AIM
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Was sollte man über die neuen Therapien wissen?
Diabetes im Jahr 2016
Andrea Orecchio, François R. Jornayvaz
Service d’Endocrinologie, Diabétologie et Métabolisme, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Lausanne
Wir sind heute Zeugen einer raschen Entwicklung in der Behandlung des Diabetes
Typ 2. Zahlreiche Substanzen erweitern die Therapiemöglichkeiten – Wirkstoffe,
die auf das Inkretinsystem Einfluss nehmen, Hemmer der renalen Glukose-Reabsorption sowie neue Insuline – und dürften unseren Patienten eine bessere
glykämische Kontrolle ermöglichen.
Einleitung
Trotz beständiger Weiterentwicklung der Diabetesmellitus-Forschung erleben wir einen Inzidenz- und
Prävalenzanstieg des Typ-2-Diabetes. Düstere Zukunftsprognosen gehen von 640 Millionen Betroffenen im
Jahr 2040 aus [1]. Zudem besteht bei der Hälfte der
behandelten Patienten erwiesenermassen eine unzureichende Blutzuckerkontrolle.
Aktuell sind zahlreiche neue Antidiabetika auf dem
Markt erschienen, was die Wahl des geeigneten Medikaments, insbesondere für Hausärzte, komplexer gestaltet. Dadurch steigt das Risiko für therapeutische
Handlungsträgheit und eine ineffizientere Diabetesbehandlung.
Das Ziel dieses Review besteht darin, einen Überblick
über die neuen Antidiabetika zu vermitteln und Hausärzten im Praxisalltag auf diese Weise eine Hilfestellung bei der Wahl des geeigneten Wirkstoffs für jeden
einzelnen Patienten zu geben.
In den neuen Empfehlungen der American Diabetes
Association (ADA) und der European Association for the
Study of Diabetes (EASD), die im Jahr 2015 erschienen
und 2016 identisch übernommen worden sind, werden
die Notwendigkeit der personalisierten Diabetes-
Die verschiedenen Antidiabetika
Tabelle 1 gibt einen Überblick über die verschiedenen
behandlung und die Einzigartigkeit jedes Patienten be-
Antidiabetika. Metformin, Sulfonylharnstoffe, Glinide
tont [2, 3]. Daher sollten die Komorbiditäten, das Hypo-
sowie Alpha-Glukosidasehemmer sollen hier nicht wei-
glykämierisiko, das Risiko einer Gewichtszunahme
ter behandelt werden, da es sich bei diesen um ältere
und die finanziellen Mittel jedes Betroffenen berück-
Wirkstoffe handelt, die Hausärzten ausreichend be-
sichtigt werden. Zum Beispiel ist bei Jugendlichen eher
kannt sind. Bezüglich Alpha-Glukosidasehemmern ist
ein HbA1c-Zielwert von unter 7,0% mit einer aggressive-
jedoch anzumerken, dass diese aufgrund ihrer starken
ren Behandlung anzustreben, während bei multimor-
unerwünschten gastrointestinalen Wirkungen nur re-
biden Patienten mit geringerer Lebenserwartung so-
lativ selten eingesetzt werden.
wie erhöhtem Hypoglykämierisiko eine moderatere
Herangehensweise angebracht ist [2]. Bei Typ-2-Diabetes
stellt zunächst Metformin die pharmakologische Basis-
Andrea Orecchio
DPP-4-Inhibitoren
therapie dar [3]. Zusätzlich haben Hausärzte die Wahl
Inhibitoren der Dipeptidylpeptidase-4 (DPP-4) gehören
zwischen zahlreichen Antidiabetika (Abb. 1), weshalb die
zusammen mit Glucagon-like-Peptid-1-Analoga (GLP-1)
medikamentöse Behandlung auf das entsprechende
zu den Medikamenten, die auf das Inkretinsystem
Patientenprofil abgestimmt werden muss.
