Komorbidität: Ein Anachronismus und eine Herausforderung für die

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Komorbidität: Ein
Anachronismus und eine
Herausforderung für die
Psychotherapie
Reiner Bastine
2.1
Einleitung – 14
2.2
Die empirische Befundlage zur Komorbidität – 14
2.3
Einwände und Schlussfolgerungen – 17
2.4
Die Folgen für die Psychotherapie – 20
Literatur – 24
2
14
Kapitel 2 • Komorbidität: Ein Anachronismus und eine Herausforderung für die Psychotherapie
2.1
Definition: Komorbidität
2
Krankheit versus Störung
Unter Komorbidität ist das gemeinsame Auftreten verschiedener,
voneinander abgrenzbarer psychischer und/oder somatischer Störungen in einem festgelegten Zeitraum zu verstehen. Bekanntlich ist
der Begriff abgeleitet vom Lateinischen »morbus«, also der Krankheit,
und verweist damit auf seinen Ursprung im medizinischen Krankheitsmodell. Damit ist die Annahme verbunden, dass es sich bei den
verschiedenen Krankheiten um klar voneinander abgrenzbare Einheiten handelt, von denen weiter angenommen wird, dass sie unabhängig voneinander sind und jeweils für sich einen eigenständigen
und charakteristischen Verlauf haben (vgl. Bastine 1998; 2005b).
Im Klassifikationssystem ICD-10 liest sich das allerdings so, dass
zunächst von dem Begriff der psychischen Krankheit Abstand genommen wird zugunsten des Begriffs der Störung (oder Dysfunktion): »So ersetzt der Begriff ‚Störung‘ den der psychischen Krankheit
weitgehend«. Lediglich durch ein Semikolon abgetrennt, findet dieser
Satz jedoch eine kuriose Fortsetzung: »dem Prinzip der Komorbidität wird Rechnung getragen« (Weltgesundheitsorganisation/Dilling,
Mombour, Schmidt 1993, S. 9). Das ist doch wirklich ein klares Bekenntnis zu einer wissenschaftlich begründeten Widersprüchlichkeit
– wie einem unwillkommenen Gast, der am Eingang kalt herauskomplimentiert und an der »Hintertür« (Bastine 1998, S. 184) herzlich
begrüßt wird!
Schon diese Inkonsequenz und Unentschlossenheit ist genügend
Anlass, über das anscheinend selbstverständliche »Prinzip der Komorbidität« noch einmal nachzudenken. Allerdings sind es ebenso
die empirischen Befunde, die dies dringend erforderlich machen. Ich
werde dies unter den folgenden Gesichtspunkten tun, indem ich
5 erstens die empirische Befundlage zur Komorbidität psychischer
Störungen vorstelle,
5 zweitens einige Einwände und Schlussfolgerungen daraus ziehe
sowie
5 drittens die Bedeutung thematisiere, die das gemeinsame Auftreten verschiedener psychischer Störungen für die Psychotherapie
hat.
2.2
National Comorbidity Survey
Einleitung
Die empirische Befundlage zur Komorbidität
Die meisten Ergebnisse zur Komorbidität stammen aus epidemiologischen Untersuchungen, wobei ein Hauptaugenmerk auf der Komorbidität der psychischen Störungen untereinander liegt – die Komorbidität mit somatischen Störungen wirft noch einmal ganz andere, nicht
weniger spannende Fragen auf, die ich hier leider ausklammern muss.
Zwei der international bekanntesten Untersuchungen zur Epidemiologie psychischer Störungen befassen sich auch mit der Frage
der Komorbidität dieser Störungen. Das ist zum einen der National
2.2 • Die empirische Befundlage zur Komorbidität
Comorbidity Survey von Kessler et al. (2005), eine US-amerikanische Bevölkerungsstudie an über 9.200 Personen. Erfasst wurden 19
Diagnosen über einen Zeitraum von 12 Monaten. Uns interessieren
dabei besonders die »identifizierten Fälle« der 12-Monats-Prävalenz,
also die Personengruppe, die eine psychische Auffälligkeit in behandlungsbedürftigem Ausmaß zeigte. Von diesen Personen erhielten 55 %
die Diagnose einer singulären Störung und die übrigen 45 % zwei oder
mehr Diagnosen einer psychischen Störung. Besonders interessant ist
eine Teilgruppe, bei denen im genannten Zeitraum sogar drei oder
mehr psychische Störungen festgestellt wurden. Diese Teilgruppe
umfasste allein 23 % aller »klinischen Fälle«, also fast ein Viertel aller
als behandlungsbedürftig diagnostizierten Fälle!
