Geometrie

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Geometrie
https://www.mi.fu-berlin.de/kvv/course.htm?sid=22&iid=2&cid=9923
— vorläufiges Skript (ohne Garantie) —
— Ich bin dankbar für Hinweise auf Fehler, Korrekturen, Verbesserungsvorschläge, etc. —
— Version vom 6. Juli 2012 —
Prof. Günter M. Ziegler
Fachbereich Mathematik und Informatik
FU Berlin, 14195 Berlin
Tel. 030 838 75 668
[email protected]
http://page.mi.fu-berlin.de/gmziegler/
FU Berlin, Sommersemester 2012
Diese Vorlesung für das Bachelorstudium soll als natürliche Fortsetzung von Lineare Algebra I und II
Fundamente legen für Vorlesungen/Zyklen wie Diskrete Geometrie, Algebraische Geometrie und Differenzialgeometrie.
Sie behandelt grundlegende Modelle der Geometrie, insbesondere
– euklidische, affine, sphärische, projektive und hyperbolische Geometrie, Möbiusgeometrie, Polarität
und Dualität
– Strukturgruppen, Messen (Längen, Winkel, Volumina), explizite Berechnungen und
– Anwendungen, Beispiele sowie Illustrationsthemen.
Dabei werden weitere Bezüge hergestellt, zum Beispiel zur Funktionentheorie und zur Numerik.
[1] Michèle Audin. Geometry. Universitext. Springer, Heidelberg Berlin, 2003.
[2] Marcel Berger. Geometry I. Universitext. Springer, Berlin Heidelberg, 1987.
[3] David A. Brannan, Matthew F. Esplen, and Jeremy J. Gray. Geometry. Cambridge University Press,
Cambridge, 1999.
[4] Gerd Fischer. Analytische Geometrie. Vieweg, Wiesbaden, 2001. 7. Auflage.
[5] Gerd Fischer. Lineare Algebra. Vieweg+Teubner, Wiesbaden, 2010. 17. Auflage.
[6] Boris A. Springborn. Geometry I. Lecture Notes, TU Berlin/Berlin Mathematical School,
2007/08, 59 pp., ftp://ftp.math.tu-berlin.de/pub/Lehre/GeometryI/WS07/
geometry1_ws07.pdf.
1
Geometrie — FU Berlin
Sommersemester 2012 — Skript, Version: 6. Juli 2012 — Günter M. Ziegler
Vorbemerkungen
Dies ist eine “allgemeine” Geometrie-Vorlesung für Bachelor-Studierende.
Ich will dabei meine Begeisterung für Geometrie vermitteln, interessante Beispiele, Strukturen
und Effekte vorführen, insbesondere aber Werkzeuge für die Arbeit mit geometrischen Strukturen vermitteln, die dann in ganz unterschiedliche Richtungen hilfreich sein können, insbesondere für Vorlesungszyklen wie “Diskrete Geometrie I–III” (den ich selber halten werde),
Differentialgeometrie, Algebraische Geometrie, aber auch für Vorlesungen wie Geometry Processing und Algorithmische Geometrie.
Hier kommt ein grober Zeitplan, den wir schrittweise anpassen werden:
1. Was ist Geometrie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. April
2. Euklidische Geometrie, I: Der Rn mit einem Skalarprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. April
3. Euklidische Geometrie, II: Euklidische Bewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20. April
4. Euklidische Geometrie, III: Hochdimensionale Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . (D.F.) 26. April
5. Diskrete Gruppen, ebene Pflasterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (D.F.) 27. April
6. Kristalle, kristallographische Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (D.F.) 3. Mai
7. Spiegelungen, reguläre Polytope . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (D.F.) 4. Mai
8. Affine Geometrie, I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Mai
9. Affine Geometrie, II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Mai
—- Christi Himmelfahrt —
10. Kegelschnitte und Quadriken, I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Mai
11. Kegelschnitte und Quadriken, II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24. Mai
12. Kegelschnitte und Quadriken, III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Mai
13. Kegelschnitte und Quadriken, IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31. Mai
14. Projektive Geometrie, I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Juni
15. Projektive Geometrie, II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Juni
16. Projektive Geometrie, III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Juni
17. Projektive Geometrie, IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Juni
18. Projektive Geometrie, V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Juni
19. “Was ist eine Geometrie” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Juni
20. Sphärische und elliptische Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (D.F.) 22. Juni
21. Sphärische und elliptische Geometrie, II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28. Juni
22. Möbiusgeometrie, I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29. Juni
23. Möbiusgeometrie, II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Juli
24. Hyperbolische Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Juli
25. Wiederholung / Übersicht / Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (D.F.) 12. Juli
26. Abschlussklausur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (D.F.) 13. Juli
2
Geometrie — FU Berlin
0
Sommersemester 2012 — Skript, Version: 6. Juli 2012 — Günter M. Ziegler
Was ist Geometrie? Was ist eine Geometrie? Was soll Geometrie?
0.1
Begriff
Geo = Erde, Metrie = Vermessung
Dürer 1525 “Messung, Messkunst”
0.2
Geschichte
“5000 Jahre Geometrie” (siehe [3]) in 7 Büchern:
300 v.Chr. Euklid “Elemente”
1525 Albrecht Dürer “Unterweysung der Messung”
1637 René Descartes “Discours de la Methode”
1827 August Möbius “Barycentrischer Calkul”
1872 Felix Klein “Erlanger Programm”
1854 Bernhard Riemann “Über die Hypothesen, die der Geometrie zugrunde liegen”
1899 David Hilbert “Grundlagen der Geometrie”
0.3
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Begriffe
Euklidische Geometrie
Projektive Geometrie
Hyperbolische Geometrie
Sphärische Geometrie, Elliptische Geometrie
Möbiusgeometrie, Kreisgeometrie
Differenzialgeometrie, Riemann’sche Geometrie, . . .
−→ [Ecker, Huisken]
Algebraische Geometrie, torische Geometrie, arithmetische G. . . . −→ [Altmann, N.N.]
Diskrete Geometrie, Polyedergeometrie, . . .
−→ [Ziegler, . . . ]
Algorithmische Geometrie, Geometry Processing, . . .
−→ [Rote, Polthier]
...
Darstellende Geometrie
Grundlagen der Geometrie
...
“anschauliche Geometrie” [2]
“unvergängliche Geometrie” [1]
...
3
0.4
Eine Geometrie
Beispiel: d-dimensionale Euklidische Geometrie (Rd mit starren Bewegungen, die Abstände
erhalten). Dort werden wir unter anderem die folgenden Daten sammeln/beweisen
• Menge: Rd
• Gruppe: Eukl(d) ∼
= Rn o O(n)
– Dimension der Gruppe = Anzahl der Freiheitsgrade = d+1
2
– Erzeuger: Spiegelungen an Hyperebene
• Invarianten: Abstände, Winkel, affine Räume, Kugeln/Sphären, . . .
• Charakterisierung: Jede bijektive Abbildung, die Abstände erhält, ist eine euklidische
Bewegung
• Objekte: zum Beispiel Kugelpackungen, Gitter, reguläre Polyeder, . . .
0.5
Problematische Begriffe
zu definieren/klären/charakterisieren:
• Dimension (u.a. Dimension einer Transformationsgruppe!)
• Volumen (u.a. von Polyedern, Kugeln, etc. – braucht man Analysis dafür?)
• Winkel
[1] Harold Scott Macdonald Coxeter. Unvergängliche Geometrie. Birkhäuser, Basel, 1981. Übersetzung
der 2. Auflage von “Introduction to Geometry”, 1. Auflage 1963.
[2] David Hilbert and Stephan Cohn-Vossen. Anschauliche Geometrie. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg, 1932. Second edition 1996. English translation: Geometry and the Imagination, Chelsea Publ.,
1952.
[3] Christoph J. Scriba and Peter Schreiber. 5000 Jahre Geometrie. Springer, Berlin Heidelberg, 2001.
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Geometrie — FU Berlin
Sommersemester 2012 — Skript, Version: 6. Juli 2012 — Günter M. Ziegler
Vorlesung 19. April 2012
1
1.1
1.1.1
Euklidische Geometrie
Der Rn mit einem Skalarprodukt
Lineare und affine Unterräume
Modell: Rn reeller Vektorraum mit der Standardbasis e1 , . . . , en und dem entsprechenden “euklidischen” Koordinatensystem.
Untervektorräume U ⊆ Rn der Dimension dim U , mit 0 ≤ dim U ≤ n.
“Innere Beschreibung”:
U = span{v1 , . . . , vr } = {λ1 v1 + · · · + λr vr : λ1 , . . . , λr ∈ R},
mit r ≥ dim U.
Hier gilt r = dim U wenn {v1 , . . . , vr } linear unabhängig ist; in diesem Fall sind die λi Koordinaten für U .
“Äußere Beschreibung”: durch ein homogenes lineares Gleichungssystem
U = {x ∈ Rn : Ax = 0},
mit A ∈ Rm×n ,
m ≥ n − dim U.
Hier hat A den Rang n − dim U , und es gilt m = n − dim U wenn die Zeilen von A linear
unabhängig sind.
Affine Unterräume U ⊆ Rn der Dimension dim U , mit −1 ≤ dim U ≤ n, sind die Lösungsmengen von linearen Gleichungssystemen, wobei ∅ als affiner Unterraum der Dimension −1
betrachtet wird.
“Äußere Beschreibung”: U = {x ∈ Rn : Ax = b}, mit A ∈ Rm×n , m ≥ n − dim U , b ∈ Rn
durch ein lineares Gleichungssystem. Wenn b nicht im Spaltenraum von A liegt, dann ergibt dies
U = ∅. Ansonsten ist b ein Punkt in U , A hat den Rang n − dim U , d.h. dim U = n − rankA,
und es gilt m = n − dim U wenn die Zeilen von A linear unabhängig sind.
“Innere Beschreibung”: U = b + span{v1 , . . . , vr }, mit r ≥ dim U . Hier gilt r = dim U wenn
{v1 , . . . , vr } linear unabhängig sind. Jeder Basispunkt mit einer (geordneten) Basis liefert uns
Koordinaten für U . Symmetrischere Alternative: baryzentrische Koordinaten
U = {µ0 u0 + · · · + µr ur : µ0 , . . . , µr ∈ R, µ0 + · · · + µr = 1},
wobei u0 , . . . , ur affin erzeugen — zum Beispiel b, b + v1 , . . . , b + vr . Die Punkte u0 , . . . , ur
sind affin unabhängig wenn es keine nicht-triviale Abhängigkeit µ0 u0 + · · · + µr ur = 0 mit
µ0 + · · · + µr = 0 gibt.
Unter anderem haben wir als affine Unterräume: Punkte, Geraden, Ebenen (Dimension 2), . . . ,
Hyperebenen (Dimension n − 1). Ein affiner Unterraum hat keinen natürlichen Basispunkt.
5
1.1.2
Abstände
P
Standard-Skalarprodukt: hx, yi := ni=1 xi yi .
p
Norm |x| := hx, xi: Längenmessung
pPn
2
Metrik d(x, y) := |x − y| =
i=1 (xi − yi ) : Abstand zwischen den durch x, y bestimmten
Punkten
Polarisierung: Aus der Norm kann das Skalarprodukt rekonstruiert werden, da für alle x, y ∈ Rd
|x + y|2 = |x|2 + |y|2 + 2hx, yi.
Dreiecksungleichung: d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z), mit Gleichheit nur wenn x, y, z in der richtigen Reihenfolge auf einer (affinen) Geraden liegen.
1.1.3
Orthogonalität
Zwei Vektoren x, y ∈ Rn sind orthogonal, wenn hx, yi = 0 gilt.
x. Iteration dieses ScheOrthogonalisierung. Für x, y ∈ Rn , x 6= 0 kann man ȳ := y − hy,xi
|x|2
mas ergibt die Gram–Schmidt Orthogonalisierung. (Einfacheres Rechenschema, wenn man die
Vektoren jeweils auf Länge 1 normiert.)
Orthogonale Projektion eines Punkts x auf eine Hyperebene H = {x ∈ Rn : ha, xi = α}
für a 6= 0: der eindeutige Bildpunkt x̄ ∈ H lässt sich auf unterschiedliche Weise beschreiben/
charakterisieren.
Aufgabe 1. Für eine Hyperebene H = {x ∈ Rn : ha, xi = α} mit a 6= 0 und einen Punkt
x ∈ Rd sind äquivalent:
(i) d(x̄, x) ist minimal für x̄ ∈ H
(ii) hx − x̄, y − x̄i = 0 für alle y ∈ H
(iii) x̄ = x + ta mit t ∈ R so dass x̄ ∈ H
a
(iv) x̄ = x + α−ha,xi
ha,ai
H
x
y
x̄
a
6
1.1.4
Beispiele: Punktmengen mit wenigen Abständen
Theorem 1.1. Im Rn gibt es n + 1 Punkte, aber keine n + 2 Punkte, die paarweise voneinander
denselben Abstand haben.
Beweis (für den
√ ersten Teil der Aussage). Betrachte die Punktmenge e1 , . . . , en , t(e1 +· · ·+en )
(für Abstand 2). Das liefert eine quadratische Gleichung für t, mit zwei Lösungen für t.
Aufgabe 2. Man beweise, dass k + 1 Punkte, die paarweise denselben Abstand 1 haben, affin
unabhängig sind, also einen affinen Raum der Dimension k aufspannen.
Problem. Wie viele Punkte kann es im Rn geben, zwischen denen nur zwei verschiedene
Abstände auftreten?
— nicht vollständig gelöst!
Beispiel 1.2. Zwischen den d2 Punkten ei + ej ∈ Rd (1 ≤ i < j ≤ d) gibt es nur zwei
verschiedene Abstände.
d
d
Aufgabe 3. Man beschreibe explizit d+1
Punkte
im
R
(oder
Punkte im Rd−1 ), zwischen
2
2
denen es nur zwei verschiedene Abstände gibt.
Aufgabe 4. (*) Zwischen n Punkten in der Ebene R2 kann der größte Abstand höchstens n mal
auftreten.
(Hopf & Pannwitz, siehe [7])
1.1.5
Sphären und Bälle
Sphäre S n−1 := {x ∈ Rn : |x| = 1}, bzw. S(x0 , r) := {x ∈ Rn : |x − x0 | = r} für x0 ∈ Rn ,
r > 0.
Ball B n := {x ∈ Rn : |x| ≤ 1}, bzw. B(x0 , r) := {x ∈ Rn : |x − x0 | ≤ r}.
1.1.6
Winkel
Den Winkel ^(x, y) zwischen zwei Vektoren x, y 6= 0 definieren wir als den Abstand zwischen
1
1
x und y 0 := |y|
y, aber gemessen auf der Einheitssphäre S n−1 := {x ∈ Rn : |x| = 1}.
x0 := |x|
Damit liegen alle Winkel im Intervall [0, π]. Man überlegt sich (Trigonometrie!), dass dann
|x0 − y 0 | = 2 sin( α2 ) ist, also α = 2 sin−1 ( 12 |x0 − y 0 |).
y
y0
x
x0
α
2
7
20. April 2012
Oder man überlegt sich (Gram–Schmidt Orthogonalisierung! Zeichnung!), dass für x00 :=
das Dreieck 0x00 y rechtwinklig ist — und deshalb cos α =
|x00 |
|y|
=
hx,yi
x
hx,xi
hx,yi
.
|x||y|
y
x
α
x00
Das liefert
hx, yi =: |x||y| cos α.
Lemma 1.3 (Winkel sind additiv. Dreiecksungleichung für Winkel!). Für Vektoren x, y, z 6= 0
gilt
^(x, z) ≤ ^(x, y) + ^(y, z),
mit Gleichheit nur wenn x, y, z linear abhängig sind, mit y “zwischen” x und z.
Beweis. Dreiecksungleichung auf der Sphäre.
1.1.7
Volumen
Volumen kann man für “geeignete” Teilmengen A ⊆ Rn unterschiedlich definieren:
1. elementar: Zerschneiden und Zusammensetzen (Isometrien)
2. mit Hilfe der Determinantenfunktion (für Würfel, Spate, etc.)
3. Riemann’sches Volumen: mit kleinen Würfelchen
R ausschöpfen (vgl. Analysis-Vorlesung).
Das führt zu dem Riemann-Integral vol(A) := A 1dx.
Die Volumengleichheit z.B. von Parallelotopen, also Formeln von der Form
vol{λ1 a1 + · · · + λn an : 0 ≤ λi ≤ 1} = | det(a1 , . . . , an )|
folgen leicht mit Hilfe von Analysis-Methoden — aber lässt sich lässt sich Volumengleichheit
von Polyedern “elementar” durch Zerlegungsgleichheit in kongruente Stücke begründen? Das
war “Hilberts drittes Problem”; es wurde von Dehn negativ gelöst: Es gibt Tetraeder mit gleicher
Grundfläche und gleicher Höhe, die nicht “zerlegungsgleich” sind. Siehe [1, Kap. 9] [2].
8
1.2
Kongruenztransformationen
Definition 1.4 (Kongruenztransformationen). Eine Abbildung f : Rn → Rn heißt Kongruenztransformation oder euklidische Abbildung oder Isometrie wenn sie Abstände erhält, also
|f (x) − f (y)| = |x − y|
für alle x, y ∈ Rn .
Wir betrachten erst einmal Beispiele.
1.2.1
Translationen
Translationen: Ta : Rn → Rn , x 7→ x + a.
Die Translationen bilden eine abelsche Gruppe, die wir mit (Rn , +) identifizieren können.
1.2.2
Spiegelungen
Die Spiegelung von x an der Hyperebene H = {x ∈ Rn : ha, xi = α} mit a 6= 0 und α ∈ R:
SH : x
7−→
x+ 2
α − ha, xi
a.
ha, ai
ist eine Kongruenztransformation. Sie ist auch eine Involution: doppelt spiegeln ergibt die Identität, SH ◦ SH = id.
Spiegelung an einem affinen Unterraum: Genauso!
1.2.3
Orthogonale Abbildungen
Proposition 1.5. Isometrien, die den Nullpunkt festhalten, sind orthogonale Abbildungen.
Solche Abbildungen sind also insbesondere linear, und können also in der Form x 7→ Ax beschrieben werden, mit orthogonaler Matrix A.
Beweis. Sei f : Rn → Rn Isometrie mit f (0) = 0. Dann gilt insbesondere |f (x)| = |x| für alle
x, und deshalb hf (x), f (y)i = hx, yi wegen Polarisation:
hx, yi = 12 (|x|2 + |y|2 − |x − y|2 ).
Nun sei e1 , . . . , en eine Orthonormalbasis (ONB), zum Beispiel die Standardbasis (wir setzen
ja das Standardskalarprodukt voraus). Dann gilt für jeden Vektor
n
X
x =
hx, ei iei ,
i=1
und deshalb, weil auch f (e1 ), . . . , f (en ) eine ONB ist, und weil f das Skalarprodukt erhält,
n
n
X
X
f (x) =
hf (x), f (ei )if (ei ) =
hx, ei if (ei ).
i=1
i=1
Daran sieht man, dass f linear ist.
9
Lemma 1.6. Eine lineare Abbildung x 7→ Ax is genau dann orthogonal, wenn eine der folgenden äquivalenten Bedingungen gilt:
• sie eine Orthonormalbasis auf eine Orthonormalbasis abbildet,
• sie jede Orthonormalbasis auf eine Orthonormalbasis abbildet,
• die Spalten von A eine Orthonormalbasis bilden,
• At A = En ,
• die Zeilen von A eine Orthonormalbasis bilden.
26. April 2012
Jede orthogonale Abbildung hat Determinante +1 oder −1. Die orthogonalen Abbildungen
