Vom Rat zur Tat Moralisch handeln und denken Ein

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Vom Rat zur Tat
Moralisch handeln und denken
Ein Beitrag von Erny Gillen
Multidisziplinär besetzte ethische Komitees sind ein Garant dafür, daß einseitige
moralische Standpunkte im klinischen Alltag überwunden werden oder erst gar nicht
aufkommen. Während die Pluridisziplinarität die Engführung auf einen bestimmten
fachlichen Standpunkt erschwert, vereitelt eine Mehrzahl an moralischen
Standpunkten, im Sinne des Pluralismus der Moralen, die Überschätzung der
persönlichen moralischen Überzeugung.
Den vorgegebenen Titel „Vom Rat zur Tat“ habe ich bewußt durch den Untertitel
„Moralisch handeln und denken“ abgeschwächt. Der hermeneutische Zirkel vom
moralischen Handeln bringt es an den Tag: Handelnd denkt der Mensch – und
denkend „über-legt“ der Mensch sein Handeln. In diesem Kreislauf des eigenen
Handelns und Bedenkens ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, einen Anfang
und einen Schluß zu identifizieren. Der eigene Rat und die eigene Tat hängen zu
stark in der Person zusammen, als daß sie genau unterschieden werden könnten.
Die gelebte Moral der meisten Menschen, einschließlich der Ärzte, Pflegenden und
Patienten, ist zumeist unthematisch und selbstverständlich. Sie wird erst dort
erkannt, wo sie an ihre eigenen Grenzen stößt oder aber an die Grenzen einer
anderen moralischen Position.
Es geht im Folgenden nicht um innermoralische Konflikte oder Neukodifizierungen
der eigenen Moral, sondern um die Bewältigung moralischer Konflikte dort, wo
moralisch unterschiedlich orientierte Menschen zusammenarbeiten.
Ein erster Grund, das Klinikum für ethische Reflexion zu öffnen, könnte der
effizientere Ablauf innerhalb des therapeutischen Teams sein. In der Tat führen
moralische Ungeklärtheiten und Ungereimtheiten zu Energieverlusten bis hin zur
Handlungsohnmacht im therapeutischen Team und mit dem Patienten. Um diesen
Verlusten vorzubeugen, liegt es nahe, ihre Bearbeitung auf eine andere als die
medizinisch-pflegerische Ebene zu verlagern. Diese andere Ebene der Moral und
der Ethik bringt die zum Zusammenarbeiten gezwungenen Mitarbeiter in ein neues
Diskursverhältnis. Der hier zu führende Diskurs setzt medizinisches, pflegerisches,
soziales, seelsorgliches und psychologisches Wissen voraus, ohne jedoch von
diesem Fachwissen her bereits eindeutige Lösungen zu erwarten. Erst im
pluridisziplinären Gespräch unter ethischer Moderation und auf dem Hintergrund der
verschiedenen moralischen Standpunkte wird eine Entkrampfung der Situation
erwartet.
Moral und angewandte Ethik
Ich gehe davon aus, daß die moralische Muttersprache erst dort an die Oberfläche
des Bewußtseins tritt, wo sich Grenzen beziehungsweise Konflikte bemerkbar
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machen. In diesen Situationen werden die Selbstverständlichkeit und die erste
Naivität verloren, ja manchmal gebrochen. Die ureigene unthematische Einstellung
zur Frage nach dem richtigen/falschen oder guten/schlechten moralischen Handeln
oder Unterlassen verstehe ich als persönlichen moralischen Standpunkt. Die Moral
bezeichnet demnach in meinem Sprachspiel ein vorreflexives Stadium moralischen
Handelns und Denkens. Da es in unserem Zusammenhang nicht um die
Selbstreflexion der eigenen Moral geht, sondern um die Bewältigung moralischer
Konflikte in der Zusammenarbeit moralisch unterschiedlich orientierter Menschen im
klinischen Alltag, wird unter angewandter Ethik hier die Reflexion verschiedener
vorhandener moralischer Positionen mit dem Ziel, eine Gruppe gemeinsam
handlungsfähig zu halten, verstanden. Ethik wird somit als Vermittlungs- und
Übersetzungswissen verstanden, als Methode, moralische Konsense und
Kompromisse für alle plausibel und nachvollziehbar zu gestalten.
