Anfänge der Wirtschaft und Wirtschaft der Antike

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Universität Freiburg, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte
Prof. Heinrich Bortis
Wirtschaftsgeschichte
II. Anfänge und Antike
II. Anfänge der Wirtschaft und die
Wirtschaft der Antike
(Cameron/Neal (2003), Kapitel 2, mit zahlreichen Ergänzungen)
Dieser Teil (II) enthält vier Kapitel: die Anfänge der Zivilisation (1), einige Eigenheiten
der grossen Zivilisationen und Imperien (2); die griechische Zivilisation ist von besonderer
Bedeutung, weil mit ihr die europäische Achsenzeit (Karl Jaspers 1955/49) verbunden ist
[Achsenzeit gleich Wendezeit, Zeit des Umbruchs]; die nächsten beiden Kapitel sind zwei
grossen, völlig unterschiedlichen Imperien gewidmet, Kapitel (3) dem Persischen Grossreich
und Kapitel (4) dem Römischen Imperium.
1. Anfänge der Zivilisation ....................................................................................................... 2
1.1. Agrarrevolution................................................................................................................ 2
1.2. Die erste Zivilisation: Sumer in Mesopotamien .............................................................. 5
2. Wirtschaft und Gesellschaft in den alten Zivilisationen und Imperien ........................... 8
2.1. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlagen .......................................................... 9
2.2. Handelsvölker: Phönizier und Griechen ........................................................................ 11
2.3. Europäische Achsenzeit in Griechenland (800 – 200 vor Christus) .............................. 18
3. Das Altpersische Grossreich (550 bis 330) ....................................................................... 21
4. Wirtschaft und Gesellschaft in Rom ................................................................................. 26
4.1. Königreich, Republik und Kaiserreich .......................................................................... 27
4.2. Römisches Recht und soziale und politische Struktur ................................................... 30
4.2.1 Römisches Recht und Staatsform (Dominanz des Privatrechts) ............................. 30
4.2.2. Charakteristika und Implikationen des römischen Rechts ..................................... 31
4.2.3. Recht, Wirtschaft und Sozialstruktur...................................................................... 32
4.3. Aufstieg und Fall des (West-)Römischen Kaiserreiches ............................................... 34
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II. Anfänge und Antike
1. Anfänge der Zivilisation
Die Anfänge der Zivilisation setzen ein mit dem Entstehen der Landwirtschaft, bewirkt durch
die Agrarrevolution. Die Landwirtschaft produziert mit der Zeit einen Überschuss
(landwirtschaftliche Produktion minus Verbrauch an landwirtschatlichen Produkten durch die
Produzenten). Sobald der Überschuss in bestimmten Regionen substantiell wird, setzen
Zivilisation ein, die ihren äusseren Ausdruck im Bau von Städten finden. Obwohl in diesem
Zusammenhang von Städtezivilisationen gesprochen wird, bezeichnet man den Zeitraum von
etwa 6000 v.Chr. bis zur Industriellen Revolution (etwa 1800 n.Chr.) als Agrarzeitalter, weil
um die 90% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig war. Der landwirtschaftliche
Überschuss reichte als gerade aus, um die restlichen 10% der Bevölkerung, d.h. die
Stadtbevölkerung, zu ernähren.
1.1. Agrarrevolution
Die Landwirtschaft entsteht also, grob gesprochen, um 6000 v.Chr. herum. Das ist auch etwa
der Beginn des Neolithikums (Jungsteinzeit), das bis etwa 3000 v.Chr. dauert. In der
Jungsteinzeit werden geschliffene Steine als Werkzeuge verwendet, z.B. Äxte (mit Holzstiel).
Dann folgt die Bronzezeit, etwa 3000 v.Chr. bis 1200 v.Chr., gefolgt von der Eisenzeit (1200
v.Chr. bis gegen 400 v.Chr. im Mittleren Osten, bis 600 n.Chr. in Europa).
Vor dem Neolithikum bestanden das Mesolithikum (mittlere Steinzeit) und das
Paläolithikum (Altsteinzeit). In der Altsteinzeit gab es Jäger und Sammler; es wurden vor
allem ungeschliffene Steine (neben Holz und Knochen) als eine Art Rohwerkzeuge
verwendet. Die Altsteinzeit (2,5 Millionen Jahre v.Chr. bis 8000 v.Chr. !) macht bei weitem
den grössten Teil der Vorgeschichte der Menschheit aus. Wirtschaftsgeschichtlich ist die
Altsteinzeit von Bedeutung, weil etwa 500'000 Jahre vor Christus das Feuer entdeckt wurde.
Man vermutet, dass dies gleichzeitig im heutigen Frankreich und in China geschah. Das
Feuer brachte mit Sicherheit bereits gewaltige Umwälzungen im Leben der Menschen (als
Wirtschaftshistoriker – nicht als Archäologe ! - kann man hier ein wenig die Phantasie
spielen lassen). In der Mittleren Steinzeit (8000 – 6000 v.Chr.) wurden die Stein- und
Knochenwerkzeuge verfeinert, aber die Menschen waren immer noch Jäger und Sammler.
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II. Anfänge und Antike
Die Landwirtschaft entstand also ungefähr um 6000 v.Chr. durch das Heranzüchten von
Nutzpflanzen und durch das Zähmen von Tieren, die zu Haustieren wurden.
Es kann mit Sicherheit gesagt werden, dass ab 6000 v.Chr. der Anbau von Weizen und
Gerste sowie das Halten von Schafen, Ziegen, Schweinen eventuell sogar des Rindes im
Mittleren Osten, vor allem zwischen Euphrat und Tigris (etwa dem gegenwärtigen Irak), und
in Kleinasien (der heutigen Türkei) gängig war. Von hier aus breitete sich die Landwirtschaft
graduell nach Ägypten, Indien, China, Westeuropa, usw. aus. Es gibt Theorien, wonach die
Landwirtschaft in China und Südostasien unabhängig entstanden sei. Diese sind allerdings
nicht gesichert. Die Landwirtschaft (inklusive die Tierhaltung) war wichtig für den Menschen
und die Gesellschaft. Die Jäger und Sammler wurden sesshaft, eine Voraussetzung für das
Entstehen einer höheren Zivilisation.
Die Leistungen, die bei der Entstehung der Landwirtschaft erbracht wurden, kann man
ohne Übertreibung als gigantisch bezeichnen, ähnlich den Leistungen, die im Zuge der
Industriellen Revolution zustande kamen. Wir nehmen heute Haustiere und Nutzpflanzen und
die Nahrungsmittel, die daraus hergestellt werden, gedankenlos als völlig selbstverständlich
hin. Kaum jemand denkt daran, dass es eine Zeit gab, in der Haustiere und Nutzpflanzen nicht
existierten. Sicher konnten damalige Menschen diese Leistungen vollbringen, weil sie auf
engste mit der Natur verbunden waren, sozusagen mit dem Pulsschlag der Natur lebten.
Allmählich entstanden in der Landwirtschaft Überschusse. Nicht alles produzierte, wurde
verbraucht.
Dies
schuf
Zeit
für
künstlerische
und
religiöse
Tätigkeiten
(der
landwirtschaftliche Überschuss ermöglichte es, Menschen zu ernähren, die nicht in der
Landwirtschaft tätig waren: Handwerker, Künstler, Priester). So konnten Reichtümer
aufgehäuft werden, vor all mit der (Natur-)Religion verbundene Kunstgegenstände und
Gebäulichkeiten (Tempel). Jedoch existieren in der Neusteinzeit noch keine Schriften, und die
Jagd bleibt noch für Jahrtausende von zentraler Bedeutung.
Werkzeuge und Erfindungen:
Es gibt aber im Neolithikum einfache Werkzeuge, die das Handwerk ermöglichten, z.B.
Äxte; es gab primitive Sensen und Hacken. Der (Holz-) Pflug, von Ochsen oder Eseln
gezogen, taucht allerdings erst im 4. oder 3. Jahrtausend v.Chr. auf.
Zu Beginn des 5. Jahrtausend (4...) wurde bereits Leder bearbeitet. Noch sehr brüchige
Töpfereien wurden hergestellt, ebenso rauhes Tuch aus Flachs. Im 5. Jahrtausend v.Chr.
wurde auch das Rad erfunden, ebenfalls eine Erfindung von grösster Bedeutung. Es konnten
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II. Anfänge und Antike
nun Karren hergestellt werden, die Transporte ermöglichten. In der Folge setzten
Arbeitsteilung und Handel ein. Man kann vermuten, dass Dörfer sich zu spezialisieren
begannen und dass Produkte ausgetauscht wurden.
Im 5. und im 4. Jahrtausend vor Christus setzte auch die Metallbearbeitung ein (Beginn
der Bronzezeit). Der Einsatz von Metall ermöglichte es nun, das Rad und die Karren zu
verbessern. Aber entscheidend war natürlich, das nun die verschiedenen Werkzeuge für
Handwerk und Landwirtschaft aus Bronze hergestellt werden konnten.
Das Weben sezte relativ spät ein. Wolltücher gab es erst um die Mitte des 3. Jahrtausends
vor Christus (um 2500).
Zusammen mit der Entstehung der Landwirtschaft im Neolithikum entsteht auch das
Dorf, die grundlegende sozio-ökonomische Einheit der ersten Gemeinschaften. In diesen
ersten Dörfern haben vielleicht um 50 - 100 Familien gelebt haben, mit etwa 100 - 300
Einwohnern. Die Sesshaftigkeit war offensichtlich ein entscheidender Schritt in der
Geschichte der Menschheit; eine materielle Zivilisation und höheres Kulturleben wurden
möglich. Vorher, im Paläolithikum, lebten die Menschen (Jäger und Sammler) als Nomaden.
Im Rahmen des Dorfes werden Nahrung und Behausung allmählich verbessert. Lange
glaubte man, dass die Dörfer des Neolithitums relativ gleichartig waren. Jüngere
Entdeckungen zeigen jedoch, dass vermutlich schon in der Mitte des 7. Jahrtausends
städteähnliche Siedlungen bestanden. In Catal Hüyük in Anatolien gab es eng
zusammengebaute Häuser; es bestanden Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation.
Das biblische Jericho ist vielleicht die älteste Siedlung der Welt, eine neolithische
Siedlung, die bereits 8000 v.Chr. bestand (6000 v.Chr. ist nur ein Markstein, der eine stärkere
Intensität der Neusteinzeit anzeigt). Vermutlich war Jericho von einer gewaltigen
Schutzmauer umgeben, die sicher für eine Stadt bestimmt war; zudem setzte der Bau einer
derartigen Schutzmauer bedeutende landwirtschaftliche Überschüsse voraus, sowie eine
erhebliche Arbeitsproduktivität, die ihrerseits auf einer Stadt-Land-Arbeitsteilung beruhte.
Es besteht also die starke Vermutung, dass die Stadt nicht aus dem Dorf entstanden ist,
sondern dass sich Dörfer und Städte parallel entwickelt haben.
Schlussbemerkung:
Entscheidend ist, dass aus der Agrarrevolution des Neusteinzeit-Alters (etwa 6000 bis
3000
v.Chr.)
allmählich
ein
ständig
wachsender
landwirtschaftlicher
Überschuss
hervorgegangen ist.
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II. Anfänge und Antike
Der landwirtschaftliche Überschuss ist gleich der landwirtschaftlichen Produktion (der
Ernte) minus dem notwendigen Konsum der Produzenten (landwirtschaftliche Arbeiter,
Bauern).
Der landwirtschaftliche Überschuss steht sozusagen zur freien Verfügung einer
Gemeinschaft (etwas Natürliches: Stamm, Volk – bestehend aus mehreren Stämmen) oder
später einer modernen Gesellschaft (bestehend aus im Prinzip unabhängigen und freien
Individuen). Mit dem Überschuss können Menschen ernährt werden, die nicht in der
Landwirtschaft arbeiten: Handwerker, Künstler, Priester, Soldaten, Beamte, den Fürsten und
sein Gefolge.
Wird der Überschuss aus bestimmten Gründen substantiell, dann können grössere
Vorhaben realisiert werden. So können Städte gebaut werden. Das ist der Beginn der
Zivilisation.
1.2. Die erste Zivilisation: Sumer in Mesopotamien
Die Zivilisation der Sumerer entstand zwischen bezeichnenderweise zwischen zwei grossen
Flüssen, Euphrat und Tigris, nordwestlich des Persischen Golfs.
Um etwa 4500 v.Chr. war dieses Gebiet noch eine ressourcenarme Wüste. Im 4.
Jahrtausend. (ungefähr ab 4000 v.Chr.) entstand hier die erste Zivilisation der
Menscheitsgeschichte, das Reich SUMER, mit belebten Städten, einer monumentalen
Architektur, mit Wohnbauten, Tempeln und Palästen und mit einer reichhaltigen Kultur sowie
einer Religion. Was die Kunst betrifft gab es beispielsweise Skulpturen (Tierskulpturen,
Jagdszenen) und eine Literatur.
Vor allem im British Museum finden sich Tierskulpturen (z.B. Löwen von 4 bis 5 Metern
Länge) und Architekturelemente (z.B. Eingangstore zu Palästen). Alles wirkt monumental
und majestätisch. Man hat den Eindruck, hier seien nicht Menschen, sondern Halbgötter am
Werke gewesen!
Wie die sumerische Zivilisation entstanden ist, ist unbekannt. Eine Theorie besagt, dass
Menschen aus Nordindien nach Mesopotamien gekommen sein. Eine andere Theorie könnte
davon ausgehen, dass es in Afrika schon vor Millionen von Jahren Menschen gab, vor 2.5
Millionen in Ostafrika (Kenya) und vor etwa 6 Millionen in Zentralafrika. Vielleicht gab es in
Afrika Zivilisationen, von denen jede Spur verloren ging. Aber diese verlorenen
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Zivilisationen könnten erklären, wieso in Ägypten und in Mesopotamien (Sumer)
Zivilisationen entstanden. Aber das sind Spekulationen. Das Entstehen von Zivilisationen
bleibt ein Geheimnis. Man kann sich tatsächlich nur schwer vorstellen, dass Jäger und
Sammler, die sesshaft wurden und begannen, Landwirtschaft zu betreiben, auf einen Schlag
hochstehende Zivilisationen schaffen konnten. Jedenfalls besteht eine gewisse Einigkeit
darübr, dass das Entstehen einer grossartigen Zivilisation wie der sumerischen, tausende von
Jahren vor Christus der Evolutionstheorie widerspricht.