In Deutschland lieferte der Bundesgesundheitssurvey, der an 4.181
Personen über den Zeitraum eines Jahres erhoben wurde, recht ähnliche Befunde: Unter den »identifizierten Fällen« erhielten 60,5 %
die Diagnose einer singulären Störung (dort als »reine Störungen«
bezeichnet), während bei 39,5 % »komorbide« psychische Störungen
festgestellt wurden. Auch hier wurde eine Teilgruppe der Personen
mit mehreren Störungsdiagnosen erfasst: Diagnosen mit drei oder
mehr Störungen (»hoch komorbid«) wurden bei 10,3 % der Fälle registriert. Für die in der Untersuchung diagnostisch erfassten 17 Störungen rangierte die Rate der Komorbidität zwischen 44 und 94 %.
Am höchsten war sie bei der Generalisierten Angststörung. Bei den
sieben häufigsten aggregierten Störungsgruppen gab es prägnante
Störungskombinationen, vor allem die Kombinationen von Depression mit Angststörung, Angst- und somatoforme Störung, depressiver Störung mit Angst- und somatoformer Störung, verschiedene
Angststörungen untereinander sowie depressive mit somatoformer
Störung. Wie gewichtig das multiple gemeinsame Vorkommen von
»verschiedenen, voneinander abgrenzbaren psychischen Störungen«
ist, zeigt ein weiterer Befund: Für die 1.301 als »psychisch gestört«
klassifizierten Personen wurden insgesamt 2.321 Diagnosen vergeben,
also im Durchschnitt erhielt jeder »klinische Fall« 1,8 Diagnosen.
»Reine« Störungen traten damit, gemessen an den insgesamt vergebenen Störungsdiagnosen, nur bei etwa einem Drittel aller Störungsdiagnosen auf.
Bei den aggregierten größeren Störungsgruppen zeigen sich hohe
substantielle Überlappungen, so bei Angststörungen, bei affektiven
Störungen, bei der Abhängigkeit von Substanzen, bei somatoformen Störungen sowie bei Essstörungen. Dies zeigt die Abbildung 2.1
(. Abb. 2.1) für die 12-Monats-Prävalenzen dieser Störungen (Jacobi et al. 2004; für 2-Monats-Komorbiditäten vgl. Wittchen u. Hoyer
2006, S. 70).
Diese Befunde berücksichtigen dabei nicht, dass wichtige psychische Störungen in diesen Untersuchungen nicht erfasst wurden. Das
gilt vor allem für Persönlichkeitsstörungen und Belastungs- und Anpassungsstörungen, die sich erfahrungsgemäß besonders stark mit
anderen psychischen Beeinträchtigungen überschneiden und die
15
2
Bundesgesundheitssurvey
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Kapitel 2 • Komorbidität: Ein Anachronismus und eine Herausforderung für die Psychotherapie
2
62,1 % der
Angststörungen
sind komorbid
61,2 %
der affektiven
Störungen sind
komorbid
44,9 % der
Substanzstörungen
sind komorbid
65,2 %
der Essstörungen sind
komorbid
54,3 % der
somatoformen
Störungen sind
komorbid
. Abb. 2.1 12-Monats-Komorbidität einzelner Störungsgruppen, adaptiert nach
Jacobi et al. (2004)
Häufigkeit der Komorbidität
zweifellos zu einer drastischen Erhöhung der Komorbiditätsraten
führen würden (vgl. die Beiträge von Rudolf, Barnow und Lang in
diesem Buch).
Die affektiven Störungen werden aus gutem Grund hinsichtlich
ihres gemeinsamen Vorkommens mit anderen psychischen Störungen besonders beachtet. So stellte die Bundespsychotherapeutenkammer (2010) kürzlich in vollständiger Übereinstimmung mit den genannten Daten fest, dass 60 % der depressiv erkrankten Menschen an
einer weiteren psychischen Erkrankung leiden, ganz abgesehen von
der Koinzidenz mit einer ganzen Reihe somatischer Erkrankungen.