Ethisch verantwortliche moralische Kompromisse
Der moralische Kompromiß hat einen schlechten Beigeschmack. Kommt ein
moralischer Kompromiß nicht schon einer zumindest teilweisen Verleugnung des
eigenen moralischen Standpunkts gleich? Kann ein Arzt oder ein Pfleger seine
eigene moralische Überzeugung aufgeben zugunsten einer anderen moralischen
Überzeugung, ohne sich dabei selber als moralische Person aufzugeben? In einer
flachen und normativen Sicht moralischer Differenzen gibt es in der Tat keinen
ethisch verantwortlichen Kompromiß. Hier setzt sich die Moral des Stärkeren auf
Kosten des Schwächeren durch. Es besteht eine Art Fixierung auf handlungsleitende
Normen. Und da beispielsweise zwei Ärzte, die zusammenarbeiten, nicht an einem
und demselben Patienten gegensätzlich handeln können, ohne diesem zu schaden,
fügt der Schwächere sich der Handlungsmaxime des Stärkeren und läßt dabei die
eigene Moral außen vor. Über kurz oder lang führen solche moralischen
Zwangsverabschiedungen zur inneren Demission und Demotivierung der
betroffenen Mitarbeiter. Ihnen wird ein Handeln abverlangt, das sie selber nicht in
ihren eigenen moralischen Überzeugungen verankern und mittragen können.
Handelnd werden sie überfordert und denkend unterfordert. Sie befinden sich damit
in der klassischen Situation der moralischen Entfremdung.
Weitet man den Blick jedoch über die moralische Norm hinaus auf die ihr zugrunde
liegenden Wert- und Sinnzusammenhänge, so öffnet sich eine Tiefenschärfe
moralischer Zusammenhänge, die moralische Kompromisse ermöglicht. Dort, wo
moralische Normen begründet werden, greifen die Diskurspartner in der Tat tiefer,
als die normative Oberfläche dies nahelegen würde. Sie bemühen begründende
Werte und Sinnfaktoren. Genau diese Werte und Sinnfaktoren ihrerseits sind nun
aber wieder offen für normative Differenzen.
So können beispielsweise zwei wahrhaftige Ärzte hinsichtlich der Aufklärung ihres
gemeinsamen Patienten normativ zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen. Ist
beiden klar, daß sie auf der gleichen Wertebasis, nämlich der Wahrhaftigkeit,
entscheiden, so können sie in der Tat viel gelassener über ihre normative Differenz,
die Wahrheit zu sagen oder auch nicht, miteinander im Gespräch bleiben, ohne
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hierbei ihre eigene moralische Integrität zu verletzen. So kann sich der eine Arzt, der
für eine sofortige Aufklärung des Patienten ist, den Argumenten des anderen Arztes
anschließen, der für eine spätere Aufklärung des Patienten ist, wenn er die situativen
oder utilitaristischen Argumente dieses anderen Arztes erkennt und versteht.
Möglicherweise geht der zweite Arzt ja 14 Tage in Urlaub und will den Patienten erst
nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub aufklären, weil er ihn in der schweren Phase
des Umgangs mit der neuen Wahrheit nicht allein lassen möchte. Oder aber er will
den Patienten, dessen Kind drei Wochen später seine erste heilige Kommunion
feiert, jetzt noch nicht mit einer schwierigen Wahrheit belasten.
Bei diesen Beispielen wird deutlich, daß die Fragestellung „Was sollen wir tun?“
verschoben wird auf die Fragestellung „Weshalb oder warum sollen wir was tun oder
nicht tun?“. Gerade diese Verschiebung der Fragestellung führt von der Oberfläche
der Moral zu deren Wurzeln, zu deren Begründung. Der moralisch argumentierende
Mensch verläßt die Sicherheit des Selbstverständlichen und Eindeutigen, indem er
seine moralische Meinung mit Gründen innerhalb seines Wert- und
Sinnzusammenhangs verknüpft. Damit legt er sozusagen seine Karten offen und
macht seine eigene moralische Position transparent und somit auch
diskussionsfähig.
Geht man davon aus, daß eine moralische Norm nur so stark ist wie die Gründe, die
sie tragen, dann erkennt man unschwer, daß die Diskussionsanlässe ebensosehr
bei den ausgesprochenen Normen liegen wie bei deren Gründen. Dabei kann der
Diskussionspartner die Begründungsbasis teilen, ohne zu denselben normativen
Schlußfolgerungen zu kommen. Gerade in diesem Fall ist dann aber ein moralischer
Kompromiß ethisch verantwortlich. Auf der gemeinsamen Basis der Wahrhaftigkeit
können Aufklärungsgespräche durchgeführt werden, deren bester Zeitpunkt
unterschiedlich beurteilt wird. Gemeinsam wird dann zum Beispiel beschlossen, daß
der Patient in den kommenden zwei oder drei Wochen noch nicht über seinen
schlechten Zustand aufgeklärt wird, obschon dies der normativen Überzeugung des
einen Arztes nicht entspricht.