Die sumerische Zivilisation beruhte auf einer sehr hohen landwirtschaftlichen
Produktivität. Diese wurde bewirkt durch ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem, durch das
der Schlamm von Euphrat und Tigris auf die Felder geleitet wurde, die dadurch intensiv
gedüngt wurden. Auf den Feldern arbeiteten zahlreiche landwirtschaftliche Arbeiter (Knechte,
Bauern, Handwerker) unter kompetenter Leitung und Aufsicht. Die Leiter der
landwirtschaftlichen Arbeiten sowie die Aufsehen entstammten der Klasse der Priester und
der Krieger, also der herrschenden Oberschicht. Die landwirtschaftlichen Arbeiten (Aussäen,
bewässern und ernten) waren vermutlich fast militärisch organisiert.
Das Land war Gemeineigentum der herrschenden Schicht (König und sein Gefolge,
Krieger, Beamte, Priester). Man könnte von einem aristokratischen Sozialismus sprechen.
Tatsächlich
waren
starke
Planelemente
vorhanden:
militärische
Organisation
der
Landwirtschaft, ein Teil der Ernte wurde in staatlich Lagerhallen gehalten; Lagerhallen gab es
auch für gesellschaftlich notwendige Produkte, wie Werkzeuge und Waffen.
Zudem gab es ein Steuersystem, das im Zusammenhang mit Kreditgeld stand. Zum
Beispiel, wenn ein Handwerker Werkzeuge oder Waffen für die staatlichen Lagerhallen
lieferte, erhielt er als Zahlung ein Lieferungsversprechen beispielsweise für eine bestimmte
Menge Getreide. Dieses Versprechen konnte z.B. auf einem Tontäfelchen eingeritzt sein. Der
Handelwerker konnte nun dieses Täfelchen verwenden, um seinerseits Zahlungen zu leisten.
So zirkulierten Zahlungsversprechen als Geld in der Form von Tontäfelchen, solange bis ein
Geldempfänger mit dem Tontäfelchen zu einem Bauern (oder einem Leiter der
landwirtschaftlichen Produktion) ging, um das Lieferungsversprechen an Weizen einzulösen.
Der Bauer (oder der Produktionsleiter) brachte dann das Tontäfelchen zur königlichen
Steuerverwaltung als Beleg für bezahlte Steuern. Die königliche Finanzverwaltung konnte
dann das Tontäfelchen brauchen um eine neue Zahlung zu leisten.
Dieses kleine Beispiel ist wirtschaftsgeschichtlich gesehen aus zwei Gründen von
ausserordentlicher Bedeutung. Zum Ersten zeigt es, dass das erste Geld stoffwertloses
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Kreditgeld war, damit auch Gesetzesgeld, weil die Gläubiger von Gesetzes wegen zur
Annahme gezwungen waren. Dieses Geld war natürlich nur im Innern eines gut geordneten
Staatswesens möglich und konnte im Aussenhandel nicht verwendet werden; für den
Aussenhandel brauchte es Warengeld (Gold- und Silbermünzen); Münzen wurden erst sehr
viel später geprägt, nämlich von den Griechen, die einen intensiven Aussenhandel betrieben.
Zweitens, das Geld wird über den staatlichen Haushalt (Staatsausgaben) in Umlauf gebracht.
Andererseits zwingt damit der Staat die landwirtschaftlichen Produzenten ihre Steuern in Geld
zu bezahlen. Um die Steuern zu bezahlen, müssen die landwirtschaftlichen Produzenten einen
Teil des landwirtschaftlichen Überschusses vermarkten.
(Dieser Mechanismus wurde im 19. und 20. Jahrhundert gebraucht, um die
wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln. So hat z.B. der japanische Staat den Aufbau der
Industrie in die Wege geleitet, indem mit staatlicher Unterstützung Fabriken gebaut wurden.
Die Löhne wurden in stoffwertlosem Geld bezahlt, mit dem die Arbeiter landwirtschaftliche
Produkte kauften. Die Bauern mussten das Geld annehmen, also die Produkte (den
landwirtschaftlichen Überschuss) liefern, weil sie die Steuern in Geld bezahlen mussten.)
Die sumerischen Herrscher eignen sich also den landwirtschaftlichen Überschuss über
Steuern, Abgaben und Sklavenarbeit an. Der Überschuss wird verwendet, um Tempel und
öffentliche Gebäude (Paläste) zu bauen und um Kunstwerke zu schaffen. Auch wird ein
Luxuskonsum für die herrschende Schicht möglich. Schliesslich diente der Überschuss auch
der Kriegsführung.
Die erste Zivilisation führt bereits zu einer ausgedehnten Arbeitsteilung, gesellschaftlich
und wirtschaftlich: Der Städtebau erforderte Maurer, Zimmerleute und Schreiner. In der
wirtschaftliche Basis gab es noch weitere Handwerker, vor allem Spinner und Weber für die
Herstellung von Tuch, Töpfer, die z.B. Vasen herstellten und Schmiede in der
Metallbearbeitung (Kupfer): Herstellung von Werkzeugen und Waffen.
Im gesellschaftlichen Überbau gab es höhere Berufe: Architekten, Ingenieure und Ärzte.
Wenn man sich diese reich gegliederte Gesellschaft vor Augen hält und ihre Leistungen
betrachtet, wird die plötzliche Entstehung der sumerischen Zivilisation noch geheimnisvoller
und unbegreiflicher. Die Sumerer haben damit zusammen mit den Ägyptern die Grundlagen
für die zivilisatorische Entwicklung des gesamten Westens, inklusive des Mittleren Ostens,
gelegt.
Aber es kommt noch etwas hinzu. Der Hauptbeitrag der Sumerer zur zivilisatiorischen
Entwicklung der Menschheit ist nämlich die Erfindung der Schrift. Die sumerische Schrift ist
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nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern aus Erfordernissen des täglichen Lebens
entstanden. Man vermutet, dass diese erste Schrift im Rahmen der staatlichen (königlichen)
Buchhaltung (registrieren von Einnahmen – Steuern und Abgaben - und Ausgaben) und der
allgemeinen Verwaltung (Ein- und Ausgänge von Gütern in königlichen Lagerhallen:
landwirtschaftliche Produkte, Werkzeuge und Waffen) entstanden ist. (Vielleicht etwas
bösartig wurde später gesagt, die Erfindung der Schrift sei die einzige wichtige Erfindung, die
von einer Bürokratie gemacht wurde.)
Die sumerische Schrift war eher eine logographische oder synthetische Schrift: Man
orientierte sich am Inhalt dessen, was durch die Sprache ausgedrückt wird. Die chinesische
Schrift ist das beste Beispiel für eine logographische Schrift: der zu schreibende Inhalt (das
Objekt) wird in stilisierter Form durch ein Schriftzeichen festgehalten (gezeichnet).
Bei der phonetischen oder analytischen Schrift, schreibt man unabhängig von der
Bedeutung die Laute der Sprache (Buchstabenschrift). Das schreibende Subjekt bezeichnet
einen Inhalt mit einem Wort. Dabei entsprechen die einzelnen Buchstaben gesprochenen
Lauten.
Jedenfalls ist die Entdeckung der Schrift für die Entwicklung der menschlichen
Zivilisation
(Technik,
Wissenschaft)
und
Kultur
(Literatur,
Kommunikation)
von
grundlegender Bedeutung.
Nach dem sumerischen Reich sind in Mesopotamien, im mittleren Osten und im
Mittelmeeraum weitere Zivilisation entstanden, die zu Reichsbildungen führten, z.B. Babylon,
Assyrien, Ägypten, Persien; Rom; weitere Zivilisationen wurden durch die Phönizier und die
Griechen geschaffen. Im folgenden beschäftigen wir uns ganz kurz mit einigen
wirtschaftlichen und sozialen Charakteristika dieser Zivilisationen und Imperien.
(Grundlegend ist hier Die Geschichte der Alten Welt, Band I, von Michael Rostovtzeff,
1941).
2. Wirtschaft und Gesellschaft in den alten Zivilisationen und
Imperien
(Babylon, Assyrien, Ägypten: alle vor der ersten Achsenzeit (800-200 v.Chr.); Persien –
altpersisches Reich (550-330), Reich Alexanders des Grossen (330-280 v.Chr.), beide Reiche
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während der Achsenzeit; Rom (753 Gründung; 510-27 v.Chr. Republik; 27 v.Chr. bis 476
n.Chr. Kaiserreich, Imperium: erstes westliches Reich nach der ersten Achsenzeit)
2.1. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlagen
Der landwirtschaftliche Überschuss (SL = surplus in der Landwirtschaft) bildet die Grundlage
für Prunk und die Entfaltung innerer und äusserer Macht; SL wird ergänzt durch
Plünderungen und Handelsgewinne. Entscheidend waren jedoch Eroberungen, die die
Beschäftigung und den Output (Sozialprodukt) erhöhten und vor allem den sozialen
Überschuss (S) steigerten.
Die ägyptischen Pyramiden (entstanden etwa zwischen 2620 bis 2500 v. Chr.) sind das
Paradebeispiel für die Verwendung des sozialen Überschusses. Dieser fiel in der Form von
Geld (Kreditgeld) und Naturalabgaben an den Herrscher (unter den Naturalabgaben befanden
sich wahrscheinlich auch Edelmetalle befinden – vermutlich in der Form von Schmuck oder
Skulpturen). Der Herrscher hat den Überschuss zum grössten Teil wieder ausgegeben um
Projekte zu finanzieren (Bauten, Kunstwerke, vor allem für religiöse Zwecke; dazu kamen die
laufenden Ausgaben für die Verwaltung und den Unterhalt des Heeres).
Man vermutet dass die gigantischen Arbeiten, die mit dem Pyramidenbau verbunden
waren, nicht von Sklaven, sondern von Lohnarbeitern ausgeführt wurden. Der Pyramidenbau
hatte verschiedene Dimensionen. Einmal eine religiöse: Grabstätten für die Pharaonen. Mit
der religiösen Dimension hängt die künstlerische zusammen: Wieso gerade diese äusserst
einfache, modern anmutende Form (Glas-Pyramiden im Louvre in Paris!)? Die Proportionen
sind über die Wahl der Neigungswinkel so gewählt, dass diese riesigen Bauwerke nicht
schwerfällig, sondern elegant wirken. Dann kommt eine naturwissenschaftliche Dimension
hinein: Die alten Ägypter waren ausgezeichnete Astronomen, und die Astronomie spielte bei
der Ausrichtung der Pyramiden eine Rolle. Der Pyramidenbau hatte auch politische
Dimensionen; er schweisste nämlich Unter- und Oberägypten zu einer politischen Einheit
zusammen. Und last but not least die wirtschaftliche Dimension: Die gigantischen
Staatsausgaben zur Realisierung der Pyramiden sind autonome Ausgaben, die die Wirtschaft
in Gang setzen. Der Pyramidenbau schafft Einkommen, die einen kumulativen Prozess der
Konsumgüternachfrage in Gang setzen (Ausgabenmultiplikator). Das bedeutet eine starke
Belebung der Wirtschaft. Modern ausgedrückt impliziert der Pyramidenbau und seine
Auswirkungen den internen Beschäftigungs- und Entwicklungsmechanismus (Teil I –
Einleitung).
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In den alten Zivilisationen und Imperien bestand eine differenzierte Gesellschaft. In der
Regel sind ethnische Faktoren ausschlaggebend: Die Eroberer dominieren die Eroberten. Die
Unterworfenen sind in der materiellen Basis, in der Wirtschaft, als Sklaven, Arbeiter und
Handwerker tätig. Die Eroberer besetzen die leitenden Positionen im Überbau als Herrscher,
Administratoren, Heerführer, Architekten, Ärzte, Künstler.
Die grossen Imperien haben nur wenige Beiträge zur technischen und wirtschaftlichen
Entwicklung geleistet. Die meisten Techniken und Verfahren, die die Büte der grossen
Zivilisationen bestimmen, […] wurden beim Ausgang der Vorgeschichte entdeckt
[Nutzbarmachung von Pflanzen und Tieren, Monumentalarchitektur, das Rad, das Segelschiff,
… . Die Eisengewinnung und -verarbeitung wurde wahrscheinlich zwischen 1400 und 1200
v.Chr.
von
barbarischen
Bergvölkern
Anatoliens
oder
des
Kaukasus
erfunden.
Bezeichnenderweise wurde Eisen lange vor allem gebraucht, um Waffen herzustellen, nicht
Werkzeuge] (vgl. Cameron/Neal 2003, p. 31).
Die grossen Zivilisationen und Imperien wenden bestehende Kenntnisse im grossen Stil
an, erbringen also organisatorische Leistungen; so haben die Römer Städte, Strassen und
Wasserleitungen (Viadukte) gebaut; sie bauten eine äusserst effiziente Armee auf; im
Mittelmeer fuhren zahlreiche Handelsschiffe herum; Kriegsschiffe schützten diese gegen
Piraten. Die Römer entwickelten ein Rechtssystem, das heute noch Grundlage für das
Privatrecht ist; es gab eine Polizei, eine Feuerwehr und eine Post. Die organisatorischen
Leistungen umfassen auch Verfeinerungen von bestehenden Kenntnissen; es gibt kleinere
Fortschritte, vor allem im Bereiche der Landwirtschaft und der Herstellung von
Nahrungsmitteln; z.B. enthielt die berühmte Bibliothek von Alexandrien um die 50
Manuskripte über die Herstellung von Brot!
Abschliessend noch eine grundlegende Frage zu den grossen Zivilisationen: Wieso gab
es Zivilisationen in bestimmten wasserreichen Regionen, etwa in Mesopotamien und in
Ägypten, aber nicht am Mississippi in Nordamerika? Der Bevölkerungsdruck ist eine
mögliche Antwort. Die Indianer Nordamerikas sahen keine Notwendigkeit am Mississippi
Ackerbau zu betreiben. Die Jagd in den riesigen Weiten Nordamerikas genügte, um ihren
Lebensunterhalt zu sichern. Aber vielleicht kommt noch etwas mehr hinzu: der Wille eine
Zivilisation aufzubauen, deren materielle Grundlage die Stadt ist. Dieser Faktor könnte mit
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der Sozialnatur des Menschen zusammenhängen. Er impliziert, dass es aussergewöhnliche
Eliten gegeben haben muss, die eine Vision einer aufzubauenden Zivilisation hatten.
2.2. Handelsvölker: Phönizier und Griechen
Ab 3000 v.Chr. setzt im Mittelmeer eine ausgedehnte Handelstätigkeit ein, betrieben vom
ältesten Handelsvolk der Welt, den Phöniziern. Die Phönizier stammen aus der Gegend des
heutigen Libanon und betrieben zuerst Handel im östlichen Mittelmeer. Die Handelstätigkeit
der Phönizier verband Sumer und Ägypten.