wirken. Inkretine, darunter GLP-1 und das glukoseab-
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hoch
mittel
gering
neutral
selten
DPP-4-Inhibitoren
hoch
gering
Gewichtsverlust
gastrointestinale
Beschwerden
hoch
GLP-1-Analoga
oder
DPP-4-Inhibitor
oder
GLP-1-Analogon
Basalinsulin
Lebensstiländerung + Metformin + Mehrfachinjektionen:
oder
Thiazolidindion
Zweifachtherapie +
Insulin zu den Mahlzeiten
Wenn HbA1c -Zielwert nach 3 Monaten nicht erreicht, zu Stufe 4 übergehen
SGLT-2-Inhibitor
Lebensstiländerung + Dreifachtherapie:
oder
Insulin
oder
Sulfonylharnstoff
variabel
am höchsten
hoch
Gewichtszunahme
Hypoglykämie
GLP-1-Analogon
hoch
gering
Gewichtszunahme
Ödeme/Herzinsuffizienz/Frakturen
gering
Insuline
Abkürzungen: ADA = American Diabetes Association, EASD = European Association for the Study of Diabetes, SGLT-2 = Natrium-Glukose-Cotransporter-2, DPP-4 = Dipeptidylpeptidase-4, GLP-1 = Glucagon-like-Peptid-1.
4. Stufe
3. Stufe
mittel
gering
Gewichtsverlust
Urogenitalinfektionen/Dehydrierung
hoch
SGLT-2-Inhibitoren
Metformin +
Wenn HbA1c -Zielwert nach 3 Monaten nicht erreicht, zu Stufe 3 (Dreifachtherapie) übergehen
gering
Kosten
Wirkung aufs Körpergewicht
Unerwünschte Wirkungen
Sulfonylharnstoffe
Lebensstiländerung + Zweifachtherapie:
Thiazolidindione
hoch
gering
neutral/Gewichtsverlust
gastrointestinale Beschwerden/Laktatazidose
gering
Metformin
Wenn HbA1c -Zielwert nach 3 Monaten nicht erreicht, zu Stufe 2 (Zweifachtherapie) übergehen
Lebensstiländerung + Monotherapie:
hoch
hoch
Gewichtszunahme
Hypoglykämie
Wirksamkeit
Hypoglykämierisiko
2. Stufe
Unerwünschte Wirkungen
Kosten
Wirkung aufs Körpergewicht
Wirksamkeit
Hypoglykämierisiko
1. Stufe
Abbildung 1: ADA/EASD-Empfehlungen für die medikamentöse Behandlung bei Typ-2-Diabetes, angepasst nach [3].
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533
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hängige insulinotrope Polypeptid (GIP), werden infolge
Hypoglykämierisiko ist minimal, da die Wirkung der
der Nahrungsaufnahme von den enteroendokrinen in-
DPP-4-Inhibitoren glukoseabhängig ist. Die Wirkung
testinalen L- beziehungsweise K-Zellen gebildet. GLP-1
auf das Körpergewicht ist neutral. DPP-4-Inhibitoren
stimuliert die Insulinsekretion, verlangsamt die Ma-
sind entsprechend der Nierenfunktion zu dosieren (da
genentleerung, hemmt die Glucagonsekretion und die
sie hauptsächlich über die Nieren ausgeschieden wer-
Glukoneogenese. Bei Diabetikern ist die Wirkung der
den). Davon ausgenommen ist Linagliptin (Elimination
Inkretine deutlich verringert. Letztere haben eine
über die Galle).
Halbwertszeit von etwa zwei Minuten, da sie durch
Bezüglich der kardiovaskulären Sicherheit wurden bis
DPP-4 rasch abgebaut werden. Demzufolge wird durch
dato drei Wirkstoffe in klinischen Studien untersucht:
die DPP-4-Hemmung die Konzentration des endogenen
Saxagliptin (SAVOR-TIMI 53) [4], Alogliptin (EXAMINE)
GLP-1 erhöht.
[5] und Sitagliptin (TECOS) [6]. Hinsichtlich der primären
Als Monotherapie eingesetzt, senken DPP-4-Inhibitoren
Endpunkte (schwere kardiovaskuläre Ereignisse) waren
den HbA1c-Wert nur in geringem Masse. Je nach Studie
in allen drei Studien keine signifikanten Unterschiede
beträgt die Reduktion 0,4–0,5%. In Kombination mit
zwischen den Plazebo- und Verumgruppen nachzu-
anderen Antidiabetika, insbesondere Metformin, kann
weisen. Bei Saxagliptin wurde jedoch ein signifikanter
eine Reduktion von 0,65–1,1% erreicht werden. Das
Anstieg des Hospitalisationsrisikos aufgrund von
Tabelle 1: Eigenschaften der neuen Antidiabetika zur Behandlung von Typ-2-Diabetes, angepasst nach [3].