Aus einer finnischen Untersuchung in einer psychiatrischen Versorgungseinrichtung wissen wir, dass sogar 79 % der Patienten mit einer
Majoren Depressiven Störung an wenigstens einer weiteren psychischen Störung litten (Melartin et al. 2002).
Natürlich spiegeln sich die außerordentlich starken Zusammenhänge zwischen verschiedenen psychischen Störungen auch in der
Versorgungspraxis wider. Die Psychotherapeutischen Ambulanzen
der Universität Mainz geben einen sehr informativen jährlichen Bericht über ihre psychotherapeutische Arbeit heraus. Im Jahr 2009
wurden dort 986 Patienten mit einer psychischen Störung psychotherapeutisch behandelt. Insgesamt jedoch wurden für diese 986 Psychotherapiepatienten genau 1.946 Diagnosen vergeben – also auch hier
bekam jeder psychotherapeutische Patient im Durchschnitt zwei psychische Störungen diagnostiziert! Dieses Ergebnis wiegt auch deshalb
besonders schwer, weil zwar in den internen Berichten der Therapeuten, die an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmen, in erheblichem Umfang »Komorbiditäten« beschrieben werden, diese aber nur
2.3 • Einwände und Schlussfolgerungen
selten in eine ICD-Kodierung umgesetzt und als offizielle Diagnosen
aufgeführt werden (Lieberz, Koudela u. Lieberz 2009).
Gesichert ist inzwischen auch, dass die Koinzidenz psychischer
Störungen mit einer ganzen Reihe weiterer Faktoren in Zusammenhang steht (Jacobi et al. 2004; Kessler et al. 2005; Melartin et al. 2002),
unter anderem mit:
5 der Länge des Zeitraums, der bei der Erhebung der Störungen
herangezogen wird: Je länger dieser ist, desto höher ist die sogenannte Komorbidität;
5 Faktoren der persönlichen Lebenssituation wie dem familiären
und dem sozioökonomischen Status (Unverheiratete und Angehörige der unteren Sozialschicht weisen höhere Komorbiditäten
auf);
5 dem Geschlecht (bei Frauen ist die Koinzidenz höher als bei
Männern);
5 einem niedrigen körperlichen Gesundheitszustand sowie
5 dem Schweregrad der psychischen Beeinträchtigung.
Die »Komorbidität« hat außerdem Folgen: Sie beeinflusst die Rate
der Versorgung der betreffenden Personen. Menschen mit mehreren
psychischen Störungen erhalten sehr viel häufiger eine Behandlung
als Menschen mit einer singulären Störung, was vermutlich sowohl
an der stärkeren Auffälligkeit wie auch an der stärkeren Beeinträchtigung durch die Komplexität der psychischen Symptomatik liegt. Der
Unterschied ist gravierend, denn nach den Daten des Bundesgesundheitssurvey war die Versorgungsrate bei »hoch-komorbiden« Personen mehr als doppelt so hoch wie bei Personen mit einer singulären
Störung (76 % versus 30 %; Jacobi et al. 2004). Auch diese Daten
weisen darauf hin, dass »Komorbidität« nicht einfach nur »zufällig«
auftritt, sondern auf die außerordentlich komplexe Bedingtheit von
psychischen Störungen hinweist und mit einer Vielzahl weiterer Bedingungen der gesamten Lebensumstände der Betroffenen zusammenhängt.