Die Phönizier sind dann allmählich nach Westen vorgedrungen: Sizilien, Sardinien,
Gründung von Karthago (im Nordosten des heutigen Tunesien). Vermutlich haben die
Phönizier sogar den Atlantik befahren; einerseits fuhren sie entlang der afrikanischen Küste,
andererseits haben sind auch nach Norden gefahren und haben so wahrscheinlich England
erreicht.
Karthago wurde im neunten oder achten Jahrhundert v. Chr. von phönizischen
Siedlern aus der südlibanesischen Stadt Tyros (heute Tyrus) gegründet, vermutlich in der
zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts vor Christus (zwischen 750 und 700). Die Stadt
entwickelte sich zu einer bedeutenden See- und Handelsmacht und gründete Kolonien auf
Sizilien, Sardinien, Korsika, den Balearen, an der nordafrikanischen Küste und an der
südlichen Mittelmeerküste Spaniens. Während des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. kam es
zu Konflikten mit griechischen Kolonien, Syrakus auf Sizilien und Nikaia (Nizza, Nice)
im heutigen Südostfrankreich. In diesen beiden Jahrhunderten wurde Karthago stark von
der im Mittelmeerraum dominierenden griechischen Kultur geprägt. Die Stadt prosperierte
in der Folge durch eine starke Zunahme des Seehandels. Im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr.
ist Karthago die reichste und grösste Stadt des Mittelmeerraums geworden (400'000
Einwohner).
Die Expansion Karthagos führte zu einem Konflikt mit Rom, einer anderen
aufstrebenden Stadt im Mittelmeerraum. Es kam zu Handelskriegen um die Vorherrschaft
im Mittelmeerraum (Punische Kriege), die mit der Eroberung und Zerstörung Karthagos
durch Rom endeten.
Im 1. Punischen Krieg (264-241 v.Chr.) eroberten die Römer Sizilien.
Im Zuge des 2. Punischen Krieges (218-201) zog der karthagische Feldherr Hannibal von
Spanien ausgehend mit Elephanten über die Alpen nach Italien; im Jahre 216 schlug Hannibal
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die Römer vernichtend bei Cannae (südöstlich von Rom, an der italienischen Adriaküste); es
war eine Einkreisungsschlacht, in der die Römer 60'000 (von 70'000 !) Soldaten verloren, die
Karthager 10'000 (von 50'000). Rom wurde bedroht, aber nicht eingenommen (wegen
Nachschubproblemen wagte es Hannibal nicht, Rom zu belagern). Schliesslich behielten die
Römer unter ihrem Feldherrn Scipio Africanus nach der Schlacht von Zama (202), im
heutigen Tunesien die Oberhand (das karthagische Heer wurde von Hannibal geführt).
Im 3. Punischen Krieg (149-146) wurde Karthago belagert und zerstört. Damit wurde
Rom die dominierende Handelsmacht im Mittelmeer. Dieses wurde sozusagen ein römisches
Meer (mare nostrum).
Die grosse zivilisatorische Leistung der Phönizier war die Entwicklung einer
phonetischen (analytischen) Schrift, der Lautschrift, die auf dem Alphabet beruht. Die
phönizische Schrift wurde von den Griechen und Römern übernommen (siehe dazu das
faszinierende Buch von Walter Burkert: Die Griechen und der Orient – Von Homer bis zu den
Magiern, München (Verlag C.H. Beck) 2003, vor allem pp. 23-27). Das Alphabet löste die
(eher logographischen) Hieroglyphen ab, die in Mesopotamien und Ägypten verwendet
wurden.
Die Buchstabenschrift hat gegenüber der Zeichenschrift (Hieroglyphen, chinesische
Schriftzeichen) sehr grosse Vorteile. Sie erlaubt es, Begriffe zu prägen, Urteile zu fällen und
Schlüsse zu ziehen, also komplexe Argumente klar und verständlich darzulegen. Dabei kann
der Komplexität der Realität und den individuellen Sichtweisen dieser Realität Rechnung
getragen werden. Die ungemein reichhaltige wissenschaftliche Aktivität des Westens und die
Vielfalt der Literatur ist auf die Buchstabenschrift zurückzuführen. All dies kann mit einer
logographischen Schrift im Prinzip auch gemacht werden. Aber alles ist viel schwieriger und
kann nur von einer sehr hochstehenen geistigen Elite durchgeführt werden. Ohne
Übertreibung kann man sagen, dass die Buchstabenschrift in hohem Masse zu den
grossartigen und vielfältigen Leistungen Europas in den Bereichen der Kunst (Literatur), von
Wissenschaft und Technik und der Wirtschaft beigetragen hat. Diese Schrift hat damit auch
dazu beigetragen, dass Europa Laboratorium der Weltgeschichte geworden ist (siehe
wiederum Burkert 2003 sowie Mitterauer 2003).
Weiter ist die Buchstabenschrift viel demokratischer. Sie kann mit Leichtigkeit von allen
erlernt werden. Um eine logographische Schrift (z.B. Chinesisch) gut zu beherrschen, braucht
es dagegen jahrelange Arbeit und Übung, die nur von relativ wenigen erbracht werden kann.
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Schliesslich kann man sich noch die Frage stellen, warum gerade die Phönizier die
Buchstabenschrift entdeckt haben, vielleicht besser, geschaffen oder entwickelt haben. Es ist
sehr wahrscheinlich, dass sich phönizische Handelsleute über sehr weite Strecken
Geschäftsbriefe geschrieben haben. Wenn dann der Empfänger einen Brief erhalten hat, der
vielleicht wochenlang unterwegs war, musste er natürlich genau wissen, was gemeint war.
Hieroglyphen hätten nicht ausgereicht, die entsprechende Präzision der Kommunikation zu
gewährleisten, ausser durch vorherige Absprache; aber man hätte nicht sicher nicht alle
Möglichkeiten des Geschäftslebens voraussehen können. Also, nur eine Buchstabenschrift
war präzis genug, um den Anforderungen einer weiträumigen Geschäftstätigkeit zu genügen.
Das zweite grosse Handels- und Kolonialvolk des hohen Altertums waren die Griechen.
Ihre Kolonisationstätigkeit geht vom Schwarzen Meer (Handel mit den Skythen im heutigen
Südwestrussland!) bis nach dem heutigen Südfrankreich (Marseille ist eine griechische
Gründung).
Griechische Seehändler aus Phokäa (Phocée) [Phäaken – Phocéens (auch der
Fussballklub Marseille!)] in Kleinasien (heutige westliche Türkei) kamen im 7. Jahrhundert v.
Chr. an die Südküste Frankreichs, um Handel zu treiben. Die Griechen wollten vor allem
Zinn, das als Bestandteil der Bronze wichtig war (grössere Festigkeit); im Gegenzug lieferten
sie Töpferwaren und Schmuck an die lokalen (ligurischen) Fürsten (ein Beispiel für den
Tausch von Rohstoffen und Handwerksprodukten, später Industrieprodukten!). An der
schroffen und felsigen Küste waren geschützte Landeplätze rar, und so steuerten Griechen
immer wieder den natürlichen Hafen des heutigen Marseille an, wo ihre Schiffe vor Wind und
Wellen geschützt waren. Um 620–600 v. Chr. erhielten die Griechen Land vom dortigen
ligurischen Fürsten und richteten an diesem Hafen einen dauerhaft bewohnte Handelsplatz
ein, den sie Massalia nannten, das heute Marseille heisst.
Süditalien und Sizilien wurden dermassen intensiv kolonisiert, dass beide zusammen
Grossgriechenland genannt wurden (Magna Graecia). Der griechische Philosoph Platon lebte
lange in der sizilianischen Stadt Syracusa (Syrakus).
Um 500 v.Chr. herum war Athen das Handels- und Finanzzentrum des Mittelmeerraumes
(wie später Antwerpen und Amsterdam die Finanzzentren Europas wurden und heute London
und New York für die ganze Welt; vielleicht werden beide bald abgelöst werden durch
Shanghai und Tokyo). Es wurden wichtige ökonomische Institutionen geschaffen: es
entstanden Banken und Versicherungen, vor allem Seeversicherungen; diese basierten auf
dem Solidaritätsprinzip: alle Kaufleute bezahlten bestimmte Geldbeträge in eine gemeinsame
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Kasse (die heutige Prämie); erlitt ein Kaufmann einen Verlust, z.B. durch den Untergang
eines Schiffes, wurde er aus diesem gemeinsamen Fonds entschädigt. Es wurden sogar
Kommanditgesellschaften geschaffen, d.h. Personengesellschaften, in der sich zwei oder mehr
natürliche Personen oder juristische Personen zusammenschliessen, um unter einem
gemeinsamen Namen (Firma) ein Gewerbe zu betreiben; dabei haftet für Verbindlichkeiten
der Gesellschaft mindestens ein Gesellschafter unbeschränkt und mindestens ein weiterer
Gesellschafter nur beschränkt.
Wahrscheinlich die wichtigste wirtschaftliche Institution, die von den Griechen
geschaffen wurde, war die Münzprägung. Die ersten Prägungen von Geld fanden vermutlich
in Kleinasien, der heutigen Westtürkei um 600 v.Chr. statt, dies unter anderen durch die
Könige Midas und Krösus. Beide Namen sind mit Reichtumsstreben in der Form von Geld
und mit gewaltigem Reichtum verbunden.
[Auch gibt es über beide Könige Anekdoten: König Midas soll sich gewünscht haben,
dass alles, was er berühre zu Gold werde und soll dabei verhungert sein. – In
unveröffentlichten Manuskripten von Maynard Keynes, der sich sehr gut in der griechischen
Sagenwelt auskannte, gibt es eine Sage über dem griechischen König Krösus: Als der
persische Grosskönig Xerxes mit seinem Heer gegen Griechenland zog, stellte er fest, dass die
griechischen Könige Kleinasiens gewaltige Geldsummen horteten, währenddem ihre Völker
in grösster Armut lebten. Dies widersprach der mittelöstlichen (persischen, mesopotamischen
und ägyptischen) Doktrin, wonach der Fürst nur wenige Reichtümer horten solle; er solle
seine Reichtümer ausgeben, um Grossprojekte zu verwirklichen (Pyramiden, Tempel,
Monumentalskulpturen); durch diese autonomen Ausgaben und dem damit verbundenen
positiven Effekt auf die Wirtschaft in der Form von kumulativ zunehmender
Konsumgüternachfrage würden neue Arbeitsplätze geschaffen und das Sozialprodukt erhöht.
Angesichts des königlichen Reichtums und der gleichzeitigen Armut des Volkes im
Königreich von Krösus, soll Xerxus in Wut geraten sein, habe Gold schmelzen lassen und
Krösus gezwungen das heisse flüssige Gold zu trinken, bis der Tod eingetreten sei.
In seinem Buch A Treatise on Money – Vom Gelde (1930) ist dann Keynes von dieser
Sage ausgegangen und hat vom realen Sektor, dem Industriesektor, und dem finanziellen
Sektor gesprochen. Im realen Sektor werden neue Güter produziert, das Sozialprodukt; hier
werden neue Werte geschaffen; dem Geld steht immer ein realer Gegenwert gegenüber. Im
finanziellen Sektor dagegen werden keine neuen Werte geschaffen und dem Geld steht kein
realer Gegenwert gegenüber. Hier werden beispielsweise durch spekulative Transaktionen nur
Reichtümer umverteilt; es gibt Gewinner und Verlierer, aber das Ganze ist ein
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Nullsummenspiel. Im Treatise on Money von Keynes steht nun eine berühmte Feststellung:
„Wenn Geld vom realen Sektor in den Finanzsektor abfliesst, dann ist die Krise
vorprogrammiert“ (in einer modernen Wirtschaft kann Geld vom realen in den Finanzsektor
abfliessen, wenn zuviel gespart wird, das Sparen also die Investititionen übersteigt; hohe
Sparvolumen implizieren in der Regel eine ungleiche Einkommensverteilung).]
Das bekannteste und berühmteste griechische Geld war das athenische. In die
athenischen Münzen war als Symbol eine Eule eingeprägt, die berühmte Eule von Athen.
Dieses Symbol verbürgte die Reinheit des Metalls.
Die ersten Prägungen erfolgten vermutlich durch griechische Bankiers. Dann schaltet
sich aber sofort der Staat (Stadtbehörden) ein und errichtete das Münzprägungsmonopol des
Staates. Das Prägen von Münzen verschaffte den griechischen Stadtstaaten Einnahmen: Der
Wert der geprägten Münzen war viel höher, als das eingekaufte Rohmetall (z.B. Gold- und
Silberbarren). Mit diesen Zusatzeinkommen konnte der Staat Güter und Dienstleistungen
bezahlen.
Betreffend das Geld kann man sich abschliessend fragen, warum gerade die Griechen
begonnen haben, Münzen zu prägen und damit Geld mit Stoffwert (Warengeld) herzustellen.
Wieso nicht die ersten Zivilisation, Sumer, Babylon und Ägypten beispielsweise?
In
den
ersten
Zivilisationen
gab
es
neben
dem
Kreditgeld
(Forderungen,
Lieferungsverspechen) auch Warengeld: Getreide, Muscheln; Schmuckstücke, allgemeine
Gebrauchs- und Nutzgegenstände, sogar Haustiere [Warengeld als Naturgeld wurde in
isolierten Regionen bis zum Ende des Agrarzeitalters verwendet, auf bestimmten
Pazifikinseln heute noch]. Aber alle diese Warengeldarten waren für den internen Gebrauch
(innerhalb einer Gesellschaft oder eines Staatsgebietes) bestimmt und konnten im
Aussenhandel nicht verwendet werden. Zudem spielte der Aussenhandel in den alten
Zivilisationen vermutlich eher eine untergeordnete Rolle, weil der Selbstversorgungsgrad
relativ hoch war. Ein hoher Grad an Autarkie wurde auch aus Sicherheitsgründen angestrebt.
In den griechischen Kleinstaaten war das anders. Der Selbstversorgungsgrad war relativ
niedrig. So mussten sich die griechischen Staaten wahrscheinlich in einem ersten Schritt
Güter, die nicht in ausreichendem Masse hergestellt wurden, im Ausland beschaffen. Das
brauchte ein allgemein anerkanntes Warengeld, das bestimmte wünschenswerte Eigenschaften
hatte, vor allem die Teilbarkeit; auch musste das Warengeld volumenmässig klein und leicht
zu transportieren sein. Der Aussenhandel war wahrscheinlich der Hauptgrund warum die
griechischen Kleinstaaten begannen Münzen zu prägen. So gesehen ist es auch kein Zufall,
dass die bekanntesten griechischen Münzen aus Athen kommen. Athen und der griechische
15
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Seebund beherrschten vor allem im 5. Jahrhundert vor Christus den Handel im östlichen
Mittelmeerraum. Ausgeführt wurden beispielsweise Töpferwaren (Vasen) und Schmuck;
diese Handwerksprodukte wurden unter anderem gegen Rohstoffe (z.B. Metalle wie Eisen
und Zinn) und landwirtschaftliche Produkte eingetauscht.