des Rn (und damit die darstellenden Matrizen) bilden eine Gruppe, die orthogonale Gruppe
O(n) = {A ∈ Rn : At A = En }.
Die orientierungserhaltenden orthogonalen Abbildungen bilden eine Untergruppe, die spezielle
orthogonale Gruppe
SO(n) = {A ∈ Rn : At A = En , det A = 1}.
Die Gruppe O(n) ist nicht kommutativ für n ≥ 2, SO(n) ist nicht kommutativ für n > 2.
Theorem 1.7 (Normalformsatz für orthogonale Abbildungen). Für jede orthogonale Abbildung
Rn → Rn gibt es eine Zerlegung des Rn in ein- und zweidimensionale invariante orthogonale
Unterräume, so dass
– auf jedem der ein-dimensionalen invarianten Unterräumen ist die Abbildung die Identität
oder ihr Negatives,
– auf jedem der zwei-dimensionalen invarianten Unterräumen ist die Abbildung eine Drehung
um einen Winkel im Intervall ]0, π[.
Äquivalent dazu: für jede orthogonale Matrix A ∈ O(n) gibt es S ∈ O(n) so dass S −1 AS eine
Blockdiagonalmatrix ist
S −1 AS = diag(1, . . . , 1, −1, . . . , −1, D(α1 ), . . . , D(αk ))
mit Einsen, Minus-Einsen
und2 × 2 Drehmatrizen zu Winkeln 0 < αi < π auf der Diagonale,
cos α − sin α
also D(α) =
.
sin α cos α
Lemma 1.8. Jede orthogonale Abbildung der Determinante +1 kann stetig (innerhalb der
Gruppe O(n)!) in die Identität deformiert werden.
Jede orthogonale Abbildung der Determinante −1 kann stetig in die Spiegelung s1 : x 7→
x − 2x1 e1 deformiert werden.
Korollar 1.9. Für n ≥ 1 hat die Gruppe O(n) ⊆ Rn×n zwei Zusammenhangskomponenten,
nämlich die spezielle orthogonale Gruppe SO(n) und die Nebenklasse SO(n)s1 = {A ∈ Rn :
At A = En , det A = −1}.
Korollar 1.10. Jede orthogonale Abbildung des Rn kann aus höchstens n Spiegelungen an
Hyperebenen durch den Nullpunkt erzeugt werden. Im Allgemeinen reichen dafür jedoch n − 1
Spiegelungen nicht aus.
10
1.2.4
Allgemeine Kongruenztransformationen
Die Gruppe der Isometrien des Rn (also der “euklidischen Bewegungen” oder “Kongruenztransformationen”) enthält einerseits die Untergruppe der Translationen — die wir mit Rn identifizieren — andererseits die orthogonalen Abbildungen, also die Isometrien, die den Nullpunkt
festlassen.
Die Schnittmenge zwischen diesen beiden Untergruppen enthält nur die Nullabbildung (die
einzige Translation, die den Nullpunkt festlässt).
Jede Isometrie f : Rn → Rn kann man als “orthogonale Abbildung gefolgt von einer Translation” beschreiben, also als f : x 7→ Ax + b für A ∈ O(n) und b ∈ Rn . Dabei sind b = f (0) und
damit auch A durch f eindeutig festgelegt.
Theorem 1.11. Die volle Gruppe der euklidischen Bewegungen ist
Eukl(n) = {f : f (x) = Ax + b für ein A ∈ O(n), b ∈ Rn }.
Achtung: Trotzdem ist die Gruppe der euklidischen Bewegungen nicht einfach das Produkt
Rn × O(n), weil die Translationen und die orthogonalen Abbildungen nicht kommutieren. Sie
kann strukturell beschrieben werden als ein semidirektes Produkt “Rn o O(n)”, das gebildet
werden kann, weil die Gruppe der orthogonalen Abbildungen O(n) als eine Gruppe von Automorphismen auf der Gruppe der Translationen (isomorph zu Rn ) wirkt. (Siehe Fischer [3,
Abschnitte I.3.4–I.3.6].) In dem semidirekten Produkt bilden die Translationen eine normale
Untergruppe: Jede Konjugation einer Translation x 7→ x + a hat die Form
x 7→ S −1 (((Sx + b) + a) − b) = x + S −1 a,
ist also eine Translation.
1.2.5
Erzeugung durch Spiegelungen
Korollar 1.12. Jede Kongruenztransformation im Rn kann als Produkt von höchstens n + 1
Spiegelungen an Hyperebenen dargestellt werden — von denen alle, bis auf möglicherweise die
letzte, Hyperebenen durch den Nullpunkt sind.
Im Allgemeinen reichen dafür jedoch n Spiegelungen nicht aus.
Aufgabe 5. Wie sieht die letzte Spiegelung konkret aus? Man beweise damit die Aussage.
(Korollar 1.10 darf benutzt werden.)
1.2.6
Hauptsatz der Euklidischen Geometrie
Theorem 1.13. Sind p0 , . . . , pm und p00 , . . . , p0m Punkte im Rn mit
d(pi , pj ) = d(p0i , p0j )
für alle i, j (0 ≤ i < j ≤ m),
so gibt es eine euklidische Transformation f : Rn → Rn , x 7→ Ax + b, mit A ∈ O(n) und
b ∈ Rn , so dass f (pi ) = p0i für alle i gilt, 0 ≤ i ≤ m.
Wenn die Punkte pi nicht alle auf einer Hyperebene liegen (was insbesondere m ≥ n erzwingt),
dann ist diese euklidische Transformation eindeutig bestimmt.
11
Beweis. Nach einer Verschiebung um den Vektor b := p00 − p0 dürfen wir annehmen, dass
p0 = p00 = 0 ist.
Nun wenden wir das Gram–Schmidt-Verfahren auf die Vektoren p1 , . . . , pm an, und erhalten
daraus eine Orthogonalbasis pb1 , . . . , pbn . Achtung: wenn die Vektoren pi nicht linear unabhängig
sind, können dabei einige Vektoren durchaus Null ergeben – diese werden dann nicht weiter
berücksichtigt. Wenn die Vektoren nicht aufspannen, wird am Ende zu einer Orthogonalbasis
ergänzt – in diesem Fall ist die Basis pb1 , . . . , pbn nicht eindeutig durch die Folge p1 , . . . , pm
bestimmt.
Genauso erzeugen wir mit dem Gram–Schmidt-Verfahren aus der Folge p01 , . . . , p0m von Vektoren eine Orthogonalbasis pb1 , . . . , pbn . Dabei läuft das Gram–Schmidt-Verfahren ganz analog
ab, mit denselben Koeffizienten, weil nämlich die Koeffizienten aus Skalarprodukten zwischen
den Vektoren entstehen, und diese (Polarisierung!) durch die Normen der Vektoren und ihrer
Differenzen bestimmt sind, und diese Daten sind nach Annahme für die Folgen p1 , . . . , pm und
p01 , . . . , p0m gleich.
Nun definiert die Vorschrift f : pbj 7→ pb0j eine orthogonale Abbildung f (weil sie eine ONB auf
eine ONB abbildet). Die Tatsache, dass die pbj mit denselben Koeffizienten aus den pi gewonnen
werden, wie die pb0j aus den p0i ergibt insbesondere, dass auch die pi mit denselben Koeffizienten
aus den pbj dargestellt werden können wie die p0i aus den pb0j . Also bildet f auch pi auf p0i ab.
In dem Fall, dass keine Basisergänzung nötig ist, die pi also den Rn aufspannen, ist die Abbildung f sogar eindeutig.
Korollar 1.14 (Kongruenzsatz “SSS”). Wenn zwei Dreiecke im Rn gleiche Seitenlängen haben,
dann sind sie kongruent.
1.2.7
Freiheitsgrade
Bemerkung 1.15 ( Freiheitsgrade“ — Dimension der Gruppe der Kongruenztransformationen).
”
Jede Kongruenztransformation bildet (0, e1 , . . . , en ) auf orthogonalen Rahmen ab. Für den ersten Punkt liegt das Bild beliebig im Rn , der zweite liegt auf einer (n−1)-dimensionalen Sphäre,
der nächste auf einer (n − 2)-Sphäre, usw. Daher ist die Anzahl der Freiheitsgrade“ insgesamt
”
n + (n − 1) + · · · + 1 = 21 (n + 1)n.
Alternative Rechnung: wir müssen die Bilder von n + 1 Punkten festlegen, das sind (n + 1)n
Variable, aber es gibt n+1
Bedingungen/paarweise Distanzen, also ist die Anzahl der Frei2 n+1
heitsgrade: (n + 1)n − 2 = 21 (n + 1)n.
Technisch (Analysis III):
die Gruppe
ist 1eine Lie-Gruppe, also insbesondere eine Mannigfaltign
n+1
keit der Dimension 2 + n = 2 = 2 n(n + 1).
1.2.8
Anwendung von Kongruenztransformationen
Wenn wir “euklidische Geometrie” betreiben, dann interessieren uns Eigenschaften von Figuren, die sich unter Isometrien nicht ändern. Das sind insbesondere alle Eigenschaften, die sich
aus Längen und Längenverhältnissen gewinnen lassen, darunter
• Volumen
• Winkel
12
Dementsprechend definieren wir Winkel in einem Dreieck einfach dadurch, dass wir (nach einer
Isometrie) annehmen, dass die betreffende Ecke im Nullpunkt liegt, und die daran anliegenden
Kanten eben Vektoren x, y sind.
−→
−→
Notation: Im Dreieck ABC bezeichnen wir den Winkel zwischen AB und AC, also den “Winkel bei A”, mit α := ^BAC.
13
1.3
1.3.1
Hochdimensionale Effekte
Volumen von Kugel und Würfel
Das Volumen der Kugel vom Radius 1
2πe n/2
π n/2
π n/2
∼ n ∼
Vol(B ) =
Γ( n2 + 1)
!
n
2
n
ist für großes n (d.h. in hoher Dimension) verschwindend klein verglichen mit dem Volumen
Vol([−1, 1]n ) = 2n .
Daher die Zeichnung (auf Anregung von Vitaly Milman, 1998), die die Sphäre wie eine Amöbe
zeigt?
Wer einen zufälligen Punkt in der Einheitskugel konstruieren will, kann also nicht einfach Zufallswerte in [−1, 1]n nehmen . . .
1.3.2
Lange Diagonalen im Würfel
Setzen wir 2n Bälle vom Radius 1 an die Ecken des n-Würfels [−1, 1]n , dann berühren die sich
gerade. Alle Bälle sind in [−2, 2]n enthalten.
Setzen wir noch einen möglichst
großen Ball in den Mittelpunkt, so dass der die anderen Bälle
√
gerade berührt. Radius: n − 1.
Für n > 4 ist der innere Ball größer als die äußeren. Für n > 9 ragt er sogar aus dem Würfel
[−2, 2]n heraus! (Siehe Matoušek [5, Chap. 13])
Vorlesung 27. April 2012
1.3.3
Das Kusszahl-Problem
“Kusszahl”-Problem: Für n = 3 können 12 Einheitskugeln eine gegebene Einheitskugel berühren
(siehe Aufgabe 5 unten), aber nicht mehr (Newton-Gregory Problem).
Betrachten wir die Konfiguration im vorigen Abschnitt für n = 4, dann ist ist der innere Ball
eine Einheitskugel, und genauso groß wie die äußeren. Und man kann 8 weitere Bälle an die
Mittelpunkte ±2ei setzen, die die Eckbälle nur berühren — das gibt eine Konfiguration von 24
Kugeln vom Radius 1, die gleichzeitig die Einheitskugel berühren, ohne sich zu überlappen.
Diese 24er-Konfiguration ist in verschiedenster Hinsicht außergewöhnlich; sie definiert ein 4dimensionales reguläres Polytop mit 24 Seitenflächen, die allesamt Oktaeder sind, und sie ist
hochsymmetrisch. Dieses “24-Zell” wurde von Ludwig Schläfli um 1850 entdeckt, als er die
regulären Polytope in Dimension n ≥ 4 klassifiziert hat. (Siehe z.B. Hilbert & Cohn-Vossen
[4])
Für d = 4 ist die Zahl 24 von Berührkugeln maximal — das wurde von Musin 2008 bewiesen
[6] [8]. Und man nimmt auch an, dass die Konfiguration eindeutig ist — das ist aber nicht
bewiesen.
Eine optimale Konfiguration kennt man auch für n = 8 (240 Kugeln) und für n = 24 (196 560),
aber sonst für keine Dimension n ≥ 5.
14
v1
v2
v3
Aufgabe 6. Eine optimale Konfiguration für dass Kusszahlproblem im R3 liefert das MatheonLogo im Bild oben. Es zeigt drei Rechtecke, die paarweise senkrecht aufeinander stehen und
deren Zentren im Punkt (0, 0, 0) liegen. Für geeignete Verhältnisse der Seitenlängen liefern
die zwölf Eckpunkte der Rechtecke die Mittelpunkte für zwölf Einheitskugeln, die eine dreizehnte Einheitskugel mit Mittelpunkt (0, 0, 0) berühren. Was sind geeignete Verhältnisse der
Seitenlängen? Und für welches Verhältnis der Seitenlängen ist d(v1 , v2 ) = d(v2 , v3 )?
1.3.4
Maßkonzentration
In hohen Dimensionen liegt der Großteil der Oberfläche der S n in einer ganz engen Nachbarschaft des Äquators.
Anders gesagt: Zwei zufällige Punkte auf der S n sind mit großer Wahrscheinlichkeit fast orthogonal!
Quelle: Matoušek [5, Chap. 14]
[1] Martin Aigner and Günter M. Ziegler. Das BUCH der Beweise. Springer-Verlag, Heidelberg Berlin,
third edition, 2009.
[2] V. G. Boltianskii. Hilbert’s Third Problem. V. H. Winston & Sons (Halsted Press, John Wiley &
Sons), Washington DC, 1978.
[3] Gerd Fischer. Lehrbuch der Algebra. Vieweg, Wiesbaden, 2008.
[4] David Hilbert and Stephan Cohn-Vossen. Anschauliche Geometrie. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg, 1932. Second edition 1996. English translation: Geometry and the Imagination, Chelsea Publ.,
1952.
[5] Jiřı́ Matoušek. Lectures on Discrete Geometry, volume 212 of Graduate Texts in Math. SpringerVerlag, New York, 2002.
[6] Oleg R. Musin. The kissing number in four dimensions. Annals of Mathematics, 168:1–32, 2008.
[7] János Pach and Pankaj K. Agarwal. Combinatorial Geometry. J. Wiley and Sons, New York, 1995.
[8] Florian Pfender and Günter M. Ziegler. Kissing numbers, sphere packings, and some unexpected
proofs. Notices of the AMS, 51(8):873–883, September 2004.
15
2
Diskrete Bewegungsgruppen
Die volle Gruppe Eukl(n) der Euklidischen Bewegungen hat n+1
Freiheitsgrade, hat also
2
insbesondere überabzählbar viele Elemente. Dieses Kapitel behandelt endliche und abzählbare
(genauer: diskrete) Untergruppen von Eukl(n). Diese haben zum Einen eine schöne Theorie,
zum Anderen spielen sie eine zentrale Rolle in der Untersuchung regelmäßiger Muster (Mosaike, Ornamente . . . ), in der Kristallographie (die sich mit dem Aufbau von Kristallen wie Salz,
Diamant, Stahl . . . befasst) und für reguläre Polytope (“Platonische Körper”).
2.1
2.1.1
Ebene Pflasterungen und kristallographische Gruppen
Endliche Untergruppen von Eukl(2)
Theorem 2.1. In einer endlichen Untergruppe G von Eukl(n) haben alle Elemente einen gemeinsamen Fixpunkt.
Beweis. Wähle x ∈ Rn , und betrachte den G-Orbit G(x) von x, i.e. G(x) := {f (x) : f ∈ G}.
Da G endlich ist, ist auch G(x) endlich. Sei m die Anzahl der Elemente in G(x). Für ein g ∈ G
gilt
gG(x) = {g(f (x)) : f ∈ G} = G(x),
P
weil g ◦ f ∈ G und weil g eine Bijektion ist. Also gilt für den Schwerpunkt s := m1 y∈G(x)
von G(x) für jedes g ∈ G:
g(s) = g
1 X 1 X
1 X y +b=b+
Ay =
y =A
m
m y∈G
m y∈G
y∈G(x)
1 X
1 X
1 X
1 X
(Ay + b) =
g(y) =
z=
z = s.
m y∈G
m y∈G
m
m
z∈gG(x)
z∈G(x)
Also ist der Schwerpunkt y der gemeinsame Fixpunkt.
Wir können OBdA den gemeinsamen Fixpunkt als 0 annehmen. Also können wir jede endliche
Untergruppe von Eukl(n) als Untergruppe von O(n) darstellen.
Achtung: Das heißt nicht, dass jede endliche Untergruppe Untergruppe von O(n) ist. Die
Gruppe, die aus der Identität sowie den Drehungen um 90◦ , 180◦ , 270◦ um das Drehzentrum
(1, 0) ∈ R2 besteht, liegt nicht in O(2). Aber durch geeignetes Verschieben des Ursprungs erhalten wir eine Untergruppe von O(2). Daher können wir uns bei der Bestimmung der endlichen
Untergruppen von Eukl(n) auf die endlichen Untergruppen von O(n) beschränken.
(Wie sieht eine Drehung um den Punkt b aus, wenn A ∈ O(2) die entsprechende Drehung um 0
ist?)
Einige endliche Untergruppen der O(2) sind folgende.
Beispiel 2.2. Die zyklische Gruppe Cn enthält die Drehungen um 2π/n, 4π/n, . . . sowie die
Identität. Als Matrizen (vgl Theorem 1.7): D(2π/n), D(4π/n), . . . D(0).
Die Buchstaben N, S, Z haben als Symmetrie eine 180◦ -Drehung sowie die Identität. Ihre Symmetriegruppe ist also C2 . Der Rotor eines Windrads hat meistens die Symmetriegruppe C3 .
16
Abstrakt können wir Cn schreiben als D, D2 , . . . , Dn = En (wobei D für D(2π/n) steht. Diese
Gruppe hat einen Erzeuger: D, und eine Relation: Dn = 1 (wobei 1 für das neutrale Element
der Gruppe steht).
Beispiel 2.3. Die Diedergruppe Dn enthält die n Drehungen um 0, 2π/n, 4π/n, . . . sowie die n
Spiegelungen S(0), S(2π/n), S(4π/n), . . . an den Geraden durch 0 mit Steigung 0, π/n, 2π/n . . ..
Die Buchstaben A, M, V haben die Symmetriegruppe D1 . Ein reguläres n-Eck hat die Symmetriegruppe Dn .
Abstrakt können wir Dn schreiben mittels zweier Erzeuger D (Drehung um 2π/n) und S (Spiegelung an der x-Achse) und den Relationen Dn = S 2 = DSDS = 1.
Was wir hier mit “abstrakt” meinen: die durch die Erzeuger und Relationen dargestellte Gruppe ist isomorph zu der Bewegungsgruppe. Als Bewegungsgruppen sind etwa C2 und D1 verschieden: C2 enthält eine Drehung und keine Spiegelung, D2 enthält keine Drehung und eine
Spiegelung. Dennoch sind sie isomorph, als abstrakte Gruppen also gleich.
Korollar 2.4. Die endlichen Untergruppen von O(2) sind die zyklischen Gruppen Cn und die
Diedergruppen Dn .
2.1.2
Diskrete Untergruppen von Eukl(2)
Soviel zu den endlichen Untergruppen von Eukl(2). Die interessanten abzählbaren Untergruppen von Eukl(2) (oder auch von Eukl(n)) sind die diskreten Bewegungsgruppen.
Definition 2.5 (Diskrete und kristallographische Untergruppen). Eine Gruppe G ⊂ Eukl(n)
heißt diskret, wenn jeder G-Orbit aus isolierten Punkten besteht.
Eine diskrete Untergruppe von Eukl(n) heißt kristallographisch, wenn sie n linear unabhängige
Translationen enthält.
Insbesondere sind alle endlichen Untergruppen von Eukl(n) auch diskrete Untergruppen. Ein
Beispiel einer nicht diskreten Gruppe ist die unendliche Gruppe {1, D(α), D(2α), . . .}, wobei
α kein rationales Vielfaches von π ist. Der G-Orbit eines Punktes unter dieser Gruppe besteht
aus einer abzählbaren Punktmenge, die dicht auf einem Kreis liegt.
Lemma 2.6 (Kristallographische Beschränkung). Ist G ⊂ Eukl(n) eine kristallographische
Gruppe (somit diskret), und ist f ∈ G eine orthogonale Abbildung, so treten als Drehwinkel in