2.3
17
2
Koinzidenz mit weiteren
Faktoren
Versorgungsrate bei
Komorbidität
Einwände und Schlussfolgerungen
Erstens Diese Befunde zur Komorbidität psychischer Störungen
müssten eigentlich außerordentlich beunruhigen, denn sie werfen ein
überaus kritisches Licht auf das Postulat voneinander unabhängiger
Störungen, die mehr oder weniger zufällig in einer bestimmten Zeitspanne gemeinsam auftreten. Die empirisch gesicherte Realität stellt
diese Annahme fundamental in Frage: Die Koinzidenzen treten bei
mindestens 40 % aller klinischen Fälle auf und bei einer beträchtlichen Teilgruppe der Betroffenen sogar hochgradig massiert: »Es ist
nicht selten, dass ein Patient fünf oder sechs Diagnosen zugeschrieben erhält« (Wittchen u. Hoyer 2006, S. 49). Singuläre Störungen
Komorbidität eher die Regel als
die Ausnahme
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Kapitel 2 • Komorbidität: Ein Anachronismus und eine Herausforderung für die Psychotherapie
sind bei wichtigen Hauptdiagnosen sogar deutlich in der Minderheit. Schließlich entfallen zwei Drittel aller klinischen Diagnosen auf
multiple Störungen. Würden Mehrfachdiagnosen etwa in weniger als
fünf Prozent aller Fälle und nur bei wenigen Störungen auftreten,
ließe sich dieses Ergebnis vielleicht noch tolerieren und als Ausnahme und »seltenes Ereignis« einordnen. Aber ganz im Gegenteil: das
gemeinsame Auftreten psychischer Störungen ist »eher die Regel als
die Ausnahme« (Bastine, 1998, S. 184) und steht damit eindeutig im
Widerspruch zu den theoretischen Grundlagen des Komorbiditätskonzepts. Diese Aporie ist keineswegs unerheblich, sondern trifft den
zentralen Kern der theoretischen Fundierung psychischer Störungen.
2
Zweitens Hinzu kommt, dass die epidemiologischen Daten das Aus-
Symptomatische Überschneidungen
Spektrum psychischer Störungen
gering
Komorbidität und
Beobachtungszeitraum
»Prinzip Komorbidität«
wissenschaftlich fragwürdig
maß der Überlappung verschiedener Störungsphänomene noch gravierend unterschätzen, und zwar aus drei Gründen:
Einmal gibt es unterhalb der Schwelle von Volldiagnosen ein ganz
erhebliches Maß symptomatischer Überschneidungen. Beispielsweise
treten Angststörungen sehr häufig bei Menschen auf, die zugleich
ausgeprägte ängstlich-vermeidende Persönlichkeitszüge aufweisen,
die jedoch nicht unbedingt die geforderten Kriterien einer vollen Persönlichkeitsstörung erfüllen, etwa weil die Gefühle von Anspannung
und Besorgtheit nicht »andauernd und umfassend« vorhanden sind.
Die zitierten epidemiologischen Daten beschränken sich hingegen lediglich auf das gemeinsame Auftreten von Störungen, die jede für sich
die Kriterien einer Volldiagnose erfüllen.
Weiter beziehen sich die meisten epidemiologischen Untersuchungen nur auf ein ausgesprochen kleines Spektrum psychischer
Störungen. Die beiden genannten Surveys erfassen beispielsweise
nur 17 bzw. 19 Diagnosen (von weit über 300 in der ICD-10) und sie
konzentrieren sich zudem vorwiegend auf Störungen der obersten
Hierarchieebenen des Klassifikationssystems. Würden auch die differenzierteren Störungen der unteren Ebenen der Klassifikation einbezogen, würden die Koinzidenzen zwischen verschiedenen Störungen
beträchtlich höher ausfallen.
Schließlich ist die Höhe der festgestellten Komorbiditäten abhängig von der Länge der zugrunde liegenden Beobachtungszeiträume: je
länger der Zeitraum, desto höher sind die festgestellten Komorbiditäten. Es fehlt an Untersuchungen, die zeigen, wie sich die Beziehungen
zwischen verschiedenen psychischen Beeinträchtigungen über längere Zeiträume entwickeln und welche Faktoren dafür ausschlaggebend
sind. Wenn dabei sowohl unbehandelte wie behandelte Störungsverläufe analysiert würden, ließe sich auch das bemerkenswerte Theoriedefizit dieses Konzepts beheben.
Drittens Der gravierendste Einwand ist allerdings, dass das an-
spruchsvoll klingende »Prinzip Komorbidität« überhaupt nichts
erklärt: Es ist rein deskriptiv-formal, beschreibt lediglich zeitliche
Überschneidungen des Auftretens verschiedener psychischer Störun-
2.3 • Einwände und Schlussfolgerungen
19
2
gen und lässt jede inhaltliche Begründung vermissen, abgesehen von
dem kryptischen, dennoch fatalen Bezug auf das Krankheitskonzept
(»Morbus«).