Viele moderne Autoren haben den Aussenhandel als friedensfördernd bezeichnet
(Montesquieu und alle liberalen Autoren – Klassiker und Neoklassiker). Handel zwischen
Ländern ist aber langfristig nur mehr oder weniger konfliktfrei wenn sich alle Handelspartner
in der Nähe der Vollbeschäftigung befinden und wenn sich kein zu grosses
Handelsbilanzdefizit einstellt.
Wenn aber um Arbeitsplätze gekämpft wird (Absatz von Endprodukten) und wenn es um
die Beschaffung lebensnotwendiger Produkte geht, z.B. von Nahrungsmitteln, dann kann es
im internationalen Handel um Existenzfragen, zumindest um relative Machtpositionen gehen.
Erbitterte Kriege können zustande kommen. Wir haben schon von den Punischen Kriegen
zwischen Rom und Karthago als von Handelskriegen gesprochen. Bei beiden Weltkriegen in
der ersten Hälfte des Zwangigsten Jahrhunderts war das Wirtschaftliche ein entscheidender
Faktor für das Zustandekommen dieser Kriege. Das war auch so beim Peloponnesischen
Krieg, wie aus dem ausgezeichneten 19. Kapitel (Der Peloponnesische Krieg) von Michael
Rostovtzeffs Geschichte der Alten Welt [1941] (Band I, pp. 306 ff.) hervorgeht. Rostovtzeff
argumentiert hier, dass das Wirtschaftliche wichtiger war als das Politische, [gleich wie beim
Zustandekommen des Ersten Weltkrieges]. [Die tieferliegenden Gründe sind, dass in
monetären Produktionswirtschaften keine Tendenz zur Vollbeschäftigung besteht, dass also
Arbeitsplätze erkämpft werden müssen, und dass die Beschaffung lebensnotwendiger Güter
unter allen Umständen sichergestellt werden muss.]
Auszug aus Michael Rostovtzeff: Geschichte der Alten Welt (Band I)
„[p. 306:] 19. Der Peloponnesische Krieg [432-404 v.Chr.]
Das Bestehen des athenischen Reiches [des Seebundes] stellte der griechischen Politik ein
Problem. Wer war stärker, die in diesem Reich vertretenen Kräfte des Zusammenschlusses
oder der entgegengesetzte Drang zur Unabhängigkeit jedes einzelnen Gemeinwesens?
Bemerkenswerterweise unterstützte die athenische Demokratie, während sie sich auf der Bahn
des Imperialismus bewegte, gleichzeitig in allen von Athen abhängigen Staaten die
demokratische Sache. Sie rechnete damit, dass die Demokraten, die meist der industrie- und
handelstreibenden Schicht angehörten, den Handelsimperialismus Athens unterstützen
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würden, selbst wenn die politische Unabhängigkeit der einzelnen Gemeinwesen Schaden litt.
Wie selbstsüchtig auch die Politik Athens sein mochte, so sicherte sie doch den Kaufleuten
die Meere und gab den Verbündeten einen gewissen Anteil an den Vorteilen der
Überlegenheit des athenischen Handels.
‚Selbstbestimmung’ und ‚Gleichgewicht der Kräfte’ – das waren einst die Losungsworte
der meisten griechischen Städte gewesen. Jetzt wurden sie hauptsächlich von den Anhängern
der Aristokratie, den grösseren und kleineren Grundeigentümern, vertreten. [p. 307:] Sparta
[der grosse Gegner Athens] trat in gewissem Ausmass für diese Forderungen ein: es war
bereit, seinen Verbündeten selbst in politischen Angelegenheiten ein grösseres Mass an
Selbstregierung zuzugestehen, als Athen sie gewähren wollte. Es unterstützte daher auf jede
Weise die aristokratischen und oligarchischen Parteien, die in jedem griechischen
Gemeinwesen, auch in Athen, bestanden. Es liess nichts unversucht, damit die konservative
Politik, die zu dem athenischen Imperialismus in scharfem Gegensatz stand und der
spartanischen Verfassung, wenn auch nicht dem spartanischen Militärbunde, günstig war, die
Politik möglichst vieler griechischer Staaten wurde.
[Nun wichtig:] Aber der Unterschied zwischen der spartanischen und der athenischen
Haltung zu diesen Grundfragen erklärt nicht, weswegen es zwischen beiden Mächten
unausweichlich zu einem bewaffneten Zusammenstoss kommen musste – zu einem Streit, der
bis zur äussersten Erschöpfung der Kräfte beider Parteien beider Parteien dauern und mit dem
vollständigen Sieg der Selbständigkeitsbestrebungen enden sollte. [Trotzdem sich Athen 432
v.Chr. in einer viel besseren Ausgangsposition befand, endete der Peloponnesische Krieg 404
v.Chr. mit dem totalen Sieg Spartas.]
Die Erklärung des Zusammenstosses ist daher nicht nur in der grundsätzlich
verschiedenen politischen Anschauung von zwei fast gleich starken griechischen [p. 308:]
Mächten zu suchen, sondern zugleich in einer Abfolge von begleitenden Vorfällen, die zur
bewaffneten Auseindersetzung hindrängten. Die Ausweitung des Handels und der Industrie in
Athen und den verbündeten Staaten, einschliesslich der Inseln und der kleinasiatischen Städte,
spitzte die durch die Kriege von 500 bis 450 nicht gelöste Frage der westlichen Märkte
[Süditalien und Sizilien] weiter zu. Korinth und Megara wollten und konnten es nicht mit dem
steigenden Wettbewerb Athens in Italien und Sizilien aufnehmen. Den Erfolg Athens im
Handel mit dem Westen beweist die eine Tatsache, dass seit 500 die athenische Keramik in
ganz Italien die Erzeugnisse aller anderen griechischen Herstellungsorte verdrängt. Wenn die
Einfuhr aus Athen sich so steigerte, so musste die Ausfuhr aus Italien und Sizilien – Getreide,
Vieh, Metalle – in Kürze ausschliesslich in den Piräus gelangen [es entstanden also typisch
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koloniale Handelsbeziehungen, wie sie viel später nach der Industriellen Revolution in
England 1770-80 zwischen England und Indien und dann zwischen Westeuropa und der
übrigen
Welt
bestanden:
Athen
exportierte
Handwerksprodukte
und
importierte
landwirschaftliche Produkte und Rohstoffe]. Dann musste Athen der entscheidende nicht nur
wirtschaftliche, sondern auch politische Einfluss im ganzen Norden und Westen des
Peloponnes zufallen [Sparta befindet sich auf dem Peloponnes]. Denn diese Gebiete konnten
ihre eigene Bevölkerung nicht ernähren und waren ganz von der Nahrungszufuhr aus dem
Westen abhängig; dieser Handel drohte nun von Athen monopolisiert zu werden“
(Rostovtzeff 1941, Band I, pp. 306-08). Die Einfuhr von lebensnotwendige Produkten aus
Süditalien-Sizilien nach Sparta war also durch Athen bedroht; das löste den Peloponnesischen
Krieg aus.
Dieser Krieg zerstörte die politische und militärische Bedeutung der griechischen Welt.
Aber es ist bezeichnend, dass inmitten und im Gefolge dieser Kriegswirren und dem
Untergang des alten Griechenland die europäisch-griechische Achsenzeit mit den Philosophen
Platon und Aristoteles ihren Höhepunkt erreichte. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts vor
Christus (um 330 herum) wird Griechenland vom mazedonischen König Alexander dem
Grossen beherrscht. Dieser unternimmt anschliessend ein Feldzug gegen Osten (Persien) um
die griechische Kultur nach Osten zu tragen. Damit beginnt das Zeitalter des Hellenismus:
Griechenland wird politisch weitgehend bedeutungslos. Aber seine in der Achsenzeit
geschaffene Zivilisation (Philosophie und Wissenschaft) wird im Osten (mittlerer Osten,
Persien, bis weit nach Indien) wirksam, verbreitet sich über das Römische Reich, verbindet
sich mit Christlicher Theologie und wird grundlegend für das Denken im Mittelalter, aus dem
sich Neuzeit und Moderne entwickeln, in der die griechische Philosophie weiterhin eine
grundlegende Referenz bildet.
2.3. Europäische Achsenzeit in Griechenland (800 – 200 vor Christus)
Gemäss dem deutschen Philosophen Karl Jaspers (Ursprung und Ziel der Geschichte,
1949/55) fand die Achsenzeit (Zeit der Wende, des Umbruchs) im Zeitraum 800 bis 200 vor
Christus unabhängig voneinander in Europa (Griechenland), Indien und China statt. Wie
bereits angedeutet, fand in der Achsenzeit der Durchbruch von der Welt von Mythos und
Magie, in der alles selbstverständlich war, zu einer Welt des Zweifels, des Infragestellens
statt; dieses Zweifeln und Fragen wurde sicher auch durch die Kriege und Wirren bewirkt, das
in der Achsenzeit in den drei Regionen vorherrschte; auch in Griechenland fanden grosse
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Kriege statt, der Kampf gegen die Perser um 500 herum, dann der bereits erwähnte
Peloponnische Krieg (432-404).
Die Erkenntniskräfte der Intuition und der Phantasie werden zurückgedrängt und
Verstand und Vernunft rückten in der Vordergrund. Das Problem der Wahrheit tauchte auf.
Unterschiedliche philosophische Systeme entstanden. Die Skeptiker verneinten die
Möglichkeit, absolute Wahrheiten finden zu können; die grossen griechischen Philosophen
Platon und Aristoteles behaupteten das Gegenteil. Weiter wurde die Grundlagen für die
sozialen und politischen Wissenschaften gelegt (Platon und Aristoteles); auch die
Naturwissenschaften wurden grundgelegt (griechische Naturphilosophie, Aristoteles).
Die griechische Achsenzeit hat mit Abstand am stärksten die weitere Entwicklung des
menschlichen Geistes geprägt. Die griechische Philsophie verband sich mit Christlicher
Theologie und hat durch das Sytem der Scholastik (Albert der Grosse, Thomas von Aquin)
die Grundlagen für das mittelalterliche Denken gelegt. Die scholastische Methode bestand
darin auf dem Gebiete der Philosophie und Theologie alle Theorien zu hinterfragen; die
Scholastiker suchten nach dem solidesten und plausibelsten philosophisch-theologischen
System. In der Neuzeit wurde nun diese scholastische Methode auf die Natur und die
menschliche Gesellschaft und den Menschen selber angewandt. So entstanden etwa seit 1500
(Beginn der Neuzeit) die modernen Wissenschaften (Naturwissenschaften, soziale und
politische Wissenschaften, Humanwissenschaften, Geisteswissenschaften). Wiederum sieht
man, dass das christliche Mittelalter Grundlage und Ausgangspunkt für die moderne
Entwicklung ist.
Man kann sich nun fragen, wieso gerade in Griechenland die Achsenzeit derart
fruchtbare Ergebnisse hervorgebracht hat. Walter Burkert nennt in seinem ausgezeichneten
kleinen Buch, Die Griechen und der Orient, erschienen 2003, drei Gründe:
Erstens, Griechenland konnte einen materiellen und vor allem geistigen Neuanfang
machen. Um etwa 1200 v.Chr. wurde die mykenisch-kretische Kultur aus unbekannten
Gründen zerstört. Vielleicht handelte es sich um eine Naturkatastrophe, z.B. dass ein
Vulkanausbruch einen Tsunami verursachte, der dann Kreta zerstörte; oder es handelte sich
um eine soziale Katastrophe (ein Sklavenaufstand); eventuell war es auch ein politischmilitärischer Grund – ein Krieg.
Diese Katastrophe brachte auch das Ende der mythisch-magischen Welt, und das
Denken, das auf Intuition und Phantansie beruhte, wurde zurückgedrängt. Verstand
(analytisches Denken) und Vernunft (ganzheitliches Denken) rückten in den Vordergrund.
Die (erste) Achsenzeit konnte also in Griechenland ohne allzugrossen Ballast der mythisch19
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magischen Vergangenheit beginnen. Das allein könnte aber nicht die glanzvolle denkerische
Leistung der Griechen in der ersten Achsenzeit erklären. Burkert erwähnt einen zweiten
wichtigen Grund.
Dieser zweite Grund ist gegeben durch den Einfluss des Mittleren Ostens (Mesopotamien
und Ägypten) auf Griechenland. Die Griechen nehmen Ideen aus dem mittleren Osten auf
verarbeiten diese kreativ weiter. So führt ein Weg von der mittelöstlichen Weisheitsliteratur
und der Lehre von der Entstehung der Welt (Kosmogonie) zur Philosophie, wie sie im alten
Griechenland allmählich entstanden ist (Burkert 2003, Kapitel III). Von zentraler Bedeutung
für die Art und Weise des griechischen Denkens war natürlich die Lautschrift, die
Buchstabenschrift, die von den Phöniziern konzipiert wurde. Diese erlaubte präzises und
systematisches Denken: Von bestimmten Prämissen ausgehend einen Argumentationsgang
entwickeln und schliesslich Schlussfolgerungen zu ziehen. Mit Platon und Aristoteles
entstand die Grundlage der Philosophie, die auch heute noch besteht. Aus der Philosophie
heraus, später in Verbindung mit der Theologie, entstanden die modernen Wissenschaften
(Naturwissenschaften, soziale und politische Wissenschaften, Humanwissenschaften,
Geisteswissenschaften). Schliesslich kommt hinzu, dass die grossartige Leistung der Griechen
auf dem Gebiete des systematischen Denkens auch auf der Kleinräumigkeit des Landes und
seiner Strukturierung durch Gebirge beruht. So entstanden unabhängig voneinander zum Teil
widersprüchliche philosophische und naturwissenschaftliche Theorien und die moderne
Mathematik und Geometrie wurden begründet. Diese Vielfalt des oft widersprüchlichen
Denkens
führte
zu
Diskussionen,
die
wiederum
Fortschritte
im
systematischen
philosophischen und wissenschaftlichen Denken bewirkten.
Burkert nennt noch einen dritten Punkt. Griechenland war gerade nahe genug beim
Mittleren Osten, um von dessen Ideen zu profitieren und gleichzeitig weit genug weg, um
nicht von der militärischen Macht der mittelöstlichen Mächte (z.B. Assyrien) zerstört zu
werden.