der Normalform (vgl Theorem 1.7) nur 2π/2, 2π/3, 2π/4 und 2π/6 auf.
Beweis. Wegen Theorem 1.7 reicht es, sich auf zweidimensionale Unterräume einzuschränken.
Wir betrachten daher nur den Fall n = 2. Es sei P ein Drehzentrum mit Drehwinkel 2π/m.
(Für andere Winkel ist die Gruppe nicht diskret, s.o.) Die anderen Elemente von G bilden P
auf unendlich viele andere Drehzentren Q1 , Q2 , . . . ab. Sei Q eines, das minimalen Abstand
zu P hat. Dann bildet die Drehung um P um den Winkel 2π/n das Drehzentrum Q auf das
Drehzentrum Q0 ab, und eine Drehung um den Winkel −2π/m bildet das Drehzentrum P auf
das Drehzentrum P 0 ab.
17
Q’
Q’
P’
P
Q
Q’ = P’
P’
P
Q’
Q
P
Q
Q
P
Ist m = 6 so ist P 0 = Q0 . Ist m ≥ 7, oder m = 5, so liegt P 0 näher an Q0 als P an Q, im
Widerspruch zur Minimalität des Abstands. Es bleiben nur n = 2, 3, 4 oder 6.
3. Mai 2012
2.2
2.2.1
Die kristallographischen Gruppen in der Ebene
Pflasterungen und Tapetengruppen
Ebene kristallographische Gruppen treten als Symmetriegruppen von periodischen ebenen (unendlichen) Mustern auf. Schöne Beispiele solcher Muster findet man in der islamischen Architektur (Alhambra, Taj Mahal). Diese kann man als Pflasterung auffassen. Fuer unsere Zwecke
definieren wir eine Pflasterung so:
Definition 2.7. Seien M1 , . . . , Mm Polygone (also n-Ecke, nicht notwendig konvex). Eine Menge P = {P1 , P2 , . . .} von Polygonen heißt (ebene) Pflasterung, falls
◦
◦
◦
• P
Si ∩ Pj =2 ∅ für alle i 6= j (wobei P das Innere von P ist),
• i Pi = R , und
• jedes P ∈ P ist kongruent zu einem der Mi .
Ist m = 1 so heißt die Pflasterung monohedral.
Die Symmetriegruppe einer ebenen Pflasterung ist die Gruppe aller Bewegungen, die P unverändert lassen:
Sym(P) = {g ∈ Eukl(2) : g(P) = P}
Hier sind drei Beispiele für ebene Pflasterungen angedeutet:
Der einfachste Fall ist der, dass die Symmetriegruppe ausschließlich Translationen enthält. Das
ist im Bild oben links der Fall.
Insgesamt gibt es 17 verschiedene Symmetriegruppen von ebenen Pflasterungen, sogenannte
wallpaper groups, auf deutsch Tapetengruppen (Fedorov 1891, Schönflies 1891, Barlow 1894).
Dabei muss man zunächst klären, was “verschieden” bedeutet. Am Beispiel der C2 und der D1
sahen wir schon, dass nicht-isomorph ein zu grobes Unterscheidungsmerkmal sein könnte.
18
P’
Recall: Zwei Gruppen G, H heißen isomorph, falls es eine Bijektion f : G → H gibt, so dass
für alle x, y ∈ G gilt: f (xy) = f (x)f (y).
Wir wollen Gruppen eigentlich unterscheiden bis auf Konjugation in Affin(n). D.h., wir fassen
zwei Gruppen G, H als gleich auf, falls es eine affine Transformation f (siehe nächstes Kapitel)
gibt, so dass f −1 Gf = H. Insbesondere sollen die Spiegelungen in G den Spiegelungen in H
entsprechen usw.
(Beispiel: eine kristallographische Gruppe G, die nur Translationen enthält. u, v ∈ R2 , G =
{f (x) = x+nu+mv : m, n ∈ Z} ist isomorph zu H = {f (x) = x+ne1 +me2 : n, m ∈ Z}.)
Zum Glück gilt für kristallographische Gruppen:
Bemerkung 2.8. Zwei kristallographische Gruppen G und H in Eukl(n) sind isomorph genau
dann, wenn sie konjugiert sind in Affin(n) (vgl. Schwarzenberger [4, S. 209]).
Obacht! Das ist falsch für endliche Gruppen, denn C2 und D1 sind isomorph, aber nicht konjugiert in Affin(2), da eine mögliche Bijektion die Drehung in C2 auf die Spiegelung in D1
abbilden muss.
Die Bestimmung der 17 Tapetengruppen ist mit elementaren Mitteln möglich, aber aufwendig.
Daher deuten wir das hier nur an.
Aufgabe 7. (*) Man beweise: Ist P eine Drehung um den Winkel α mit Drehzentrum p und Q
eine Drehung um den Winkel β mit Drehzentrum q 6= p, so gilt für das Drehzentrum r und den
Drehwinkel γ von R = (P Q)−1 : Die Punkte p, q, r bilden ein Dreieck mit den Winkeln α/2
(bei p), β/2 (bei q) und γ/2.
Wir beschränken uns auf die ebenen kristallographischen Gruppen, die nur Drehungen und
Translationen enthalten. Sei G eine solche. Wegen Lemma 2.6 können die Drehungen nur Drehwinkel 2π/n mit n = 2, 3, 4, 6 haben.
19
Fall 1. G enthält keine Drehung. Also hat G nur Translationen, dieser Fall wurde oben schon
angesprochen.
Fall 2. G enthält keine Drehung mit n > 2. Also nur solche um π. Das ist der Fall im obigen
Bild rechts unten.
(Streng genommen muss man noch begründen, warum es nur eine solche Gruppe gibt bis auf
Isomorphie. Es ist sowohl Translationsuntergruppe T von G normal in G (Index 2) als auch die
Gruppe I = {1, i}, mit i(x) = −x, also die Drehung um π um 0. Daher ist G direktes Produkt,
G = T × I. Also gibt es bis auf Isomorphie nur eine solche Gruppe.)
Fall 3. G enthält auch eine Drehung P mit Ordnung n > 2. Das Drehzentrum heiße p. Jetzt
benutzen wir Aufgabe 7. Sei Q eine weitere Drehung mit Ordnung m > 2, so dass der Abstand des Drehzentrums q von Q zu p minimal ist (unter allen mit Drehung der Ordnung > 2).
Betrachten wir die Drehung R = (P Q)−1 mit Drehzentrum r.
Fall 3.1. n = m = 3: Wegen Aufgabe 7 bilden p, q, r ein gleichseitiges Dreieck. Eine Pflasterung für diesen Fall ist im letzten Bild unten links dargestellt.
Fall 3.2. n = 3, m = 4: Wie im Beweis von Lemma 2.6 liefern P q und Qp weitere Drehzentren
der Ordnung 4 bzw 3 (siehe Bild unten, links). Die Drehung von p um P q liefert ein weiteres
Drehzentrum, das kleineren Abstand zu Qp hat als d(p, q), also ein Widerspruch. Dieser Fall
tritt also nicht ein.
Fall 3.3. n = 3, m = 6: Wegen Aufgabe 7 bilden p, q, r ein Dreieck mit Winkeln π/3, π/6, π/2.
Es gibt Drehungen der Ordnungen 2,3 und 6. Dieser Fall ist im letzten Bild oben links dargestellt.
Fall 3.4. n = 4, m = 4: Wegen Aufgabe 7 bilden p, q, r ein Dreieck mit Winkeln π/4, π/4, π/2.
Dieser Fall ist im letzten Bild oben rechts dargestellt.
Fall 3.5. n = 4, m = 6: Dann ist d(P q, Qp) < d(p, q), Widerspruch (Bild unten, Mitte).
Fall 3.6. n = m = 6: Wegen Aufgabe 7 bilden p, q, r ein Dreieck mit Winkeln π/6, π/6, π/3.
Hätte das Drehzentrum r Ordnung > 2, so wäre das ein Widerspruch. Hat es Ordnung 2, so ist
d(p, Rq) < d(p, q), Widerspruch.
3
p
4
Pq
q
4
Qp
4
Pq
6
q
p
Qp
p 6
Rq
6 q
2
r
Daher kennen wir jetzt alle fünf Tapetengruppen, die keine Spiegelungen enthalten. Die komplette Klassifikation aller 17 Tapetengruppen mit mit “klassischen” Methoden ist noch viel
länger. Es gibt eine elegantere Methode.
2.2.2
Orbifold-Notation
Bisher haben wir für die 17 Tapetengruppen noch keinen Namen, und wir kennen ihre Struktur
nicht genau. Es gibt einen (Pseudo-)Algorithmus, der dies Problem löst. Gegeben sei eine ebene
Pflasterung, oder allgemeiner ein ebenes Muster mit zwei linear unabhängigen Translationen.
Wir bestimmen seine Signatur wie folgt:
20
Allgemeine Regel: Wir beachten von gleichwertigen Objekten immer nur eine Kopie. Gleichwertig sind Punkte / Drehzentren / Spiegelachsen / . . . wenn sie durch eine Symmetrie des
Musters ineinander überführt werden können.
1. Gibt es Spiegelachsen? Falls ja, notieren wir einen *.
2. Für jedes Drehzentrum auf einer Spiegelachse notieren wir ihre Ordnung rechts vom *. Falls
wir keine Zahl notiert haben: Gibt es zwei parallele (nicht gleichwertige) Spiegelachsen, so
notieren wir **. (Ein * und keine Zahl rechts davon ist gleichbedeutend damit, dass es eine
Spiegelachse gibt, aber keinen endlichen Bereich, der von Spiegelachsen begrenzt wird.)
3. Für jedes Drehzentrum, das nicht auf einer Spiegelachse liegt, notieren wir seine Ordnung
links vom *.
4. Kann man von einem Punkt zu einem gleichwertigen kommen, ohne eine Spiegelachse zu
kreuzen? Wenn ja, notieren wir ×. In diesem Fall gibt’s eine Gleitspiegelung. Gelangen wir zu
zwei Kopien, die nicht durch eine bereits entdeckte Symmetrie zu erklären sind, notieren wir
××.
5. Haben wir bisher nichts notiert, so gibt’s nur Translationen. Wir notieren ein ◦.
Wir ordnen den Symbolen Kosten zu. (Falls es kein * gibt, ist alles “links vom *”.)
Symbol ◦ × 2 3 4 5 6 · · ·
N
··· ∞
Links vom *:
2
3
4
5
N −1
1
··· 1
Euro
2 1 2 3 4 5 6 ···
N
Rechts vom *:
Symbol
Euro
∗
1
2
3
4
5
6
1
4
1
3
3
8
4
10
5
12
···
···
N
N −1
2N
···
···
∞
1
2
Theorem 2.9 (Magisches Theorem für ebene Muster). Die möglichen Signaturen eines 2periodischen ebenen Musters sind genau die, die insgesamt 2 Euro kosten und kein ∞ enthalten.
Die möglichen Signaturen eines Friesmusters sind genau die, die insgesamt 2 Euro kosten und
mindestens ein ∞ enthalten.
Die möglichen Signaturen eines sphärischen Musters sind genau die, die insgesamt 2 − g2 Euro
kosten und kein ∞ enthalten. Dabei ist g die Ordnung der Symmetriegruppe.
Bsp: ∗632 kostet 1 + 5/12 + 1/3 + 1/4 = 2 Euro. Damit können wir herleiten:
Theorem 2.10. Es gibt genau 17 Symmetriegruppen 2-periodischer ebener Muster. Das sind
genau die mit folgenden Signaturen:
∗632, ∗442, ∗333, ∗2222, ∗∗, ×∗, ××,
632, 442, 333, 2222, ◦,
21
4∗2, 3∗3, 2∗22, 22∗, 22×.
Theorem 2.10 beweist man nun einfach mittels des magischen Theorems 2.9, indem man alle
Fälle durchgeht. Das ergibt eine Liste von nur 17 Signaturen. Dann muss man noch für jede
Signatur ein Muster finden, dass diese Signatur realisiert.
Aufgabe 8. Was sind die Signaturen der Pflasterungen in den Bildern auf den vorherigen und
auf dieser Seite?
4. Mai 2012
Der Beweis des magischen Theorems benutzt Begriffe und Ergebnisse aus der Topologie. Siehe
dazu etwa Davis [3]. Eine einfache Beschreibung des Beweises findet sich in Conway, Burgiel
& Goodman-Strauss [1] oder Conway [2].
2.2.3
Sphärische Muster und Friesgruppen
Betrachten wir Muster auf einer Kugel, z.B. auf einem Fußball. Diesen können wir genau wie
ebenen Mustern ihre Signatur zuordnen, nach demselben Rezept wie oben.
Theorem 2.11. Die Symmetriegruppen sphärischer Muster sind die mit den Signaturen
332, 432, 532, 22N, N N,
∗332, ∗432, ∗532, ∗22N, ∗N N,
3 ∗ 2, 2 ∗ N, N ∗, N ×,
wobei N ∈ N, N ≥ 2.
Dass dies alle möglichen Signaturen sind, leitet man zunächst aus der Kostentabelle oben her.
Damit erhalten wir allerdings zusätzlich die Möglichkeiten M N und ∗M N . Für M 6= N gibt
es aber kein sphärisches Muster mit dieser Signatur.
Dass die anderen Signaturen alle vorkommen, davon überzeugt man sich wieder mittels konkreter Beispiele für jede einzelne Möglichkeit.
Beispiel 2.12. Ein (klassischer) Fußball hat Symmetriegruppe ∗532. Moderne Fußbälle haben
oft (durch die Form ihrer Nähte oder durch Dekorationen) andere Symmetriegruppen.
Beispiel 2.13. Das Kantennetz eines Würfels kann man auf eine Kugel um seinen Mittelpunkt
projizieren. Die Symmetriegruppen dieses sphärischen Musters und des Würfels sind die gleichen: ∗432. Verbietet man Spiegelungen, so bleiben nur die Symmetrien aus 432.
Eine Friesgruppe ist ein ebenes Muster, dessen Symmetriegruppe nur eine linear unabhängige
Translation enthält. Beispiel:
· · · pdpdpdpdpdpdpdpdpdpdp · · ·
Solche Muster können wir um den Äquator einer Kugel wickeln, so dass sich die Bausteine
nur endlich oft, sagen wir, N mal, wiederholen. N können wir dazu beliebig groß wählen. Das
liefert die Erklärung für das ∞: Wir denken uns dafür eine Drehung um einen idealen Punkt in
unendlich. Das entspricht der Translation in einer Richtung.
Aufgabe 9. Man bestimme alle möglichen Signaturen von Friesgruppen und gebe für jede Signatur ein Beispiel eines Friesmuster mit dieser Signatur an.
22
2.2.4
Von Erzeugern und Relationen
Wir können nun die Symmetrigruppen von ebenen und sphärischen Mustern durch ihre Signatur
beschreiben und auflisten. Wie aber können wir eine Symmetriegruppe “klassisch” hinschreiben? Ein eleganter Weg benutzt Präsentationen von Gruppen (Beschreibung durch Erzeuger
und Relationen, vgl die Beschreibung der zyklischen Gruppen und der Diedergruppen am anfang dieses Kapitels.) Die erhält man so:
1. Für jede Zahl A links vom ∗ notieren wir einen Erzeuger mit einem griechischen Buchstaben: α (β, γ, . . .), und eine Relation: αA = e. (e bezeichne hier das neutrale Element.)
2. Für jede Gruppe von Symbolen der Form ∗AB · · · N mit n Zahlen notieren wir: n + 1
Erzeuger mit lateinischen Buchstaben: P, Q, R, . . . , W , sowie einen weiteren Erzeuger
mit einem griechischen Buchstaben: λ, sowie Relationen
P 2 = (P Q)A = Q2 = (QR)B = R2 = · · · = (V W )N = W 2 = e;
λ−1 P λ = W
(Falls nur ein ∗ ohne Zahl rechts davon da steht: zwei Erzeuger λ, P ; und Relationen
P 2 = e; λ−1 P λ = P ).
3. Für ein ◦ zwei Erzeuger S, T , sowie eine Relation ST S −1 T −1 = e.
4. Für ein ×: Zwei Erzeuger Z, δ, sowie eine Relation Z 2 = δ. Für ××: Erzeuger Y, Z, δ
mit Z 2 = δ, Y Z = ZY .)
5. Zum Schluss eine weitere Relation (“globale Relation”): Produkt aller vorkommenden
griechischen Buchstaben αβγ · · · λ · · · δ = e.
Es ist praktisch, die Erzeuger an die Signatur zu schreiben, nach folgendem Schema:
Beispiel 2.14. Signatur ∗632 liefert: λ ∗P 6Q 3R 2S . Daran liest man ab:
P 2 = (P Q)6 = Q2 = (QR)3 = R2 = (RS)2 = S 2 = e;
λ−1 P λ = S;
λ=e
Wegen λ = e ist P = S, also können wir die Präsentation vereinfachen zu:
hP, Q, R | P 2 = Q2 = R2 = (P Q)6 = (QR)3 = (RP )2 = ei.
Beispiel 2.15. Signatur 3 ∗ 3: liefert: α 3λ ∗P 3Q . Daran lesen wir ab:
α3 = e = P 2 = (P Q)3 = Q2 ;
λ−1 P λ = Q;
αλ = e.
Also ist λ = α−1 , somit Q = αP α−1 . Wir können daher die Erzeuger λ und Q durch α und P
darstellen, das spart uns zwei Erzeuger. Wir erhalten die Präsentation
hα, P | α3 = e = P 2 = (P αP α−1 )3 i.
(Die Relation Q2 = e scheint weggefallen zu sein. Die dürfen wir weglassen, weil sie aus den
anderen folgt: Es ist Q2 = (αP α−1 )2 = αP α−1 αP α−1 = αP P α−1 = αP 2 α−1 = αα−1 = e.)
Aufgabe 10. Bestimmen Sie möglichst einfache Präsentationen für die Symmetriegruppen der
ebenen Pflasterungen aus diesem Kapitel (vgl Aufgabe 8).
23
2.2.5
Die kristallographischen Gruppen im Euklidischen Raum
Die Bestimmung aller möglichen kristallographischen Gruppen im R3 (also diskrete Untergruppen der Eukl(3), die drei linear unabhängige Translationen enthalten) ist sehr aufwendig. Leider
gibt es kein einfaches Analog der Orbifold-Notation für höhere Dimensionen. Allein die Liste
ist sehr lang: Es gibt 219 verschiedene (paarweise nichtisomorphe) kristallographische Gruppen
im R3 . Also gibt’s auch (siehe Bemerkung 2.8) 219 verschiedene kristallographische Gruppen
im R3 bis auf affine Konjugation. (H = f −1 Gf mit f ∈ Affin(3)).
Nun gibt es im R3 neben Drehungen, Spiegelungen, Translationen und Gleitspiegelungen noch
weitere Typen von euklidischen Bewegungen: Schraubungen (Drehung um eine Gerade gefolgt
von einer Translation entlang der Geraden) und Drehspiegelungen (Drehung um eine Gerade
gefolgt von einer Spiegelung an einer Ebene orthogonal zu dieser Geraden). Unter affiner Konjugation werden Spiegelungen zu Spiegelungen usw., aber Schraubungen mit Drehsinn “links”
können zu Schraubungen mit Drehsinn “rechts” werden.
Verlangt man stärker, dass Linksschraubungen nur mit Linksschraubungen identifiziert werden
dürfen (das entspricht H = f −1 Gf mit f ∈ Affin(3) wobei det(f ) > 0), so gibt es 230
verschiedene kristallographische Gruppen im R3 .
Man hat auch die Auflistung der kristallographischen Gruppen für höhere Dimensionen durchgeführt:
Dim
Anzahl
1
2
2
17
3
219
4
4783
5
222018
6
28927922
Auch darüber hinaus wäre eine Auflistung möglich, aber das Ergebnis rechtfertigt den Aufwand
wohl nicht. Immerhin weiß man, dass es in jeder Dimension nur endlich viele verschiedene
kristallographische Gruppen gibt (Satz von Bieberbach).
2.2.6
Platonische Körper
Ein Polygon heißt regulär, falls alle seine Seiten gleich lang sind und alle Innenwinkel gleich
sind (und die Seiten sich nicht schneiden). Ein platonischer Körper ist ein Körper im R3 , der
von kongruenten regulären q-Ecken begrenzt wird, so dass an jeder Ecke p Polygone zusammen
treffen. (Beispiel: Würfel, regelmäßiges Tetraeder). Dazu müssen p und q mindestens den Wert
3 haben.
Für das Kantennetz eines platonischen Körpers (wie auch generell für konvexe Polytope und
planare Graphen) gilt die Eulersche Polyederformel:
v − e + f = 2,
wobei v die Zahl der Ecken bezeichnet, e die Zahl der Kanten und f die Zahl der Seitenflächen.
Zählen wir die Kanten aller Flächen zusammen, so haben wir jede Kante zweimal gezählt:
qf = 2e. Zählen wir die Ecken aller Flächen zusammen, so haben wir jede Ecke p mal gezählt:
qf = pv. Also
e
1 1
1 1
e
v−e+f =2⇔2 −e+2 =2⇔ + = + .
p
q
p q
2 e
Da e positiv ist, muss
1
p
+
1
q
>
1
2
gelten. Es bleiben nur fünf Fälle:
24
Tetraeder
Würfel
Oktaeder
Dodekaeder
Ikosaeder
Ecken
4
8
6
20
12
Kanten
6
12
12
30
30
Flächen
4
6
8
12
20
q, p
3,3
4,3
3,4
5,3
3,5
Symmetriegruppe
*332
*432
*432
*532
*532
Betrachtet man die Werte, für die p1 + 1q = 12 gilt, findet man die drei regulären Pflasterungen
aus Dreiecken bzw Quadraten bzw Sechsecken mit Symmetriegruppen ∗632, ∗442, ∗632.
In der Tabelle oben bilden Würfel und Oktaeder offenbar ein Paar, ebenso wie Dodekaeder und
Ikosaeder. Diese Körper (Polytope) sind dual zueinander. Das duale Polytop eines Polytops P
ist dass, dessen Ecken die Mittelpunkte der Flächen von P sind.
[1] Heidi Burgiel, John H. Conway, and Chaim Goodman-Strauss. Symmetries of Things. AK Peters,
Wellesley, MA, 2008.
[2] John H. Conway. The orbifold notation for surface groups. In M. W. Liebeck and J. Saxl, editors, Groups, Combinatorics and Geometry, Proc. LMS Durham Symposium, Durham, July 5–15,
1990, volume 165 of London Math. Soc. Lecture Notes Series, page 438–447, Cambridge, 1992.
Cambridge University Press.
[3] Michael W. Davis. Lectures on orbifolds and reflection groups. In L. Ji and S.-T. Yau, editors, Transformation Groups and Moduli Spaces of Curves, pages 63–93. International Press, 2010. http:
//www.math.osu.edu/˜davis.12/papers/lectures%20on%20orbifolds.pdf.
[4] R. L. E. Schwarzenberger. Colour symmetry. Bull. London Math. Soc., 16:209–240, 1984.
25
10. Mai 2012
3
3.1
Affine Geometrie
Affine Transformationen
Definition 3.1. Eine Abbildung f : Rn → Rm heißt affin, wenn
f (λ1 x1 + · · · + λk xk ) = λ1 f (x1 ) + · · · + λk f (xk )
(1)
für k ≥ 1, x1 , . . . , xk ∈ Rn , λ1 , . . . , λk ∈ R mit λ1 + · · · + λk = 1.
Sie heißt Affinität, wenn sie bijektiv ist (was insbesondere m = n impliziert).
Diese Definition funktioniert genauso, wenn über einem beliebigen Körper K: Wir definieren
für allgemeinen Körper K eine affine Abbildung als eine Abbildung, die die Bedingung (1)
für alle k ≥ 2 und λ1 , . . . , λk ∈ K erfüllt, mit einem beliebigen (endlich-dimensionalen) KVektorraum V an der Stelle des Rn .
Die Bedingung aus der Definition 3.1 ist leer für k = 1. Für k = 2 bedeutet sie, dass f Geraden
auf Geraden abbildet, und auf den Geraden Teilungsverhältnisse erhält (z.B. Mittelpunkte). Es
stellt sich heraus, dass es über R auch schon ausreicht, die Bedingung für k = 2 zu fordern:
Lemma 3.2. Eine Abbildung f : Rn → Rm ist genau dann affin, wenn
f (λx + (1 − λ)y) = λf (x) + (1 − λ)f (y)
(2)
gilt für alle x, y ∈ Rn und λ ∈ R.
Beweis. Die Bedingung (2) gilt für jede affine Abbildung: das ist genau der Spezialfall k = 2
der Bedingung (1).
Gelte nun (2); wir versuchen (1) für alle k ≥ 1 zu beweisen. Für k = 1 ist (1) trivial, und für
k = 2 ist das genau (2). Für k > 2 können nicht alle λi gleich 1 sein, also können wir annehmen,
dass λ1 6= 1 ist, und dann argumentieren wir mit Induktion:
f (λ1 x1 + · · · + λk xk ) = f (λ1 x1 + (1 − λ1 )(
λ2
λ2
x2 · · · +
xk )).
1 − λ1
1 − λ1
Über R ist eine affine Abbildung also genau eine, die Geraden auf Geraden abbildet, und dabei
Teilungsverhältnisse erhält.
Achtung: Dieser Beweis funktioniert nicht — und die Aussage ist auch nicht richtig — für
affine Geometrie über einem allgemeinen Körper K. Im Beweis zu Lemma 3.2 gibt es dann
nämlich Schwierigkeiten mit “Für k > 1 können nicht alle λi gleich 1 sein”: das stimmt nicht,
wenn die Charakteristik von K die Zahl k + 1 teilt!
Aufgabe 11. Sei K = GF(2) der Körper mit 2 Elementen.
Zeige, dass jede bijektive Abbildung K 2 → K 2 affin ist, also Bedingung (1) erfüllt. Wie viele
solche Abbildungen gibt es?
Zeige, dass nicht jede bijektive Abbildung K 3 → K 3 affin ist, aber trotzdem jede Abbildung
(2) erfüllt. Wie viele bijektive Abbildungen gibt es, und wie viele bijektive affine Abbildungen
gibt es?
26
Proposition 3.3. f : Rn → Rm ist genau dann affin, wenn es eine Matrix A ∈ Rm×n und einen
Vektor b ∈ Rm gibt mit f (x) = Ax + b für alle x ∈ Rn .
f : Rn → Rn ist genau dann eine Affinität, wenn es eine Matrix A ∈ GL(n, R) = {A ∈ Rn×n :
det A 6= 0} und einen Vektor b ∈ Rm gibt mit f (x) = Ax + b für alle x ∈ Rn .
Korollar 3.4. Die Affinitäten f : Rn → Rm bilden eine Gruppe, nämlich
Affin(n) = {f : f (x) = Ax + b für ein A ∈ GL(n), b ∈ Rn } ∼
= Rn o GL(n).
Beweis. Die Umkehrabbildung zu f (x) = Ax+b ist f −1 (x) = A−1 (x−b) = A−1 x+(−A−1 b).
Man kann sich überlegen, dass auch Affin(n) zwei Zusammenhangskomponenten hat, die durch
det A > 0 bzw. det A < 0 gegeben sind.
Wir haben Affinitäten als bijektive Abbildungen definiert, die
(1) Geraden auf Geraden abbilden und
(2) Teilungsverhältnisse erhalten.
Eine bijektive Abbildung, die nur (1) erfüllt, kann man Kollinearität nennen. Im Allgemeinen
reicht die erste Bedingung nicht aus, es ist also nicht jede Kollinearität eine Affinität, wie man
z.B. am Fall m = n = 1 sieht, oder an der Aufgabe 11, oder an der Abbildung Cn → Cn ,
z 7→ z. Das sind aber auch schon fast alle Gegenbeispiele, wie man am folgenden Resultat
sieht.
Theorem 3.5 (Charakterisierung der affinen Abbildungen). Sei K ein Körper mit mindestens
drei Elementen, und n ≥ 2.
Dann ist jede Kollinearität f : K n → K n eine Semi-Affinität, d.h. sie erfüllt
f (λx + (1 − λ)y) = α(λ)f (x) + (1 − α(λ))f (y)
für einen Körperautomorphismus α.
Für K = R gibt es keine Körperautomorphismen außer der Identität, dann ist also jede Kollinearität eine Affinität.
Für K = C gibt es viele Körperautomorphismen, insbesondere die Konjugation, die auch noch
R auf R abbildet.
11. Mai 2012
Dieses Resultat kann man aus einem Satz aus der projektiven Geometrie ableiten, den wir später
beweisen. Hier geben wir nur das Hauptlemma an. Dass R keine nicht-trivialen Automorphismen hat, ist leicht zu zeigen, siehe Fischer [2, S. 33].
Lemma 3.6. Sei K ein Körper mit mindestens drei Elementen und f : K n → K n eine Kollinearität. Dann bildet f parallele Geraden auf parallele Geraden ab.
Beweis. Für n = 1 ist nichts zu zeigen. Für n ≥ 2 zeigt man, dass (1.) zwei Geraden genau dann
parallel sind, wenn sie in einer Ebene liegen und keinen Schnittpunkt haben, und (2.) jede Ebene
durch die Verbindungsgeraden der Punkte auf zwei sich schneidenden Geraden überdeckt wird
— letzteres stimmt eben nur für |K| ≥ 3.
Für Details siehe Fischer [2, Abschnitt 1.3].
27
3.1.1
Hauptsatz der Affinen Geometrie
Definition 3.7 (affin unabhängig, affine Basis). Punkte p0 , . . . , pk ∈ Rn heißen affin unabhängig,
wenn es keine nichttriviale affine Abhängigkeit λ0 p0 + · · · + λk pk = 0, λ0 + · · · + λk = 0 gibt;
äquivalent, wenn es für jeden der Punkte eine affine Hyperebene gibt, die den Punkt nicht enhält,
alle anderen aber schon.
Jede maximale Menge von affin unabhängigen Punkten bildet eine affine Basis. (Eine affine
Basis ist also einfach eine Menge von n + 1 affin unabhängigen Punkten.)
k + 1 affin unabhängige Punkte bilden die Ecken eines k-dimensionalen Simplex (Punkt für
k = 0, Strecke für k = 1, Dreieck für k = 2, Tetraeder für k = 3).
Definition 3.8 (Affiner Spann, affine Hülle). Für p0 , . . . , pk ∈ Rn heißt
aff(p0 , . . . , pk ) := {λ0 p0 + · · · + λk pk : λ0 + · · · + λk = 1}
der affine Spann oder die affine Hülle von p0 , . . . , pk .
Lemma 3.9 (Baryzentrische Koordinaten). Sind p0 , . . . , pk ∈ Rn affin unabhängig, so hat jeder
Punkt x ∈ aff(p0 , . . . , pk ) eine eindeutige Darstellung in der Form x = λ0 p0 + · · · + λk pk mit
λ0 + · · · + λk = 1.
Die Koeffizienten λ0 , . . . , λk heißen dann die baryzentrischen Koordinaten von x. Insbesondere
1
(p0 + · · · + pk ) das Baryzentrum oder der Schwerpunkt der Punkte
heißt der Punkt x0 = k+1
p0 , . . . , p k .
Theorem 3.10 (Hauptsatz der Affinen Geometrie). Seien p0 , . . . , pm und p00 , . . . , p0m zwei Folgen von Punkten im Rn . Dann gibt es eine Affinität f : Rn → Rn , x 7→ Ax + b, mit A ∈ GL(n)
und b ∈ Rn mit f (pi ) = p0i , 0 ≤ i ≤ k, dann und nur dann, wenn zwischen den Punkten pi bzw.
p0i dieselben affinen Abhängigkeiten (mit denselben Koeffizienten) bestehen.
Die Abbildung existiert also insbesondere, wenn die Punktfolgen p0 , . . . , pm und p00 , . . . , p0m
affin unabhängig sind. Wenn die Punktfolgen affine Basen sind (also insbesondere m = n),
dann ist die Affinität eindeutig bestimmt.
Beweis. Klar?
Jede Affinität
• bildet Geraden auf Geraden ab,
• bildet parallele Geraden auf parallele Geraden ab,
• erhält Strecken-/Teilungsverhältnisse entlang von Geraden,
• erhält Volumenverhältnisse.
28
Welche dieser Eigenschaften reicht zur Charakterisierung von Affinitäten?
Proposition 3.11. f : Rn → Rn ist genau dann eine Affinität, wenn sie Volumenverhältnisse
erhält, wenn es also eine Konstante α ∈ R, α 6= 0, gibt mit
det(f (p1 ) − f (p0 ), . . . , f (pn ) − f (p0 )) = α det(p1 − p0 , . . . , pn − p0 )
für alle p0 , . . . , pn ∈ Rn .
Beweis. Offenbar erhält jede Affinität f (x) = Ax + b Volumenverhältnisse, mit α = det A.
Wenn umgekehrt f Volumenverhältnisse erhält, so bildet f Punkte auf einer Geraden auf Punkte
auf einer Geraden ab — andernfalls findet man eine “affine Basis”, die auf eine “affine NichtBasis” abgebildet wird.
Korollar 3.12. Die volumenerhaltenden Abbildungen Rn → Rn sind genau die Affinitäten der
Determinante 1, bilden also die Gruppe
{f : f (x) = Ax + b für ein A ∈ SL(n), b ∈ Rn } ∼
= Rn o SL(n),
wobei SL(n) die spezielle lineare Gruppe SL(n) = {A ∈ Rn×n : det A = 1 bezeichnet.
Bemerkung 3.13 ( Freiheitsgrade“ — Dimension der Gruppe der affinen Transformationen).
”
Eine Affinität ist durch die Bilder von n + 1 Punkten einer affinen Basis festgelegt, und diese
können (generisch) frei gewählt werden. Also ist die Anzahl der Freiheitsgrade und die Dimension der Gruppe Affin(n) gleich (n + 1)n.
In der Tat ist {(A, b) : det A 6= 0} eine offene Teilmenge des Rn×(n+1) .
3.2
Anwendungen
Proposition 3.14 (Die Seitenhalbierenden schneiden sich.). In jedem Dreieck schneiden sich
die Verbindungslinien von den Ecken zu den gegenüberliegenden Seitenmittelpunkten.
Beweis. Die Behauptung ist invariant unter affinen Transformationen, also können wir annehmen, dass wir es mit einem gleichseitigen Dreieck zu tun haben.
C0
C
Mb0
Mb
S
S0
Ma0
Ma
A0
A
Mc
B
29
Mc0
B0
Entsprechend höherdimensional: Baryzentren.
Proposition 3.15 (Satz von Ceva). In jedem Dreieck schneiden sich die Verbindungslinien von
den Ecken A, B, C zu Punkten A0 , B 0 , C 0 auf den gegenüberliegenden Seiten dann und nur dann,
wenn
AC 0 BA0 CB 0
= 1.
C 0 B A0 C B 0 A
Beweis. Invariant unter affinen Transformationen, also können wir annehmen, dass wir es mit
einem gleichschenkligen rechtwinkligen Dreieck A = (0, 0), B = (1, 0), C = (0, 1) zu tun
haben.
Für dieses Dreieck rechnet man die Behauptung dann leicht(er) nach.
Merke: Koordinatentransformationen ausnutzen!
Dto: “Der Satz von Menelaus” über die Schnittpunkte einer Geraden mit den (verlängerten)
Kanten eines Dreiecks.
Quelle: Brannan et al. [1, Sect. 2.4]
Aufgabe 12. Sei f : R2 → R2 , f (x) = Ax+b eine affine Abbildung, die die Punkte p0 = (1, 0),
p1 = (4, 1) und p2 = (s, 1) auf f (p0 ) = (2, 1), f (p1 ) = (5, −2) und f (p2 ) = (1, t) abbildet,
wobei s, t aus R sind. Für welche Werte von s, t hat f
(1) genau einen Fixpunkt,
(2) eine Fixpunktgerade,
(3) keinen Fixpunkt?
Aufgabe 13. Sind die folgenden Punktmengen im R2 affin-äquivalent? Wenn nein, woran kann
man das sehen — z.B. an affinen Abhängigkeiten? Wenn ja, geben Sie eine affine Äquivalenz
an — also eine Affinität, die die erste Punktmenge auf die zweite abbildet!
1. {(0, 0), (1, 0), (1, 1)} und {(0, 0), (1, 0), (2, 2)}?
2. {(0, 0), (1, 1), (2, 2)} und {(0, 0), (2, 2), (4, 4)}?
3. {(0, 0), (1, 0), (2, 2)} und {(0, 0), (2, 2), (4, 4)}?
4. {(0, 0), (1, 0), (1, 1), (0, 1)} und {(0, 0), (1, 0), ( 12 , 1), ( 21 , −1)}?
5. {(0, 0), (1, 0), (1, 1), (0, 1)} und {(0, 0), (1, 0), ( 12 , 1), ( 21 , −2)}?
Achtung: die Punktmengen sind nicht geordnet/nummeriert!
Aufgabe 14. Sind die folgenden Punktmengen P1 und P2 im R5 affin-äquivalent? Wenn nein,
woran kann man das sehen — z.B. an affinen Abhängigkeiten? Wenn ja, geben Sie eine affine
Äquivalenz an!
P1 :
P2 :
(1, 0, 0, 0, 0)
(1, 1, 0, 0, 0)
(0, 1, 0, 0, 0)
(0, 1, 1, 0, 0)
(0, 0, 1, 0, 0)
(0, 0, 1, 1, 0)
(0, 0, 0, 1, 0)
(0, 0, 0, 1, 1)
(0, 0, 0, 0, 1)
(1, 0, 0, 0, 1)
(0, 0, 0, 0, 0)
(0, 0, 0, 0, 0)
(1, 1, 1, 1, 1)
(1, 1, 1, 1, 1)
30
(Hinweis: P1 und P2 sind die Eckenmengen von “Bipyramiden” über 4-dimensionalen Simplexen — die beide in der Eckenmenge des 5-dimensionalen 0/1-Würfels liegen [3, p. 9].)
[1] David A. Brannan, Matthew F. Esplen, and Jeremy J. Gray. Geometry. Cambridge University Press,
Cambridge, 1999.
[2] Gerd Fischer. Analytische Geometrie. Vieweg, Wiesbaden, 2001. 7. Auflage.
[3] Günter M. Ziegler. Lectures on 0/1-polytopes. In G. Kalai and G. M. Ziegler, editors, Polytopes
— Combinatorics and Computation, volume 29 of DMV Seminars, pages 1–41. Birkhäuser-Verlag,
Basel, 2000.
31
18. Mai 2012
4
4.1
Kegelschnitte und Quadriken
Kegelschnitte
Vorbemerkung: Klassisches Thema seit der antiken griechischen Mathematik. So schrieb (angeblich) Apollonios von Perge (* ca. 262 v. Chr. in Perge; † ca. 190 v. Chr. in Alexandria) sein
Hauptwerk “Konika” (Über Kegelschnitte). Wikipedia: “In seinem bedeutendsten Werk Konika ( Über Kegelschnitte“) widmete er sich eingehenden Untersuchungen über Kegelschnit”
te, Grenzwertbestimmungen und Minimum-Maximum-Problemen. Er wies nach, dass die drei
verschiedenen Kegelschnitte (Ellipse, Parabel und Hyperbel), deren Namen und Definitionen er
einführte, vom selben allgemeinen Kegeltypus stammen.”
Vorbemerkung: Quadriken (Lösungsmengen von quadratischen Gleichungen in n Variablen)
werden für n = 2 oft mit Kegelschnitten “identifiziert”. Aussagen wie “Für n = 2 nennen wir
die Quadriken Kegelschnitte” verdecken aber
◦ die naheliegende Definition von Kegelschnitten als “Schnitten eines (Doppel-)Kegels mit
einer Ebene”
◦ die Tatsache, dass zum Beispiel die leere Menge zwar eine Quadrik ist, aber kein Schnitt
eines Kegels,
◦ die Frage, wann zwei Quadriken bzw. zwei Kegelschnitte gleich/äquivalent sind.
Im Folgenden werden wir
◦ Kegelschnitte als Schnitte eines (Doppel-)Kegels mit einer Ebene definieren, und (bis auf
Kongruenz-/Isometrie) klassifizieren
◦ Quadriken als Lösungsmengen von quadratischen Gleichungen definieren, durch Matrizen
darstellen, bis auf Isometrie klassifizieren, und auch bis auf affine Transformationen klassifizieren (jeweils mit “Normalform”)
◦ ableiten, dass für n = 2 die Kegelschnitte (bis auf Isometrie) genau die nicht-leeren Quadriken sind (Ausnahme: zwei parallele Geraden sind auch eine Quadrik, aber kein Kegelschnitt).
Unser Ausgangspunkt ist der “orthogonale” Kreiskegel C = {(x1 , x2 , x3 ) ∈ R3 : x21 +x22 = x23 }
(der ja eigentlich ein Doppelkegel ist). Wir schreiben ihn für das Folgende einfacher als
C = {(x, y, z) ∈ R3 : x2 + y 2 = z 2 }.
Schneidet man C mit einer Ebene E, so erhält man zum Beispiel
◦ für Schnitt mit z = c: einen Kreis, bzw. für c = 0 einen Punkt,
◦ für Schnitt mit y = c: eine Hyperbel, bzw. für c = 0 zwei sich schneidende Geraden,
◦ für Schnitt mit z = y + c: Parabel, Doppelgerade
Definition 4.1. Eine Teilmenge Q ⊂ R2 ist ein Kegelschnitt, wenn es eine Isometrie zwischen
R2 und einer Ebene E ⊂ R3 gibt, unter der Q auf C ∩ E abgebildet wird, also auf den Schnitt
der Ebene E mit dem Doppelkreiskegel C = {(x, y, z) ∈ R3 : x2 + y 2 = z 2 }
Wir betrachten also jetzt einen Schnitt von C mit einer beliebigen Ebene E, wobei wir die
Schnitte bis auf Isometrie klassifizieren. Wir können dabei die Symmetrien des Kreiskegels
32
ausnutzen, also annehmen, dass wir eine Ebene der Form z = c, c ≥ 0 betrachten, die wir dann
um einen Winkel ϕ, 0 ≤ ϕ ≤ π/2 (also um höchstens 90 Grad) um die y-Achse “kippen”.
Wir überlegen uns, dass die Isometrie, die Punkte der Ebene z = 0 auf eine solche “allgemeine”
Ebene gegeben ist, wie folgt abbildet:


   
 

  

x
x
0
x
cos ϕ 0 − sin ϕ
x
cos ϕ x − sin ϕ c
 y →
.
1
0  y  = 
y
7  y + 0  =  y  →
7  0
0
0
c
c
sin ϕ 0
cos ϕ
c
sin ϕ x + cos ϕ c
Die Bildpunkte dieser Transformation müssen also die Gleichung des Kreiskegels erfüllen:
(cos ϕ x − sin ϕ c)2 + y 2 = (sin ϕ x + cos ϕ c)2 .
Vereinfachung dieser Gleichung, unter Verwendung der Doppelwinkelsätze (Additionstheoreme) cos2 ϕ − sin2 ϕ = cos 2ϕ und 2 cos ϕ sin ϕ = cos 2ϕ ergibt
(cos 2ϕ)x2 − 2c sin 2ϕ x + y 2 = (cos 2ϕ)c2 ,
(3)
also eine polynomiale Gleichung vom Grad 2 in den Variablen x und y.
Fall 1. Für ϕ = π/4, also cos 2ϕ = 0 und sin 2ϕ = 1 ergibt dies
−2c x + y 2 = 0
1 2
y , und für c = 0 eine Gerade (genauer eine Doppelgerade)
also für c > 0 eine Parabel x = 2c
y 2 = 0.
Nehmen wir also jetzt ϕ 6= π/4 an, so können wir durch cos 2ϕ teilen und quadratisch ergänzen,
und erhalten
y2
= (1 + tan2 2ϕ)c2 .
(x − 2c tan 2ϕ)2 +
cos 2ϕ
Wenn wir jetzt x − 2c tan 2φ einfach durch x ersetzen, so entspricht das einer Translation, also
einer Isometrie, und wir erhalten
x2 +
y2
c2
=
.
cos 2ϕ
cos2 2ϕ
Fall 2. Für 0 ≤ ϕ < π/4 ist cos 2ϕ > 0, dann ist das für c > 0 die Gleichung einer beliebigen
2
2
(!) Ellipse, die man mit a2 := cosc2 2ϕ und b2 := cosc 2ϕ auf die Normalform
x2 y 2
+ 2 = 1
a2
b
mit a ≥ b > 0
bringen kann; für c = 0 erhält man entsprechend mit b2 := cos 2ϕ
x2 +
y2
= 0
b2
mit b > 0
also den Punkt (0, 0).
Fall 3. Für π/4 < ϕ ≤ π/2 ist cos 2ϕ < 0, dann ist das für c > 0 die Gleichung einer Hyperbel,
2
2
die man mit a2 := cosc2 2ϕ und b2 := − cosc 2ϕ auf die Normalform
x2 y 2
− 2 = 1
a2
b
mit a ≥ b > 0
33
bringen kann. Beachte, dass dies keine beliebige Hyperbel ist, sondern eine, bei der die Asymptoten eines Astes maximal einen rechten Winkel einschließen.
Für c = 0 erhält man entsprechend mit b2 := −cos 2ϕ
x2 −
y2
= 0
b2
mit b > 0
also zwei sich schneidende Geraden y = ±bx.
Damit haben wir im Wesentlichen den folgenden Satz bewiesen.
Theorem 4.2. Jeder Schnitt des “orthogonalen” Standard-Kreiskegels C = {(x, y, z) ∈ R3 :
x2 + y 2 = z 2 } mit einer Ebene im R3 sind isometrisch zu einer Menge aus genau einer der
folgenden sechs Familien:
2
2
1. eine Ellipse xa2 + yb2 = 1 mit a ≥ b > 0,
1 2
2. eine Parabel x = 2c
y mit c > 0,
2
2
x
3. eine Hyperbel a2 − yb2 = 1 mit a ≥ b > 0 (also mit Öffungswinkel α ≤ π/2),
4. zwei sich schneidende Geraden,
5. eine Gerade, oder
6. ein Punkt.
Umgekehrt tritt jede dieser Figuren mit den gegebenen Parametern auch als Schnitt auf.
24. Mai 2012
4.2
Quadriken
Achtung: wir haben eigentlich noch nicht definiert, was eine Ellipse/Hyperbel/Parabel eigentlich ist. Entsprechende Definitionen in verschiedenen Lehrbüchern sind ausgesprochen unbefriedigend. Achten Sie bei der Lektüre zum Beispiel darauf, euklidische oder affine Äquivalenz
zugelassen wird . . .
Jedenfalls sehen wir aus der Diskussion im vorherigen Abschnitt, mit Gleichung (3), dass die
Kegelschnitte alle Lösungsmengen von quadratischen Gleichungen sind, sie sind also “Quadriken”.
Definition 4.3. Eine Quadrik in einem n-dimensionalen affinen Raum ist die Lösungsmenge
Q ⊂ Rn einer Polynomgleichung vom Grad höchstens 2 in den Koordinaten.
Man spricht dabei von quadratischen Gleichungen. Die Quadrik wird auch als Nullstellenmenge
des Polynoms q(x1 , . . . , xn ) ∈ R[x1 , . . . , xn ] in den Koordinaten x1 , . . . , xn bezeichnet.
Lemma 4.4. Die Definition einer Quadrik ist unabhängig von den gewählten Koordinaten.
Jedes Bild einer Quadrik unter einer affinen Transformation (insbesondere also: unter einer
euklidischen Transformation) ist wieder eine Quadrik.
Jeder Schnitt einer Quadrik mit einem affinen Unterraum ist wieder eine Quadrik.
Prinzipiell lässt die obige Definition auch Polynome vom Grad höchstens 1 zu, also lineare
Polynome. Dieser Fall ist nicht besonders interessant: dann ist Q entweder leer, oder eine Hyperebene im Rn , oder der gesamte Rn . Wir lassen diese drei trivialen“ Fälle als Quadriken in
”
der Definition zu, ignorieren sie im Folgenden aber meist.
34
If Fall n = 1 ist Q also die Lösung einer quadratischen Gleichung, also besteht Q aus ein oder
aus zwei Punkten oder ist leer (oder ist ganz R).
Für n = 2 können wir die quadratische Gleichung wie folgt schreiben:
Q = {(x, y) ∈ R2 : ax2 + bxy + cy 2 + dx + ey + f = 0}
für a, b, c, d, e, f ∈ R.
Wenn (a, b, c) = (0, 0, 0), so erhalten wir eine lineare Gleichung, die Lösungsmenge ist dann
Gerade oder leer oder der R2 . Diesen Fall könnten wir also ausschließen . . .
Bessere Notation, mehrere Möglichkeiten:
n x o
1
Q =
∈ R2 : a11 x1 2 + 2a12 x1 x2 + a22 x2 2 + 2a01 x1 + 2a02 x2 + a00 = 0
x2
 

a00 a01 a02
1
n x o
1
=
∈ R2 : (1, x1 , x2 ) a10 a11 a12  x1  = 0
x2
a20 a21 a22
x2
für aij ∈ R2 (0 ≤ i, j ≤ 2).
Entsprechend können wir n-dimensionale Quadriken wie folgt schreiben:
n
o
X
Q = x ∈ Rn :
aij xi xj = 0, mit x0 := 1
0≤i,j≤n
o
n
1
a00 a0 t
n
t
=0
= x ∈ R : (1, x )
a0 A
x
n
o
c bt
1
n
t
= x ∈ R : (1, x )
=0
b A
x
= {x ∈ Rn : xt Ax + 2bt x + c = 0}
für A ∈ Rn×n symmetrisch, a0 ∈ Rn , a00 ∈ R
bzw. A ∈ Rn×n symmetrisch, b ∈ Rn , c ∈ R.
Aufgabe 15. Eine Quadrik im Rn enthalte die sieben Punkte 0, a, b, c, a + b, a + c und b + c.
Man zeige, dass sie auch den Punkt a + b + c enthält.
4.2.1
Euklidische Klassifikation der Quadriken
Im Folgenden werden Koordinatentransformationen angewandt, um die Quadriken auf besonders einfache, und eindeutig bestimmte, Gleichungen zu bringen, also auf Normalform“. Dabei
”
wenden wir in dieser Reihenfolge an:
(1) orthogonale Transformationen
(2) Translationen
(3) Skalierung
Dabei verwenden wir, dass die Kombination (1) von (2) eine beliebige Isometrie ergibt. Diese
Kombination muss uns also die Klassifikation der Quadriken bis auf Isometrie liefern. Lassen
wir zusätzlich Skalierung von Variablen zu, so ergibt das beliebige affine Transformationen,
und damit die entsprechende Klassifikation der Quadriken.
Fundamentales Hilfsmittel aus der Linearen Algebra ist der Spektralsatz für selbstadjungierte
Endomorphismen/symmetrische Matrizen:
35
Theorem 4.5 (Spektralsatz). Jeder selbstadjungierte Endomorphismus auf einem endlich-dimensionalen
reellen Vektorraum mit Skalarprodukt hat eine Orthonormalbasis aus Eigenvektoren.
Äquivalent: Für jede symmetrische Matrix A ∈ Rn×n (also mit At = A) gibt es eine orthogonale Matrix S ∈ Rn×n (also mit S t = S −1 ) so dass S t AS = Λ eine Diagonalmatrix ist.
Zur Äquivalenz der beiden Formulierungen: Die Diagonaleinträge von Λ sind die Eigenwerte
von A. Die Spalten von S bilden eine Orthonormalbasis aus Eigenvektoren von A, wobei für
die zweite Formulierung das Standardskalarprodukt auf dem Rn angenommen wird (was wegen
Gram–Schmidt zulässig ist). Damit ist der Spektralsatz konstruktiv: wir wissen, wie man S
konstruieren kann.
Sei nun die Quadrik Q ⊂ Rn gegeben als Menge der Nullstellen von
c bt
1
t
q(x) = (1, x )
b A
x
mit A = At ∈ Rn×n , b ∈ Rn , c ∈ R.
(1) Orthogonale Transformation. Wir konstruieren S ∈ O(n) so, dass

λ1

...



