Biografisches Gedächtnis und Biografiearbeit

Werbung
Die eigene Biographie als
Schlüsselvariable für Lernprozesse
Biografisches Gedächtnis und Erwachsenenbildung
Dr. Alexander Klier, DGB Bildungswerk Bayern
Vorlesung an der Hochschule für Philosophie,
Philosophische Fakultät
am Dienstag, 07. Juni 2011
Was in dieser Vorlesung Thema
werden soll
 Teil 1: Neurowissenschaft und das episodisch-
autobiografische Gedächtnis
 Teil 2: Individualität als biografische (Entwicklungs-) Aufgabe
 Teil 3: Biografiearbeit als besondere Form der
Erwachsenenbildung
 Teil 4: Grenzen der Biografie-Arbeit
Was taten Sie am:
11. September 1995?
 "Auf dem Südturm des World Trade Centers in New York
City beginnt die Schachweltmeisterschaft 1995 zwischen
Titelverteidiger Garri Kasparow und Herausforderer
Viswanathan Anand" (Wikipedia: 11. September;
28.04.2011).
Bild: S.M.S.I., Inc. - Owen Williams, The Kasparov Agency.
Verwendung unter den Bedingungen der Creative
Commons 3.0. Verfügbar unter:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/36
/Kasparov-10.jpg
Was machten Sie am:
11. September 2001?
 Vier Passagierflugzeuge werden auf Inlandsflügen entführt
und davon zwei von den Tätern in das World Trade Center
und eines ins Pentagon gelenkt.
Gemeinfreies Bild. Verfügbar unter:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons
/d/d1/WTCgroundzero.jpg
Direkte
Repräsentation
- Präkategoriales Denken
- Zwischenspeicherung
Bewusste Verarbeitung von
Lerninhalten
• (abstraktes) Denken
• Problemlösen
• Argumentieren
Wissenssystem, Autobiografisches
Wissen, bewusstes Erinnern
Deklaratives (explizites)
Gedächtnis
Wiederholendes Lernen
•
•
Arbeitsgedächtnis
(Integration der
Inhalte)
Sensorisches
Register
Prozessierung
der Lerninhalte
•
•
•
graphisch
phonemisch
semantisch
Explizites und modifizierendes Lernen
Inzidentelles Lernen
Je Sinnesorgan unterschiedliche
Aufbereitung
(ikonisch, echoisch)
• Merkmalsanalyse
• Mustererkennung
• Selektive Aufmerksamkeit
Primäre Speicherung
(Kurzzeitgedächtnis)
•
•
•
visuell
akustisch
semantisch
Implizites Lernen
Episodisches Wissen
Semantisches Wissen
Langzeitgedächtnis
Senso-Motorik, Perzeptuelles
Wissen, Vorbewusstheit
Reflexes (implizites)
Gedächtnis
•
•
•
Prozedurales Wissen
Priming
Konditionierung
Das episodisch-autobiografische
Gedächtnis
 „Das episodische Gedächtnis ist eine Subkomponente des
Langzeitgedächtnisses (LZG). Die anatomischen Substrate
sind der Hippocampus, Frontallappen und Temporallappen.
Diese Strukturen tragen zur episodischen Gedächtnisleistung
bei“ (Wikipedia: Episodisches Gedächtnis; 28.04.2011).
 Persönliche Erlebnisse werden singulär gespeichert
 Privilegierung des episodischen Gedächtnisses durch
 Kontextbezug, der auch gespeichert wird
 Emotionale Komponente, die mit erinnert wird
Gehirnanatomie
Bild: Peter Wolber. Verwendung unter den Bedingungen der Creative Commons 3.0. Verfügbar unter:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/41/Gehirn_lobi_seitlich.png
Emotionen und Neokortex
 Hippocampus (Limbisches System) an autobiografischem
Gedächtnis deutlich beteiligt
 Rolle von Emotionen in Denk- und Lernprozessen wichtiger,
als in der Erwachsenenbildung oft betont
 Neokortex (Frontallappen) und das soziale Miteinander
 Entwicklung bei Säugetieren / Primaten
 Phylogenetisch junger Teil des Gehirns
 Reguliert das soziale Miteinander der Menschen / Beachtung
von Handlungskonsequenzen
 Empirie: Menschen mit Schädigungen dieser Regionen
 Beispielsweise: „ungenügende Regelbeachtung sowie Regelverstöße (auch
im sozialen Verhalten)“ – Wikipedia: Frontallappen; 29.04.2011
Individualität und Identität – von der
Jugend zum jungen Erwachsenen
 „Identität definiert sich […] strukturell aus dem System der
Umweltbeziehungen und dem Wissen um sie sowie dynamisch aus
der stetigen Ausbalancierung des Person-Umwelt-Verhältnisses
durch das Nachdenken über sie und durch reflektiertes Handeln“
(Oerter 21987, S. 311 – Hervorhebungen im Original, Auslassung A.K.)
 „Identität beinhaltet danach die Definition einer Person als
einmalig und unverwechselbar durch die soziale Umgebung wie
durch das Individuum selbst“ (a.a.O., S. 296)
 Identität wird mit zunehmender Entwicklung hochkomplex im
Wissen organisiert. Biografische Dimensionen:




Persönliche Individualität
Soziale Individualität
Kognitiv – Wissen und Selbstwahrnehmung (Fähigkeiten)
Affektiv – Selbstwertgefühl, „locus of control“
Biografien der reflexiven oder
zweiten Moderne
 These der dreifachen Individualisierung nach Ulrich Beck:
 Lösung aus historischen Sozialformen oder Bindungen
 Verlust traditionaler Sicherheiten (Glaube, Werte und Normen)
 Neue Art von sozialer Einbindung
 „Der oder die einzelne wird zur lebensweltlichen
Reproduktionseinheit des Sozialen“
„Die entstehenden Individuallagen sind durch und durch
(arbeits)marktabhängig“ (Beck 1986, S. 209f, Hervorhebung im Original)
 Identitätsentwicklung und moralische Urteilsfähigkeit(en). Noch
einmal Ulrich Beck (S. 219):
„Die Weltgesellschaft wird [via Medien] Teil der Biographie, auch
wenn diese Dauerüberforderung nur durch das Gegenteil:
Weghören, Simplifizieren, Abstumpfen zu ertragen ist.“ (a.a.O., S. 219)
Identitätsbildung als (biografische)
Aufgabe der Erwachsenenbildung?
Merkmal
Diffuse Identität
(keine Festlegung für
Beruf oder Werte)
Moratorium
(aktuelle
Auseinandersetzung
mit Wertfragen)
Übernommene
Identität
(Festlegung durch die
Eltern)
Erarbeitete Identität
(selbst gewählte
Festlegung oder
Wertpositionierung)
Selbstwertgefühl
Niedrig
Hoch
Niedrig (männlich)
Hoch (weiblich)
hoch
Autonomie
Extern kontrolliert
Internale Kontrolle
Autoritär
Internale Kontrolle
Kognitiver Stil
Impulsiv, extreme
Komplexität
Reflexiv, kognitiv
komplex
Impulsiv, kognitiv
simpel
Reflexiv, kognitiv
komplex
Soziale Interaktion
Zurückgezogen, hören
auf Peers und
Autoritäten
Ruhig, wohlerzogen,
glücklich
Zeigen nicht-defensive
Stärke, können sich für
andere ohne Eigennutz
einsetzen
Frei, streben intensive
Beziehungen an
Quelle: Oerter 21987, S. 309. Tabelle nach Merkmalen der vier Identitätszustände nach Marcia (1980)
Biografie: Die Bedeutung von Milieu,
Ausbildung und Beruf
 Stabilität vs. Prekarität, Schicht- bzw. Milieuzugehörigkeit
 „Die Lebensstilforschung geht davon aus, dass durch die zunehmende
Pluralisierung der Gesellschaften und die Individualisierung der
Lebensstile die vormals enge Verknüpfung zwischen sozialer Lage und
Milieus entkoppelt wird, auch wenn soziale Milieus weiterhin nach
Status und Einkommen hierarchisch eingeordnet werden können“.
(Wikipedia: Soziales Milieu; 30.04.2011)
 Der „lebenslange“ Arm der Arbeit (Hoff 21987, S. 361)
 „Aspekte des Handelns, Denkens und Fühlens, die in der tagtäglichen
Arbeit notwendig gefordert sind, werden allmählich auf die Freizeit
übertragen“ (Hoff, a.a.O., S. 363)
 Formen des kollektiven Arbeitsprozesses
 Fordismus und Taylorismus vs.
 Indirekte Steuerungsformen im Betrieb (Hohe Autonomie)
Biografiearbeit als besondere Form
der Erwachsenenbildung
 Lebensweltbezug
 Identitätsentdeckung und –entwicklung
 Emotionale Anbindung
 Breite Einsatzmöglichkeiten
 Methodik der Biografiearbeit
 unterschiedlichste Zugangsmöglichkeiten
 etc. …
Lernen als Konstruktion
Grafik: Fibonacci. Verwendung unter Genehmigung der GNU Lizenz für freie Dokumentation. Publiziert unter der
URL http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/55/Kanizsa_triangle.svg
Grenzen biografischen Arbeitens
 Pruning und Long-Term-Depression (LTD)
 Heftige Erlebnisse und die retrograde Amnesie
Die moralische Verantwortung im
Rahmen von Biografiearbeit
 Mit dem Erinnern verändert sich das Erinnerte
 Die „Notwendigkeit“ intersubjektiver Daten
 Die positive Funktion von Lernen und Vergessen
 Kollektive und individuelle Verdrängungsmechanismen
 BRD nach dem zweiten Weltkrieg (Arbeitsethos)
 Fließender Übergang zu Krankheiten (Traumata)
 Bewusste Manipulation des Erinnerungsvermögens – auch im
Seminargeschehen möglich
Literatur

Ulrich Beck (1986): Die Risikogesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp

Erik H. Erikson (1966): Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1966.

Hans-Peter Frey & Karl Hausser (Hrsg.): Identität. Entwicklungen psychologischer und soziologischer Forschung. Stuttgart: Enke 1987.

Sigrun-Heide Filipp (1981): Ein allgemeines Modell für die Analyse kritischer Lebensereignisse. In:
Dies. (Hrsg.), Kritische Lebensereignisse. München u.a.: Urban & Schwarzenberg 1981, 3- 52.

Ernst-H. Hoff (21987): Frühes Erwachsenenalter: Arbeitsbiografie und Persönlichkeitsentwicklung.
In: Oerter, R. & Montada, L. (21987): Entwicklungspsychologie, S. 361 – 374

Hubert Klingenberger (2003): Lebensmutig. Vergangenes erinnern – Gegenwärtiges entdecken –
Zukünftiges entwerfen. München: Don Bosco 2003. S.a. Infobrief Biografiearbeit (Newsletter,
monatlich) zu bestellen unter: [email protected]

Friedhart Klix (31980): Erwachendes Denken. Eine Entwicklungsgeschichte der menschlichen
Intelligenz. Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften

Rolf Oerter (21987): Jugendalter. In: Oerter, R. & Montada, L. (21987): Entwicklungspsychologie,
S. 265 – 338
Herunterladen