So haben verschiedenste einmalige Faktoren zusammengewirkt, damit im alten
Griechenland in der (ersten) Achsenzeit die geistigen und intellektuellen Grundlagen für den
europäischen Sonderweg geschaffen werden konnten, die dann im Verlaufe der (zweiten)
Achsenzeit (800-2000) nach langer Vorbereitung (800-1750) den Durchbruch von der
Tradition zur Moderne herbeiführten (1750-1830). In diesem Zeitraum fanden die Englische
Industrielle Revolution und die Französische Politische Revolution statt, deren Effekte sich in
etwa ab 1830 bis heute über die ganze Erde verbreiteten.
20
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Im Zuge der Achsenzeit bildete sich das erste Grossreich der Weltgeschichte heraus,
nämlich das persische Reich. Nach der Achsenzeit wurde das Römische Kaiserreich
gegründet. Beide, Persien und Rom, sind völlig unterschiedlich und es ist aufschlussreich
diesen Unterschieden ein wenig nachzugehen. In der Vorlesung über das Mittelalter werden
wir dann nur gerade andeuten, dass aber gewissen Ähnlichkeiten zwischen dem altpersischen
(550-330) und dem karolingischen Reich (800-43) bestehen.
3. Das Altpersische Grossreich (550 bis 330)
Das altpersische Grossreich, das sich von Griechenland bis nach Indien erstreckte, wurde um
550 v.Chr. von Kyros I (der Grosse) gegründet, von Dareios (Darius) I (521-485) ausgebaut
und vom mazedonischen König Alexander dem Grossen 330 zerstört. Das Persische Reich
war das erste Reich der Weltgeschichte. Es ist bezeichnend, dass dieses Reich auf ethischer,
wir würden heute sagen, auf sozialethischer Grundlage beruhte. Den Gründern des Reiches
ging es darum, einen guten Staat zu schaffen, mit Institutionen, die es den einzelnen Völkern
des Riesenreiches erlaubte, ihren eigenen Lebensstil zu praktizieren, vor allem auf religiösem
Gebiet; Individuen und Völker sollten auf gesellschaftlicher Grundlage prosperieren können.
So hat z.B. Kyros der Grosse im Jahre 539 v.Chr. das Volk Israel aus der Babylonischen
Gefangenschaft befreit und heimziehen lassen. Darius I hat das Reich in 20
Verwaltungsbezirke unterteilt, die von Satrapen regiert wurden. Die Satrapen waren also eine
Art von königlichen Statthaltern, die zum Wohle des Volkes regieren sollten. Ihr Amt war
nicht erblich, was impliziert, dass der König sie jederzeit abberufen konnte. Die
Regierungsarbeit der Satrapen wurde regelmässig von königlichen Inspektoren kontrolliert.
Das Leben der Menschen im persischen Reich und die politische Organisation sind
einem hervorragenden Buch von Heidemarie Koch festgehalten: Es kündet Dareios der König
– Vom Leben im Persischen Grossreich (Mainz 1992). Das Kapitel III dieses Buches
behandelt die [sehr gut ausgebaute] Verwaltung des Reiches, die auch im wirtschaftlichen
Bereich Vorschriften aufstellte, z.B. betreffend Lohnverhältnisse (Lohnstrukturen) und
Steuern. Das Kapitel IV ist über „Monumentale Anlagen und Bauten“. Wie wir in der
Einleitung im Zusammenhang mit den Pyramiden angedeutet haben diese grossen Bauwerke
neben der religiösen, politischen und künstlerischen Dimension auch eine wirtschaftliche
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Dimension. Sie stellen autonome Ausgaben (Staatausgaben) die kumulative multiplikative
Effekte auf die Nachfrage und Produktion von Konsum- und Investitionsgütern ausüben
(Investitionsgüter waren etwa Werkzeuge, Handwerksstätten und königliche oder regionale
Manufakturen).
Dies
deutet
an,
dass
der
interne
Beschäftigungs-
und
Entwicklungsmechanismus in Gang gesetzt wurde, um die Güterversorgung und einen
bestimmten materiellen Wohlstand der Bevölkerung sicherzustellen. Darius I hat im 520
herum die ersten Gold- und Silbermünzen prägen lassen, um das Wirtschaftsleben, vor allem
den Güteraustausch zu erleichtern. (Man kann vermuten, dass die Idee, Münzen zu prägen
von den Griechen übernommen wurde, deren kleinasiatische Königreiche von den Persern
erobert worden waren.) Jedoch haben aber die persischen Herrscher Geld nicht gehortet,
sondern dieses auszugeben, eben um monumentale Anlagen und Bauten zu realieren und so
auch die Wirtschaft zu stimulieren.
Erstaunlich ist auch die soziale und wirtschaftliche Stellung der Frauen im Perserreich
(Heidemarie Koch 1992, Kapitel VI). „[Die Betrachtung der Lohnverhältnisse zeigt,] dass
Männer und Frauen nebeneinander arbeiteten und offenbar völlig gleichgestellt waren. Dieses
hatte [allerdings] zur Folge, dass die Frauen teilweise auch schwere Arbeiten auszuführen
hatten. So werden grosse Gruppen von Landarbeiterinnen genannt. Arbeiterkolonnen von
„Steinschleifern“ bestehen immer zum überwiegenden Teil aus Frauen. Wir können allerdings
nicht genau sagen, was diese Frauen wirklich zu tun hatten. Es mag sein, dass sie für die letzte
Politur der Oberfläche bei fertiggestellten Reliefs und dergleichen zu sorgen hatten. Dafür
waren vielleicht behutsame Frauenhände besser geeignet als Männerhände“(p. 233).
„Am häufigsten waren die Frauen, die auf den Täfelchen aus Persepolis genannt werden,
als Schneiderinnen beschäftigt. Dort begegnen sie mit vielfältigen Aufgaben, die von der
Herstellung ganz einfacher Gewänder bis hin zu der von Prunkgewändern reichte, die
vermutlich nicht nur genäht, sondern auch kunstvoll bestickt wurden.
Die Frauen hatten offenbar die dieselben Möglichkeiten, in besonderen Fertigkeiten
ausgebildet zu werden, wie die Männer, und sie erhielten die gleiche Bezahlung. Dafür haben
wir Beispiele insbesondere bei den Kunst- und Feinhandwerkern [...]. Für die Höhe der
Löhne war lediglich die ausgeübte Tätigkeit entscheidend. Wir haben es also im persischen
Grossreich unter König Dareios mit einer Gleichberechtigung zu tun, um die im Europa des
20. Jahrhunderts noch immer gekämpft wird!“(pp. 233-34). Das ist ein weiterer Beleg dafür,
dass die Idee des absoluten Fortschrittes unhaltbar ist.
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Zum Thema Frau und Familie sagt Heidemarie Koch: „Gleichzeitig trug man aber auch
der Tatsache Rechnung, dass Frauen neben ihrem Beruf noch andere Tätigkeiten im Rahmen
ihrer Familie auszuführen hatten. So wurden sie [...] bei der Geburt eines Kindes zeitweilig
von ihren Dienstpflichten befreit. Während dieser Zeit erhielten sie einen Mindestlohn, mit
dem sie den Lebensunterhalt bestreiten konnten und zusätzlich „Wunschkost“ in Form von
Getreide und Wein, gleichsam als Belohnung dafür, dass sie dem König einen neuen Untertan
geschenkt hatten. In diesem Zusammenhang treffen wir indessen auf einen Unterschied: Über
Jungen freute sich der König offenbar noch mehr als über Mädchen. Denn es wird die
doppelte Menge an „Wunschkost“ für einen Jungen gezahlt, 20 Liter Getreide und 10 Liter
Wein oder Bier. Soweit wir bisher sehen, ist dieses aber der einzige Unterschied in der
Behandlung der Geschlechter, den wir mit Hilfe der Verwaltungstäfelchen fassen können“(p.
234). (Aber auch das ist verständlich: Knaben konnten später Krieger (Soldaten) werden, die
gebraucht wurden, um das Reich zu erhalten, zu verteidigen, oder um es auszuweiten, also
neue Eroberungen zu machen, wenn sich die Möglichkeit dafür bot. Und das altpersische, wie
später auch das römische Reich, hatte verlustreiche Kriege durchzustehen, so dass ein
permanenter Mangel an Männern bestand.)
„Der „Mutterschaftsurlaub dauerte anscheinend fünf Monate lang. Ansschliessend hatten
die Frauen die Möglichkeit, eine kürzere Zeit am Tage zu arbeiten, damit sie auch ihren
hausfraulichen Pflichten nachkommen konnten. Eine kürzere Dienstzeit drückte sich dann
allerdings in der Bezahlung aus. Während der Arbeitszeit wurden die kleinen Kinder von
„Ammen“ versorgt [vielleicht meistens Familienmitglieder, z.B. Grossmütter]“(p. 234).
Frauenkarrieren:
„Wie wir anhand der Täfelchen aus Persepolis sehen können, konnten Frauen auch in
höhere
Positionen
aufsteigen.
So
sind
beispielsweise
die
Vorgesetzten
in
den
grossköniglichen Manufakturen immer Frauen. Sind dort, zumal in den Schneiderwerkstätten,
auch überwiegend Frauen beschäftigt, so haben sie doch auch eine ganze Reihe Männer unter
sich. Und die leitenden Damen verdienen höhere Rationen als alle aufgeführten Männer“(p.
234).
Frauen, Familie und Arbeit:
„Auf der anderen Seite gibt es aber auf den Täfelchen auch eine Reihe von Berufen, in
denen keine einzige Frau begegnet. So finden wir sie nicht in den leitenden Stellen der
Intendaturen [Intendant = Verwalter] der einzelnen Verwaltungsbezirke oder bei den
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Rechnungsführern- und prüfern. Man gewinnt den Eindruck, dass die Frauen nicht mit
Tätigkeiten betraut wurden, bei denen es nötig war, in einem kleineren oder grösseren Gebiet
herumzureisen, um die Kontrolle über verschiedene Verwaltungsinstanzen behalten zu
können. Frauen wurden offenbar immer nur an einem festen Dienstort eingesetzt. Hier spielt
anscheinend die Überzeugung eine Rolle, dass die Frauen bei ihrer Familie sein müssen. Der
Familie und den Aufgaben der Frau in ihr wurde ja überhaupt von der Verwaltung grosse
Beachtung geschenkt [...]“(p. 235).
Frauen der Königsfamilie:
„Eine andere Stellung nehmen dagegen die Frauen der königlichen Familie ein. Auch sie
waren aber nicht hinter Haremswänden verborgen, wie uns Plutarch [griechischer
Schriftsteller, um 46-125 n.Chr.] versichert, sondern hatten im Gegenteil ein grosses Mass an
Freiheit. Sie hatten nicht nur beträchtlichen Landbesitz, sondern ihnen waren auch ganze
Manufakturen mit all ihren Arbeitern unterstellt. Von diesen Einrichtungen gingen ihnen
natürlich grosse Mengen an Einnahmen zu“(p. 235).
Allgemeine soziale und wirtschaftliche Position der persischen Frauen:
„Neben den Frauen, die in öffentlichen Diensten standen und [...] und den königlichen
Damen gab es noch Tausende weiterer Frauen, die gar nicht oder nur in Ausnahmefällen von
der Verwaltung erfasst wurden. Es waren dieses die Frauen der Handwerker und Bauern, aber
auch selbständige Grundbesitzerinnen. [Aus bestimmten Gebieten des altpersischen]
Grossreichs, z.B. aus Babylonien oder aus Ägypten, haben sich Rechtsurkunden erhalten, die
zeigen, dass die Frauen dort durchaus als freie Rechtspersonen angesehen wurden. Sie
konnten Prozesse führen, sich scheiden lassen, ohne dabei ihr ganzes Eigentum zu verlieren,
oder auch frei über ihren Grundbesitz verfügen. [Diese günstige soziale und wirtschaftliche
Stellung der Frau in Mesopatamien und Ägypten ist durch] Urkunden belegt und unter den
Historikern anerkannt. [Es wurde die Ansicht vertreten, die Perser hätten in diesen Gebieten
des Reiches bestehende Traditionen erhalten wollen, dass aber im persischen Kernland die
Frauen viel schlechter gestellt gewesen seien.] Eine genaue Untersuchung der
Verwaltungstäfelchen aus Persepolis hat nun zeigen können, dass gerade die persischen
Frauen unter der Herrschaft Dareios d. Gr. eine Stellung innehatten, wie sie für antike Völker
einmalig ist“(p. 241).
Dieser ganze Abschnitt über die Frauen im persischen Reich zeigt, dass das Konzept des
absoluten Fortschritt unhaltbar ist. Die alten Zivilisationen haben auf bestimmten Gebieten
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Leistungen vollbracht, die über denjenigen der modernen Zivilisation stehen. So die alten
Perser in den Bereichen Sozialethik und Politik. Dabei haben die persischen Herrscher bereits
bereits klar gesehen, dass Gesellschaft und Staat viel mehr sind als die Summe der
Individuen, weil durch das Ausüben von verschiedenen Funktionen (in den Bereichen der
Wirtschaft, der Politik und Verwaltung, Philosophie und Wissenschaft sowie Kunst)
gemeinsame Ziele erreicht werden können, die isolierte Einzelne nicht erreichen könnten.
Diese Einsicht der persischen Elite in die soziale Natur des Menschen sowie ihre
sozialethische Grundhaltung kommt aus den Schlussbetrachtung von Heidemarie Koch sehr
klar zum Ausdruck:
„Fürsorge für den Einzelnen und Schwachen und absolute Gerechtigkeit für alle,
das waren die Grundprinzipien des Königs [Dareios]. Jeder, auch der Schwächste konnte und
sollte an dem gemeinsamen Werk mitwirken [d.h. die gute Gesellschaft und den guten Staat
schaffen]. Jeder sollte mit seinen Fertigkeiten hervortreten und sie einsetzen. Das
Zusammenwirken aller Bewohner des Weltreichs [sozusagen um das Gemeinwohl zu
bewirken, wie die christliche Soziallehre heute sagt] wurde auch immer bildlich Ausdruck
verliehen“(p. 298).
Die sozialethischen Prinzipien wurden politisch umgesetzt durch ein hervorragendes
Verwaltungssystem, das zum Teil von älteren Zivilisationen (z.B. Babylon) übernommenen
wurde und dann verbessert wurde. Dieses Verwaltungssystem war die Voraussetzung für das
Bestehen des persischen Riesenreiches überhaupt. Nicht nur dem persischen Reich „hat diese
Verwaltung unschätzbare Dienste geleistet, sondern sie wurde auch noch von den Arabern
übernommen [aber sicher auch vom oströmischen Reich (Byzanz)]“(p. 299). Über Byzanz
und die Araber kam dann das altpersische Verwaltungsystem auch nach Westeuropa.