λk


λk+1

t
..

S AS = 
.

λk+`


0


...

















0
mit λ1 , . . . , λk > 0 und λk+1 , . . . , λk+` < 0. (Zum Beispiel kann man die nichtverschwindenden
Eigenwerte nach Größe ordnen, und erhält damit λ1 ≥ · · · ≥ λk > 0 > λk+1 ≥ · · · ≥ λk+` .)
Damit können wir das quadratische Polynom q(x) wie folgt faktorisieren:
1 0
1 0
c bt
1 0
1 0
1
t
q(x) = (1, x )
−1
t
0 S
0 S
b A
0 S
0 S
x
t
c b̄
1
= (1, x̄t )
b̄ Λ
x̄
mit x̄ := S −1 x, b̄ := S t b und Λ := S t AS.
Hier sind also die ersten k ≥ 0 Spalten von S orthonormale Eigenvektoren zu positiven Eigenwerten von A, die nächsten ` ≥ 0 Spalten von S sind orthonormale Eigenvektoren zu negativen
Eigenwerten von A, und die letzten n − k − ` ≥ 0 Spalten von S sind eine Orthonormalbasis für
den Eigenraum zum Eigenwert 0, also zum Kern von A. Dabei dürfen wir im Fall, dass das mehr
als eine Spalte ist, also für n − k − ` ≥ 2, annehmen, alle diese Spalten außer möglicherweise
der ersten, senkrecht auf b stehen, dass also die letzten n − k − ` − 1 Koordinaten von b̄ = S t b
verschwinden.
36
Damit liegt das Polynom q(x) jetzt in der Form
q(x) = λ1 x21 + · · · + λk+` xk+` 2 + 2b̄1 x1 + · · · + 2b̄k+`+1 xk+`+1 + c
vor. Dieses kann man nun durch eine quadratische Ergänzung vereinfachen, oder — äquivalent
dazu (!) — durch eine geeignete Translation.
(2) Translation. Eine Translation x 7→ x + u (also eine euklidische Abbildung) lässt sich in
den “homogenen” Koordinaten (mit zusätzlicher Koordinate x0 = 1) als lineare Abbildung
darstellen:
1
1 0t
1
1
7→
=
.
x
u+x
u E
x
wobei E die Einheitsmatrix darstellt (hier: E ∈ Rn×n ). Die Inverse der Translation um u ist die
Translation um −u. Daher faktorisieren wir weiter q(x) als
1 0
1 −ut
1 ut
1 0
c bt
1 0
1 0t
1 0t
1
0
1
(1, x )
t
−1
0 S
0 E
0 E
0 S
b A
0 S
u E
−u E
0 S
x
t
t
t
t
1
¯t ) c + 2b̄ u + u Λu b̄ + u Λ
= (1, x̄
¯
b̄ + Λu
Λ
x̄
t
mit x̄¯ = S t x − u.
25. Mai 2012
Nun setzen wir
r := rank A = rank Λ = k + `
und
c + 2b̄t u + ut Λu b̄t + ut Λ
c b̄t
c bt
.
= rank
= rank
r := rank
b̄ + Λu
Λ
b̄ Λ
b A
0
Dabei ist offenbar 0 ≤ r ≤ r0 ≤ r + 2, r ≤ n und r0 ≤ n + 1.
Fall 1: Liegt b im Spaltenraum von A, d.h. b̄ im Spaltenraum von Λ, also rank(b̄ Λ) = rank(Λ) =
k + `, so gibt es ein u mit b̄ + Λu = 0 (nämlich u := −Λ∗ b̄, wobei Λ∗ die Diagonaleinträge
λi −1 hat), und wir berechnen c + 2b̄t u + ut Λu = c − b̄t Λ∗ b̄ =: c̄¯. In diesem Fall “1b” ist r0 = r
wenn c̄¯ = 0 ist, und sonst sind wir im Fall “1a”, mit r0 = r + 1.
Fall 2: Liegt b nicht im Spaltenraum von A, d.h. b̄ nicht im Spaltenraum von Λ, so hat q(x) also
einen linearen Term, und wir können c durch eine weitere Translation wegtransformieren.
Insgesamt ergibt das den folgenden Normalformsatz:
Theorem 4.6 (Euklidische Hauptachsentransformation). Jede Quadrik im Rn (mit Ausnahme
der linearen Quadriken, also der Hyperebenen, sowie Q = ∅ und Q = Rn ) lässt sich durch
eine Isometrie auf eine der folgenden drei Typen von Normalformen bringen, für k ≥ 1, ` ≥ 0,
k + ` ≤ n, und 0 < a1 ≤ · · · ≤ ak , ak+1 ≥ · · · ≥ ak+` > 0:
(1a)
x2k+`
x21
x2k x2k+1
+
·
·
·
+
−
−
·
·
·
−
= 1,
a21
a2k
a2k+1
a2k+`
(1b)
x2k+`
x21
x2k x2k+1
+
·
·
·
+
−
−
·
·
·
−
= 0
a21
a2k
a2k+1
a2k+`
37
mit k ≥ ` und a1 = 1,
(2)
x2k+`
x21
x2k x2k+1
+
·
·
·
+
−
−
·
·
·
−
= 2xk+`+1
a21
a2k
a2k+1
a2k+`
mit k ≥ `, k + ` < n.
Hier ist r = k + `, und (1a) entspricht dem Fall r0 = r + 1, (1b) ist der Fall r0 = r, und (2) ist
der Fall r0 = r + 2.
Dass man jede Quadrik auf eine dieser Normalformen transformieren kann, haben wir im Wesentlichen bewiesen; dafür kann man zunächst annehmen, dass entweder c̄¯ = 0 gilt, oder c̄¯ = 1
(indem man nämlich im Fall c̄¯ 6= 0 die Gleichung durch c̄¯ teilt, und ggf. (für c̄¯ < 0) noch k und
` vertauscht. Nun setzt man λi =: a12 für i ≤ k und λi =: − a12 für k < i ≤ k + `. Die Bedingung
i
i
k ≥ 1 schließt die linearen Quadriken aus.
Eigentlich würde man den Normalformsatz so formulieren, dass die Normalformen alle unterschiedlich sind, und Quadriken mit unterschiedlicher Normalform, also mit unterschiedlichen
Daten
[Typ, k, `, a1 , a2 , . . . , ak+` ]
auch nicht ineinander transformierbar. Das ist für die oben angegebene Formulierung nicht ganz
richtig, aus zwei Gründen:
1. die Quadriken der Form (1b) haben im Fall k = ` zusätzliche Äquivalenzen, und
2. die Quadriken der Form (1b) für ` = 0 sind lineare Unterräume, die für k = 1 Hyperebenen (also lineare Quadriken) sind, und für k > 1 ist das Ergebnis unabhängig von den
ai .
Mit etwas mehr Mühe/Geduld lässt sich die obige Beschreibung aber zu so einer “eindeutigen
Normalform” verfeinern. Um dies zu formulieren, kann/müsste man insbesondere im Fall (1b)
lexikographische Ordnung etc. verwenden. Um sie zu beweisen, argumentiert man entweder
geometrisch, oder algebraisch — muss dann zeigen, dass die Gleichung durch die Quadrik im
Wesentlichen (bis auf Vielfache) eindeutig festgelegt ist — wieder bis auf die offensichtliche
Ausnahmen im Fall von linearen Quadriken (leer, Hyperebene, ganzer Rn ).
Wir geben die Klassifikation der nichtlinearen Quadriken für n = 2 tabellarisch an:
Typ k ` r r0 typische Gleichung Beschreibung
(1a)
(1a)
(1a)
(1b)
(1b)
(1b)
(2)
1
2
1
1
2
1
1
0
0
1
0
0
1
0
1
2
2
1
2
2
1
2
3
3
1
2
2
3
x2
a2
x2
a2
x2
a2
x2
a2
x2
a2
y2
b2
y2
b2
2
=1
+ =1
− =1
x =0
+ y2 = 0
− y2 = 0
x2
= 2y
a2
zwei parallele Geraden
Ellipse
Hyperbel
(Doppel-)Gerade
Punkt
Geradenpaar mit Schnittpunkt
Parabel
Wir diskutieren also nochmal die Aussage die Kegelschnitte sind genau die nicht-leeren ebe”
nen Quadriken“ . . . und stellen fest, dass es drei Ausnahmen gibt, nämlich die Ebene, die leere
Menge, und zwei parallele Geraden — alle drei Ausnahmen sind Quadriken, aber keine Kegelschnitte.
38
Genauso bekommen wir die nichtlinearen Quadriken im R3 als
Typ k ` r r0 typische Gleichung Beschreibung
(1a)
(1a)
(1a)
(1a)
(1a)
(1a)
(1b)
(1b)
(1b)
(1b)
(1b)
(2)
(2)
(2)
1
2
3
1
2
1
1
2
3
1
2
1
2
1
0
0
0
1
1
2
0
0
0
1
1
0
0
1
1
2
3
2
3
3
1
2
3
2
3
1
2
2
2
3
4
3
4
4
1
2
3
2
3
3
4
4
x2
a2
x2
a2
x2
a2
x2
a2
x2
a2
x2
a2
y2
b2
z2
c2
y2
b2
z2
c2
z2
c2
2
=1
+ =1
+ + =1
− =1
+ − =1
− − =1
x =0
x2
+ y2 = 0
a2
2
+ yb2 + z 2 = 0
x2
− y2 = 0
a2
2
+ yb2 − z 2 = 0
x2
= 2y
a2
y2
x2
+ b2 = 2z
a2
2
x2
− yb2 = 2z
a2
x2
a2
y2
b2
x2
a2
y2
b2
y2
b2
paralleles Ebenenpaar
Zylinder über einer Ellipse
Ellipsoid
Zylinder über einer Hyperbel
einschaliges Hyperboloid
zweischaliges Hyperboloid
Doppelebene
Gerade
Punkt
Ebenenpaar mit Schnittgerade
Kreiskegel
Zylinder über einer Parabel
elliptisches Paraboloid
hyperbolisches Paraboloid
Bemerkung 4.7. Die interessantesten Fälle sind offenbar die mit r0 = n + 1; alle anderen Quadriken erhält man als Zylinder oder Kegel über niedrigdimensionaleren Quadriken.
Unter den Quadriken im R3 mit r0 = n + 1 (nichtlinear, nicht Zylinder oder Kegel, also im Fall
(1b)) sind
◦ einschaliges Hyperboloid und
◦ hyperbolisches Paraboloid
Regelflächen, bei denen es durch jeden Punkt der Quadrik zwei Geraden gibt, die in der Quadrik
verlaufen. Unter den Regelflächen wird insbesondere auf das einschalige Hyperboloid hingewiesen — siehe die “Mae West”-Skulptur in München [3].
Aufgabe 16. Man zeige, dass sich jedes einschalige Hyperboloid H = {(x, y, z) ∈ R3 : ax2 +
by 2 − cz 2 = 1} als Vereinigung von (unendlich vielen) Geraden in R3 darstellen lässt.
Aufgabe 17. Man bestimme jeweils den Typ der folgenden Quadrik in R2 für a = 1, a = 4,
a = 7:
{(x, y) ∈ R2 : ax2 − 4xy + y 2 + 2x − y = 0}
Im Fall der Ellipse bestimme man die beiden Brennpunkte.
31. Mai 2012
4.2.2
Affine Klassifikation der Quadriken
Wenn wir nur auf Klassifikation der Quadriken bis auf affine Transformation interessiert sind,
dann dürfen wir insbesondere Koordinatentransformationen der Form xaii 7→ xi durchführen,
und bekommen damit aus dem euklidischen den affinen Normalformsatz:
Theorem 4.8 (Affine Hauptachsentransformation). Jede nicht-lineare Quadrik im Rn lässt sich
durch eine affine Transformation auf eine der folgenden drei Typen von Normalformen bringen,
für k ≥ 1, ` ≥ 0, k + ` ≤ n:
39
(1a) x21 + · · · + x2k − x2k+1 − · · · − x2k+` = 1,
(1b) x21 + · · · + x2k − x2k+1 − · · · − x2k+` = 0
mit k ≥ `,
(2) x21 + · · · + x2k − x2k+1 − · · · − x2k+` = 2xk+`+1
mit k + ` < n.
Dass man jede Quadrik auf eine dieser Normalformen transformieren kann, folgt aus dem euklidischen Fall mit einer zusätzlichen Substitution xaii 7→ xi .
Quadriken mit diesen Normalformen sind alle unterschiedlich sind und nicht durch affine Transformationen ineinander transformierbar — mit einer Ausnahme, nämlich der linearen Quadrik
im Fall (1b) mit ` = 0. Um das zu beweisen, argumentiert man wieder entweder geometrisch,
oder algebraisch.
4.3
4.3.1
Kegelschnitte und ihre Eigenschaften
Die Ellipse
. . . Definition:
— affines Bild eines Kreises,
2
2
— euklidisches Bild von Q = { xa2 + yb2 = 1}, mit b ≥ a > 0,
. . . hat zwei aufeinander senkrecht stehende Symmetrieachsen, x = 0 bzw. y = 0, die Hauptachsen; vergleiche dazu die Zeichnung aus Dürers berühmter “Underweysung der Messung,
mit dem Zirckel und Richtscheyt” [2]:
. . . hat vier Scheitelpunkte (±a, 0) und (0, ±b) auf den Hauptachsen (für a = b sind alle Geraden durch das Zentrum (0, 0) Symmetrieachsen, und alle Punkte auf der Ellipse Scheitelpunkte),
40
√
. . . hat Brennpunkte F = (c, 0) und F 0 = (−c, 0), für c := a2 − b2
(hier verwenden wir a ≥ b; für a = b fallen die Brennpunkte zusammen).
Proposition 4.9 (Drei Eigenschaften/Charakterisierungen der Brennpunkte).
• [“Gärtner-Konstruktion”] Für alle Punkte P = (x0 , y0 ) auf der Ellipse gilt
d(F, P ) + d(P, F 0 ) = 2a.
• [Reflexionseigenschaft] Lichtstrahlen, die von einem Brennpunkt ausgehen, und in der
Ellipse reflektiert werden, gehen durch den anderen Brennpunkt; das heißt, die Strecken
F P und F 0 P haben denselben Winkel zur Tangente an die Ellipse in P .
y
b
−a −c
0
P
c
ax
−b
• [Dandelin’sche Kugeln] 3-dimensionale geometrische Konstruktion
Lemma 4.10 (Tangentengleichung). Die Tangente ` an die Ellipse
P = (x0 , y0 ) ist gegeben durch
xx0 yy0
+ 2 = 1.
a2
b
41
x2
a2
+
y2
b2
= 1 im Punkt
Beweis. Ein Punkt (x, y), der wie P sowohl auf Q als auch auf ` liegt, erfüllt
x2 y 2
+ 2 = 1
a2
b
xx0 yy0
+ 2 = 1
a2
b
x20 y02
+ 2 = 1
a2
b
und damit
(x − x0 )2 (y − y0 )2
+
=0
a2
b2
also x = x0 und y = y0 .
Zwei affine“ Sätze über Ellipsen:
”
Proposition 4.11. [1, Sect. 2.2.3] Die Mittelpunkte der Schnitte einer Ellipse mit einer Parallelenschar liegen auf einem Durchmesser.
Aufgabe 18. Sei Q eine Ellipse und P ein Punkt in der Ellipse. Beschreiben Sie die Kurve, auf
der die Mittelpunkte der Schnittsegmente der Ellipse mit den Geraden durch P liegen.
Proposition 4.12. [1, Sect. 2.2.3] Zu jedem Durchmesser ` einer Ellipse gibt es einen anderen
Durchmesser `0 so dass:
• Die Mittelpunkte der Sehnen, die zu ` parallel sind, liegen auf `0 ,
• die Mittelpunkte der Sehnen, die zu `0 parallel sind, liegen auf `.
4.3.2
Die Hyperbel
. . . Definition:
— affines Bild Standardhyperbel xy = 1,
2
2
— euklidisches Bild von Q = { xa2 − yb2 = 1}, mit a, b > 0,
. . . hat zwei aufeinander senkrecht stehende Symmetrieachsen, x = 0 bzw. y = 0, die Hauptachsen,
. . . hat zwei Scheitelpunkte (±a, 0) auf den Hauptachsen, √
. . . hat Brennpunkte F = (c, 0) und F 0 = (−c, 0), für c := a2 + b2 ,
2
2
. . . hat zwei Asymptoten, die durch xa2 − yb2 = 0 gegeben sind, also bx ± ay = 0, und denen
sich die Hyperbeläste annähern,
. . . Konstruktion der Brennpunkte mit dem Zirkel! (Verwende Kreise mit Mittelpunkt (±a, 0)
durch (0, ±b))
Proposition 4.13 (Zwei Charakterisierungen der Brennpunkte).
• [“Gärtner-Konstruktion”] Für alle Punkte P = (x0 , y0 ) auf der Hyperbel gilt
|d(F, P ) − d(P, F 0 )| = 2a.
• [Reflexionseigenschaft] Lichtstrahlen, die auf einen Brennpunkt zielen, aber in der Hyperbel reflektiert werden, zielen dann auf den anderen Brennpunkt; das heißt, die Strecken
F P und F 0 P haben denselben Winkel zur Tangente an die Hyperbel in P .
42
y
P
−c −a
0
a
c
x
−b
Lemma 4.14 (Tangentengleichung). Die Tangente an die Hyperbel
P = (x0 , y0 ) ist gegeben durch
xx0 yy0
− 2 = 1.
a2
b
x2
a2
−
y2
b2
= 1 im Punkt
1. Juni 2012
Aufgabe 19. Haben eine Hyperbel und eine Ellipse dieselben Brennpunkte, so haben sie vier
Schnittpunkte, und sie schneiden sich in diesen senkrecht.
4.3.3
Die Parabel
. . . Definition:
— affines Bild der Standardparabel y = x2 ,
— euklidisches Bild von Q = {y = ax2 }, mit a > 0,
. . . hat nur eine Symmetrieachse, y = 0.
. . . der Scheitelpunkt ist (0, 0),
1
. . . der Brennpunkt ist F = (0, c), für c := 4a
,
. . . die Leitgerade ist L = {y = −c}.
Proposition 4.15 (Zwei Charakterisierungen der Brennpunkte).
• [Parabolspiegel!] Für alle Punkte P = (x0 , y0 ) auf der Parabel gilt
d(F, P ) = d(P, L).
• [Reflexionseigenschaft] Lichtstrahlen, die vom Brennpunkt ausgehen, und in der Parabel
reflektiert werden, sind danach parallel zur Symmetrieachse.
43
y
Q
P
c
x
−c
Aufgabe 20. Beweisen Sie Proposition 4.15
Lemma 4.16 (Tangentengleichung). Die Tangente an die Parabel y = ax2 im Punkt P =
(x0 , y0 ) ist gegeben durch
