1. Thales, Pythagoras, Euklid

Werbung
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Einführung
Geometrische Beweise für algebraische Tatsachen finden sich bereits im berühmtesten Mathematikbuch aller Zeiten, den Elementen Euklids. Diese wurden von
Euklid1 aus Alexandria2 um 300 v.Chr. zusammengestellt und dienten bis ins
letzte Jahrhundert als Grundlage für den Geometrieunterricht an Schulen.
Es sei auch auf die Tatsache hingewiesen, dass Euklids Elemente nicht geschrieben worden wären, wenn Euklid alle Beweise selbst hätte finden müssen. Er mag
die gedanklichen Leistungen seiner Vorgänger verbessert haben, aber man hat ihn
nicht gezwungen, sie selbständig wiederzuentdecken. Dasselbe gilt auch für die Leistungen anderer Riesen, auf deren Schultern wir stehen: alle großen Mathematiker
haben von jemandem gelernt, der mehr wusste als sie, und zwar, wenn es anders
nicht ging, aus Büchern.
In diesem Kapitel wird es um eine einfache, aber doch effektive Beweismethode
gehen: das Berechnen von ein und demselben Flächeninhalt auf zwei verschieden
Arten. Aus der Gleichheit der Ergebnisse werden wir allerlei mathematische Sätze
erhalten, von denen viele mit Flächen wenig bis nichts zu tun haben. Dass es
bei den behandelten Themen etwas durcheinander geht liegt daran, dass wir eine
Beweistechnik vorstellen und nicht ein ganz bestimmtes Thema untersuchen.
1
2
Über den Menschen Euklid wissen wir fast überhaupt nichts. Unsere Kenntnisse sind
in der Tat so dürftig, dass wir nicht einmal sagen können, er wäre kein Afrikaner
gewesen (sehr wahrscheinlich war er natürlich ein Grieche, und hat seine Ausbildung
in Athen bekommen). Auch wann er wie lange gelebt hat, ist uns nicht bekannt;
einigermaßen sicher ist nur, dass die Elemente um 300 v. Chr. geschrieben worden sind.
Vom Standpunkt der Geschichte aus gesehen ist der überragende Erfolg von Euklids
Elementen höchst bedauerlich: da Bücher damals nur durch Abschreiben vervielfältigt
wurden, sah man keinen Grund mehr darin, Vorgänger von Euklids Elementen zu
kopieren, sodass wir von der voreuklidischen Mathematik praktisch keinerlei fundierte
Kenntnisse mehr haben. Auch hier zeigt sich einmal mehr, dass das Bessere der Feind
des Guten ist.
Die Stadt Alexandria im heutigen Ägypten wurde wenige Jahrzehnte vor Euklid von
Alexander dem Großen gegründet. Über viele Jahrhunderte hinweg war Alexandria
wegen ihrer vorzüglichen Bibliothek das Zentrum der wissenschaftlichen Welt der Antike. Den ersten großen Brand erlebte die Bibliothek bei der Eroberung Alexandrias
durch Caesar. Nach weiteren Bränden und dem Niedergang der griechischen Kultur
war 600 n.Chr. vom Weltruf Alexandrias (oder ihrer Bibliothek) nichts mehr übrig.
1.1 Distributivgesetz und Binomische Formeln
11
Wir werden später noch genauer untersuchen, was ein Beweis eigentlich ist;
bis dahin ist alles ein Beweis, was uns überzeugt. Mit anderen Worten ist ein
Beweis eine Ansammlung von Argumenten, die eine Behauptung auf Aussagen
zurückführt, die wir entweder schon bewiesen haben, oder die uns offensichtlich
erscheinen.
Es sei gleich zu Anfang bemerkt, dass man keine Minderwertigkeitskomplexe
zu bekommen braucht, wenn man bei den meisten Beweisen das Gefühl hat, man
wäre auf diesen Beweis auch bei jahrelangem Nachdenken nicht selbst gekommen.
Sinn und Zweck des Vertiefungskurses ist, unter anderem das Beweisen zu lernen.
Dazu muss man erst eine ganze Reihe von Beweisen gesehen und verstanden haben – das gleiche gilt in der Musik: bevor man beginnt, eigene Lieder zu schreiben,
muss man in der Regel schon Hunderte von Lieder kennen, und selbst dann ist
nicht garantiert, dass eigene Versuche etwas Hörbares hervorbringen. Zum Trost
sei gesagt, dass man auch aus Fehlern lernt, und zwar oft mehr als durch didaktisch perfekt vorgetragene Musterlösungen. Ebenfalls sei bemerkt, dass es oft
die einfachen Dinge sind, deren Beweis uns am meisten zu schaffen macht. Mein
Paradebeispiel dafür ist folgende
Aufgabe 1.1. Zeige, dass eine Gerade, die nicht durch die Ecken A, B, C eines
Dreiecks geht, das Dreieck in höchstens zwei Seiten schneidet.
Das ist eine sehr einfache Aussage, bei der wohl die allermeisten nach einigem Nachdenken aufgeben und “das ist doch offensichtlich” murmeln. Den wunderschönen und einfachen Beweis geben wir am Ende dieses Kapitels.
1.1 Distributivgesetz und Binomische Formeln
Wir schauen uns daher eine der einfachsten Formeln an, die man sich denken
kann: das Distributivgesetz a(b+c) = ab+ac. Die Terme auf der rechten Seite sind
Flächen von Rechtecken (genauer: sie lassen sich als Flächeninhalte von Rechtecken
interpretieren), ebenso wie der Term auf der linken Seite. Geometrisch haben wir
also folgende Situation:
Der Flächeninhalt des großen Rechtecks
ist a(b + c), die Summe der Flächeninhalte der beiden kleinen Rechtecke dagegen ab + ac. Also muss a(b + c) =
ab + ac sein.
Die Richtigkeit des Distributivgesetzes ist etwas, das der Rechenerfahrung3
entspringt: man kann 2(3 + 4) eben auf zwei verschiedene Arten ausrechnen, und
3
Eine solche Erfahrung eignet man sich sicherlich nicht dadurch an, indem man schon
als Grundschüler lästige Rechnung (welche Rechnung ist das nicht?) mit dem Taschenrechner erledigt, wie das manche Didaktiker ohne Unterrichtserfahrung glauben
predigen zu müssen.
12
1. Thales, Pythagoras, Euklid
sowohl 2 · 7, als auch 2 · 3 + 2 · 4 liefert dasselbe Ergebnis. Die geometrische Interpretation verstärkt die Überzeugung, dass es gar nicht ander sein kann, da eine
Gleichung wie a(b+c) = ab+c jetzt schon aus Dimensionsgründen (auf der rechten
Seite wird eine Fläche und eine Länge addiert) Unsinn sein muss.
Ganz ähnlich funktioniert der Fall mit mehreren Summanden:
Hier ist offensichtlich
(a + b)(c + d) = ac + bc + ad + bd.
Ein Spezialfall davon ist die binomische Formel; diese steht in Euklids zweitem
Buch als Proposition IV:
Wird eine Strecke beliebig in zwei Teile geteilt, so ist das Quadrat auf der
ganzen Strecke gleich den Quadraten auf den Teilen und dem doppelten
von den beiden Segmenten gebildeten Rechteck.
Wird die Strecke AB in zwei Teile AF und FB
geteilt, so ist das Quadrat mit Kantenlänge
AB gleich den Quadraten mit Kantenlängen
AF und FB und dem doppelten Rechteck mit
den beiden Kantenlängen AF und FB.
2
2
2
Symbolisch: AB = AF + 2AF · AB + F B .
Mit AB = AF + F B also
2
2
(AF + F B)2 = AF + 2AF · AB + F B .
Aufgabe 1.2. Veranschauliche die Formel (a − b)(c − d) = ac + bd − ad − bc
geometrisch.
Aufgabe 1.3. Veranschauliche die Formel a(b + c + d) = ab + ac + ad geometrisch.
Aufgabe 1.4. Veranschauliche die Formel (a+b+c)2 = a2 +b2 +c2 +2ab+2ac+2bc
geometrisch.
Aufgabe 1.5. Veranschauliche die Formel (a + b)3 = a3 + 3a2 b + 3ab2 + b3 geometrisch.
Die folgende Aufgabe wird später (Aufg. 1.51) auf Parallelogramme verallgemeinert werden (und ist ebenfalls in Euklids Elementen zu finden):
1.1 Distributivgesetz und Binomische Formeln
13
Aufgabe 1.6. In einem Rechteck ABCD (sh. Skizze) liegt der Punkt S auf der
Diagonale AC. Zeige, dass die Rechtecke EBFS und GDHS den gleichen Flächeninhalt besitzen. Zeige weiter, dass S genau dann auf der Diagonalen liegt, wenn
die Steigungen der Geraden AS und SB gleich sind.
Zeige damit, dass die Flächengleichheit die folgende algebraische Identität repräsentiert:
d
c
= .
(1.1)
ad = bc ⇐⇒
a
b
Noch einmal: der Sinn von Aufg. 1.6 ist nicht, die Identität (1.1) zu beweisen.
Vielmehr wollen wir damit zeigen, dass sich (1.1) geometrisch interpretieren lässt.