Der Begriff erleichtert keineswegs das Verstehen von psychischen
Störungen. Zudem dient der Verweis auf ein nicht näher begründetes »Prinzip« der Verschleierung. Welche kausale oder funktionale
Bedeutung das gemeinsame oder das innerhalb eines bestimmten
Zeitraums versetzte (beides ist möglich) Auftreten von psychischen
Störungen und Problemen hat, bleibt im Dunkeln und lässt reichlich Spielraum für Spekulation und Interpretation möglicher Zusammenhänge (Petermann, Kusch u. Niebank 1998, S. 191–194). Die
konzeptuelle Anleihe am Morbiditätskonstrukt bedeutet jedoch, dass
die gemeinsam auftretenden Störungen als eigentlich unabhängige
Krankheitseinheiten aufgefasst werden müssten, die miteinander
nicht kausal verknüpft sind und daher nicht systematisch gemeinsam
auftreten (vgl. Bastine 2005a).
Dagegen steht allerdings die klinische Sicht, aus der heraus evident ist, dass ein gemeinsames Auftreten verschiedener psychischer
Auffälligkeiten meistens keineswegs zufällig, sondern systematisch
ist: In aller Regel lassen sich funktionale oder kausale Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Störungsaspekten rekonstruieren, die
verständlich und erklärbar machen, warum verschiedene psychische
Beeinträchtigungen bei dem speziellen psychischen Hintergrund und
den spezifischen Lebensumständen eines Patienten auftreten. Das
schließt explizit ein, dass es bei einem Patienten durchaus andere Erklärungen für das gemeinsame Auftreten von Ängsten und depressiven Beeinträchtigungen geben kann als bei einem anderen Patienten.
Viertens Ist es nun Sackgasse oder Ausweg, wenn die Komorbidität nicht zur Ausnahmeerscheinung, sondern zum Wesensmerkmal
psychischer Störungen erklärt wird? »Komorbidität ist ein Charakteristikum psychischer Störungen und hat wichtige Implikationen für
die Aufklärung der Ätiologie und Pathogenese sowie die Therapieplanung« (Wittchen u. Hoyer 2006, S. 49; ähnlich Fiedler 1995). Es
klingt eher danach, aus der Not eine Tugend zu machen, als nach
einer wirklich überzeugenden Lösung. Zumal es mit der Realisation
dieser hoffnungsvoll angekündigten Implikationen keine so große
Eile zu haben scheint, jedenfalls sucht man bisher ziemlich vergeblich
nach deren konsequenter Umsetzung. Vielmehr scheint das Leitmotiv
eher darin zu liegen, den Dinosaurier der morbiditätsorientierten Pathopsychologie zu retten. Als immunisierendes Hilfsargument wird
nämlich gleichzeitig eingebracht, dass die hohe Komorbiditätsrate
auf die deskriptive Ausrichtung der heutigen Klassifikationssysteme
zurückzuführen sei (z. B. Wittchen u. Hoyer 2006; Gouzoulis-Mayfrank, Schweiger u. Sipos 2008). Leider wird dabei übersehen, dass
das zugrunde liegende Problem eine konzeptuell-theoretische Aporie
ist und keine Not der klassifikatorischen Umsetzung.
Komorbidität: Wesensmerkmal
psychischer Störungen?
20
Kapitel 2 • Komorbidität: Ein Anachronismus und eine Herausforderung für die Psychotherapie
Störungs-»Systeme« statt
singulärer Entitäten
2
Fünftens Es fehlt an Konsequenz, aus diesen Erkenntnissen eine
weiterführende Schlussfolgerung zu ziehen: Statt am Detail zu kurieren, ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel fällig. Die kategoriale
Denkweise, in der die einzelne Störung eine singuläre Entität ist, muss
durch eine systemische Denkweise ersetzt werden. Die verschiedenen
Erscheinungsweisen psychischer Störungen (gemeinhin als »Symptome« bezeichnet) hängen untereinander in vielfältiger kausaler und
funktionaler Weise zusammen; außerdem sind sie eng verknüpft mit
dem Kontext von Lebensumständen und der persönlichen Geschichte
des Patienten (Bastine 2005a). Anstelle von Störungs- oder Krankheits-»Einheiten« ist konzeptuell von Störungs-»Systemen« auszugehen. Um den Realitäten gerecht zu werden, muss das Postulat der
klaren kategorialen Abgrenzbarkeit psychischer Störungen und damit
die Annahme distinkter Störungseinheiten endgültig verabschiedet
werden. Es handelt sich bei diesen Annahmen um einen kategorialen
Fehler, der einem zeitgemäßen Verständnis psychischer Störungen
und damit auch der Entwicklung praxistauglicher Behandlungen
massiv im Wege steht.