y = ax0 (2x − x0 ).
Anwendung/Illustration: “Fortune’s Sweep” zur Konstruktion von ebenen Voronoi-Diagrammen.
Selbst ausprobieren:
(Applet auf http://www.diku.dk/hjemmesider/studerende/duff/Fortune/)
44
[1] David A. Brannan, Matthew F. Esplen, and Jeremy J. Gray. Geometry. Cambridge University Press,
Cambridge, 1999.
[2] Albrecht Dürer. Unterweysung der Messung mit dem Zyrkel und Rychtscheydt. Nürnberg, 1525.
http://de.wikisource.org/wiki/Underweysung_der_Messung,_mit_dem_
Zirckel_und_Richtscheyt,_in_Linien,_Ebenen_unnd_gantzen_corporen/
Erstes_Buch.
[3] Günter M. Ziegler. Mathematik im Alltag: Der Name der Rose. Mitteilungen der DMV, 19(1):42–
44, 2011.
http://www.mathematik.de/ger/presse/ausdenmitteilungen/
artikel/mdmv-19-1-042.pdf.
45
5
Projektive Geometrie
5.1
Motivation
• Affine Geometrie: Punkte im Unendlichen“, so dass sich zwei Geraden in einer Ebe”
ne immer in einem Punkt schneiden; es gibt keine Parallen; perfekte Dualität zwischen
Punkten und Hyperebenen
• Gebrochen-lineare“ Transformationen können Geometrie vereinfachen, aber schieben
”
Hyperebenen nach Unendlich“
”
• Was passiert, wenn man bei Kegelschnitten die Ebene stetig verändert?
Ellipse → Parabel → Hyperbel?
• Zentralprojektion: Streckenverhältnisse ändern sich, aber “Doppelverhältnisse” bleiben
gleich.
Was haben wir davon? Geometrie mit
• perfekter Dualität
• vielen Transformationen, also vielen Möglichkeiten zur Vereinfachung
• Matrix-Beschreibung für Transformationen
Der n-dimensionale projektive Raum
5.2
5.2.1
Definition; mehrere Modelle
Definition 5.1 (Der n-dimensionale projektive Raum). Der n-dimensionale projektive Raum
RPn ist die Menge
RPn := {L ⊆ Rn+1 : L ist ein 1-dimensionaler linearer Unterraum}.
aller 1-dimensionalen Unterräume im Vektorraum Rn+1 .
Für −1 ≤ k ≤ n sind die k-dimensionalen projektiven Unterräume die Teilmengen
P (U ) := {L ∈ RPn : L ⊆ U }
für (k + 1)-dimensionale Unterräume U ⊆ Rn+1 .
Achtung: die projektive Dimension von P (U ) ist also gegeben durch
dim P (U ) = dim U − 1.
7. Juni 2012
Bemerkung 5.2 (Mehrere Modelle). Den Projektiven Raum RPn können wir äquivalent betrachten als
(1) Raum der eindimensionalen Unterräume im Rn+1 , wie hier definiert,
(2) die Menge der Vektoren in Rn+1 \ {0}, modulo Identifikation von Vielfachen,
(3) die Sphäre S n ⊂ Rn+1 modulo Identifizierung gegenüberliegender Punkte, oder
(4) affiner Raum Rn plus “Punkte im Unendlichen”.
Wichtig sind die Übersetzungen zwischen diesen Modellen, wobei wir identifizieren:
(1) einen eindimensionalen Unterräume im Rn+1 mit
(2) den nicht-verschwindenden Vektoren in den Unterraum, bzw.
46
(3) den (beiden) Vektoren der Länge 1 in dem Unterraum,
(4) dem Vektor in dem Unterraum mit x0 -Koordinate 1, bzw. sonst einer Richtung (d.h. einem
Element von RPn−1 ).
Notation: Wir können x für einen Punkt im Rn schreiben, dann
v = x̂ := x1
für den entsprechenden Punkt in 1 × Rn ⊂ Rn+1 , und
p = [v] := spanR {v}
für den Punkt in RPn , der durch ein beliebiges v ∈ Rn+1 , v 6= 0, gegeben ist.
Lemma 5.3. Zwei verschiedene Geraden G1 , G2 ⊂ RP2 schneiden sich in genau einem Punkt.
5.3
Projektive Transformationen
Definition 5.4 (Projektive Transformationen; Projektivitäten). Eine Abbildung f : RPm →
RPn heißt projektiv, wenn sie durch eine lineare Abbildung fˆ : Rm+1 → Rn+1 , x 7→ M x
induziert wird, für M ∈ R(n+1)×(m+1) . (Insbesondere muss dann x 7→ M x injektiv sein, A also
vollen Rang m haben, insbesondere also m ≤ n gelten.)
Eine projektive Transformation (oder Projektivität) ist eine projektive Abbildung f : RPn →
RPn . (Projektivitäten sind also die bijektiven projektiven Abbildungen.)
Lemma 5.5. Die projektiven Transformationen RPn → RPn eingeschränkt auf Rn ⊂ RPn
sind genau die gebrochen-linearen“ Transformationen x 7→ cAx+b
t x+δ für nichtsinguläre Matrix
”
t
δ c
.
b A
Beweis.
t
1
1
δ ct
1
c x+δ
7−→
=
∼ Ax+b .
b A
x
Ax + b
x
ct x+δ
Beachte:
◦ Die gebrochen-lineare Abbildung x 7→ cAx+b
t x+δ ist für c 6= 0 nur außerhalb der Hyperebene
t
H := {x : c + δ = 0} definiert. Interpretation: diese bildet H nach Unendlich“ ab.
”
◦ In einer projektiven Transformation
kann A ∈ Rn×n singulär sein, aber es gilt rankA ≥ n−1.
δ ct
◦ Vielfache der Matrix
erzeugen dieselbe projektive Transformation.
b A
Definition 5.6. Eine projektive Quadrik ist eine Teilmenge Q ⊂ RPn der Form
Q = {[v] ∈ RPn : v t M v = 0}
für eine symmetrische Matrix M ∈ R(n+1)×(n+1) , M 6= 0.
Aufgabe 21.
(i) Für jede projektive Quadrik Q ⊂ RPn ist Q̄ := Q ∩ Rn eine affine Quadrik.
47
(ii) Welche Quadriken treten als Q̄ auf? Das heißt, für welche affine Quadriken Q̄ gibt es eine
projektive Quadrik Q mit Q ∩ Rn = Q̄?
Ist Q in diesem Fall eindeutig?
Proposition 5.7 (Invarianten). Projektive Transformationen
(i) bilden projektive Unterräume auf projektive Unterräume (derselben Dimension!) ab,
(ii) bilden projektive Quadriken auf projektive Quadriken ab.
Definition 5.8 (Projektive Basis). Eine projektive Basis des RPn besteht aus n + 2 Punkten
p0 , p1 , . . . , pn+1 , von denen keine n + 1 auf einer Hyperebene (also in einem Unterraum der
Dimension n − 1) liegen.
Proposition 5.9 (Erster Hauptsatz der Projektiven Geometrie). Seien (p0 , p1 , . . . , pn+1 ) und
(p00 ,01 , . . . , p0n+1 ) zwei (geordnete) projektive Basen des RPn , so gibt es genau eine projektive
Abbildung f : RPn → RPn , die pi auf p0i abbildet (0 ≤ i ≤ n + 1).
8. Juni 2012
Beweis. Seien p̂i bzw. p̂0i entsprechende Vektoren im Rn+1 . Dann gibt es lineare Abhängigkeiten
λ0 p̂0 + · · · + λn+1 p̂n+1 und λ00 p̂00 + · · · + λ0n+1 p̂0n+1 , die beide bis auf Vielfache eindeutig sind,
und deren Koeffizienten nicht Null sind. Weiter sind (λ0 p̂0 , . . . , λn p̂n ) und (λ00 p̂00 , . . . , λ0n p̂0n )
Basen des Rn+1 , so dass λi p̂i 7→ λ0i p̂0i eine eindeutige lineare Abbildung definiert. Die linearen
Abhängigkeiten garantieren dann, dass λn+1 p̂n+1 7→ λ0n+1 p̂0n+1 .
Aufgabe 22. Beschreiben Sie die gebrochen-linearen Abbildungen, die die folgenden geordneten Basen aufeinander abbilden:
(i) (0, 0), (1, 0), (1, 1), (0, 1) → (0, 0), (1, 0), (0, 1), ( 31 , 13 ),
(ii) (0, 0), (1, 0), (1, 1), (0, 1) → (0, 0), (1, 0), (0, 1), (1, 1).
Aufgabe 23. Beschreiben Sie die gebrochen-linearen Abbildungen, die die folgenden geordneten affinen Quadriken aufeinander abbilden:
◦ den Einheiskreis K = {(x, y) ∈ R2 : x2 + y 2 = 1},
◦ die Normalparabel P = {(x, y) ∈ R2 : x2 = y} und
◦ die Hyperbel H = {(x, y) ∈ R2 : y 2 − x2 = 1}.
Wie sehen die zugehörigen linearen Transformationen im R3 aus?
Geben Sie eine stetige Familie von projektiven Transformationen an (als gebrochen-lineare Abbildungen auf R2 , bzw. als lineare Transformationen des R3 , die die drei Quadriken verbindet).
Korollar 5.10. Die projektiven Transformationen auf dem RPn bilden eine Gruppe.
Diese ist gegeben durch lineare Transformationen auf dem Rn+1 modulo Dilatationen, also
PGL(n, R) = GL(n + 1, R)/R∗
Die Dimension dieser Gruppe, also auch die Anzahl der Freiheitsgrade, die wir für eine projektive Transformation haben, ist (n + 1)2 − 1 = (n + 2)n.
Beispiel 5.11. In der Ebene, kann man mit projektiven Transformationen jedes Dreieck auf
jedes Dreieck abbilden, und jedes Viereck auf ein beliebiges Viereck (z.B. ein Einheitsquadrat),
aber nicht jedes Fünfeck auf ein beliebiges (z.B. das regelmäßige) Fünfeck.
48
Korollar 5.12 (Projektive Koordinaten). Die Vektoren e0 , e1 , . . . , en , e0 + · · · + en ∈ Rn+1
induzieren eine geordnete projektive Basis im RPn .
Ist nun (p0 , . . . , pn+1 ) eine beliebige geordnete Basis des RPn , so gibt es eine eindeutige Projektivität nach Hauptsatz 5.9. Diese induziert Koordinaten
(1 : 0 : 0 : · · · : 0) für p0 ,
(0 : 1 : 0 : · · · : 0) für p1 ,
..
.
(0 : 0 : 0 : · · · : 1) für pn ,
(1 : 1 : 1 : · · · : 1) für pn+1 ,
wobei die Notation (x0 : x1 : x2 : · · · : xn ) betont, dass diese Vektoren von “Koordinaten” nur
bis auf Vielfache definiert sind.
Mit diesen projektiven Koordinaten kann man rechnen. So entsprechen die Koordinatenvektoren
mit xn 6= 0 (ohne Einschränkung der Allgemeinheit: xn = 1) genau den Punkten im affinen
Raum Rn ⊆ RPn , während die Koordinatenvektoren mit xn = 0 genau den Punkten “im
Unendlichen” entsprechen. Punkte, die auf einer Hyperebene liegen, erfüllen eine homogene
lineare Gleichung, usw.
5.4
Das Doppelverhältnis
Definition 5.13 (Doppelverhältnis). Seien a, b, c, d ∈ RPn vier Punkte im RPn , die auf einer
Geraden liegen, mit a 6= b.
Dann können wir ĉ = αâ + β b̂, dˆ = γâ + δ b̂ schreiben.
Das Doppelverhältnis ist dann
[a, b; c, d] :=
βγ
β/α
=
∈ R ∪ {∞}.
δ/γ
αδ
Lemma 5.14. Das Doppelverhältnis ist wohl-definiert.
Beweis. Für den Beweis wählen wir â, b̂, ĉ, dˆ ∈ Rn+1 \ {0}, und beobachten, dass sich das
Doppelverhältnis nicht verändert, wenn wir die Vektoren â, b̂, ĉ, dˆ durch Vielfache ersetzen.
15. Juni 2012
Lemma 5.15. Wir identifizieren RP1 = R ∪ {∞}. Seien a, b, c, d ∈ RPn vier Punkte auf einer
Geraden, wobei a, b, c paarweise verschieden sein sollen. Dann gibt es genau eine projektive
Abbildung f : RP1 → RPn (die also den Punkten auf der Gerade eine “projektive Koordinate” zuordnet) mit f (∞) = a, f (0) = b und f (1) = c. Unter dieser Abbildung ist dann
f ([a, b; c, d]) = d, die durch a, b, c festgelegte “projektive Koordinate” auf der Geraden ist also
für d durch das Doppelverhältnis gegeben.
Lemma 5.16. Affine Teilungsverhältnisse sind Doppelverhältnisse: Liegen b, c, d auf einer affinen Geraden, a “im Unendlichen” auf der Geraden, mit dˆ = (1 − λ)b̂ + λĉ, b̂ 6= ĉ, so können
wir â = ĉ − b̂ setzen, also ĉ = â + b̂ und dˆ = λâ + b̂, und das ergibt [a, b; c, d] = λ.
Kurz also: [∞, b; c, (1 − λ)b + λc] = λ.
49
Bemerkung 5.17. Wir können das Doppelverhältnis immer dann definieren, wenn die vier Punkte a, b, c, d kollinear sind, und mindestens drei von ihnen verschieden. Falls a = b ist, setzen wir
dafür [a, a; c, d] = 1.
Aufgabe 24. Wie müssen vier verschiedene Punkte a, b, c, d auf einer (projektiven) Geraden
liegen, damit das Doppelverhältnis [a, b; c, d] positiv ist? Und wann gilt [a, b; c, d] < 0.
Theorem 5.18 (Invarianten). Projektive Transformationen erhalten Doppelverhältnisse. Sind
also unter a, b, c, d ∈ RPm mindestens drei verschiedene Punkte, und ist f : RPm → RPn , so
gilt
[a, b; c, d] = [f (a), f (b); f (c), f (d)].
Beweis. Wir stellen a, b, c, d dar durch â, b̂, ĉ, dˆ ∈ Rm+1 , und f durch A ∈ R(n+1)×(m+1) . Gilt
ĉ = αâ + β b̂, dˆ = γâ + δ b̂, so folgt Aĉ = αAâ + βAb̂, Adˆ = γAâ + δAb̂, und damit ergeben
f (a), f (b), f (c), f (d) dieselben Parameter α, β, γ, δ und damit auch dasselbe Doppelverhältnis.
Im Fall a = b argumentiert man separat.
Proposition 5.19. Seien a, b, c, d ∈ Rn mit [a, b; c, d] = λ. Dann gilt
(1) [a, b; c, d] = [b, a; d, c] = [c, d; a, b] = [d, c; b, a] = λ,
(2) [a, b; d, c] = [b, a; c, d] = λ1 ,
(3) [a, c; b, d] = 1 − λ
(4) und damit sind alle anderen Werte des Doppelverhältnisses einer Permutation der vier
Punkte festgelegt; dabei können nur 6 verschiedene Werte auftreten, nämlich λ, λ1 , 1 − λ,
1
λ
und λ−1
.
1 − λ1 , 1−λ
Beweis. Wegen Theorem 5.18 genügt es, dies für n = 1 zu beweisen.
(1) und (4) folgen aus (2) und (3).
Dabei ist (2) ziemlich offensichtlich, während (3) auf eine polynomiale Identität zwischen Determinanten hinausläuft, eine “3-Term Grassmann-Plücker-Identität”.
Proposition 5.20 (Zentralprojektion). Sind a, b, c, d und A, B, C, D jeweils kollineare Punkte,
so dass sich die Geraden aA, bB, cC, dD schneiden (bzw. so dass es einen Punkt o gibt, der
nicht auf den beiden Geraden abcd und ABCD liegt und oaA, obB, ocC, odD kollinear sind),
so gilt [a, b, c, d] = [A, B, C, D].
Beweis. Wegen Theorem 5.18 genügt es, dies für n = 2 zu beweisen.
Man konstruiert leicht eine projektive Transformation (“Zentralprojektion”), die o festhält und
a auf A und b auf B abbildet, und so weiter: Dafür arbeiten wir wieder im Rn+1 , ergänzen dort
ô, â, b̂ zu einer Basis, und legen die lineare Abbildung Rn+1 → Rn+1 dadurch fest, dass wir ô
auf sich selbst abbilden und â 7→ Â, b̂ 7→ B̂, und die weiteren Basisvektoren (für n > 2) wieder
auf sich selbst. Die lineare Abbildung induziert eine projektive Abbildung mit o 7→ o, a 7→ A
und b 7→ B. Diese erhält Kollinearitäten, also wird c auf C und d auf D abgebildet. Beweis
unvollständig, muss noch ergänzt werden! Und dann können wir Theorem 5.18 anwenden.
Projektive Abbildungen erhalten Doppelverhältnisse. Es gilt aber auch eine Umkehrung:
Theorem 5.21 (Zweiter Hauptsatz der Projektiven Geometrie). Jede bijektive Abbildung f :
RPm → RPn , die kollineare Punkte auf kollineare Punkte (also Geraden auf Geraden) abbildet
und Doppelverhältnisse erhält, ist eine projektive Abbildung.
50
Bemerkung: für n ≥ 2 braucht man die Bedingung über Doppelverhältnisse nicht, dann muss
man für den Beweis aber signifikant härter arbeiten; siehe Fischer [2, Abschnitt 3.3]. Es sind
die bijektiven Abbildungen, die Kollinearitäten erhalten (“Kollineationen”) also genau die,