Aufgabe 1.7. Zeige, dass ein Rechteck durch seine Diagonalen in vier Dreiecke
mit dembselben Flächeninhalt zerlegt wird.
Anwendungen binomischer Formeln
Die binomischen Formeln lassen sich oft anwenden, um Rechnungen zu sparen. So
ist z.B.
29 · 31 = (30 − 1)(30 + 1) = 900 − 1 = 899,
und die Gleichung
652 = (60 + 5)2 = 602 + 10 · 60 + 52 = 60(60 + 10) + 25 = 60 · 70 + 25
zeigt, dass man 652 = 4225 erhält, wenn man an 6 · 7 = 42 eine 25 anhängt.
Aufgabe 1.8. Zeige, dass man das Quadrat der Zahl a5 = 10a + 5 (für Ziffern
1 ≤ a ≤ 9) dadurch erhält, dass man an die Zahl a(a + 1) ein 25 anhängt.
14
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Auch beim Lösen quadratischer Gleichungen kann man hin und wieder binomische Formeln gewinnbringend anwenden: um 3x2 + 13x + 12 = 0 zu lösen, muss
man b2 − 4ac = 132 − 4 · 3 · 12 ausrechnen:
132 − 4 · 3 · 12 = 132 − 122 = (13 − 12)(13 + 12) = 25.
Derselbe Trick funktioniert, wenn in der Diskriminante4 b2 − 4ac der quadratischen Gleichung ax2 + bx + c = 0 das Produkt ac = m2 ein Quadrat ist. Dann
ist nämlich b2 − 4ac = b2 − 4m2 = (b − 2m)(b + 2m). Damit man die Wurzel (im
Kopf) ziehen kann, muss auch b2 − 4m2 = (b − 2m)(b + 2m) ein Quadrat sein.
Setzt man z.B. b − 2m = 9 und b + 2m = 25 an, so findet man (durch Addition
der beiden Gleichungen) b = 17, und dann nacheinander m = 4, also ac = 16 und
z.B. a = 2 und c = 8. Damit haben wir die Gleichung 2x2 + 17x + 8 = 0, die man
mit obigem Trick einfach lösen kann.
Aufgabe 1.9. Erfinde fünf weitere quadratische Gleichungen, bei denen man die
dritte binomische Formel wie eben einsetzen kann.
Das schriftliche Ziehen von Quadratwurzeln wurde im letzten Jahrhundert noch
unterrichtet; der entsprechende Algorithmus ist auf den binomischen Formeln aufgebaut. Wir begnügen uns hier mit einer Näherung, mit der man in der Praxis
meist auskommt: aus der binomischen Formel (1 + 21 a)2 = 1 + a + 14 a2 kann man
1
erkennen, dass wenn a klein ist, der Term 41 a2 noch viel kleiner ist. Ist z.B. a = 10
,
1 2
1
1 2
1
1
so ist 4 a = 400 . Das bedeutet, dass (1 + 20 ) = 1 + 10 + 400 ist und damit
1,052 ≈ 1,1. Dass a klein ist, ist dabei in genau diesem Sinne zu verstehen: je
kleiner a gegenüber 1 ist, um so genauer ist die Näherung. Allgemein gilt:
Satz 1.1. Für betragsmäßig kleine Werte von a gilt
√
a
1+a≈1+ .
2
Damit findet man z.B.
r
r
√
26
1
1
1
26 = 5
=5 1+
≈5 1+
= 5, 1;
=5+
25
25
50
10
√
der Taschenrechner gibt 26 ≈ 5.09902.
√
√
Aufgabe 1.10. Berechne eine Näherung für 27 und 65.
√
Aufgabe 1.11. Finde eine Näherung für 1 − a für kleine Werte von a.
√
√
Aufgabe 1.12. Berechne Näherungen für 24 und 63.
√
√
Aufgabe 1.13. Berechne eine Näherung für a2 + 1 und a2 − 1.
4
Die Diskriminante einer quadratischen Gleichung ax2 + bx + c = 0 ist der Ausdruck
D = b2 − 4ac unter der Wurzel, die in der Lösungsformel auftaucht.
1.1 Distributivgesetz und Binomische Formeln
15
√
√
Aufgabe
1.14.
Berechne eine Näherung für a3 + 1 und a3 − 1, insbesondere
√
√
für 3 28 und 3 28. Hinweis: benutze die binomische Formel aus Aufg. 1.5.
Aufgabe 1.15. Sind a und b reelle Zahlen mit 0 ≤ b ≤ 2a + 1, dann ist
p
a ≤ a2 + b ≤ a + 1.
Aufgabe 1.16. Die Ungleichungen in der vorhergehenden Aufgabe lassen sich
deutlich verschärfen (vgl. das Heron-Verfahren im nächsten Kapitel); zeige, dass
für a, b > 0 die Ungleichungen
a+
p
b
b
< a2 + b < a +
2a + 1
2a
gelten.
Auch die nächsten drei Aufgaben sind leicht, wenn man sich an die binomischen
Formeln erinnert:
Aufgabe 1.17. Sei a + b = 3 und ab = 1; berechne a2 + b2 .
Aufgabe 1.18. Sei a − b = 2 und ab = 2; berechne a2 + b2 .
Aufgabe 1.19. Sei x2 + y 2 = 4 und x4 + y 4 = 16. Berechne x und y.
In der Mathematik kommt es oft darauf an, etwas “zu sehen”; meistens ist es
kein entdeckendes Sehen, sondern ein “wiedererkennendes”. Mit anderen Worten:
wenn man bei einem Problem nicht weiter weiß, sollte man nach Hinweisen suchen,
die einem bekannt vorkommen.
Aufgabe 1.20. Zeige, dass unter den Zahlen n4 + 4 nur n = 1 eine Primzahl
liefert.
Unter den Zahlen n2 + 4 kommen viele Primzahlen vor (vermutlich unendlich
viele, auch wenn das noch niemand beweisen kann), d.h. wir müssen die vierte
Potenz ausnutzen. Aber wie? Die Lösung findet man erst, wenn man an die binomischen Formeln denkt und versucht, n4 + 4 zu einem Quadrat zu ergänzen:
n4 + 4 = n4 + 4n2 + 4 − 4n2 = (n2 + 2)2 − 4n2 . Und bei Differenzen zweier Quadrate5 muss man, ob man will oder nicht, an die dritte binomische Formel denken.
Der Rest ist dann ein Kinderspiel.
Aufgabe 1.21. Zahlen der Form An = 24n+2 + 1 besitzen eine Zerlegung in
zwei etwa gleich große Faktoren. Finde diese Zerlegung (diese ist nach Aurifeuille
benannt).
Benutze diese Zerlegung, um die Primfaktorzerlegung von 242 + 1 zu finden.
5
An dieser Stelle wird benutzt, dass n2 ein Quadrat ist; ersetzt man n4 durch n2 , geht
es an dieser Stelle nicht weiter.
16
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Aufgabe 1.22. (Fürther Mathematikolympiade 2010) Zeige, dass die Summe aus
dem Produkt vier aufeinanderfolgender ungerader Zahlen und 16 eine Quadratzahl
ist.
Hinweis: es ist vorteilhaft, die vier ungeraden Zahlen mit 2n − 3, 2n − 1, 2n + 1
und 2n + 3 zu bezeichnen.
Wir haben oben ausführlich die Formel F = ab für
den Flächeninhalt eines Rechtecks mit Seitenlängen
a und b benutzt. Im folgenden werden wir auch die
Formel F = g · h für den Flächeninhalt eines Parallelogramms mit Grundseite g und Höhe h brauchen.
Die nebenstehende Skizze zeigt, wie sich dies auf den
Fall von Rechtecken zurückführen lässt.
Die allermeisten werden von diesem Beweis überzeugt sein; tatsächlich gibt
es aber ein kleines Problem: ist die Grundseite zu kurz, funktioniert der Beweis
nicht mehr! Die Lösung: verlängert man das Parallelogramm um eines, bei dem der
Beweis funktioniert, dann erhält man den Inhalt des “zu kleinen” Parallelogramms
als Differenz von zweien, die “groß genug” sind.
Aufgabe 1.23. Führe den Beweis der Formel F = g · h im Falle “zu kleiner”
Grundseiten im Detail aus.
Aufgabe 1.24. Beweise die Formel F = a+c
2 · h für ein Trapez mit Höhe h, deren
parallele Seiten die Längen a und c haben.
Die nächste Aufgabe ist ganz einfach, wenn man AB = a, BC = b und CD = c
setzt und einfach rechnet:
Aufgabe 1.25. Seien A, B, C, D vier aufeinanderfolgende Punkte auf einer Geraden. Zeige, dass
AB · BD + BC · AD = AC · BD
gilt.