Moralisch normative Kompromisse können also dort leicht integriert werden, wo die
normativen Differenzen in einem gemeinsamen Wertesystem gründen.
Wertdifferenzen hingegen können bei aller Verschiedenheit dort in einen Kompromiß
integriert werden, wo die gemeinsam handelnden Personen ein gemeinsames
Sinnfundament teilen (siehe Abbildung).
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Zu den Wurzeln moralischer Normen
Norm
Was soll ich tun?
Werte
Weshalb soll ich das tun?
Sinn
Warum soll ich das tun?
Vor diesem analytischen Hintergrund moralischen Denkens und Handelns wird
deutlich, daß Kompromisse im Team und im Arzt-Patient-Verhältnis in der Regel nur
dort tragen, wo sie ausgesprochen und plausibel argumentiert werden. Dabei wird
unter Argumentation die Verbindung und Vernetzung verschiedener Ebenen im
moralischen Normfindungsprozeß verstanden.
Das klinische Ethikkomitee als Lernort moralischen Argumentierens
Nach welchem Ablaufschema auch immer ein bestimmter Fall analysiert und
diskutiert wird, es scheint mir unerläßlich, die Analyse und die Normfindung im
pluridisziplinären und pluralen Diskurs zu halten. Ein Setting, das genau diese
Vorgaben beachtet, wurde vom katholischen und vom evangelischen
Krankenhausverband Deutschland ausgearbeitet und erprobt. Die vorgeschlagene
Muster-Geschäftsordnung sieht zusammenfassend vor:
Jeder betroffene Mitarbeiter und jeder Patient des Hauses kann sein ethisches
Problem vorbringen, um sich als Orientierungshilfe für seine eigene
Entscheidung eine Gewichtung der Argumente und der Gegenargumente in Form
eines Votums einzuholen.
Der Vorsitzende des Komitees entscheidet, ob über vorgebrachte Probleme
verhandelt wird.
Soll über das Problem verhandelt werden, dann wird es anschaulich geschildert,
und die ethischen Gesichtspunkte werden eindeutig in Form von medizinisch,
pflegerisch und ökonomisch verantwortbaren Alternativen formuliert.
Nach Klärungsfragen werden in Abwesenheit des Antragstellers in einer ersten
Gesprächsrunde Argumente und Gegenargumente für mögliche Antworten
gesammelt.
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Dann folgt die Wertung der Argumente auf dem Hintergrund der jeweiligen
ethischen Positionen der Mitglieder des Komitees. Dabei bemüht das klinische
Ethikkomitee sich um einen Konsens.
Der Vorsitzende formuliert anschließend einen Vorschlag für ein gemeinsames
Votum an den Antragsteller. Findet kein Vorschlag eine einheitliche Zustimmung,
dann schlägt er eine Abstimmung vor. Dabei bedarf das Votum des Komitees
einer Zweidrittelmehrheit seiner Mitglieder.
Die Minderheit kann ein Votum abgeben und begründen.
Die Voten des klinischen Ethikkomitees werden in kurzer schriftlicher Form
festgehalten. Der Vorsitzende unterrichtet den Antragsteller über das Ergebnis
und erläutert die Voten.
Der Träger (oder das satzungsgemäße Organ) wird über die Voten informiert. Die
Voten des Komitees sollen in geeigneter Weise in den Einrichtungen
bekanntgemacht werden, damit jeder an der ethischen Bewußtseinsbildung
seines Krankenhauses teilnehmen kann.
Bei diesem Typus eines klinischen Ethikkomitees wird großer Wert auf die
pluridisziplinäre Zusammensetzung gelegt und gleichzeitig vorausgesetzt, daß die
verschiedenen Menschen nicht mit derselben moralischen Normativität am
Gesprächstisch zusammenkommen.
Die Zusammensetzung des klinischen Ethikkomitees
Bis zu 12 Frauen und Männer
hausinterne Mitglieder:
– aus dem ärztlichen Bereich
– aus dem pflegerischen Bereich
– aus dem Verwaltungsbereich
– aus dem Sozialdienst
externe Mitglieder:
– ein Jurist
– ein aufgeschlossener, christlicher Mensch ohne Fachwissen
ein Seelsorger
Berufung auf Zeit (beispielsweise 3 Jahre)
Hinsichtlich der Befolgung der Voten wird festgehalten:
Die Befolgung der Voten des klinischen Ethikkomitees ist freiwillig und nicht
verpflichtend.