Medikamentenklasse
Wirkstoff(e)
Zelluläre(r) Wirkmecha- Primäre physiologische
nismus (-en)
Wirkung(en)
Vorteile
Nachteile
DPP-4Inhibitoren
–
–
–
–
–
Hemmung der DDP-4– ↑ (glukoseabhängige)
Aktivität, Erhöhung der
Insulinsekretion
postprandialen Inkretin- – ↓ (glukoseabhängige)
konzentration (GLP-1,
Glucagonsekretion
GIP)
– Keine Hypoglykämie
– Gut verträglich
– Venöse Ödeme/Urtikaria
und andere dermatologische Immunreaktionen
– ↑ Hospitalisationen aufgrund von Herzinsuffizienz (Saxagliptin)
SGLT-2Inhibitoren
– Canagliflozin
– Dapagliflozin
– Empagliflozin
Hemmt SGLT-2 im
proximalen Tubulus
der Nephrone
– Hemmt die Reabsorption
von Glukose durch die
Nieren und bewirkt eine
vermehrte Glukosurie
–
–
–
–
Keine Hypoglykämie
↓ Körpergewicht
↓ Arterieller Blutdruck
↓ Kardiovaskuläre Mortalität und Hospitalisation aufgrund von Herzinsuffizienz
(Empagliflozin)
– Wirkt in allen Stufen
von T2DM
– Urogenitalinfektionen
– Polyurie
– Hypovolämie/Hypotonie/
Schwindelgefühl
– ↑ LDL-C
– ↑ Kreatinin (übergangsweise)
– ↑ Kalium (Canagliflozin)?
– Verringerung der
Knochendichte (Canagliflozin, Dapagliflozin)?
GLP-1-Analoga
– Exenatid
– Langwirksames
Exenatid
– Liraglutid
– Dulaglutid
– Lixisenatid
Aktivierung der GLP-1Rezeptoren
– ↑ (glukoseabhängige)
Insulinsekretion
– ↓ (glukoseabhängige)
Glucagonsekretion
– Verlangsamung der
Magenentleerung
– ↑ Sättigungsgefühl
–
–
–
–
– Gastrointestinale Nebenwirkungen (Übelkeit/
Erbrechen/Diarrhoe)
– ↑ Herzfrequenz
– C-Zell-Hyperplasie/
medulläre Schilddrüsentumore im Tierversuch
– Injektionen
– Schulung erforderlich
Insuline
– Schnellwirksame
Aktivierung der InsulinInsulinanaloga
rezeptoren
• Insulin lispro
• Insulin aspart
• Insulin glulisin
– Durchschnittliche
Wirkdauer
• NPH-Insuline
– Langwirksame
Insulinanaloga
• Insulin glargin
(U100, U300)
• Insulin detemir
• Insulin degludec
• Vorgemischte Insuline (mehrere Arten)
– ↑ Periphere Glukoseaufnahme
– ↓ Hepatische Glukoseproduktion
– Theoretisch unbegrenzte Wirksamkeit
– ↓ Mikrovaskuläres
Risiko (UKPDS)
Sitagliptin
Vildagliptin
Saxagliptin
Linagliptin
Alogliptin
Keine Hypoglykämie
↓ Körpergewicht
↓ Postprandiale Glukose
Wöchentliche Injektion
(langwirksames Exenatid, Dulaglutid)
–
–
–
–
–
Hypoglykämie
Gewichtszunahme
Mitogene Effekte?
Injektionen
Zurückhaltung von
Patienten/Ärzten
– Schulung erforderlich
Abkürzungen: DPP-4 = Dipeptidylpeptidase-4, SGLT-2 = Natrium-Glukose-Cotransporter-2, GLP-1 = Glucagon-like-Peptid-1, GIP = glukoseabhängiges insulinotropes Polypeptid,
LDL-C = LDL-Cholesterin, T2DM = Typ-2-Diabetes, UKPDS = UK Prospective Diabetes Study.