1.2 Der Satz des Pythagoras
Das Schöne an dem geometrischen Beweis der binomischen Formel ist die Tatsache, dass dieselbe Idee auch den Satz des Pythagoras liefert. Pythagoras wurde
zwischen 600 und 570 v. Chr. auf Samos (eine Insel vor der heutigen Türkei) geboren, bereiste Ägypten und Babylon (im heutigen Irak gelegen; damals hieß dieses
Land noch Mesopotamien, das Land “zwischen den Flüssen” Euphrat und Tigris)
und gründete um 530 in Unteritalien den Orden der Pythagoreer. 20 Jahre später
wurde er von dort vertrieben und ging nach Metapont. Pythagoras war jünger
1.2 Der Satz des Pythagoras
17
als der “erste” griechische Mathematiker, Thales6 von Milet. Thales werden einige
Sätze zugeschrieben7 : der Satz des Thales, wonach jeder Winkel im Halbkreis ein
rechter ist; in gleichschenkligen Dreiecken sind die Basiswinkel gleich; der Strahlensatz; vor allen Dingen soll Thales aber den ersten “Beweis” gegeben haben: er
hat also die Entdeckung gemacht, dass man mathematische Sätze durch Überlegungen auf einfachere Tatsachen zurückführen kann. Thales konnte seine Sätze
auch anwenden: er hat den Strahlensatz benutzt, um die Höhe von Pyramiden
oder die Entfernungen von Schiffen auf dem Meer zu messen.
Ist nun ein rechtwinkliges Dreieck mit den Katheten a und b und der Hypotenuse c gegeben, so kann man sich, wie das nächste Diagramm zeigt, aus 4 solcher
Dreiecke ein Quadrat basteln.
Das Viereck in der Mitte ist ein Quadrat: zum einen
hat es vier gleich lange Seiten, zum andern sind alle
Winkel rechte. Das folgt daraus, dass die Winkel im
Dreieck wegen γ = 90◦ der Gleichung α + β = 90◦
genügen.
Der Flächeninhalt des großen Quadrats ist einerseits
(a + b)2 = a2 + 2ab + b2 (binomische Formel!), ande2
rerseits gleich c2 + 4 ab
2 = c + 2ab. Gleichsetzen und
2
Wegheben von 2ab liefert a + b2 = c2 , also den
Satz 1.2 (Satz des Pythagoras). In einem rechtwinkligen Dreieck mit den Katheten a und b und der Hypotenuse c gilt
a2 + b2 = c2 .
Der Satz des Pythagoras ist sicherlich der Klassiker unter den Sätzen der Mathematik, und mit Abstand der bekannteste. Er dürfte auch einer der ältesten sein,
und wurde schon von den Babyloniern benutzt. Auch den Ägyptern wird nachgesagt, dass deren “Seilspanner” (das waren Leute, die z.B. beim Bau der Pyramiden
für gerade Linien und rechte Winkel zu sorgen hatten) ein Seil benutzten, in welchem Knoten im Abstand von 3, 4 und 5 Einheiten angebracht waren, um mit
6
7
Thales (ca. 640 bis 550 v. Chr.) galt als einer der sieben Weisen Griechenlands. Er
reiste nach Babylon und Ägypten, und erlangte außer wegen seiner mathematischen
Leistungen Weltruhm durch die Vorhersage einer Sonnenfinsternis, vermutlich derjenigen von 585 v. Chr.
Die “Beweislage” ist allerdings mehr als dürftig: die erste derartige Zuordnung findet
sich erstmals einige Jahrhunderte nach Thales. Entsprechendes gilt für viele andere derartige Behauptungen. Insbesondere ist unklar, ob Pythagoras selbst etwas mit
seinem Satz zu tun hatte. Von Apollodoros (Mitte 4. Jhdt. v. Chr.) stammt ein Epigramm, wonach Pythagoras Stiere geopfert haben soll, nachdem er “die berühmte
Zeichnung” gefunden habe. Auf der andern Seite glauben wir zu wissen, dass Pythagoreer Tieropfer abgelehnt haben, und es ist auch unklar, auf welche Zeichnung sich
diese Verse beziehen.
18
1. Thales, Pythagoras, Euklid
diesem rechtwinkligen Dreieck dann rechte Winkel abzustecken (Historiker hegen
daran allerdings große Zweifel; in jedem Falle ist uns kein Dokument bekannt, in
dem diese Technik beschrieben wäre.).
Eine Standardfrage, die man sich bei jedem Ergebnis, das wir beweisen werden,
stellen sollte, ist die folgende: kann ich den Beweis des Satzes auf einem anderen
Weg, vielleicht in einem Spezialfall nachvollziehen, oder sogar einen einfacheren
finden? Im vorliegenden Fall beispielsweise könnte man sich fragen, ob der Beweis
sich vereinfacht, wenn man annimmt, dass beide Katheten gleich groß sind:
Aufgabe 1.26. Betrachte den obigen Beweis des Satzes von Pythagoras im Falle
a = b. Skizze! Kann man die Quadrate a2 und b2 “sehen”, z.B. indem man Dreiecke
geeignet verschiebt?
Während der Satz des Pythagoras heute
als Satz über Längen von Dreiecksseiten
aufgefasst wird, war er früher eher ein Satz
über Flächen:
Satz des Pythagoras. In einem rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der Quadrate über den Katheten gleich dem Quadrat über der Hypotenuse.
Dabei war mit “Quadrat” dessen Flächeninhalt gemeint.
Der Beweis des Satzes von Pythagoras kommt auch ohne binomische Formeln
aus, wenn man deren geometrischen Beweis mit einbaut: die dunkel schraffierte
Fläche des Quadrats links hat Inhalt c2 , während die beiden dunklen Quadrate
rechts Flächeninhalt a2 + b2 besitzen. Beide Flächeninhalte müssen aber gleich
sein, weil sie in beiden Fällen diejenige Fläche geben, die das große Quadrat minus
die vier rechtwinkligen Dreiecke ergeben.
Aufgabe 1.27. Beweise den Satz des Pythagoras durch Berechnen des Flächeninhalts des großen Quadrates auf zwei Arten. Zu zeigen ist auch, dass die Innenwinkel
des großen Vierecks allesamt rechte Winkel sind.
1.2 Der Satz des Pythagoras
19
Dieser Beweis geht auf den indischen Mathematiker Bhaskara aus dem 12. Jahrhundert
zurück, war aber bereits viel früher chinesischen Mathematikern bekannt; er findet sich
nämlich in dem Buch Chou Pei Suan Ching,
das zwischen 300 v.Chr. und 200 n.Chr. erschienen ist. Wie sieht der Beweis im Spezialfall a = b aus?
Es gibt, wie schon gesagt, eine riesige Anzahl von Beweisen des Satzes von
Pythagoras (es gibt eine Sammlung von Loomis [18] auf Englisch, und eine weniger
umfangreiche von Lietzmann [16]. Die drei folgenden Beweise stammen aus dem
Schulbuch [2], das zwar kaum 30 Jahre alt ist, sich aber liest wie ein Zeugnis aus
einem vergangenen Jahrhundert, weil es – im Gegensatz zu Schulbüchern von heute
– vollgestopft ist mit richtiger Mathematik und einer, für heutige Verhältnisse,
Unmenge von Aufgaben.
Aufgabe 1.28. Erkläre den Beweis von Nairizi8 .
Sucht man im Internet nach den Stichworten Pythagoras und da Vinci, findet
man eine Unmengen von Seiten, die den folgenden Beweis des Satzes von Pythagoras Leonardo da Vinci9 zuschreiben. Keine einzige dieser Seiten gibt aber einen
Hinweis darauf, wo da Vinci diesen Beweis veröffentlicht haben soll – in der Regel
ist in solchen Situationen Vorsicht angebracht. zuschreiben.
Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass dieser Beweis von Terquem [33, S. 103–104]
veröffentlicht wurde, und zwar mit den Worten
8
9
Abu-l-Abbasal-Fadlibn Hatim an-Nairizi war ein arabischer Mathematiker und Astronom, der um 900 n.Chr. in Bagdad lebte.
Leonardo da Vinci, 1452–1519, geboren wurde er in Anchiano bei Vinci in der Toskana.
20
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Le théorème de Pythagore étant très-important, nous en donnons ici une
nouvelle démonstration uniquement fondée sur la superposition des figures.
Aufgabe 1.29. Erkläre den Beweis von da Vinci und Terquem. Als Hilfe ist unten
das französische Original mit abgedruckt.
L’angle BAG étant droit, construisant le
carré ABCD et le carré AEFG, menant les
deux hypothénuses BG, DE, la somme des
deux carrés sera équivalente à l’hexagone
CDEFGB, moins les deux triangles rectangles
égaux ABG, ADE; construisant le carré
BGLM, et sur LM le triangle LMN égal á
ABG at dans une position renversée, on aura un second hexagone BAGMNL équivalant
au premier. En effet, menons AN et les diagonales CA, AF formant la droite CAF; les
quadrilatères CDEF, AGMN, sont égaux, car
MN = CD; angle NMG = angle CDE; GM =
DE; angle MGA = [angle] DEF; EF = AG.
On prouve de même que les quadrilatères ABLN, CBGF, sont égaux, donc les
deux hexagones sont équivalens;10 retranchant de chacun les triangles égaux, il
reste d’un coté la somme des deuc carrés AC, AF, et de l’autre de carré GL; donc
on a
BGLM = ABCD + AGEF,
ou
BG2 = AB 2 + AG2 .
Aufgabe 1.30. Erkläre den Beweis von Baravalle11 . Dieser Beweis ist dem Euklidischen ganz ähnlich; der wesentliche Unterschied ist, dass das Kippen der Figur
bei Euklid hier ersetzt wird durch ein Verschieben:
10
11
Ob die drei verschiedenen Schreibweisen von équivalent nahelegen, dass es damals
(1809) eine kanonische Rechtschreibung nicht gab, oder ob nur dieses Buch schlampig
geschrieben wurde, weiß ich nicht.