Entsprechend sollen die begründeten Voten dem Antragsteller vom Vorsitzenden
des Komitees vorgetragen werden.
Um die Eigenverantwortlichkeit nicht zu gefährden und dem Komitee keine Macht
zuzugestehen, die ihm von der Sache her nicht zukommt, ist stets darauf zu
achten, daß die Mitteilung der Voten den Freiwilligkeitsaspekt ihrer Befolgung
ausdrücklich genug betont.
Voten des Ethikkomitees können das Urteil der Entscheidungsträger wohl
erhellen, aber nicht ersetzen.
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Die erwarteten Effekte der Einsetzung klinischer Ethikkomitees
Im wohlverstandenen Sinn geführte klinische Ethikkomitees können einen Beitrag
zur Kultur eines Krankenhauses leisten, indem sie ein Forum für schwierige und
kontroverse ethische Entscheidungen bereitstellen. Sie bieten die Chance, in
herrschaftsfreier und systematischer Weise anstehende oder bereits getroffene
Entscheidungen in den Bereichen Medizin, Pflege und Ökonomie ethisch zu
reflektieren und aufzuarbeiten.
Den Mitarbeitern des Hauses und den Patienten sowie deren Angehörigen geben
sie die Zusage, daß Gewissensnöte oder das Leiden an nicht annehmbar
erscheinenden Strukturen und Situationen im gemeinsamen Gespräch gehört
und geändert werden können.
Als weitere Effekte klinischer Ethikkomitees können die Sensibilisierung und die
Bildung aller Mitarbeiter für die ethische Dimension verschiedenster
medizinischer, pflegerischer, ökonomischer und institutioneller Aspekte im
Krankenhaus gesehen werden. Der Einübung in ethisches Argumentieren kommt
hierbei eine besondere Bedeutung zu.
Hieraus folgt, daß klinische Ethikkomitees kein Gefälle zwischen einem
belehrenden Komitee und zu belehrenden Mitarbeitern erzeugen wollen und
dürfen, sondern daß es um gemeinsames Lernen geht. Dies kann durch die
transparente Beteiligung aller Kräfte an der Entscheidungsfindung gelingen und
wird zugleich eine Isolation des Komitees im Krankenhaus verhindern.
Ethikkomitees können somit zu Lernorten moralischen Diskursierens unter
ethischer Anleitung und Moderation werden. Sie stellen eine gute Chance für
Patienten, Ärzte und Pflegende dar. Wer gemeinsam zu argumentieren gelernt
hat, steigt in einen Prozeß ein, der Menschen zusammenbringt und gemeinsame
Plausibilitätsstrukturen erarbeitet. Die Dominanz einer vorherrschenden oder
stärkeren moralischen Position wird aufgegeben zugunsten einer gemeinsamen
moralischen Handlungsbasis. Die im Diskurs stehenden Personen legen sich ihr
Handeln und Denken so zurecht, daß es nach innen und nach außen
kommunikabel wird. Ihre Wertpräferenzen werden sichtbar, ansprechbar und
damit diskussionsfähig. Jeder Teilnehmer am Diskurs teilt den Kompromiß,
indem er sich und seine Integrität im Ausdruck einer gemeinsamen Moral
verwebt. Auch hier wird noch einmal deutlich, daß das Argumentieren bereits der
zweite Schritt ist. Beim ersten Schritt erkennen sich die gemeinsam handelnden
und denkenden Menschen – auch und gerade bei unterschiedlichen moralischen
Einstellungen – als moralisch gleichwertig an, und ihre Argumente tragen bei
gleicher Situationseinschätzung. Die moralische Diskussion wird vielschichtig und
tiefenscharf. Sie wird herausgeführt aus ihrer normativen Zuspitzung und
zurückgeführt in ein gemeinsames Ethos, das das Wohl des Patienten in einer
moralisch pluralistischen Welt vor Augen hat.
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Im Ethikkomitee wird exemplarisch gelernt, notwendige und Not abwendende
Entscheidungen zu treffen. Die moralische Entscheidungsfindung wird aus der
Einsamkeit des einzelnen Gewissens in die Gemeinsamkeit geholt.
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