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Herzinsuffizienz festgestellt (3,5 versus 2,8%, RR +27%).
senkende Wirkung, die sich in einem besseren Nüch-
Zudem hat die Food and Drug Administration (FDA) vor
ternblutzucker und einem besseren Blutzuckerwert
kurzem eine Warnung bezüglich Alogliptin ausgespro-
zwischen den Mahlzeiten äussert. Weitere langwirk-
chen, welches das Risiko für Herzinsuffizienz ebenfalls
same Präparate wie Semaglutid und Taspoglutid werden
zu erhöhen scheint. Somit sind Saxagliptin und Alog-
derzeit in Studien untersucht.
liptin bei Patienten mit anamnestisch bekannter Herz-
Bezüglich der kardiovaskulären Sicherheit ist Lixi-
insuffizienz keine sinnvolle Wahl. Weitere Studien sind
senatid bis dato das einzige GLP-1-Analogon, zu dem
für Linagliptin geplant, während zur kardiovaskulären
Studiendaten vorliegen. In der ELIXA-Studie wurden
Sicherheit von Vildagliptin bis dato keine Studie durch-
6068 Patienten auf eine Plazebo- oder Lixisenatidgruppe
geführt wurde.
randomisiert. Zwischen beiden Gruppen wurden keine
Eine potentielle Erhöhung des Risikos für akute Pan-
Unterschiede bezüglich des Eintritts des primären
kreatitis durch DPP-4-Inhibitoren ist bis dato um-
Endpunkts festgestellt (4 «major adverse cardiovascu-
stritten. Daher sollten diese bei Patienten nach einer
lar events[MACE]»-Kriterien: kardiovaskuläre Sterb-
Pankreatitis (ungeachtet deren Ätiologie) bis zur Ver-
lichkeit, nichttödlicher Myokardinfarkt, nichttödlicher
öffentlichung weiterer Daten vermieden werden.
Schlaganfall, Spitaleinweisung aufgrund von Herzin-
In Zukunft sollen langwirksame DPP-4-Inhibitoren wie
suffizienz). Derzeit werden weitere Studien zur kardio-
Trelagliptin, das 2015 in Japan zugelassen wurde, auf
vaskulären Sicherheit anderer GLP-1-Analoga wie LEA-
den Markt kommen.
DER (Liraglutid), EXSCEL (Exenatid LAR) und REWIND
DPP-4-Inhibitoren sind also eine interessante Therapie-
(Dulaglutid) durchgeführt. In einer Pressemitteilung
klasse, um Hypoglykämien und Gewichtszunahme zu
von Novo Nordisk wird erwähnt, dass Liraglutid einen
vermeiden. Da sie auch bei Niereninsuffizienz eingesetzt
signifikanten kardiovaskulären Nutzen aufweist. Die
werden können, ist ihre Anwendung, insbesondere bei
LEADER-Studie wird im Juni auf dem ADA-Kongress in
älteren Patienten, vorteilhaft.
New Orleans präsentiert.
Bei Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz (eGFR
<30 ml/min/1,73 m2) wird der Einsatz von GLP-1-Ana-
GLP-1-Analoga
loga prinzipiell nicht empfohlen.
Glucagon-like-Peptid-1-Analoga (GLP-1) sind (subkutan)
GLP-1-Analoga können mit anderen Antidiabetika, mit
injizierbar und bewirken eine stärkere HbA1c-Senkung
Ausnahme von DPP-4- (weil dies physiologisch nicht
als DPP-4-Inhibitoren (Reduktion von 0,95–1,9%). Auf-
sinnvoll ist) und SGLT-2-Inhibitoren (laufende Studien,
grund ihrer glukoseabhängigen Wirkung weisen sie
derzeit keine Kostenübernahme, eine vorherige Anfrage
ein geringes Hypoglykämierisiko auf. GLP-1-Analoga
bei der Krankenkasse ist jedoch möglich), kombiniert
wirken sich günstig auf das Körpergewicht aus. Die
werden. Durch die Kombination eines GLP-1-Analogons
Hauptnebenwirkungen sind gastrointestinaler Art,
mit Basalinsulin kann der Insulinbedarf häufig ver-
insbesondere Übelkeit, Erbrechen und Passagestörun-
ringert, der Einsatz von schnellwirksamem Insulin bei
gen. Diese treten dosisabhängig auf und klingen meist
postprandialer Hyperglykämie vermieden und das Ge-
nach den ersten 2–3 Wochen der Einnahme wieder ab.