Hermann von Baravalle, 1898 – 1973. Baravalle war ab 1920 Lehrer an Deutschlands
erster Waldorfschule in Stuttgart, die 1919 von Rudolf Steiner gegründet worden war.
1937 emigrierte er in die USA und kehrte erst kurz vor seinem Tod wieder nach
Deutschland zurück. In seinen Biographien im Netz findet man gelegentlich Hinweise
darauf, dass er seine mathematischen Vorträge durch “Gestik und Tanz” untermalte;
ich kann der Vorstellung einiges abgewinnen, dass man damals auf Waldorfschulen
nicht seinen Namen getanzt hat, sondern den Satz des Pythagoras.
1.2 Der Satz des Pythagoras
21
Aufgabe 1.31. Beschreibe den Beweis des Satzes des Pythagoras, den die folgenden vier Diagramme nahelegen. Dieser Beweis aus Indien stammt aus dem 10.
Jahrhundert und hat den Namen “Der Brautstuhl”.
Zu zeigen ist, dass das Quadrat mit Kantenlänge c den gleichen Flächeninhalt
hat wie die beiden Quadrate mit Kantenlängen a bzw. b zusammen.
Das Curry-Dreieck
Diese “Beweise durch Verschieben” sind etwas tückisch, weil die Anschauung dafür
sorgt, dass manche Dinge als “offensichtlich” angesehen werden, die es nicht sind.
Als schlagenden Beweis dafür sei hier das “Curry Triangle” genannt.
22
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Die Diagramme unten (Fig. 1.1) zeigen zwei “kongruente” Dreiecke, bei denen
Verschiebungen zu einem Flächenzuwachs geführt haben. Hier sind die Dreiecke
schon so sauber gezeichnet, dass man sofort sieht, wo der Hase im Pfeffer liegt. Im
Internet kann man Zeichnungen finden, die so “geschickt” gezeichnet sind, dass
man auf den ersten Blick nicht erkennen kann, was passiert.
Fig. 1.1. Das Curry-Dreieck
Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass das Dreieck gar keines ist, und
auch keines sein kann: denn dazu müsste nach dem Strahlensatz das Verhältnis
der Katheten in den beiden linken Dreiecken gleich sein: diese sind aber 12 : 5 im
einen und 7 : 3 im andern Dreieck.
Benannt ist das Curry-Dreieck übrigens nach einem amerikanischen Amateurmathematiker; der wesentliche Gehalt dieses Paradoxons wurde aber schon von
Schlömilch Ende des 19. Jahrhunderts erkannt (siehe [29]), dessen Beispiel aus einem Quadrat der Seitenlänge 8 und einem Rechteck mit den Seitenlängen 5 und
13 bestand. Dasselbe Paradoxon hat der für seine Puzzles berühmte Amerikaner
Sam Loyd12 nach eigenen Angaben (aus dem Jahre 1914) im Jahr 1858 auf dem
ersten amerikanischen Schachkongress entdeckt und vorgetragen.
12
Hier ist eine sehr hübsche Aufgabe von Sam Loyd:
“Diese beiden Truthähne wiegen zusammen 20 Pfund”, sagt der Metzger. “Der
kleine kostet pro Pfund 2 cent mehr als der große”. Mrs. Smith kaufte den
kleineren für insgesamt 82 cent, Mrs. Brown zahlte für den großen 2 Dollar
und 96 cent. Wie viel haben die beiden Truthähne gewogen?
Man stellt schnell fest, dass diese beiden Gleichungen nicht ganz einfach zu lösen sind
– wir werden darauf noch zurückkommen.
1.2 Der Satz des Pythagoras
23
Bei diesem Puzzle wird ein Schachbrett mit 8 × 8 = 64 so zerschnitten, dass
nach dem Zusammensetzen ein Rechteck mit 5 × 13 = 65 Feldern entsteht (sh.
Fig. 1.2).
Fig. 1.2. Das Beispiel Schlömilchs
Des Rätsels Lösung kommt man näher, wenn man die obige Zeichnung, bei der
etwas “gemogelt” wurde, genauer zeichnet:
In der ersten Zeichnung wurde erst die Diagonale eingezeichnet, dann die Punkte auf der Diagonale in die Nähe der jeweiligen Gitterpunkte gesetzt. In der zweiten Zeichnung wurden erst die Gitterpunkte gesetzt und dann die Punkte durch
Strecken verbunden. Man sieht, dass diese keine Diagonale bilden, weil die entsprechenden “Steigungen” gleich − 25 , − 13 und wieder − 52 sind. Die Dreiecksteile,
die man aus dem Quadrat ausgeschnitten hat, passen daher nicht zusammen, sondern lassen etwas Zwischenraum frei, was dazu führt, dass es vermeintlich einen
Flächenzuwachs von einem Kästchen gegeben hat.
Die Zahlen 5, 8 und 13 übrigens sind nicht aus Zufall Fibonacci-Zahlen, also
Zahlen aus der Reihe 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, . . . , in der jede Zahl die Summe der beiden
vorhergehenden ist; vielmehr liegt das an der Identität 5 · 13 = 82 + 1, die man
8
1
auch in der Form 13
8 = 5 + 40 schreiben kann, welche erklärt, warum der Betrug
fast unsichtbar ist.
Aufgabe 1.32. Eine kleinere Variante desselben Paradoxons erhält man aus den
Fibonacci-Zahlen 3, 5 und 8, bei denen 3 · 8 = 52 − 1 ist. Konstruiere ein solches
Paradoxon. Warum ist diese Variante weniger zum Hereinlegen geeignet?
24
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Auch bei den einfachen Verschiebungsbeweisen oben haben wir das ein oder
andere Detail “übersehen”; allerdings lassen sich alle unsere Unterlassungssünden
leicht beheben.
Euklids Beweis
Der erste Beweis für den Satz des Pythagoras, den man in Euklids Elementen findet, ist aufwendiger13 als die obigen, hat aber einen ganz eigenen Charme. Euklids
Beweis benutzt lediglich die Tatsache, dass Dreiecke mit der gleichen Grundseite und der gleichen Höhe auch die gleiche Fläche haben. Diese eigentlich triviale
Beobachtung wird so oft angewendet, bis am Ende etwas ganz und gar nicht Offensichtliches steht, nämlich in unserem Falle Euklids Proposition 47 in Buch I,
der
Satz des Pythagoras. In einem rechtwinkligen Dreieck ist das auf der Hypotenuse errichtete Quadrat gleich der Summe der beiden Quadraten auf den Katheten.
In früheren Zeiten hieß diese Proposition die Eselsbrücke14 (pons asinorum auf
Latein, le pont aux ânes auf Französisch, und the asses’ bridge auf Englisch). Die
meisten Quellen beziehen die “Eselsbrücke” aber auf Proposition V (im ersten
Buch), wonach Basiswinkel eines gleichschenkligen Dreiecks gleich sind; dieses Resultat wurde Eselsbrücke genannt, weil es diejenige Proposition in Euklids Büchern
war, bis zu der es auch “Esel” schafften.
Wir werden mit Euklid zeigen, dass das Rechteck ADEF den gleichen Flächeninhalt besitzt
wie das Quadrat auf AC. Entsprechend hat
das Rechteck BGEF demselben Flächeninhalt
wie das Quadrat auf BC. Also ist der Flächeninhalt des Quadrats auf AB (also der Summe der Flächeninhalte der beiden Rechtecke)
gleich der Summe der Flächeninhalte der Quadrate auf den Hypotenusen.
Zum Beweis beachten wir, dass die Hälfte des
Flächeninhalts von ADEF gleich dem Flächeninhalt des Dreiecks ADF ist.
13
14
A propos aufwendig: nach der Rechtschreibreform hat sich nun ja die Schreibweise aufwändig durchgesetzt, angeblich weil das Wort von Aufwand kommen soll.
Tatsächlich stammt es vom Wort “aufwenden” (nicht aufwänden!) ab, und dieses hat
mit dem Wortstamm Wand nichts, aber auch gar nichts zu tun. Vielmehr ist das altdeutsche Wort wenden mit gehen verwandt, was man an der Vergangenheitsform von
“to go” im Englischen (“went”, nicht “want”) noch sehen kann. Dagegen kommt das
Wort mühselig eindeutig von Mühsal, wird aber trotzdem nicht mühsälig geschrieben.
Ich warte auf den Tag, an dem Schüler den Wändepunkt eines Grafen bestimmen
werden.
Der Beweis von Garfield, den wir unten besprechen werden, wurde unter dem Titel
“pons asinorum” veröffentlicht.
1.2 Der Satz des Pythagoras
25
Dieses Dreieck ADF hat dieselbe Grundseite AD und die gleiche Höhe AF wie
das Dreieck ACD. Letzteres wiederum ist kongruent zum Dreieck ABH, wie man
durch Drehung um 90◦ feststellt. Das Dreieck ABH hat dieselbe Grundseite AH
und die gleiche Höhe AC wie das Dreieck ACH. Dieses wiederum ist die Hälfte des
Quadrats auf der Kathete AC.