Vielleicht hat es die Organisation des karolingischen Reiches beeinflusst. Das wäre ein
faszinierendes
Forschungsthema.
Jedenfalls
bestehen
Ähnlichkeiten
zwischen
dem
altpersischen und karolingischen Reich; vor allem standen beide auf sozialethischer
Grundlage.
Recht:
„Wie bei der Verwaltung, so übernahmen die Perser auch die Gesetze der einzelnen
Länder, die zu dem Grossreich gehörten. Sie wurden neu bearbeitet und dann als Gesetze des
Königs den Ländern zurückgegeben. Dabei aber nahm man immer Rücksicht auf die
Eigenheiten der einzelnen Länder und ihre traditionelle Rechtsprechung und berücksichtigte
diese in der Gesetzgebung. [...]
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Wirtschaftsgeschichte
II. Anfänge und Antike
Die tolerante Haltung des Königs gegenüber den ihm untergebenen Völkern wird ganz
besonders im Hinblick auf die verschiedenen Religionen deutlich. Obwohl der König selbst
fest in seinen Glauben verankert war [Gott als Repräsentant Weisheit, Vernunft,
Wahrhaftigkeit, des Lichtes, der Erleuchtung und eines geordneten Lebens] und aus diesem
Glauben auch seine unerschütterlichen Prinzipien entwickelte, so liess er doch die Bewohner
des Reiches ihre althergebrachten Götter verehren. So wurden zum Beispiel die Juden [nach
der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft 537 v.Chr.] bei ihrem Tempelbau in
Jerusalem unterstützt. Die angestammten Rechte der griechischen Götter wurden geschützt,
und vor allem dem Orakelgott Apollon brachte der König Ehrenbietung entgegen’’(p. 299).
Altpersien und Rom
Der Charakter des römischen Reiches zu dem wir nun kommen, ist dem altpersischen
Reiches diametral entgegengesetzt. War Altpersien sozial und human, so war Rom mit fast
kalter individueller Rationalitat organisiert. Die perfekte Organisation des römischen Reiches
sollte seinen Bürgern so viel Reichtum wie nur möglich bringen, dies vor allem durch
Eroberungen und Ausbeutung der Provinzen. Alterpersien war wirklich ein Staat, dessen
oberstes Ziel das Gemeinwohl war. «Rom war kein Staat», hat der Kirchenvater Augustinus
gesagt; Rom war eine Ausbeutungsmaschine; der deutsche Philosoph Hegel spricht von einem
Räuberstaat. Gleichzeitig haben die Römische Republik und das Römische Kaiserreich
grossartige Leistungen vollbracht: Experimente mit allen Regierungsformen (siehe Christ
1984); Rom hat auch die Grundlagen für die moderne materielle Zivilisation geschaffen
(Städte mit umfassender Wasserversorgung und mit ausgezeichneten Strassenverbindungen–
Viadukte; fast moderne Wohnhäuser; Monumentalskulputuren und gigantische Bauten, wie
z.B. Arenen (Colosseum in Rom !); Theater; das römische Recht; Institutionen wie Polizei,
Feuerwehr und Post; hervorragende Heeresorganisation.)
4. Wirtschaft und Gesellschaft in Rom
Eine grosse Wirkung der Achsenzeit war der Durchbruch der Rationalität des Individuums.
Auf wirtschaftlicher Ebene kommt die Chremastistik von Aristoteles voll zum Durchbruch.
Ziel ist nun nicht mehr die Güterversorgung der staatlichen Gemeinschaft, sondern der
Reichtum der römischen Bürger. Aus Geld soll mehr Geld gemacht werden. Im Handel gilt
(G – W – G’), in der Produktion (G-W ... P ... W’-G’). Das zeigt sich sehr deutlich am
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Wirtschaftsgeschichte
II. Anfänge und Antike
Zusammenhang zwischen sozialer und politischer Struktur und dem Wirtschaftsleben
einerseits sowie dem römischen Recht anderseits (4.2). Im Abschnitt (4.3) behandeln wir dann
ein grosses geschichtliches, auch bedeutendes wirtschaftsgeschichtliches Thema, nämlich den
Aufstieg und den Fall des Römischen Kaiserreiches. Doch vorerst ein ganz kurzer Abriss der
römischen Geschichte (4.1).
4.1. Königreich, Republik und Kaiserreich
Rom wurde 753 v.Chr. gegründet (Sage der beiden Brüder Romulus, dem Gründer Roms, und
Remus, die als Knaben beide von einer Wölfin ernährt wurden). Die Sage geht weiter mit
sechs weiteren Königen nach Romulus; der letzte wurde davongejagt und dann die Republik
gegründet (510 v.Chr.). Die Staatsleitung wurde zwei Konsuln übertragen. Ihre Vollmachten
waren aber zeitlich limitiert. Zudem standen die Konsuln unter engster Kontrolle der Reichen
des Landes, den Optimaten. Später sind dann auch römische Büger aus den unteren
Bevölkerungschichten Konsuln geworden, die Popularen oder Volkskonsule. Als diese den
Latifundienbesitz (Grossgrundbesitz) bekämpfen wollten, kam es zu einem Bürgerkrieg (132121). Bei diesem Bürgerkrieg ging es also um Verteilungsprobleme, vor allem um die
Verteilung von Land. [Man sieht hier schon sehr deutlich: Das Verteilungsproblem ist nicht
ein Marktproblem, wie in der heutigen ökonomischen Theorie postuliert wird, sondern ein
Machtproblem!]
Römisches Recht
Das Jahr 451 v.Chr. gilt als das Gründungsjahr des römischen Rechts: Die
Zwölftafelgesetze mit Familien-, Erb- und Schuldrecht. Zu dieser Zeit war das römische Recht
noch auf eine Agrargesellschaft zugeschnitten. Das entspricht dem Charakter der
ursprünglichen Römer, die ein Kleinbauernvolk sind, das sehr stark mit dem angestammten
Boden verbunden ist. Ursprünglich spielt der Handel eine untergeordnete Rolle; der Handel
wurde deshalb Ausländern und Sklaven überlassen.
Die zunehmende Expansion Roms und der Kontakt mit anderen Völkern führte zu einer
Zunahme der Handelstätigkeit und zu einer Modifikation des Rechts. Bei der Entwicklung des
Rechtssystems waren vor allem griechische Einflüsse entscheidend. Unbeschränkte Handelsund Gewerbefreiheit sowie Zinsnehmen wurden schliesslich fundamentale Grundlagen des
römischen Privatrechts. Im besonderen sieht das römische Privatrecht eine strikte Einhaltung
von Verträgen vor (pacta sunt servanda). Die Nichteinhaltung von Verträgen wird streng
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II. Anfänge und Antike
bestraft. Auch wird das Eigentum (Privateigentum) vorbehaltlos respektiert. Die Römer haben
das Privateigentum als absolute Verfügungsgewalt über eine Sache definiert, ohne soziale
Einschränkungen. So konnte ein Hauseigentümer ein Haus, das er nicht mehr braucht, einfach
verbrennen. – Die scharfe und genaue Formulierung des römischen Rechts ermöglicht, dass
Konflikte rasch geregelt werden können. Die sehr grosse Rechtssicherheit, die mit dem
römischen Recht verbunden war, bildete die Grundlage für die sich ständig ausweitene
Handelstätigkeit der römischen Republik und dann des römischen Imperiums.
Römische Expansion
Im Jahre 270 v.Chr. sicherte sich Rom die Herrschaft über ganz Italien. Etwa zu diesem
Zeitpunkt spitzte sich der Konflikt zwischen Rom und Karthago um die wirtschaftliche und
politische Vorherrschaft im Mittelmeerraum zu.
Die Expansion Karthagos führte also zu einem Zusammenstoss mit Rom, der anderen
aufstrebenden Stadt im Mittelmeerraum. Es kam zu Handelskriegen um die Vorherrschaft
im Mittelmeerraum (Punische Kriege), die mit der Eroberung und Zerstörung Karthagos
durch Rom endeten.
Im 1. Punischen Krieg (264-241 v.Chr.) eroberten die Römer Sizilien.
Im Zuge des 2. Punischen Krieges (218-201) zog der karthagische Feldherr Hannibal von
Spanien ausgehend mit Elephanten über die Alpen nach Italien; im Jahre 216 schlug Hannibal
die Römer vernichtend bei Cannae (südöstlich von Rom, an der italienischen Adriaküste); es
war eine Einkreisungsschlacht, in der die Römer 60'000 (von 70'000 !) Soldaten verloren, die
Karthager 10'000 (von 50'000). Rom wurde bedroht, aber nicht eingenommen (wegen
Nachschubproblemen wagte es Hannibal nicht, Rom zu belagern). Schliesslich behielten die
Römer nach der Schlacht von Zama (202), im heutigen Tunesien die Oberhand (der römische
Feldherr Scipio Africanus siegte gegen den Karthager Hannibal).
Im 3. Punischen Krieg (149-146) wurde Karthago belagert und zerstört. Damit wurde
Rom die dominierende Handelsmacht im Mittelmeer. Dieses wurde sozusagen ein römisches
Meer (mare nostrum). Wirtschaftsgeschichtlich sind die Punischen Kriege von grosser
Bedeutung, weil es Wirtschaftskriege waren, bei denen es um die Handelsvorherrschaft im
Mittelmeer ging.
[Dies deutet an, dass der internationale Handel nicht immer friedensfördernd ist, wie die
modernen liberalen Ökonomen vom 18. Jh bis zum 20. Jahrhundert immer wieder behaupten.
Im Gegenteil, die Merkantilisten (1500 – 1750) und Maynard Keynes, der die Merkantilisten
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Wirtschaftsgeschichte
II. Anfänge und Antike
als seine Vorläufer betrachtete, sahen den Aussenhandel als Konflikt- und sogar
Kriegsursache. Wir haben bereits gesehen: der schreckliche Peloponnesische Krieg, aber auch
der der Erste und der Zweite Weltkrieg waren grundlegend auch Wirtschaftskriege.]
Es ist bezeichnend, dass die Römische Republik in einem fürchterlichen Bürgerkrieg
endete. Die Grossen des Reiches kämpften um wirtschaftliche und politische Macht (siehe
dazu das ausgzeichnete Buch des grossen Altertumshistorikers Karl Christ: Krise und
Untergang der römischen Republik, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchanstalt) 1979).
Schliesslich kam durch Caesar die Einsicht, dass der innere Friede nur gesichert werden
könne, wenn eine starke Staatsgewalt über den Partikularinteressen stehe. Caesar wurde von
Anhängern der Republik ermordet (44 v.Chr.). Sein Nachfolger Augustus wurde dann
konsequenterweise der erste römische Kaiser (27 v.Chr. bis 14 n.Chr.). Damit war das
römische Imperium geschaffen, das im Westen bis 476 n.Chr. dauern sollte.
Römisches Sendungsbewusstsein:
Ähnlich wie Europa (das Britische Imperium, Frankreich, Deutschland) nach der Grossen
Transformation 1750-1830 bis zum ersten Weltkrieg, Russland unter den Zaren und als
Sowjetunion und die Vereinigten Staaten vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, so hatte
auch Rom ein zivilisatorisches Sendungsbewusstsein, das sich in einer römischen
Weltherrschaft ausdrücken sollte. Karl Christ schreibt dazu: „[Der Altertumshistoriker] Josef
Vogt hat einst den Nachweis geführt, dass die Vorstellung, die römische Herrschaft umfasse
die gesamte Oikoumene, die gesamte bewohnte und bekannte Welt, auf griechische
Konzeptionen des 2. Jahrhunderts v.Chr. zurückgeht, und er hat belegt, dass die Vorstellung
einer römischen Weltherrschaft, so wie sie vor allem Cicero vielfältig artikulierte, durchaus
dem römischen Selbstverständnis der späten Republik entsprach. Wie immer die römische
Herrschaft legitimiert wurde, ob als Gabe der Götter für die peinlich genaue Respektierung
ihres Willens, als Lohn überlegener römischer Moral [...] und der Römertugenden, oder als
Folge der ausgewogenen Verfassung der römischen Republik, die Überzeugung der
Rechtmässigkeit dieser Herrschaft war tief gegründet und allgemein verbreitet. Die römische
Vorstellung des gerechten Krieges, das heisst eines Krieges, der in rechtmässiger Form erklärt
worden war, eines Krieges, der entweder der eigenen Verteidigung, der Wahrung eigener
Rechte, der eigenen Ehre oder der Unterstützung von Verbündeten dienen sollte, trug
wesentlich dazu bei, dass keine Zweifel and der Legimität der Ausdehnung der römischen
Herrschaft aufkamen. Es war kein Zynismus, wenn Cicero konstatierte: „Unser Volk hat sich
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Wirtschaftsgeschichte
II. Anfänge und Antike
schon durch die Verteidigungskriege für seine Verbündeten die ganze Welt angeeignet [...]“
(Christ 1984, p. 66).
4.2. Römisches Recht und soziale und politische Struktur
4.2.1 Römisches Recht und Staatsform (Dominanz des Privatrechts)
Das Römische Recht ist von grösster Bedeutung für das moderne Wirtschaftsleben. Die
Römer haben das Privatrecht
sozusagen entdeckt und es in scharfen Gegensatz zum
Staatsrecht (öffentlichen Recht) gestellt. "Staatsrecht und Privatrecht sind in Rom selbständig
nebeneinander stehende Sphären mit eigenem Befugniskreis. Diese Unterscheidung wurde für
das Volkswirtschaftsleben von grösster Erheblichkeit. Sie begründete eine unabhängige
individuelle Handelungs- und Eigentumsphäre, welche sich zum Staate gegebenen Falls auch
in Gegensatz stellen konnte. [Die 'Politik' zerfiel hinfort in zwei Hälften], in die Lehre vom
öffentlichen Recht und in diejenige des privaten Rechts [...] Eine Unentschiedenheit blieb in
der späteren Zeit höchstens darüber bestehen, welcher Abteilung der Vortritt gebühre"
(August Oncken, Geschichte der Nationalökonomie, Leipzig (Hirschfeld) 1902, p.58/59).
"Diese Rechtsauffassung ergänzt den universalistischen Grundgedanken. Der Staat
ordnet durch das Staatsrecht ein möglichst umfangreiches Staatsgebiet, im Idealfall das
Universalreich. Dieses[, das Staatsrecht,] besteht vor allem in der Gewährleistung von innerer
und äusserer Sicherheit. Das Staatsgebiet bildet für die (wirtschaftlich starken) Individuen den
Freiraum für ihre Entfaltung; das gegenseitige Verhalten der einzelnen wird teilweise geregelt
durch das Privatrecht" (Bortis, EWR und EG – Irrwege in der Gestaltung Europas, Freiburg
i.Ü. (Universitätsverlag) 1992, p. 60).