wichtszunahme- und Hypoglykämierisiko gesenkt wer-
Es ist zu beachten, dass die Patienten bei Therapiebe-
den. Einen Injektionspen mit der Kombination aus GLP-
ginn einen Body Mass Index von 28 kg/m aufweisen
1-Analogon und Basalinsulin gibt es bereits, wodurch
müssen, damit die Behandlungskosten von der Kran-
die Zahl der täglichen Injektionen verringert werden
2
kenversicherung übernommen werden.
kann. Wahrscheinlich werden demnächst weitere auf
Die derzeit in der Schweiz erhältlichen GLP-1-Analoga
dem Schweizer Markt erscheinen.
unterscheiden sich entsprechend ihrer Wirkdauer. Es
GLP-1-Analoga sind also insbesondere bei adipösen
gibt Präparate mit kurzer (Exenatid 2×/Tag, Lixisenatid
Patienten indiziert, bei denen eine Gewichtsabnahme
1×/Tag; letzteres soll in Kürze in der Schweiz zugelas-
ohne Hypoglykämie erzielt werden soll. Sie stellen eine
sen werden) und langer Wirkdauer (Liraglutid 1×/Tag,
Alternative oder Ergänzung zu Basalinsulin dar, um
Dulaglutid 1×/Woche, Exenatid LAR 1×/Woche). Medika-
das Gewichtszunahme- oder Hypoglykämierisiko, das
mente mit kurzer und langer Wirkdauer unterscheiden
bei einer Insulingabe auftritt, zu begrenzen.
sich in ihrem Wirkmechanismus: Wirkstoffe mit kurzer
Wirkdauer verlangsamen im Allgemeinen die Magenentleerung, indem die Kohlenhydratresorption und
SGLT-2-Inhibitoren
somit der postprandiale Blutzuckeranstieg gehemmt
Die Reabsorption von Glukose in den Nieren erfolgt zu
werden. Wirkstoffe mit langer Wirkdauer haben hinge-
90% im proximalen Tubulus, wo die Expression der
gen im Allgemeinen eine langanhaltende blutzucker-
Natrium-Glukose-Cotransporter-2 (SGLT-2) am höchs-
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ten ist. Bei Diabetikern sind die SGLT-2-Rezeptoren
Dapagliflozin), könnte dies zu einer Änderung der ak-
überexprimiert, wodurch aufgrund der übermässigen
tuellen
Richtlinien
mit
frühzeitigerem
Einsatz
Glukosereabsorption eine Hyperglykämie entsteht.
von SGLT-2-Inhibitoren, insbesondere bei Patienten
SGLT-2-Inhibitoren bewirken eine vermehrte Glukos-
mit hohem kardiovaskulärem Risiko oder als Sekun-
urie mit einer Senkung des HbA1c-Werts (Reduktion
därprävention, führen.
von 0,5–1% je nach Studie). Ausserdem führen sie zu
Aufgrund dessen sollten SGLT-2-Inhibitoren bevorzugt
einer Gewichtsabnahme (im Allgemeinen 2–3 kg) und
eingesetzt werden, wenn eine Gewichtsabnahme ohne
einer Blutdrucksenkung (ca. 3–4 mm Hg). SGLT-2-Inhi-
Hypoglykämien erzielt werden soll. Bei Patienten mit
bitoren gehören einer Medikamentenklasse mit insu-
hohem Risiko für Harnwegs- oder Genitalinfektionen
linunabhängigem Wirkmechanismus an, verursachen
sowie alten Menschen mit Hypovolämie- oder De-
also keine Hypoglykämien.
hydrierungsrisiko sind diese jedoch zu vermeiden. Die
Die häufigsten Nebenwirkungen sind Genitalinfektio-
Zukunft wird uns zeigen, ob diese Medikamenten-
nen (und seltener Harnwegsinfekte). Ihr Anteil beträgt
klasse bei Diabetikern mit hohem kardiovaskulärem
10–15% bei Frauen und 1–4% bei Männern (wobei be-
Risiko oder als Sekundärprävention zu bevorzugen ist.