In der Tat ist
^CAD = ^CAB + ^BAD = α + 90◦ ,
^HAB = ^HAC + ^CAB = 90◦ + α,
folglich stimmen die beiden Dreiecke HAB und CAD in den beiden Seiten HA =
CA und AB = AD, sowie im eingeschlossenen Winkel überein und sind damit wie
behauptet kongruent.
Eigentlich ist der Euklidische Beweis gar nicht sooo undurchsichtig. Wer sich
die Wörter “Strecken, Kippen, Stauchen” merken kann, wird auch diesen Beweis
behalten können.
26
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Es sei auch bemerkt, dass der euklidische Beweis viel mehr zeigt als nur den
Satz des Pythagoras: die Strecke AF von A bis zum Lotfußpunkt F von C nennt
man traditionell p (vgl. Fig. 1.3); Euklids Beweis zeigt, dass das Rechteck mit den
Seiten p und c denselben Flächeninhalt besitzt wie das Quadrat über a. Dies ist
der Inhalt des Kathetensatzes:
Satz 1.3 (Kathetensatz). In einem rechtwinkligen Dreieck gilt a2 = pc und b2 =
qc.
In Prop. 48 des ersten Buches von Euklid findet man übrigens auch die Umkehrung des Satzes von Pythagoras:
Satz 1.4 (Umkehrung des Satzes von Pythagoras). Ist das Quadrat, das auf einer Seite eines Dreiecks errichtet ist, geich den Quadraten auf den beiden andern
Seiten, dann ist der Winkel zwischen den beiden letzten Seiten ein rechter.
Sei nämlich ABC ein Dreieck derart, dass das Quadrat auf der Seite BC gleich
der Summe der Quadrate über AB und AC ist. Dann, so sagt Euklid, ist der Winkel
^BAC ein rechter. Dazu wählen wir auf dem Lot zu AC durch A einen Punkt D
mit AD = AB und verbinden D mit C. Wegen AD = AB ist das Quadrat über AD
gleich demjenigen über AB. Addieren wir dazu je das Quadrat über AC, so folgt
2
2
2
2
2
2
2
DA + AC = BA + AC . Nach dem Satz des Pythagoras ist DC = DA + AC ,
2
2
2
2
2
und nach Voraussetzung ist BC = BA + AC . Also ist DC = BC und damit
DC = BC.
Die beiden Dreiecke ACD und ACB stimmen daher in allen drei Seiten überein
und sind somit kongruent 15 . Also stimmen auch die Winkel überein, und es folgt
^BAC = ^DAC, und der letzte Winkel ist ein rechter. Das war zu zeigen.
Der Beweis des Präsidenten
Für den nächsten Beweis des Satzes von Pythagoras brauchen wir den Flächeninhalt eines Trapezes. Wir beginnen mit dem Fall, in dem ein Winkel im Trapez ein
rechter ist:
Offenbar ist der gesuchte Flächeninhalt gleich der
Summe der Fläche des
Rechtecks und des rechtwinkligen Dreiecks.
Wir finden so
15
Kongruent bedeutet “deckungsgleich”: kongruente Dreiecke lassen sich durch Verschieben, Drehen und Spiegeln ineinander überführen, stimmen also in allen Seiten und
Winkeln überein.
1.2 Der Satz des Pythagoras
27
1
ch − ah
2ah + ch − ah
ah + ch
a+c
A = ah + (c − a)h = ah +
=
=
=
· h.
2
2
2
2
2
Aufgabe 1.33. Zeige, dass die Formel a+c
2 · h für
den Flächeninhalt eines Trapezes auch dann gilt,
wenn das Trapez keinen rechten Winkel hat.
Aufgabe 1.34. Berechne den Flächeninhalt des
Trapezes im rechten Diagramm auf zwei verschiedene
Arten und folgere den Satz des Pythagoras.
Dieser Beweis geht im wesentlichen auf Saunderson
(1740) zurück und wurde 1876 von J.A. Garfield [7]
wiederentdeckt; dieser wurde später der 20. Präsident der USA und gehört zu den fast 10% aller USamerikanischen Präsidenten, die bei einem Attentat
ums Leben kamen.
Im Garfieldschen Beweis16 muss man natürlich zeigen, dass die beiden Seiten
der Länge c einen rechten Winkel bilden, wenn man a und b so hinlegt, dass sie auf
einer Geraden liegen. Oder man legt die Seiten c im rechten Winkel, muss dann
aber nachweisen, dass a und b auf einer Geraden liegen.
Aufgabe 1.35. [4, S. 21] Sei ABC ein beliebiges Dreieck und D der Mittelpunkt
2
2
2
2
von AB. Zeige, dass AC + BC = 2AD + 2CD gilt.
Aufgabe 1.36. [4, S. 22] Sei ABCD ein Parallelogramm. Zeige, dass
2
2
2
2
2
2
AC + BD = AB + BC + CD + DA
gilt.
Diese Aufgabe kann man auf zwei Arten lösen: entweder man wendet das Ergebnis von Aufg. 1.35 auf die durch eine Diagonale erzeugten beiden Teildreicke
des Parallelogramms an, oder man zeichnet die Parallele durch C zu BD (diese schneidet die Gerade AB in E) und wendet das Ergebnis der vorhergehenden
Aufgabe auf diese Situation an.
Das folgende Resultat hat Euler (und nach ihm viele andere) entdeckt:
Aufgabe 1.37. [4, S. 22] Sei ABCD ein Viereck, und seien E und F die Mittelpunkte der Diagonalen AC bzw. BD. Dann gilt
2
2
2
2
2
2
AB + ovBC 2 + CD + DA = AC + BD + 4EF .
Welchen Satz erhält man hieraus im Falle eines Parallelogramms, welchen im Falle
eines Rechtecks?
16
Oder, mit Deppenapostroph, in Garfield’s Bewei’s.
28
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Hinweise: Wendet man Aufg. 1.35 auf die Teildreiecke ABD und BCD an, so
erhält man
2
2
2
2
2
2
AB + ovBC 2 + CD + DA = 2AF + 2CF + 4BF .
Der Trick besteht jetzt darin, Aufg. 1.35 auch auf das Dreieck AFC loszulassen;
wenn man dann noch beachtet, dass AC = 2AE ist, sollte es nicht mehr schwer
sein.
Aufgabe 1.38. [4, S. 23] In einem beliebigen Dreieck ABC mit Seitenmittelpunkten D = MAB , E = MBC und F = MAC gilt
2
2
2
2
2
2
3(AB + BC + CA ) = 4(AD + BE + CF ).
In üblichen Bezeichnungen (also mit AD = sa , der Länge der Seitenhalbierenden, usw.) lautet diese Formel
3(a2 + b2 + c2 ) = 4(s2a + s2b + s2c ).
Es ist klar, dass man Aufg. 1.35 auf die einzelnen Teildreiecke anwenden muss:
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
2
AB + AC = 2BE + 2AE ,
BC + BA = 2CF + 2BF ,
AC + BC = 2AD + 2CD .
Addition dieser Gleichungen liefert das Ergebnis, wenn man beachtet, dass auf der
rechten Seite AD = 12 AB etc. ist. Man kann Brüche vermeiden, wenn man die
Gleichung erst mit 2 multipliziert.
1.3 Der Höhensatz
Aus der eben bewiesenen Tatsache, dass das Rechteck ADEF und das Quadrat
ACIH den gleichen Flächeninhalt haben, folgt AF · c = a2 und F B · c = b2 , mit
p = AF und q = F B also
a2 b2
pq = 2 .
(1.2)
c
Der Flächeninhalt des Dreiecks ist einerseits 12 hc · c, andererseits 12 ab, woraus ab =
hc c folgt. Setzt man dies in (1.2) ein, folgt der
Satz 1.5 (Höhensatz). Im rechtwinkligen Dreieck gilt h2c = pq.
Aufgabe 1.39. Beweise den Höhensatz durch dreimaliges Anwenden des Satzes
von Pythagoras.
Hinweis: Wende Pythagoras auf die beiden Teildreiecke an, addiere die Gleichungen, und benutze Pythagoras für das große Dreieck.
1.3 Der Höhensatz
29
Fig. 1.3. Höhensatz samt Zerlegungsbeweis
Einen hübschen Beweis des Höhensatzes findet man in [16, S. 45]; er geht auf
K. Meitzner zurück. Die beiden rechtwinkligen Teildreiecke mit den Seiten a, q
und h bzw. b, p und h legen wir in ein großes Dreieck. Dabei ist zu beachten, dass
diese Dreiecke ähnlich sind, also die gleichen Winkel haben.
Offenbar sind die Teildreiecke in den nebenstehenden Dreiecken allesamt kongruent. Der Flächeninhalt des großen Dreiecks ist also einerseits h2 plus der Inhalt
der beiden Teildreiecke, andererseits pq plus der Inhalt der beiden Teildreiecke.
Also ist h2 = pq.
Aufgabe 1.40. Formuliere die Umkehrung des Höhensatzes.
Bei den nächsten beiden Aufgaben treten zwar trigonometrische Funktionen
auf, spielen aber nicht wirklich eine Rolle, sondern dienen nur als Gedankenstütze.
Aufgabe 1.41. Zeige am Dreieck in Fig. 1.3
sin β =
h
p
= ,
q
h
und leite daraus den Höhensatz her.