Im wirtschaftlichen Bereich stützte sich das römische Recht (Privatrecht) auf zwei
Pfeiler, das Eigentumsrecht und das Vertragsrecht. Die Eigentumsform war das
Privateigentum, definiert als absolute Verfügungsgewalt über eine Sache, ohne soziale
Dimension (z. B. kann ein Hauseigentümer sein Haus verbrennen, statt es Obdachlosen zu
überlassen). Das Vertragsrecht regelte Verhältnisse zwischen Individuen und stand unter der
Devise ‚Pacta sunt servanda’. Verträge mussten eingehalten werden, sonst erfolgten strenge
rechtliche Sanktionen.
Im Rahmen des Staatsrechts wurde etwa die soziale Grundstruktur der römischen
Gesellschaft festgelegt, auch die Verteidigung des Reiches (Militärorganisation, Strassen), das
Verhältnis Roms mit den Provinzen, die Verwaltung der Provinzen, die Staatsausgaben- und
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Wirtschaftsgeschichte
II. Anfänge und Antike
einnahmen (Steuern). Besonders in Steuerfragen konnten damals wie heute Spannungen
zwischen dem Staat und den Staatsbürgern auftreten.
4.2.2. Charakteristika und Implikationen des römischen Rechts
Es bestand also in Rom, sowohl in der Republik wie im Kaiserreich, eine scharfe Trennung
zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht.
Die Trennung der Lebenssphären geht jedoch noch weiter: "Das römische Civilrecht
sucht alles rein Ethische einerseits und alles rein Ökonomische anderseits aus dem Recht als
solchen hinauszuschieben, so dass der Ordnungsbegriff in seiner formalen Reinheit übrig
bleibt. Nicht als ob man diese beiden Faktoren in ihrer Bedeutung für das Volksleben hätte
leugnen wollen, allein es handle sich bei ihnen um selbständige Sphären, die nicht zum Recht
im eigentlichen Sinne gehörten" (Oncken, 1902, p.58). Die römische Betrachtungsweise ist
also partiell und individualistisch.
Hier tritt der Gegensatz zur griechischen Sicht von Recht und Wirtschaft besonders krass
zutage. In der letzteren dominiert die Ethik sowohl die Politik wie auch die Wirtschaft. Die
grieschische Betrachtungsweise ist ganzheitlich und die einzelnen Bereiche wie Recht und
Wirtschaft üben gesellschaftliche Funktionen aus.
Das römische Recht regelt also die Verhältnisse zwischen den Einzelnen, die nicht durch
die ausgleichende Gerechtigkeit, sondern durch Kräfteverhältnisse geregelt werden. Bei der
griechischen Gerechtigkeit geht es in erster Linie um die Verhältnisse zwischen Einzelnen
(und Klassen) und der Gesellschaft (Verhältnisse von Teilen zum Ganzen); erst wenn die
Probleme der verteilenden Gerechtigkeit geregelt sind, können die Verhältnisse zwischen
Individuen bestimmt werden (ausgleichende Gerechtigkeit).
Eigentum: Im römischen Recht gibt es nur Privateigentum, im Gegensatz zu der später
auftretenden germanischen Rechtsauffassung, ergänzt durch christliche Ethik, in der das
Gemeineigentum dominiert, an dem für Individuen Nutzungsrechte bestehen (vor allem im
Frühmittelalter – Karolingisches Reich).
Das römische Privatrecht kann angesehen werden als das Recht des "bürgerlichen
[dritten] Standes" (Oncken), wie er vorwiegend zur Zeit des römischen Kaiserreiches
bestanden hatte: "Der absoluten Gewalt des Imperators [im Staat] ging eine ebenso absolute
Gewalt des Hausvaters [des Bürgers] in seiner Familiensphäre zur Seite"(Oncken, p.59).
Das römische Privatrecht war Ausdruck eines ganz bestimmten Verhältnisses zwischen
Personen und Sachen, nämlich dem Eigentumsverhältnis. "Keine andere Nation hat den
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II. Anfänge und Antike
Begriff des Privateigentums ... so absolut gefasst wie die römische. Derselbe gipfelt in dem
Rechte des Gebrauchs und Missbrauchs einer Sache ..." (Oncken, p.59).
Der Begriff des Privateigentums stellt einen Pfeiler des römischen Privatrechts dar, ein
zweiter ist das Vertragsrecht, das rechtliche Beziehungen zwischen Individuen regelt, mit
strengen Sanktionen bei Nichteinhalten eines Vertrages.
Nun wird auch verständlich, warum die Römer das Phänomen des Zinses akzeptierten,
im Gegensatz zu den griechischen Philosophen und den mittelalterlichen Theologen. Jede
Sache, ob Boden oder bewegliches Kapital, kann durch produktiven Einsatz einen Ertrag
abwerfen. Geld ist nicht nur Wertmesser, sondern steht auch stellvertretend für den Wert von
Sachen (Realkapitalgütern). Jemand, der Geld ausleiht, hat demnach ein Recht auf einen Teil
des Ertrages, den mit diesem Geld finanzierte Sachgüter erbringen. Dies ist nichts anderes als
der Zins.
Es wird nun begreiflich, warum das römische Privatrecht und der in ihm implizierte
Begriff des Privateigentums im Anschluss an das Mittelalter ständig an Bedeutung gewonnen
hat. Dies ging einher mit dem sozialen Aufstieg jenes Standes, dem dieses Recht entsprach,
nämlich dem Bürgerstande. Mit seinem Aufstieg fiel auch das mittelalterliche Zinsverbot.
Die soeben skizzierte Entwicklung zeigt, dass es sich bei den Wirtschaftswissenschaften
essentiell um eine Sozialwissenschaft handelt. Grundkategorien, die unser heutiges
Wirtschaftsleben beherrschen und in die Prämissen ökonomischer Theorien eingehen, wie
etwa Privateigentum und Zins, sind eines gewissen Wandels fähig, der mit sozialen
Veränderungen einhergeht. Heute können z.B. Umweltschutz- und Sozialgesetze die
Verfügbarkeit von Privateigentum einschränken.
4.2.3. Recht, Wirtschaft und Sozialstruktur
Die soziale und politische Grundstrukur, die Staatsform des römischen Reiches war die
Timokratie. In einer Timokratie sind die Staatsbürgerrechte nach dem Vermögen oder
Einkommen abgestuft, um die die Herrschaft der Besitzenden zu sichern. Im römischen
„timokratischen Schema verbanden sich militärische mit sozialen und politischen Normen.
Doch entscheidend bleibt die Tatsache, dass diese Ordnung von der einen römischen classis,
dem einen römischen Heeresverband der Bürgerphalanx, ausging, von einer immer stärker
untergliederten Einheit und nicht von einer Dichotomie der Gesellschaft, von einem
Antagonismus verschiedener Klassen. Natürlich gab es politische und gesellschaftliche
Polarisierungen wie die [,,,] Gegensätze zwischen Patrizier und Plebeier, Patron und Klient,
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Optimat [adeliger Senator] und Popular [Volkssenator]. Priorität besass jedoch die Einheit der
politisch-sozialen Formation aller freien Bürger und nicht der Antogonismus verschiedener
Klassen nach moderner Definition“(Karl Christ: Die Römer – Eine Einführung in ihre
Geschichte und Zivilisation, Zürich (Ex libris) 1984; orig. C.H. Beck, 1979, p. 70). Die
Gesamtheit der römischen Bürger bildete also eine auf Erhaltung von Macht und Besitz
ausgerichtete Schicksalsgemeinschaft, eben eine Timokratie. Der Staat steht sozusagen im
Dienste der Bürger, und so ist es normal, dass das Privatrecht in der Regel den Vorrang vor
dem öffentlichen Recht hat.
Zwei Gruppen von römischen Bürgern waren für Staat und Wirtschaft von
entscheidender Bedeutung: die ‚Senatoren’ und die ‚Ritter’. Schon in der römischen Republik,
vor allem in der klassischen Zeit (287-133 v.Chr.), waren es die Senatoren, die die grosse
Politik betrieben, und die Ritter, eine militärische Führungsschicht, auch die ökonomisch
dominierenden Schichten. Diese Sozialstruktur hat sich im römischen Kaiserreich weitgehend
erhalten. „In ökonomischer Hinsicht hat sich die römische Nobilität immer als eine
Grundbesitzeraristokratie verstanden [...]. Nachdem ein [Gesetz,] die lex Claudia de nave
senatorum, des Jahres 218. v.Chr. die Senatoren praktisch von der Beteiligung an den
Seetransportgeschäften und damit am Fernhandel ausgeschlossen hatte, wurde die
Homogenität der Senatsaristokratie erst recht gewahrt. Die Ausweitung des Grundbesitzes der
Senatoren in Folgezeit war ebenso mit eine Folge dieses Gesetzes wie die Tatsache, dass die
stärksten wirtschaftlichen Initiativen, vor allem Handels- und Geldgeschäfte grossen
Ausmasses, in Zukunft von den Rittern wahrgenommen wurden“(Karl Christ, Die Römer, p.
36). Gegen das Ende der Republik (um 60 v.Chr.), „traten in wirtschaftlicher Hinsicht mehr
und mehr die neuen sozialen Gruppen der Ritter und der Freigelassenen in den Vordergrund.
Da die Ritter von den Staatsämtern [die von der Senatsaristokratie bekleidet wurden]
ausgeschlossen waren, sahen sie sich ganz auf die Aktivität im ökonomischen Bereich
verwiesen. Sie übernahmen einzeln oder auf dem Wege der Beteiligung an Gesellschaften
jene Fern-, Grosshandels- und Geldgeschäfte hohen Volumens, die Roms dominierende Rolle
im gesamtmediterranen Wirtschaftsraum ermöglichten. Sie profitierten vor allem von der
Intensivierung der Geldwirtschaft, die jetzt den Wirtschaftsstil bestimmte, sie übernahmen
alle jene administrativen und wirtschaftlichen Aufgaben, welche die römische Republik mit
ihrem nur rudimentären Verwaltungsapparat gar nicht zu bewältigen vermochte, Steuerpacht
und Grossbauten, Heeresversorgung wie Materialbeschaffung und Transporte. In den Reihen
der Ritter und Freigelassenen konzentrierten sich deshalb auch die organisatorischen,
wirtschaftlichen und finanziellen Spezialkenntnisse, die in systematischer Konsequenz erst
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unter dem Prinzipat [im Kaiserreich] für die staatliche Administration genutzt wurden“(Christ
1984, p. 49).
4.3. Aufstieg und Fall des (West-)Römischen Kaiserreiches
Das römische Kaiserreich erlebte seine Blütezeit im ersten und zweiten Jahrhundert nach
Christus, also in etwa 0 – 200 n.Chr. Danach setzte eine lange Agonie ein; das weströmische
Reich ging 476 n.Chr. in den Turbulenzen der Völkerwanderung unter. [Das oströmische
Reich (Byzanz) blieb dank eines starken Verwaltungsapparates (vielleicht von Alt-Persien
übernommen!) noch weitere 1000 Jahre (!) bestehen. Ostrom (Byzanz) endete 1453 mit dem
Fall von Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, der Hauptstadt der Türkei.]
In den ersten fünf Jahrhunderten seines Bestehens, also bis zum Fall von Westrom,
dominierte Rom den ganzen Mittelmeerraum. Die blühende Handelstätigkeit in dieser
Zeitepoche beruhte auf der Rechtssicherheit, die durch das römische Privatrecht geschaffen
wurde. Verträge mussten strikt eingehalten werden, sonst gab es scharfe Sanktionen; das
Eigentum war absolutes Privateigentum; Rechtskonflikte wurden rasch geregelt. Das
römische Privatrecht implizierte auch unbeschränkte Handels- und Gewerbefreiheit. Der
private Bereich war sehr weit gezogen. So waren Polizei, Post und Feurwehr privat (ein Feuer
wurde nur gelöscht, wenn die Feuerwehrleute bezahlt wurden).
Die römische Wirtschaftsform war eine Art von Kapitalismus. Die Gewinnerzielung
bezog sich natürlich in erster Linie auf die Produktion von Gütern und auf den Handel mit
Gütern. Aber auch Plünderung konnte ein kapitalistisches Unternehmen werden. Gemäss
einer Anekdote hat noch in der Endphase der Republik (um 80 v.Chr.) der römische Senator
(Marcus Licinius) Crassus einen Plünderungsfeldzug im Osten (dem heutigen Syrien
unternommen). Er nahm in Rom ein Darlehen auf, rüstete damit ein Heer aus, plünderte, kam
mit der Beute zurück nach Rom, zahlte das Darlehen zurück, was übrig blieb, war der Profit
des Unternehmens. Profiterzielen und Zinsnehmen waren in Rom (in Republik und
Kaiserreich) selbstverständlich. [Seit dem Zeitalter des Merkantilismus (1500 – 1750) und vor
allem seit der Industriellen Revolution haben wir eine verstärkte Römischen, vor allem auf
dem Gebiete des Rechts und der Wirtschaft. Allerdings ist der relativ brutale römische
Materialismus durch christliche Werte abgeschwächt.]
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Gestützt auf das römische Recht entsteht also innerhalb des Weltreiches ein blühender
Handelsverkehr, der verbunden ist mit einer hochentwickelten Arbeitsteilung. Es kommt so
eine Städtezivilisation zustande. Es gibt eine beträchliche Anzahl von Städten mit 5-10
Tausend Einwohnern. Viele, wie Alexandrien, sind grösser. Rom selber hat in seiner Blütezeit
[um 200 n.Chr.] etwa eine Million [!] Einwohner. Zu deren Ernährung wird mit der
Handelsflotte Getreide herbeigeschafft, aus Sizilien, Nordafrika und Ägypten. Diese
Getreidelieferungen an Rom aus stellten Tribute der Provinzen dar.
[Die Römer haben vor allem in Nordafrika sehr viel Wald gerodet, um Getreide anbauen
zu können. Das Holz wurde zum Bau von Schiffen gebraucht. Diese hemmungslosen
Rodungen haben aber bedeutende Teile Nordafrikas verwüstet. „Umwelt und Zivilisation“ ist
ein altes Thema!]