schnittene Männer das geringste Infektionsrisiko aufweisen). Die meisten Infektionen treten während der
ersten vier Behandlungsmonate auf. Diese sind im Allgemeinen harmlos und selten rezidivierend. Die diure-
Insuline
Insuline kommen bei der Entwicklung eines Diabetes –
tische Wirkung der SGLT-2-Inhibitoren kann zu Polyurie
häufig aufgrund der Zurückhaltung der Patienten, aber
mit Hypovolämie führen, was sich wie bei Diuretika in
auch der Ärzte – mitunter erst spät zum Einsatz. In
Form von Hypotonie, Schwindel und posturalen Be-
manchen Fällen führt dies zu einer suboptimalen Blut-
schwerden äussern kann. Daher ist es wichtig, diese
zuckerkontrolle, wodurch sich das Komplikations-
Medikamentenklasse nicht bei alten oder schwachen
risiko erhöht. Eine korrekt durchgeführte Insulinthe-
Patienten, beziehungsweise unter der Einnahme hoch-
rapie kann jedoch die Blutzuckerkontrolle der Patienten
dosierter Diuretika, einzusetzen. Zudem haben vorläu-
verbessern. Insulin kann mit jedem anderen Antidia-
fige Daten eine potentielle Knochenschädigung durch
betikum kombiniert werden. Im Allgemeinen wird mit
Canagliflozin und Dapagliflozin gezeigt, weshalb es
einem langwirksamen Insulin abends vor dem Schla-
sich empfiehlt, das Erscheinen weiterer Daten zu die-
fengehen (oder eventuell morgens) vom Typ Insulin
sem Thema zu verfolgen. Ausserdem wurden Fälle von
glargin (U100 oder U300), detemir oder degludec in einer
euglykämischer Ketoazidose beschrieben. Demzufolge
Dosierung von 10 IE oder 0,1–0,2 IE/kg/d begonnen, die
sollten SGLT-2-Inhibitoren bei Risikopatienten, zum
1–2 Mal pro Woche um 2–4 IE gesteigert wird, bis der
Beispiel Personen mit gestörter Glukoneogenese (Alko-
Nüchternglukosezielwert erreicht ist. Die zusätzliche
holiker) oder Personen mit geringer Kohlenhydratzu-
Verabreichung von schnellwirksamem Insulin zu den
fuhr (Low-Carb-Diät usw.), vermieden werden. Des Wei-
Mahlzeiten ist im Prinzip die letzte Stufe, die ein hohes
teren muss die Behandlung vor elektiven chirurgischen
Gewichtszunahme- und Hypoglykämierisiko birgt. In
Eingriffen abgesetzt werden.
manchen Fällen kann versucht werden, statt Essens-
Ein neuer Meilenstein in der Diabetologie war die Ver-
insulin ein GLP-1-Analogon einzusetzen, um diese
öffentlichung der EMPA-REG-OUTCOME-Studie, die auf
uner wünschten Wirkungen zu verringern. Natürlich
dem EASD-Jahrestreffen im September 2015 vorgestellt
können sich Hausärzte in derart komplexen Betreu-
wurde [7]. Die Studie, welche die kardiovaskuläre
ungssituationen Unterstützung durch einen Diabeto-
Sicherheit von Empagliflozin bei über 7200 Diabeti-
logen holen. Es sollte beachtet werden, dass die älteren
kern mit hohem kardiovaskulärem Risiko untersuchte,
NPH-Insuline (Neutral Protamine Hagedorn) aufgrund
ergab eine Reduktion der Gesamtsterblichkeit, der kar-
ihres grösseren Hypoglykämierisikos und ihrer intra-
diovaskulären Sterblichkeit sowie der Spitaleinweisun-
individuellen Variabilität immer seltener zum Einsatz
gen aufgrund von Herzinsuffizienz. Die für diesen kar-
kommen. Zudem darf nicht vergessen werden, diese
diovaskulären Nutzen verantwortlichen Mechanismen
vor der Injektion durch mehrmaliges Schwenken des
sind bis dato unbekannt, jedoch wahrscheinlich unab-
Injektionspens gut zu mischen (milchige Mischung).
hängig von der Blutzuckerkontrolle. Bleibt noch die
In manchen Fällen werden Insulinmischungen mit
Frage, ob der Nutzen auf einen Klasseneffekt (der SGLT-
langsam- und schnellwirkendem Insulin verwendet.