Aufgabe 1.42. Zeige am Dreieck in Fig. 1.3
cos α =
p
h
=
b
a
und
cos β =
q
h
= ,
a
b
und leite aus den resultierenden Gleichungen ap = bh und bq = ah den Höhensatz
her.
Aufgabe 1.43. Betrachte in Fig. 1.3 die beiden Dreiecke ACF und BCF. Drücke
das Verhältnis hp und hq durch trigonometrische Funktionen aus. Mit γ1 = ^ACF
und γ2 = ^BCF findet man so
pq
= tan γ1 · tan γ2 .
h2
Wegen γ1 = α und γ2 = β (Begründung!) kann man dies auch in der Form
30
1. Thales, Pythagoras, Euklid
pq
= tan α · tan β
h2
schreiben. Welche Behauptung muss man zeigen, um den Höhensatz auf diesem
Weg zu beweisen?
sin α
◦
Unter Benutzung von tan α = cos
α , sowie von sin(90 − α) = cos α und
◦
cos(90 − α) = sin α führe man den Beweis zu Ende.
Wie hängen die Ungleichungen h2 < pq bzw. h2 > pq mit dem Winkel γ
zusammen?
Aufgabe 1.44. In einem rechtwinkligen Dreieck, dessen Thaleskreis Radius r
hat, gilt immer h ≤ r. Zeige, dass r = p+q
ist, und leite daraus mit Hilfe des
2
Höhensatzes die Ungleichung
p+q √
≥ pq
(1.3)
2
von arithmetischem und geometrischem Mittel (für positive Zahlen p, q) her.
Aufgabe 1.45. Beweise die Ungleichung (1.3) von arithmetischem und geometrischem Mittel durch Rechnung (quadrieren, vereinfachen, binomische Formel).
Die beiden folgenden Aufgaben findet man (mit trignometrischen Lösungen)
in [11, Aufg. 35, 36]:
Aufgabe 1.46. Zeige, dass in einem rechtwinkligen Dreieck mit Katheten a und
b und der Höhe h = hc die Ungleichung
a+b √
≥ 2·h
2
(1.4)
gilt. (Hinweis: benutze die Ungleichung von arithmetischem und geometrischem
Mittel und drücke den Flächeninhalt des Dreiecks auf zwei verschiedene Arten
aus.) Für welche Dreiecke gilt in dieser Ungleichung das Gleichheitszeichen?
Aufgabe 1.47. Zeige, dass in einem rechtwinkligen Dreieck mit Katheten a und
b und Hypotenuse c die Ungleichung
√
a+b≤ 2·c
(1.5)
gilt. (Hinweis: Betrachte 2c2 , verwende Pythagoras sowie die oft nützliche Identität
2a2 + 2b2 = (a + b)2 + (a − b)2 .) Für welche Dreiecke gilt in dieser Ungleichung
das Gleichheitszeichen?
Aufgabe 1.48. Zeige, dass man durch Verbindung der Ungleichungen (1.4) und
(1.5) die Ungleichung 2h ≤ c erhält. Warum ist diese trivialerweise richtig?
Die Ungleichung (1.3) von arithmetischem und geometrischen Mittel ist Teil
des folgenden schärferen Ergebnisses:
1.4 Die Strahlensätze
31
Aufgabe 1.49. Zeige die Ungleichungen
√
a+b
≤
ab ≤
2
r
a2 + b2
2
für reelle Zahlen a, b ≥ 0.
Welche dieser Ungleichungen erlauben einen geometrischen Beweis?
Aufgabe 1.50. Sei S ein Punkt im Innern eines Rechtecks ABCD. Zeige
2
2
2
2
AS + SA = BS + SD .
Aufgabe 1.51. Beweise Euklids Prop. I.43: Sei S ein Punkt auf der Diagonale
AC des Parallelogrammgs ABCD. Die Parallelen der Seiten durch S schneiden die
Seiten in den Punkten E, F, G, H (sh. Skizze). Zeige, dass die Parallelogramme
EBFS und HSGD den gleichen Flächeninhalt besitzen.
Benutze Euklids Prop. I.43 zu einem Beweis des Höhensatzes!
1.4 Die Strahlensätze
Der Strahlensatz17 und seine Varianten beschäftigen sich mit ähnlichen Dreiecken,
also Dreiecken, die dieselben Winkel haben, aber verschieden groß sind. In der Praxis tauchen solche Dreiecke auf, wenn zwei parallele Geraden ein sich schneidendes
Geradenpaar schneiden.
Der Strahlensatz bei Euklid
Unser Strahlensatz findet sich bei Euklid in Buch VI, und zwar als Proposition II:
Wenn eine Gerade, die zu einer Dreiecksseite parallel ist, ein Dreieck
schneidet, dann teilt sie die Seiten des Dreiecks proportional; teilt sie
umgekehrt die Seiten proportional, dann ist die Gerade parallel zu einer
Dreiecksseite.
17
Im Französischen heißt der Strahlensatz “Théorème de Thalès” oder “Théorème
d’intersection”, im Englischen “Intercept Theorem”.
32
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Zum Beweis benutzt Euklid Proposition I aus Buch VI, die wir im wesentlichen
als die Formel A = 12 gh für den Flächeninhalt von Dreiecken kennen. Einmal haben
Dreiecke auf der gleichen Grundseite und mit der gleichen Höhe auch denselben
Flächeninhalt, zum andern ist der Flächeninhalt zweier Dreiecke mit der gleichen
Höhe h und den Grundseiten a1 bzw. a2 gleich A1 = 12 a1 h bzw. A2 = 12 a2 h, woraus
dann folgt, dass A1 : A2 = a1 : a2 ist, und das ist Euklids Proposition I:
Dreiecke und Parallelogramme mit der gleichen Höhe verhalten sich zueinander wie ihre Grundseiten.
Jetzt schließt Euklid wie folgt.
Das Dreieck BDE hat denselben Flächeninhalt
wie CDE, da es die gleiche Grundseite DE und
die gleiche Höhe hat. Also ist
FBDE : FADE = FCDE : FADE .
Da die Dreiecke BDE und ADE die gleiche
Höhe haben, verhalten sich ihre Flächeninhalte wie die Grundseiten BD und DA, d.h. es ist
FBDE : FADE = BD : DA. Aus dem gleichen
Grund ist FCDE : FADE = CE : EA, und wir
erhalten
BD : DA = CE : EA.
Aufgabe 1.52. Formuliere den Umkehrsatz des Strahlensatzes. Beweis?
Aufgabe 1.53. Beweise den Strahlensatz für rechtwinklige Dreiecke durch geeignete Flächenberechnungen. Leite daraus den Strahlensatz für beliebige Dreiecke
her, indem man dieses in zwei rechtwinklige zerlegt, oder durch Anfügen eines
rechtwinkligen Dreiecks zu einem rechtwinkligen Dreieck macht.
Satz des Pythagoras
Sowohl der Satz des Pythagoras, als auch der Höhensatz folgen leicht aus den
Strahlensätzen. Betrachten wir dazu dass Dreieck auf der linken Seite von Fig. 1.3.
Die Dreiecke ABC, BCF und CAF sind ähnlich; nach dem Strahlensatz ist also
q
h
= .
h
p
Wegschaffen der Nenner ergibt den Höhensatz h2 = pq.
Andererseits ist ab = hq und ab = hp . Addition ergibt
a
b
a2 + b2
c
= + =
.
h
b
a
ab
1.5 Thales & Co.
wegen ab = hc (Berechnung des Flächeninhalts auf zwei Arten) ist daher
a2 +b2
2
2
2
hc , also nach Wegschaffen des Nenners c = a + b .
Noch einfacher geht es so: es gilt
c
a
= ,
a
q
33
c
h
=
c
b
= ,
b
p
also
qc = a2 ,
pc = b2 ,
somit a2 + b2 = pc + qc = c(p + q) = c2 .
Der Beweis des Satzes von Pythagoras mit dem Strahlensatz kann definitiv Leonardo von Pisa (Fibonacci) zugeschrieben werden: er steht in seiner Practica Geometriae aus dem Jahre 1220. Der Beweis, den Einstein im Vorwort (S. 3) beschreibt,
dürfte derselbe gewesen sein.
1.5 Thales & Co.
Der Satz des Thales ist ein Spezialfall des Satzes vom Umfangswinkel und Zentrumswinkel:
Hier ist α = ^DM A und β = ^DU A. Da das Dreieck UMA gleichschenklig
ist wegen U M = M A = r, wo r den Radius des Kreises bezeichnet, ist auch
^U AM = β und damit ^U M A = 180◦ − 2β. Andererseits ist ^U M A = 180◦ − α,
und gleichsetzen liefert
180◦ − 2β = 180◦ − α,
also
α = 2β.
Das gleiche Argument funktioniert auch, wenn die Sache etwas weniger symmetrisch aussieht: die Aussage α = 2β (und das analoge α0 = 2β 0 ) bleibt richtig,
wenn man U auf dem Kreisumfang zwischen B und A umherwandern lässt:
34
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Satz 1.6 (Satz von Umfangs- und Zentrumswinkel). Der Umfangswinkel ^AU B
ist halb so groß wie der Zentrumswinkel ^AM B. Insbesondere sind alle Umfangswinkel einer Sehne gleich.