> Nicht das Auftreten komorbider Störungen ist erklärungsbedürftig, sondern das der singulären Störungen!
2.4
Eindeutig störungsspezifische
Fälle sind selten
Die Folgen für die Psychotherapie
Konsequenterweise ergibt sich daraus für die Psychotherapie, dass
die »reinen« diagnostischen Behandlungsfälle in der Praxis rar sind:
»In vielen klinischen Einrichtungen mag es schwierig sein, reine diagnostische Fälle zu finden, die nicht auch unter anderen Arten von
Psychopathologie leiden« (Clark, Watson u. Reynolds 1995, S. 128).
Das ist noch sehr vorsichtig ausgedrückt, bedeutet aber im Klartext,
dass die eindeutig störungsspezifischen Fälle, die sich auf eine einzige
umgrenzte psychische Störung und nur auf diese beziehen, in der
klinischen Praxis selten zu finden sind.
Damit kehren sich die Verhältnisse um: Nicht die klar umgrenzte
psychische Störung ist in der Psychotherapie der Normalfall, sondern
Behandlungsfälle, die »wenig konturiert« und durch verschiedene
Störungsaspekte gekennzeichnet sind (Bastine 1998, S. 184 sowie S.
244–247).
Es ist ja die normale psychotherapeutische Erfahrung, dass beispielsweise Befürchtungen und Ängste zunächst eine existenzielle Lebenskrise und nicht verarbeitete Verlusterfahrungen verdecken, die
sich erst später während der Behandlung als depressive Störung manifestieren. Dabei führen vielfältige Einflüsse zu ebenso facettenreichen
Erscheinungsbildern der psychischen Problematik, die »reine Fälle«
selten werden lässt und die Behandlungen erfordert, die die komplexen Lebenslagen der Patienten berücksichtigen (Fiedler 2006).
21
2.4 • Die Folgen für die Psychotherapie
2
Erwartungen ca. 15 %
(Placebo-Effekte)
Allgemeine
PsychotherapieFaktoren ca. 30 %
Psychotherapeutische
Methoden
ca. 15 %
Außertherapeutische Veränderungen
ca. 40 %
. Abb. 2.2 Geschätzter Anteil therapeutischer Faktoren an der Besserung von
Psychotherapie-Patienten anhand empirischer Erfolgsuntersuchungen (adaptiert
nach Lambert u. Barley 2002, S. 18)
Gleichzeitig wird das Erscheinungsbild der Störungen durch vielfältige Bedingungen geprägt, angefangen von den lebensgeschichtlichen Erfahrungen des Patienten, seiner Persönlichkeit, seinen Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten, dem Verlauf der Beeinträchtigungen sowie vergangenen und gegenwärtigen Lebensweisen
und Lebensbedingungen. Diese Vielfalt der ätiologischen und pathogenetischen Einflüsse führt zu einem ebenso facettenreichen Erscheinungsbild der psychischen Problematik, die »reine Fälle« selten
machen (Bastine 2005a; vgl. die Beiträge von Kämmerer, Resch und
Ahlsdorf in diesem Buch).
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass störungsspezifische
Behandlungsmethoden nach dem Resümee von Lambert u. Barley
(2002) einen relativ geringen Anteil am Gesamterfolg der Psychotherapie haben. Beide Autoren haben versucht, aus der Fülle der empirischen Ergebnisse zum Therapieerfolg auf den Anteil zu schließen, den
verschiedene Prädiktoren zur Besserung von Psychotherapie-Patienten leisten. »Eine gewissenhaft abgeleitete, dennoch grobe Schätzung
des relativen Beitrages verschiedener Variablen zum PsychotherapieErgebnis« (Lambert u. Barley 2002, S. 18) lässt sie zu dem Ergebnis
kommen, das in der Abbildung 2.2 dargestellt ist (. Abb. 2.2).