2-Inhibitoren) zurückzuführen oder nur für Empagliflo-
Dabei muss jedoch darauf geachtet werden, dem
zin spezifisch ist. Sollten sich diese Resultate jedoch auch
Patienten eingehend zu erklären, wann er spritzen und
in Bezug auf andere Wirkstoffe bestätigen (CANVAS-
dass er darauf achten sollte, regelmässige Mahlzeiten
Studie für Canagliflozin, DECLARE-TIMI-58-Studie für
einzunehmen. In jedem Fall bedarf eine Insulinein-
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stellung einer speziellen Schulung durch qualifiziertes
das Problem von Hypoglykämien beim Autofahren
François R. Jornayvaz
Personal (Injektionstechnik, Selbstkontrolle, Erkennen
aufzuklären. Die neuen Richtlinien der Schweizeri-
Service d’Endocrinologie,
Korrespondenz:
und Korrigieren von Hypoglykämien usw.), wodurch
schen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie
Centre Hospitalier Univer-
auch die Compliance erhöht wird. Und schliesslich ist
(SGED) befinden sich auf der Website (http://sgedssed.
sitaire Vaudois (CHUV)
darauf zu achten, den Patienten bei der Anwendung
ch/fileadmin/files/6_empfehlungen_fachpersonen/61_
von Insulin oder anderen Medikamenten mit hohem
richtlinien_fachaerzte/Neue-Auto-Richtlinien_SGED_
Hypoglykämierisiko (Sulfonylharnstoffe, Glinide) über
15-11-24_DE_DEFkorr.pdf).
Diabétologie et Métabolisme
Mont-Paisible 18
CH-1011 Lausanne
francois.jornayvaz[at]chuv.ch
Eine Einstellung mit Insulin ist demzufolge nicht
harmlos, muss mit dem Patienten besprochen und
Das Wichtigste für die Praxis
durch eine Schulung begleitet werden, um eine opti-
• Angesichts des stetigen Anstiegs der Diabetesepidemie stehen Hausärzte
bei der Wahl der passenden Therapiestrategie für neu diagnostizierte oder
schlecht eingestellte Patienten häufig vor einem Entscheidungsdilemma.
Für jeden Patienten sollte das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer mehr oder
weniger aggressiven Diabetesbehandlung entsprechend dem Alter, der
Komorbiditäten und dem Hypoglykämierisiko ermittelt werden.
• Im letzten Jahrzehnt wurden mehrere neue Wirkstoffe auf den Markt gebracht. Paradoxerweise bergen die explosive Zunahme der neu auf dem
Markt befindlichen Antidiabetika und die unzureichende Kenntnis ihrer
Eigenschaften jedoch das Risiko der therapeutischen Handlungsträgheit
male Betreuung und Compliance zu erreichen.
Danksagung
Die Autoren danken Dr. med. Xavier Risse (Facharzt für Allgemeinmedizin FMH, Bussigny-près-Lausanne) für das kritische Lektorat
des Manuskripts.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Titelbild
© Konstantins Visnevskis | Dreamstime.com
und somit die Erhöhung des Komplikationsrisikos.
• Die neuen Wirkstoffe gehören hauptsächlich zwei neuen pharmakologischen Klassen an: den Inkretin-Analoga, die auf das Inkretinsystem wirken (DPP-4-Inhibitoren und GLP-1-Analoga), und den Gliflozinen (SGLT-
Literatur
1
2-Inhibitoren). Vorteile dieser Wirkstoffe sind der Gewichtsverlust (bzw.
2
eine neutrale Wirkung auf das Körpergewicht bei DPP-4-Inhibitoren) und
3
das stark verringerte Hypoglykämierisiko.
• Eine Insulintherapie ist nach wie vor eine mögliche und sehr effektive Op-
4
tion. Dennoch bleibt ihre Anwendung mit einem erhöhten Hypoglykämie-
5
risiko und einer Gewichtszunahme verbunden. Die neuen Insulinanaloga
6
verfügen über eine längere Wirkdauer und ein flacheres Wirkprofil, ohne
Wirkspitze, wodurch insbesondere das Hypoglykämierisiko verringert wird.
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2016;16(25):532–537
7
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