Man beachte, dass wir diesen Satz bewiesen haben, indem wir den Winkel
^U M A auf zwei verschiedene Arten ausgerechnet haben. Den Satz findet man im
III. Buch von Euklid als Proposition 20.
Im Speziafall α = 180◦ ist AM B der Durchmesser, und der Umfangswinkel ein
rechter. Das ist genau der
Satz 1.7 (Satz des Thales). Jeder Winkel im Halbkreis ist ein rechter.
Dies ist Proposition III.31 in Euklids Elementen.
Aufgabe 1.54. Beweise den Satz des Thales direkt.
Aufgabe 1.55. Formuliere und beweise die Umkehrung des Satzes von Thales.
Tatsächlich gibt es diverse Möglichkeiten, den Satz des Thales umzukehren.
Die folgende (sh. [22, S. 4–5] ist vielleicht die überraschendste:
Satz 1.8. Seien A und B verschiedene Punkte, und c eine Kurve von A nach B.
Ist für jeden Punkt P auf c der Winkel ^AP B ein rechter, dann ist c der Halbkreis
über dem Durchmesser AB.
Zur Lösung legen wir ein Koordinatensystem so fest, dass A und B auf der
x-Achse liegen und der Ursprung mit dem Mittelpunkt M der Strecke AB zusammenfällt. Die Koordinaten von A und B seien A(−a|0) und B(0|a). Sei P (x|y)
irgendein Punkt auf c.
Aufgabe 1.56. Zeige, dass die Steigungen der Geraden PA und PB gleich m1 =
y
y
x+a und m2 = x−a sind. Zeige weiter, dass aus dem Kriterium m1 m2 = −1 für
das Senkrechtstehen der Geraden die Kreisgleichung x2 + y 2 = a2 folgt.
Aufgabe 1.57. Formuliere und beweise die Umkehrung des Satzes vom Umfangsund Zentrumswinkel.
Aufgabe 1.58. Zeige, dass in jedem einem Kreis einbeschriebenen Viereck gegenüberliegende Winkel jeweils zusammen 180◦ ergeben. (Euklid III.22)
Aufgabe 1.59. Zeichne ein beliebiges Rechteck ABCD; sei S der Schnittpunkt
der Diagonalen. Benutze die Symmetrie des Rechtecks, um zu zeigen, dass S von
allen Eckpunkten den gleichen Abstand hat, also der Mittelpunkt des Umkreises
von ABCD ist. Folgere, dass der Durchmesser eines Kreises den Kreis halbiert.
Wie kann man anhand dieser Skizze den Satz des Thales entdecken?
Aufgabe 1.60. Gegeben sei ein rechtwinkliges Dreieck ABC. Zeichne einen Kreis
mit Radius c und Mittelpunkt B wie in der Skizze.
1.6 Sekanten und Tangenten
35
Zeige, dass ^BAD = ^CAE = α2 ist (das
geht direkt, aber auch mit Satz von Umfangsund Zentrumswinkel sowie Thales). Folgere,
dass die Dreiecke DCA und ACE ähnlich sind,
und schließe aus dem Strahlensatz
c−a
b
=
.
c+a
b
Leite daraus den Satz des Pythagoras her18 .
1.6 Sekanten und Tangenten
Es gibt eine Unmenge von Sätzen aus der Kreisgeometrie, die heutzutage fast kein
Schüler mehr kennt. Ohne dieses Wissen sind aber Wettbewerbsaufgaben aus der
Geometrie schlichtweg nicht lösbar. Um diese Standardsätze zu beweisen, müssen
wir erst einige ganz einfache Tatsachen bereitstellen.
Der Kreis mit Mittelpunkt M und Radius r > 0 ist definiert als die Menge
aller Punkte P , die von M denselben Abstand r haben.
Satz 1.9. Ein Kreis geht beim Spiegeln an seinem Durchmesser in sich selbst über.
Sei P 0 der Punkt, den man durch Spiegeln
von P am Durchmesser erhält, und sei S der
Schnittpunkt von P P 0 mit diesem Durchmesser. Dann ist ^P SM = ^P 0 SM = 90◦ , also nach Pythagoras und weil beim Spiegeln
Längen erhalten bleiben
2
2
2
2
2
2
r2 = P M = M S +P S = M S +P 0 S = M P 0 ,
und dies zeigt, dass P 0 auf dem Kreis liegt.
Im wesentlichen die gleiche Aussage ist die folgende:
Satz 1.10. Das vom Mittelpunkt eines Kreises auf seine Sehne AB gefällte Lot
halbiert die Sehne.
In der Tat: da der Kreis beim Spiegeln am Durchmesser erhalten bleibt, muss
wie oben SA = SB sein.
18
Dieser Beweis stammt von Michael Hardy [21, S. 8].
36
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Als nächstes definieren wir die Tangente im Punkt P eines Kreises: dies ist
eine Gerade, die den Kreis in P so schneidet, dass der gesamte Kreis auf einer
Seite der Tangente liegt. In anderen Worten: eine Gerade, die den Kreis in genau
einem Punkt, nämlich P , schneidet.
Satz 1.11 (Euklid III.18). Berührt eine Tangente einen Kreis mit Mittelpunkt M
in T, dann ist MT orthogonal zur Tangente.
Wir wollen erst einmal das Schulwissen auf diesen Satz loslassen, also die Behauptung mit den Mitteln der Koordinatengeometrie und Differentialrechnung
herleiten. Der Kreis besteht aus allen Punkten P (x|y), die von einem Punkt (dem
Mittelpunkt M , den wir in den Ursprung legen) p
ein und denselben Abstand r haben. Der Abstand P M = r ist nach Pythagoras (x − 0)2 + (y − 0)2 = r, woraus
durch Quadrieren die Kreisgleichung
x2 + y 2 = r 2
folgt.
Um die Tangente in einem Punkt P (a|b) des Kreises (es ist also a2 + b2 = r2 )
zu bestimmen, betrachten wir alle Geraden durch P und bestimmen diejenige, die
den Kreis in einem Punkt (das muss dann natürlich P sein) und nicht in zweien
schneidet. Die Geraden durch P haben die Form
y = m(x − a) + b
(denn wenn man hier x = a setzt, erhält man y = b). Schneiden mit dem Kreis
liefert
r2 = x2 + y 2 = x2 + (m(x − a) + b)2 .
Dies ist eine quadratische Gleichung in x, die man nach Ausmultiplizieren wie
üblich mit der abc-Formel lösen kann. Wir kennen aber schon eine Lösung, nämlich
x = a (in der Tat liefert Einsetzen von x = a die richtige Gleichung r2 = a2 + b2 );
also bringen wir alles auf eine Seite und klammern den Faktor x − a aus:
1.6 Sekanten und Tangenten
37
0 = x2 + (m(x − a) + b)2 − r2
= x2 + m2 (x − a)2 + 2m(x − a)b + b2 − r2
= x2 + m2 (x − a)2 + 2mb(x − a) + b2 − (a2 + b2 )
= x2 − a2 + m2 (x − a)2 + 2mb(x − a)
= (x − a)(x + a) + m2 (x − a)2 + 2mb(x − a)
= (x − a)(x + a + m2 (x − a) + 2mb).
Jetzt kann man die Lösung x = a ablesen; setzt man den zweiten Faktor gleich 0,
erhält man die zweite Lösung. Damit es aber nur einen Schnittpunkt gibt, muss
diese zweite Lösung gleich der ersten sein. Mit anderen Worten: setzt man in die
zweite Klammer x = a ein, muss 0 herauskommen:
a + a + m2 (a − a) + 2mb = 0,
also
2a + 2mb = 0.
Auflösen nach m ergibt
a
m=− .
b
Dies ist also die Steigung der Tangente. Und dass die Tangente senkrecht auf
b−0
die Gerade M P mit der Steigung m0 = a−0
= ab steht, ist gleichbedeutend mit
m · m0 = − ab · ab = −1.
Aufgabe 1.61. Dieser Beweis funktioniert für vier Punkte auf dem Kreis nicht
– welche sind das?
Die Steigung der Tangente bekommt man natürlich leichter
durch die Anwen√
dung der Differentialrechnung: Ableitung von f (x) = r2 − x2 liefert f 0 (x) =
− √r2x−x2 , also f 0 (a) = − ab wie oben.
Noch leichter erhält man dieses Ergebnis, wenn man die Gleichung x2 +y 2 = r2
direkt nach x ableitet: es ist (x2 )0 = 2x, während die Ableitung von y 2 als Funktion
von x gleich (y 2 )0 = 2yy 0 ist. Also folgt 2x + 2yy 0 = 0, d.h. y 0 = − xy , und dies
liefert wieder das Ergebnis, dass die Tangentensteigung in (a|b) gleich − ab ist.
Der Standardbeweis mit analytischer Geometrie ist alles andere als einfach.
Jetzt wollen wir uns der Sache geometrisch nähern.
Beweis von Satz 1.11. Sei F der Lotfußpunkt des Mittelpunkts M auf der Tangente t. Dieser Punkt F kann, da der Kreis auf einer Seite der Tangente liegt, nicht
innerhalb des Kreises liegen. Also ist M F ≥ M T .