Das aus den Provinzen herbeigeschaffte Getreide diente also der Ernährung der
Bevölkerung Roms. Aber an 200'000 Proletarierfamilien wurde das Getreide gratis
abgegeben; die Proletarier waren vermutlich zu einem grossen Teil arbeitslos; um diese zu
unterhalten und damit bei guter Laune zu halten (und damit Unruhen und Aufstände zu
verhindern) wurden in den Arenen Spiele veranstaltet; hier fanden zum Beispiel
Gladiatorenkämpfe statt (Sklaven aus Germanien und Afrika kämpften gegen andere Sklaven
oder gegen wilde Tiere -Brot und Spiele ist zu einem geflügelten Wort geworden – das bis
heute eine gewisse Gültigkeit bewahrt hat!).
Römische Aktivitäten, autonome Ausgaben und interner Entwicklungsmechanismus
Die römischen Aktivitäten stehen in direktem Zusammenhang mit den autonomen
staatlichen und gesellschaftlichen Ausgaben (G), die wir in der Einleitung im Zusammenhang
mit dem internen Entwicklungsmechanismus erwähnt haben.
Wie wir bereits angedeutet haben, sind im römischen Imperium nur geringfügige
technische Fortschritte gemacht worden. Die Sklaven hatten kein Interesse innovativ zu sein,
weil der grössere Überschuss voll und ganz der herrschenden Schicht, vor allem den reichen
römischen Bürgern zugefallen wäre.
Die Römer waren vor allem grossartige Organisatoren, die auch die Grundlage für die
moderne materielle Zivilisation geschaffen haben. So haben die Römer Städte, Strassen und
Wasserleitungen (Viadukte) gebaut; sie bauten eine äusserst effiziente Armee auf; im
Mittelmeer fuhr zahlreiche Handels- und Kriegsschiffe herum – die Kriegsschiffe sollten die
Handelsschiffe vor allem vor Piraten schützen. Die Römer entwickelten auch ein
Rechtssystem, das heute noch Grundlage für das Privatrecht ist. Es gab eine Polizei, eine
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Feuerwehr und eine Post. Die organisatorischen Leistungen umfassen auch Verfeinerungen
von bestehenden Kenntnissen; es gibt kleinere Fortschritte, vor allem im Bereiche der
Landwirtschaft und der Herstellung von Nahrungsmittlen; z.B. enthielt die berühmte
Bibliothek von Alexandrien um die 50 Manuskripte über die Herstellung von Brot!
In erster Linie waren die Römer grossartige Städtebauer; die Städte enthielten
Wohnhäuser verschiederner Art, Paläste und Tempel, öffentliche Gebäude, Bäder (die
Wasserzufuhr war über Viadukte sichergestellt), Arenen, Theater. (Auch in der Nähe von
Freiburg gibt es eine römische Stadt: Aventicum (Avenches) war die Hauptstadt der
römischen Provinz Helvetien. In Aventicum hielt sich zeitweise der Kaiser Marcus Aurelius
(121-180) auf, der wegen seiner hohen Bildung auch Philosophenkaiser genannt wurde; im
Museum von Avenches befindet sich ein Goldbüste dieses Kaisers.)
Die Städte waren durch Strassen und Brücken verbunden. Diese erfüllten zwei
Funktionen:
Einmal eine militärische Funktion: Es ging einmal um die Niederschlagung von Revolten
(Sklavenaufstand unter Anführung von Spartakus – Film mit Kirk Douglas als Spartakus: Der
römische Sklave Spartakus kämpfte als Gladiator in den römischen Arenen gegen andere
Gladiatoren und wilde Tiere, bis er um 73 v. Chr., also in der Endzeit der römischen
Republik, den Aufstand der Sklaven von Capua anführte. Erst Jahre später konnte dieser
Aufstand vom römischen Feldherrn und Senator Marcus Licinius Crassus endgültig
niedergeschlagen werden. Tausende von Aufständigen fanden auf dem Schlachtfeld den Tod
oder wurden entlang der Via Appia in Rom gekreuzigt.). Dann dienten die Strassen auch dem
Zurückschlagen von Eindringlingen, z.B. Einfälle von germanischen Stämmen. Zu diesen
Zwecken mussten sich die römischen Legionen schnell in gefährdete Gebieten verschieben.
Dazu kommt eine wirtschaftliche Funktion: Die Strassen und Brücken machen den
Binnenhandel überhaupt möglich. Neben dem Binnenhandel gab es natürlich einen
ausgedehneten Seehandel auf dem Mittelmeer (mare nostrum).
Der Städtebau, der Bau von Schiffen, Strassen und Brücken, der Aufbau und der
Unterhalt einer hervorragend organisierten Armee (die römischen Legionen) sowie der Bau
von Verteidigungsanlagen (des Limes) stellten die autonomen (staatlichen und
gesellschaftlichen) Ausgaben (G) dar, die die wirtschaftliche Entwicklung des Reiches in
Gang setzten. Die autonomen Ausgaben bewirkten einen kumulativen Prozess der
Konsum-
und
Investitionsgüternachfrage-
und
Produktion
(Investitionengüter:
Werkzeuge, Handwerkstätten, Manufakturen, z.B. für die Herstellung von Waffen). Wir
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haben es also mit einem internen oder binnenwirtschaftlichen Entwicklungsprozess zu tun
[Einführungsvorlesung, Gleichung (4)].
Die ersten 200 Jahre, also etwa vom Jahre Null bis um 200 n.Chr., stellen die Blütezeit
des römischen Reiches dar. Vermutlich sind in dieser Zeit die staatlichen und
gesellschaftlichen Ausgaben (G) gewachsen, dies durch die Zunahme von Städtegründungen,
dem Bau von Viadukten, Strassen und Brücken sowie von Handels- und Kriegsschiffen und
dem Ausbau des Heeres.
Abstieg und Untergang von Westrom
Der Abstieg Roms setzt mit vermehrten barbarischen Invasionen ein. Eine unerbittliche,
fast deterministische Sequenz führt dann das weströmische Reich in den Untergang.
Die germanischen Invasionen führen neben Zerstörungen auch zur Plünderung von
Kaufmannskarawanen, der Handel wird dadurch beeinträchtigt. Dazu kommt das
Banditenwesen; vermutlich schliessen sich vor allem Arbeitslose zu Banden zusammen, die
ebenfalls plündern. Schliesslich werden Kaufleute sogar von Soldaten geplündert, die
vermutlich den Sold nicht mehr regelmässig erhielten.
Die Zerstörungen und Plünderungen schaffen Unsicherheit. Die Wirtschaftsaktivität geht
zurück (Sozialprodukt und Beschäftigung sinken). Die Staatsausgaben gehen in den
„Friedensbereichen“ zurück. Dagegen steigen die Ausgaben für militärische Zwecke, eben um
die innere und äussere Sicherheit zu gewährleisten. Parallel dazu wird die Einkommens- und
Vermögensverteilung, vor allem die Landverteilung, immer ungleicher. Die Kaufkraft der
Bevölkerung sinkt, die Nachfrage nach Konsumgütern und auch deren Produktion bildet sich
zurück. Und damit sinkt auch die Beschäftigung. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit drückt
wiederum auf die Löhne. So hat sehr wahrscheinlich ein sich kumulativ verstärkender Prozess
zwischen Arbeitslosigkeit und Einkommensverteilung eingesetzt. Betreffend die Einkommensund Vermögensverteilung zitiert Karl Christ den schottischen Altertumshistoriker Ramsay
MacMullen, der sagt: „Beginnend ungefähr mit der Geburt Ciceros (d.h. um 100 v.Chr.) lässt
sich die Tendenz der sozioökonomischen Entwicklung des Imperiums über fünf Jahrhunderte
hinweg in drei Worten verdichten: wenige haben mehr [soweit MacMullen]. Dies ist in der
Tat die entscheidende Entwicklung im Bereiche der römischen Führungsschicht unter dem
Principat [dem Kaiserreich]“(Christ 1984, p. 76).
Um die wachsenden Staatsausgaben, vor allem für militärische Zwecke zu finanzieren
steigen die Steuern stetig an. Um sich zusätzliche Mittel zu verschaffen, werden
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Münzverschlechterungen durchgeführt. Dadurch entsteht Inflation, d.h. die Güterpreise
steigen. Die Inflation im 3. Jh. (n.Chr.) reduziert die realen Steuern. Ein Defizit im
Staatshaushalt entsteht. Um 303 herum unternimmt Kaiser Diokletian einen folgenschweren
Schritt: er führt Naturalabgaben ein, die vor allem von Pächtern und Kleinbauern getragen
werden. Die Grossgrundbesitzer, vor allem Senatoren und Personen, die sich um das Reich
verdient gemacht haben, siegreiche Heerführer beispielsweise, sind weitgehend steuerfrei.
[Die Senatoren waren in erster Linie Landbesitzer (Grossgrundbesitzer, Besitzer von
Latifundien); die Ritter betrieben vor allem Handels- und Finanzgeschäfte. Beide Gruppen
gehörten zur immer reicher werdenden Oberschicht.]
Die Naturalabgaben modifizieren das ökonomische System tiefgreifend:
1)
Die
landwirtschaftliche
Produktion
für
den
Markt
geht
zurück:
der
landwirtschaftliche Überschuss wird nur noch zum Teil vermarktet. Dadurch geht
die Nachfrage nach städtischen Handwerksprodukten zurück.
2)
Pächter und Kleinbauern sind nicht mehr in der Lage, die Steuerlast zu tragen. Sie
verlassen deshalb ihre Böden, um sich unter den Schutz von Latifundienbesitzern zu
stellen, deren Güter weitgehend steuerfrei sind (einige Kleinbäuern verkaufen ihre
Böden an Latifundienbesitzer).
Dadurch dehnen sich die Latifundien immer mehr aus. Und was äusserst wichtig ist: Die
Latifundien werden schrittweise autonom, d.h. immer mehr autark: auf den Latifundien
werden nicht nur landwirtschaftliche Produkte produziert, sondern auch immer mehr
handwerkliche
Produkte
(Werkzeuge,
Textilien,
etc).
Dies
impliziert,
dass
der
landwirtschaftliche Überschuss immer weniger vermarktet wird. Dadurch wird dem
städtischen Gewerbe und dem Handel seine Existenzgrundlage entzogen. Durch die
zunehmende Autarkie der Latifundien verlieren also die Städte immer mehr ihre
Absatzmärkte für Fertigprodukte und ihre Beschaffungsmärkte für landwirtschaftliche
Produkte und Rohstoffe und Zwischenprodukte, beispielsweise Wolle und Leder. Durch die
Latifundien findet also eine Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft statt.
Die wirtschaftliche Aktivität verringert sich nun kumulativ. Sozialprodukt und
Beschäftigung gehen dramatisch zurück. Es gibt immer weniger Steuereinnahmen. Damit
sinken auch die autonomen staatlichen und gesellschaftlichen Ausgaben (G), was wieder
einen weiteren kumulativen Rückgang des Sozialprodukts und der Beschäftigung bewirkt.
Die Städte bilden sich zurück, gehen sogar unter, vor allem nördlich der Alpen. (Deshalb
mussten hier die Städte im Mittelalter wieder neu gegründet werden, z.B. Freiburg i.Ü. 1157.)
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In diesem Zusammenhang hat der grosse deutsche Soziologe und Volkswirtschafter Max
WEBER den berühmten Ausspruch getan (Max Weber schrieb seine These über römische
Agrarinstitutionen):
ROM IST AN SEINEN LATIFUNDIEN ZUGRUNDEGEGANGEN
1)
Die immer weitergehendere Verbreitung der Latifundien ist der Hauptgrund für den
Zusammenbruch des weströmischen Reiches.
2)
Ein weiterer Grund für den Zusammenbruch Westroms ist die Abwesenheit von
technologischer Kreativität [in Rom gab es perfekte Organisation bei gegebener
Technik; in einer Grossorganisation ist der technologische Wandel sowohl
organisatorisch wie sozial ein Störfaktor.]
Der römische Genius manifestierte sich im Bau von Strassen, Aquädukten, Kuppeln
und Arenen, aber nicht im Bau von Maschinen. Dies obwohl technisches Wissen
durchaus vorhanden war.
Wieso gab es keinen wirtschaftlichen und technischen Fortschritt totz vorhandenem
Wissen?
a)
Hauptgrund: Sklaven und Knechte verrichten den grössten Teil der
produktiven Arbeit. Diese haben kein Interesse technisches Wissen
wirtschaftlich zu nutzen, weil sie davon nicht profitieren (bei technischem
Fortschritt würde der soziale Überschuss (S) ansteigen, aber ganz der
herrschenden Oberschicht zufallen).
b)
Anderseits interessieren sich die herrschenden Schichten nicht für Technik und
Produktion. Sie leben vom Überschuss und bestimmen dessen Verwendung für
Krieg, Politik und Kunst, die auch ihre Interessengebiete darstellen.
3)
Ein dritter Grund für den Untergang Westroms ist sozialer Natur:
a)
Es findet eine soziale Nivellierung nach unten statt: Die Soldaten wählen
Soldatenkaiser, deren einziges Ziel die Bezahlung des Soldes war! (Im
Gegensatz dazu galt Marcus Aurelius (121 – 180), der römische Kaiser der sich
in Avenches (Aventicum) aufhielt, als Philosoph auf dem Kaiserthron!)
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b)
Die (selbständigen) Kleinbauern und Pächter werden zu landwirtschaftlichen
Arbeitern auf den Latifundien, zum Teil unter sklavenähnlichen Umständen. Es
bildet sich ein landwirtschaftliches Proletariat heraus.
c)
Das städtische Gewerbe (Handwerker und Kaufleute) wird zu einer Art
„Industrie“- Proletariat. Dieses sucht auch auf den Latifundien Zuflucht. Dieses
Proletariat produziert dann auf den Latifundien Handwerksprodukte (Textilien,
Möbel, Werkzeuge, ...).
Allgemein ist dieser soziale Wandel verbunden mit einem Rückbildung des
Mittelstandes. Es gibt sehr viele Arme (Proletarier) und gleichzeitig wenige
sehr Reiche. Die römische Gesellschaft hat sich zusehends polarisiert.
4)
Diese Polarisierung der römischen Gesellschaft führt zu einem Rückgang des
städtischen Kulturlebens, was einen vierten Grund für den Untergang Westroms
darstellt. Michael Rostovtzeff spricht von einer Rebarbarisierung der römischen
Gesellschaft (Michael Rostowzew: Gesellschaft und Wirtschaft im römischen
Kaiserreich. Aalen (Scientia Verlag) 1985; Neudruck der Ausgabe 1931, Leipzig
(Quelle & Meyer), zweiter Band, pp. 210ff.). Die allgemeine Verringeringerung des
Bildungsstandes begleitet in der Regel Gesellschaften, die sich auf dem Abstieg
befinden. Die Rebarbarisierung Westroms ist wiederum ein starkes Argument gegen
die Idee des absoluten Fortschritts.
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