Danach sind es vor allem unspezifische Faktoren wie außertherapeutische Einflüsse (40 %) und Beziehungsfaktoren (30 %), die deutlich mehr zum Therapieerfolg beitragen als Erwartungseffekte (15 %)
und störungsspezifische Techniken (15 %). Auf diesen letzten ruhten
sicher die Hoffnungen der störungsspezifischen Behandlungstheoretiker. Bei allen Einwänden, die gegen diese Quantifizierung angebracht sind, dürfte sie doch ein weiterer Hinweis für die Notwendigkeit einer neuen Perspektive für die Psychotherapie sein.
Aus diesen Ergebnissen sind für die Psychotherapie zwei Schlussfolgerungen naheliegend:
Vielfalt der ätiologischen und
pathogenetischen Einflüsse
Faktoren für Therapieerfolg
22
Kapitel 2 • Komorbidität: Ein Anachronismus und eine Herausforderung für die Psychotherapie
5 Erstens sind Einflüsse des außertherapeutischen Kontexts von
Patienten sowie Beziehungsfaktoren sehr viel stärker in Theorie
und Praxis der Psychotherapie einzubeziehen. Dass Psychotherapie keine isolierte Veranstaltung sein sollte, die nur auf
die Störung fixiert ist, ist keineswegs eine neue Erkenntnis, dies
forderten bereits viele prominente Psychotherapeuten unterschiedlichster Orientierung (z. B. Frank 1973; Kanfer, Reinecker
u. Schmelzer 2012; Rogers 1959; Stierlin 1975).
5 Zweitens sollte eine deutlich stärkere Ausrichtung auf störungsübergreifende therapeutische Handlungsstrategien und die Gestaltung der therapeutischen Beziehung erfolgen.
2
Einfluss störungsspezifischer
Ansätze
Beide Forderungen stehen jedoch im Gegensatz zur jüngeren Entwicklung der Psychotherapie, die störungsspezifischen Ansätzen in den
letzten Jahren enormen Einfluss zukommen ließ (Herpertz, Caspar
u. Mundt 2008). Das hatte nachvollziehbare Gründe, die vor allem
darin liegen, dass die Ausrichtung auf die Behandlung singulärer psychischer Störungen wesentlich dabei half, die Begrenztheit des traditionellen Schulendenkens in der Psychotherapie zu überwinden und
zugleich der ätiopathogenetischen Forschung disziplinübergreifende
Perspektiven zu eröffnen. Außerdem führte es zu einigen praktischen
Konsequenzen, die zunächst als Erleichterungen wahrgenommen
wurden, insbesondere die Entwicklung und Evaluation standardisierter störungsspezifischer Behandlungsprogramme, Entscheidungen
über die Zulassung von Behandlungsverfahren, die Entwicklung von
Behandlungsleitlinien sowie die Strukturierung der psychotherapeutischen Ausbildung. Diese Verdienste bleiben, wobei manche dieser
Folgen auch von Befürwortern durchaus nicht nur positiv gesehen
werden (Caspar, Herpertz u. Mundt 2008).
Andererseits ist die Aporie der störungsorientierten Psychotherapie, nämlich die gravierende Diskrepanz zur klinischen Realität,
nicht zu übersehen und stellt inzwischen ein massives Hindernis für
die psychotherapeutische Praxis und Forschung dar.
> In der psychotherapeutischen Praxis stellen die multiplen,
miteinander vielfach verknüpften psychischen Störungen
die handelnden praktizierenden Psychotherapeuten vor
ganz andere Anforderungen, als mit störungsspezifischen
Konzepten und Manualen zu bewältigen sind.
Daher – und nicht aus einer wie immer gearteten Unwilligkeit resultieren auch die geringe Gegenliebe und das Misstrauen, die praktizierende Psychotherapeuten diesen Programmen entgegenbringen. Die
schiere Zahl der funktionalen Zusammenhänge beim gemeinsamen
Auftreten psychischer Störungen lässt es aussichtslos erscheinen, für
»komorbide Störungen« sogenannte »integrierte« Behandlungsprogramme zu entwickeln (Gouzoulis-Mayfrank, Schweiger u. Sipos
2008). Wie soll das gehen – für alle oder auch nur die wichtigsten
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