Andererseits ist nach Pythagoras
2
2
2
2
2
MT = MF + FT ≥ MT + FT .
Diese Ungleichung kann nur dann gelten, wenn F T = 0, also F = T ist. Also
ist T der Lotfußpunkt von M , folglich steht der Radius MT senkrecht auf die
Tangente.
38
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Satz 1.12. Werden von einem Punkt P außerhalb eines Kreises die beiden Tangenten an den Kreis gezeichnet, und sind A bzw. B deren Berührpunkte, dann ist
P A = P B.
Beweis. Nach dem vorhergehenden Satz steht MA senkrecht auf die eine Tangente,
2
2
also ist nach Pythagoras M A + AP = P M 2 . Aus dem gleichen Grund gilt auch
2
2
2
2
2
2
M B + BP = P M 2 . Also ist M A + AP = M B + BP . Da M A = M B
2
2
der Radius des Kreises ist, folgt AP = BP und damit die Behauptung AP =
BP .
Satz 1.13 (Sehnen-Tangenten-Winkel-Satz). Sei T der Schnittpunkt einer Tangente an einen Kreis von einem Punkt P aus, und seien A und B die Schnittpunkte
einer Sekante durch P . Dann ist der Tangentenwinkel α = ^BT P gleich dem Sehnenwinkel α = ^BAT .
Beweis. Nach dem Satz über den Umfangswinkel ist α = ^T AB = ^T A0 B, wo
A0 so gewählt ist, dass A0 T durch den Mittelpunkt M des Kreises geht. Da B auf
dem Thaleskreis über A0 T liegt, ist ^ABT = 90◦ , und damit ^AT B = 90◦ − α.
Da die Tangente in T senkrecht auf den Radius T M steht, ist ^AT P = 90◦ und
daher ^AT B = 90◦ − ^BT P . Da dieser Winkel aber auch gleich 90◦ − α ist, muss
^BT P = α sein.
Satz 1.14 (Sehnen-Tangenten-Satz). Sei T der Schnittpunkt einer Tangente an
einen Kreis von einem Punkt P aus, und seien A und B die Schnittpunkte einer
Sekante durch P . Dann ist
2
PA · PB = PT .
Beweis. Nach dem Satz vom Sehnen- und Tangentenwinkel ist ^BT P = ^BAT ;
weiter ist natürlich ^BP T = ^AP T . Also stimmen die Dreiecke APT und BPT
in zwei (und damit in allen drei) Winkeln überein und sind somit ähnlich. Nach
dem Strahlensatz ist daher
PT : PB = PA : PT,
woraus sofort die Behauptung folgt.
1.6 Sekanten und Tangenten
39
Ein falscher Beweis des Satzes von Pythagoras
Nicht alle “Beweise” des Satzes von Pythagoras, die in den letzten 2500 Jahren
veröffentlicht wurden, sind auch korrekt. Ein Beispiel für einen solchen falschen
Beweis ist der folgende von Loomis [17].
Sei nun ein rechtwinkliges Dreieck gegeben, und sei, wie üblich, a = BC, b =
AC und c = AB. Der Inkreis des Dreiecks schneide dieses in den Punkten D, E
und F (vgl. Skizze). Dann ist das Viereck M ECF ein Quadrat, denn der Winkel
in C ist ein rechter nach Voraussetzung, und die Winkel in E und F sind rechte
Winkel weil die Tangenten an einen Kreis senkrecht auf die Verbindungsgerade
von Mittelpunkt und Schnittpunkt stehen (Satz 1.11). Also sind (Winkelsumme
360◦ ) alle Winkel rechte. Nach Satz 1.12 ist CE = CF , und die Behauptung folgt.
Insbesondere ist CE = M E = r und CF = r, wo r den Radius des Inkreises
bezeichnet.
Jetzt gilt
c = AB = AD + DB = AF + BE
nach dem Hilfssatz, folglich
c + 2r = AF + BE + F C + EC = a + b.
(1.6)
Quadrieren dieser Gleichung ergibt
c2 + 4cr + 4r2 = a2 + 2ab + b2 .
(1.7)
Der Satz des Pythagoras ist gleichbedeutend mit der Aussage 4cr + 4r2 = 2ab.
Wäre 4cr + 4r2 > 2ab, also c2 + 4cr + r2 > a2 + 2ab + b2 , so folgt durch Wurzelziehen c + r > a + b, was (1.6) widerspricht. Ebenso führt man die Möglichkeit
4cr + 4r2 < 2ab zum Widerspruch. Also muss 4cr + 4r2 = 2ab gelten, und dies
impliziert den Satz des Pythagoras.
Der Beweis dieses Satzes ist auf eine Art und Weise aufgeschrieben, die es
schwer macht, den Fehler zu finden (es ist überhaupt eine nicht ganz leichte Sache,
40
1. Thales, Pythagoras, Euklid
Beweise von richtigen Sätzen als falsch nachzuweisen, weil es ja kein Gegenbeispiel
zum Satz geben kann).
Gehen wir also zurück zu Gleichung (1.7) und betrachten den Fall 4cr + 4r2 >
2ab. Dann besagt (1.7) nicht mehr und nicht weniger als a2 + 2ab + b2 = c2 + 4cr +
4r2 > c2 +2ab, also a2 +b2 > c2 . Wie kommt Loomis daraus auf einen Widerspruch?
Das gelingt ihm wie folgt: er addiert im wesentlichen die Gleichung c2 = a2 + b2 zu
seiner Annahme 4cr +4r2 > 2ab und erhält daraus den Widerspruch c+2r > a+b.
Mit andern Worten: er hat die zu beweisende Gleichung a2 + b2 = c2 in seinem
Beweis benutzt. Ein solches Verfahren heißt in der Mathematik ein Zirkelschluss,
und die Tatsache, dass dieser einen Namen hat, lässt schon vermuten, dass der
Zirkelschluss in der Mathematik doch hin und wieder vorkommt.
Der Ansatz von Loomis lässt sich, worauf u.A. Sawyer [28] hingewiesen hat,
dennoch zu einem Beweis19 ausbauen: dazu berechnen wir den Flächeninhalt des
Dreiecks ABC auf zwei Arten. Zum einen ist der Flächeninhalt sicherlich gleich
rc
1
2 ab. Zum andern haben die Teildreiecke ABM, BMC, CMA die Flächeninhalte 2 ,
ar
br
2 und 2 . Also ist
ar + br + cr
ab
=
2
2
und damit
2ab = 2r(a + b + c).
(1.8)
Setzt man (1.6) in diese Gleichung ein, folgt
2ab = 2r(a + b + c) = 2r(2c + 2r) = 4rc + 4r2 .
Wir hatten aber bereits oben gesehen, dass diese Aussage gleichbedeutend mit
dem Satz des Pythagoras ist.
1.7 Verschiedenes
In diesem Kapitel haben wir die Geometrie, die früher auf Gymnasien unterrichtet
wurde, höchstens ansatzweise vorgestellt. Es gibt noch eine ganz Reihe weiterer
Sätze der elementaren Geometrie, auf die wir hier nicht eingehen können – insbesondere gilt das für die ausgedehnte Theorie der Kegelschnitte. Manche elementargeometrischen Sätze sollte man aber zumindest einmal gesehen haben, und die
hier zusammengestellten gehören sicherlich dazu.
Satz 1.15. Die Mittelsenkrechten eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt,
nämlich dem Mittelpunkt des Umkreises.
Der Beweis dieses Satzes ist ziemlich einfach.
Satz 1.16. Die Seitenhalbierenden eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt.
Dieser Punkt heißt Schwerpunkt des Dreiecks.
19
Dazu müssten wir allerdings Satz 1.11 ebenfalls ohne den Satz des Pythagoras beweisen. Das geht, wenn man die Längenberechnung durch Pythagoras ersetzt durch
Euklids Prop. I.19: in einem Dreieck liegt der größte Winkel gegenüber der längsten
Seite.
1.7 Verschiedenes
41
Satz 1.17. Die Winkelhalbierenden eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt,
nämlich dem Mittelpunkt des Inkreises.
Satz 1.18. Die Höhen eines Dreiecks schneiden sich in einem Punkt.
Diese Sätze sind klassisch. Erst Euler hat aber gesehen, dass es hier sehr viel
mehr zu entdecken gibt:
Satz 1.19. Der Schnittpunkt M der Mittelsenkrechten, der Schnittpunkt H der
Höhen und der Schnittpunkt S der Seitenhalbierenden liegen auf einer Geraden,
der Eulerschen Gerade. Dabei ist SH = 2HM .
Landeswettbewerb Mathematik 2013
Die folgende Aufgabe stammt aus dem Landeswettbewerb Mathematik 2013.
Aufgabe 1.62. Ein Kreis berührt die Parallelen g und h in den Punkten A und
B. Zwei Verbindungsstrecken AC und BD der Parallelen schneiden sich auf dem
Kreis im Punkt P .
Zeige: die Kreistangente durch P halbiert die Strecken AD und BC.
Jetzt sei noch der Beweis von Aufg. 1.1 nachgetragen: Von den drei Punkten
A, B, C liegen mindestens zwei auf einer Seite der Geraden. Die Dreiecksseite
zwischen diesen beiden Punkten wird von der Geraden nicht geschnitten.
Herunterladen