die durch lineare Abbildungen induziert sind (“Projektivitäten”). Im Fall, dass man Geometrie über einem allgemeinen Körper K arbeitet, muss man weiterhin Körperautomorphismen
berücksichtigen, die ebenfalls Kollinearitäten induzieren.
Aufgabe 25. Definieren Sie die projektive Geometrie CP2 und ihre Geraden. Zeigen Sie, dass
sich zwei verschiedene Geraden immer in genau einem Punkt schneiden.
Definieren Sie Kollinearitäten sowie projektive Abbildungen. Zeigen Sie, Zeigen Sie, dass die
Konjugation z 7→ z̄ eine Kollinearität CP2 → CP2 induziert, die aber keine Projektivität ist.
5.5
5.5.1
Projektive Inzidenzgeometrie
Schnitt und Verbindung
Seien U, V ⊂ RPn projektive Unterräume, dann ist der Schnitt U ∧ V := U ∩ V wieder
projektiver Unterraum. Dieser ist auch der größte Unterraum, der sowohl in U als auch in V
enthalten ist. In dieser Charakterisierung wird er auch als Meet von U und V bezeichnet und als
U ∧ V notiert.
Aber U ∪ V ist üblicherweise kein projektiver Unterraum.
Definition 5.22 (Verbindung). Die Verbindung (oder auch der Join) U ∨V von zwei projektiven
Unterräumen U, V ⊂ RPn ist der Schnitt aller projektiven Unterräume, die U ∪ V enthalten.
Proposition 5.23 (Dimensionsformel: Modulare Gleichung). Für beliebige projektive Unterräume
U, V ⊂ RPn gilt
dim U + dim V = dim(U ∧ V ) + dim(U ∨ V ).
Beweis. Dies folgt sofort aus der Dimensionsformel für lineare Unterräume Û , V̂ ⊆ Rn+1 für
lineare Unterräume, mit dim P (Û ) = dim U − 1 für P (Û ) = U usw.
Korollar 5.24. Gilt dim U + dim V ≥ n für U, V ⊆ RPn , so folgt U ∩ V 6= ∅.
Korollar 5.25. Sei H ⊂ RPn eine Hyperebene und p ∈ RPn \ H. Dann schneidet jede Gerade
durch p die Hyperebene H in einem einzigen Punkt.
5.5.2
Dualität
Theorem 5.26. Für jedes n ≥ 0 gibt es eine Abbildung, die jedem projektiven Unterraum von
U ⊆ Rn einen projektiven Unterraum U ∗ ⊆ RPn zuordnet mit
• dim U ∗ = n − 1 − dim U ,
• (U ∗ )∗ ,
• U ⊆ V ⇔ V ∗ ⊆ U ∗,
• U ∧ U ∗ = ∅, U ∨ U ∗ = RPn .
Die Abbildung U 7→ U ∗ heißt auch Dualitätsabbildung. Sie bildet insbesondere Punkte auf
Hyperebenen ab, und umgekehrt.
51
Beweis. Für U = P (Û ) setze U ∗ := P (Û ⊥ ).
Damit übersetzt sich jedes Inzidenztheorem in ein duales Inzidenztheorem. Beispiele:
(i) Zwei verschiedene Geraden im RP2 schneiden sich in genau einem Punkt ←→
Zwei verschiedene Punkte im RP2 liegen auf genau einer
Gerade
(ii) n Geraden in allgemeiner Lage im RP2 bestimmen n2 Schnittpunkte ←→
n Punkte in allgemeiner Lage im RP2 liegen auf n2 Verbindungsgeraden
(iii) n Punkte in der projektiven Ebene, nicht alle auf einer Geraden, bestimmen immer eine
Verbindungsgerade, die genau zwei der Punkte enthält ←→
n Geraden in der projektiven Ebene, nicht alle durch einen Punkt, bestimmen immer einen
Schnittpunkt, der auf genau zwei Geraden liegt
(das ist der Satz von Sylvester–Gallai, siehe [1, Kap. 10])
(iv) Drei Ebenen im RP3 haben immer einen gemeinsamen Punkt ←→
Drei Punkte im RP3 liegen immer auf einer Ebene.
(v) etc.
Aufgabe 26. Welche mögliche Konfigurationen gibt es für drei Geraden im RP3 ?
Und für drei 2-dimensionale Unterräume im RP5 ?
5.5.3
Pappus und Desargues
Theorem 5.27 (Satz von Pappus). Sind A, B, C Punkte auf einer Geraden G und A0 , B 0 , C 0
Punkte auf einer Geraden G0 , und ist γ der Schnittpunkt von AB 0 mit A0 B, β der Schnittpunkt
von AC 0 mit A0 C, α der Schnittpunkt von BC 0 mit B 0 C, so sind α, β, γ kollinear.
Beweis. Nach projektiver Transformation (!) dürfen wir annehmen, dass αγ die Gerade im
Unendlichen ist.
Schneiden sich G und G0 in der affinen Ebene, so betrachtet man die affinen Streckungen ϕ :
A 7→ B und ψ : B 7→ C mit Zentrum G ∩ G0 . Affine Streckungen erhalten Parallelität, also gilt
ϕ : B 0 7→ A0 und ψ : C 0 7→ B. Also ψ ◦ ϕ : A 7→ C, ϕ ◦ ψ : C 0 7→ A0 . Es gilt aber ψ ◦ ϕ = ϕ ◦ ψ.
Sind G und G0 parallel, so argumentiert man separat.
Beobachtung: Kommutativität spielt eine entscheidende Rolle im Beweis. (In der Tat ist der
Satz von Pappus für projektive Geometrie über einem Schiefkörper nicht richtig.)
Theorem 5.28 (Satz von Desargues). Dreiecke ABC und A0 B 0 C 0 sind perspektivisch (also die
Verbindungsgeraden entsprechender Ecken AA0 , BB 0 , CC 0 konkurrent) dann und nur dann
wenn die Schnittpunkte α = BC ∩ B 0 C 0 β = AC ∩ A0 C 0 γ = AB ∩ A0 B 0 der entsprechenden
Seiten kollinear sind.
21. Juni 2012
Beweis. Für “⇐=”: Nach projektiver Transformation liegen α, β, γ auf der Geraden im Unendlichen. Also ist ABkA0 B 0 , ACkA0 C 0 und BCkB 0 C 0 . Damit sind die Dreiecke ABC und
A0 B 0 C 0 ähnlich, ihr Zentrum kann durch Schnitt von Geraden ausgerechnet werden.
Dabei verwendet man das “Lemma von Thales”, wonach parallele Geraden auf unterschiedlichen Geraden dieselben Teilungsverhältnisse induzieren — was man nachrechnen kann.
Für “=⇒”: Dualität!
52
Beobachtung: Arithmetik spielt eine entscheidende Rolle im Beweis. (In der Tat ist der Satz
von Desargues für “synthetische” projektive Ebenen nicht richtig.) Es gibt einen 3D-Beweis für
den Satz von Desargues – aber in der Tat lässt sich jede “synthetische” projektive Raum der
Dimension n ≥ 3 über einem Schiefkörper koordinatisieren.
Bemerkung 5.29. Vorsicht bei der Formulierung mit degenerierten Versionen!
Vergleiche Richter-Gebert [4, Example 1.1]:
Bemerkung 5.30. Es gibt vielfältige Verallgemeinerungen: So kann man im Satz von Pappus
die Vereinigung der beiden Geraden G ∪ G0 durch einen beliebigen Kegelschnitt ersetzen (“Satz
von Pascal” http://de.wikipedia.org/wiki/Satz_von_Pascal)!
5.6
Quadriken
Theorem 5.31 (Projektive Hauptachsentransformation). Jede Quadrik im Rn (mit Ausnahme
der linearen Quadriken, also der Hyperebenen, sowie Q = ∅ und Q = Rn ) lässt sich durch eine
(d.h., gebrochen-lineare) projektive Transformation auf eine Normalform der Form
1 + x21 + · · · + x2k − x2k+1 − · · · − x2k+` = 0,
mit k + 1 ≥ ` ≥ 1, k + ` ≤ n bringen.
In projektiven Koordinaten:
Q = {(x0 : x1 : · · · : xn ) ∈ RPn : x20 + · · · + x2k − x2k+1 − · · · − x2k+` = 0}
mit k + 1 ≥ ` ≥ 1, k + ` ≤ n.
53
Beweis. Wir schreiben Q als
c bt
1
Q = {x ∈ R : (1, x )
= 0}
b A
x
n
t b 1
= {x ∈ R : (1, x )A
= 0}
x
n
t
b ∈ R(n+1)×(n+1) symmetrisch.
für A ∈ Rn×n symmetrisch, b ∈ Rn , c ∈ R, bzw. A
b symmetrisch ist, gibt es eine orthogonale Matrix Sb ∈ O(n + 1) so dass Sbt A
bSb diagonal
Weil A
ist, also gleich diag(λ0 , λ1 , . . . , λk , −λk+1 , . . . , −λk+` , 0, . . . , 0) mit λi > 0, und dann eine
√
b ∈ R(n+1)×(n+1) mit Diagonaleinträgen 1/ λi für 0 ≤ i ≤ k + `, so dass
Diagonalmatrix D
b Sbt A
bSbD
b = diag(1, . . . , 1, −1, . . . , −1, 0, . . . , 0).
D
Die Tatsache, dass bei dieser Koordinatentransformation k und ` eindeutig bestimmt sind, folgert man aus Sylvester’scher Trägheitssatz [2, S. 186] [3, S. 362]: k + 1 ist nämlich die Dimenbx positiv definit ist,
sion des größten Unterraums von Rn+1 , auf dem die quadratische Form x
bt Ab
und genauso für ` und negativ definit.
b durch −A
b ersetzt.
Die Bedingung k + 1 ≥ ` stellt man her, indem man ggf. A
Aufgabe 27. Welche Quadrik wird durch x0 x1 +x1 x2 +x2 x0 = 0 im RP2 bzw. im R2 definiert?
Welche Quadrik wird durch x0 x1 + x1 x2 + x2 x3 + x3 x0 = 0 im RP3 definiert?
[1] Martin Aigner and Günter M. Ziegler. Das BUCH der Beweise. Springer-Verlag, Heidelberg Berlin,
third edition, 2009.
[2] Gerd Fischer. Analytische Geometrie. Vieweg, Wiesbaden, 2001. 7. Auflage.
[3] Gerd Fischer. Lernbuch Lineare Algebra und Analytische Geometrie. Vieweg+Teubner, Wiesbaden,
2011.
[4] Jürgen Richter-Gebert. Mechanical theorem proving in projective geometry. Annals of Mathematics and Artificial Intelligence, 13:139–172, 1995. vs24.kobv.de/opus4-zib/files/101/
SC-93-05.pdf.
54
6
6.1
Was ist (eine) Geometrie?
Axiomatische Beschreibungen von Geometrie
Nach Euklid ca. 300 vor Christus [2, 3] und Hilbert 1899 [5]; siehe auch Artmann [1], Hartshorne [4]).
So beschreibt Hilbert in den “Grundlagen der Geometrie” ein System von Axiomen für eine
Menge von Elementen, die “Punkte” heißen, mit Teilmengen, die “Geraden” heißen, so dass
ein Satz von Axiomen erfüllt ist:
• 8 Axiome der Verknüpfung (Inzidenz)
• 4 Axiome der Anordnung
• 5 Axiome der Kongruenz
• ein Parallelenaxiom
• 2 Axiome der Stetigkeit.
Das Hilbert’sche Axiomensystem findet man beispielsweise zusammengefasst unter
de.wikipedia.org/wiki/Hilberts_Axiomensystem_der_euklidischen_Geometrie.
Mühsame Arbeit ergibt dann, dass die Axiome unabhängig voneinander sind, widerspruchsfrei
sind (unter der Annahme, dass die elementare Arithmetik widerspruchsfrei ist), und vollständig:
dass damit die Geometrie in R2 und R3 eindeutig beschrieben ist.
Problem: es gibt auch viele sehr unsymmetrische, unnatürliche etc. Systeme, die sinnvolle Axiomensysteme für Geometrie erfüllen können. Die Axiome sehen teilweise sehr willkürlich aus.
Es stellt sich heraus, dass projektive Geometrie einfacher und konziser beschrieben werden kann
(nach Veblen & Young 1905).
Definition 6.1. Eine projektive Geometrie ist ein Paar P = (P, L), wobei die Elemente von P
Punkte und die Elemente von L Geraden heißen, mit L ⊆ 2P (die Geraden sind Mengen von
Punkten), mit
Axiom 1 Durch zwei verschiedene Punkte gibt es genau eine Gerade.
Axiom 2 Sind A, B, C ∈ P verschiedene Punkte und schneidet ` ∈ L die Geraden AB und
BC in unterschiedlichen Punkten, dann schneidet sie auch AC. (“Axiom von Pasch”)
Axiom 3 Jede Gerade enthält mindestens 3 Punkte; es gibt mindestens zwei verschiedene Geraden.
Theorem 6.2 (Veblen & Young). Gilt in einer projektiven Geometrie der Satz von Desargues,
so ist sie als projektiver Raum über einem Schiefkörper darstellbar.
Gilt in einer projektiven Geometrie der Satz von Pappus, so ist sie sogar als projektiver Raum
über einem Körper darstellbar.
(Nach Hessenberg 1905 impliziert der Satz von Pappus den Satz von Desargues.)
Fügt man Axiome der Ordnung und Stetigkeit hinzu, dann kann man weiter auch den RPn
charakterisieren.
6.2
Kleins Erlanger Programm
In seiner Antrittsvorlesung in Erlangen (1872) hat Felix Klein eine andere Sichtweise auf Geometrie propagiert: als eine Menge von Elementen, die “Punkte” heißen, mit einer transitiven
55
Gruppenaktion, die zeigt, wie der Raum von jedem Punkt aus gleich aussieht. Eigenschaften
der Geometrie sind dann Invarianten der Gruppenaktion, wie z.B. Geraden, Unterräume, etc.
Wir versuchen die Idee von Klein formal zu fassen.
Definition 6.3. Eine Geometrie ist eine Menge X von Elementen, die Punkte heißen, mit Wirkung einer Gruppe G, die transitiv und treu auf X wirkt.
(Transformationsgruppe: jedem Element g ∈ G entspricht eine Bijektion ϕg : X → X, so dass
ϕe die Identität ist, und ϕg ◦ ϕh (x) = ϕg (ϕh (x)) gilt: Die Wirkung ist transitiv, wenn es für
beliebige x, y ∈ X ein g ∈ G gibt mit ϕ(x) = y. Die Wirkung ist treu, wenn nur das neutrale
Element e ∈ G als Identität wirkt.)
Aufgabe der Geometrie (als Wissenschaft) ist dann das Studium der Eigenschaften/Strukturen,
die unter der Transformationsgruppe invariant sind (also erhalten bleiben).
Beispiele n-dimensionaler Geometrien (Tabelle im Folgenden noch zu vervollständigen):
Geometrie
euklidisch
X
Rn
Gruppe G
Rn o O(n)
dim G
n+1
Ähnlichkeit
Rn
Rn o (O(n)×R>0 )
affin
Rn
Rn o GL(n, R)
n(n + 1)
projektiv
RPn
GL(n + 1, R)/R∗
n(n + 2)
sphärisch
elliptisch
hyperbolisch
Möbius
Sn
2
n+1
2
+1
Invarianten
Kollinearität (⇒ Unterräume); Abstände
(⇒ Winkel, Volumina)
Kollinearität; Abstandsverhältnisse (⇒
Winkel, Volumenverhältnisse)
Kollinearität;
Abstands-/
Teilungsverhältnisse auf Geraden
Kollinearität; Doppelverhältnisse; Quadriken
Hier ist mit R∗ die multiplikative Gruppe R\{0} gemeint. Üblich sind die Bezeichnungen
PO(n + 1) = O(n + 1)/(±I) und PGL(n + 1, R) = GL(n + 1, R)/R∗ für die Transformationsgruppen von elliptischer bzw. projektiver Geometrie.
Viele dieser Geometrien sind Teilgeometrien/Erweiterungen von anderen – wobei wir einige
erst noch kennenlernen werden:
Definition 6.4. Eine Teilgeometrie einer Geometrie (X, G) ist gegeben durch eine Teilmenge
X 0 ⊆ X und eine Untergruppe G0 ⊆ G, die X 0 erhält (also ϕg0 (x0 ) ∈ X 0 für x0 ∈ X 0 und
g 0 ∈ G0 ), so dass sich jede Transformation g 0 ∈ G0 eindeutig auf X fortsetzt, es also keine
unterschiedlichen Gruppenelemente in G gibt, die auf X 0 dieselbe Wirkung zeigen.
In diesem Fall heißt (X, G) auch eine Erweiterung der Geometrie (X 0 , G0 )
.
elliptisch
projektiv
↓
affin
↓
Ähnlichkeit
↓
euklidisch
56
&
hyperbolisch
[1] Benno Artmann. Euclid — The Creation of Mathematics. Springer-Verlag, New York, 1999.
[2] Oliver Byrne. The First Six Books of the Elements of Euclides. web presentation by Bill Casselman;
http://www.math.ubc.ca/˜cass/Euclid/byrne.html.
[3] Euclid. The Elements. web presentation by David E. Joyce;
http://aleph0.clarku.edu/˜djoyce/java/elements/toc.html.
[4] Robin Hartshorne. Geometry: Euclid and Beyond. Undergraduate Texts in Math. Springer-Verlag,
New York, 2000.
[5] David Hilbert. Grundlagen der Geometrie. Chelsea Publishing Company, Leipzig, 1899. mit zahlreichen Neuauflagen, zuletzt bei Teubner, Stuttgart 1999.
57
22.6.2012
7
Sphärische und elliptische Geometrie
Hier diskutieren wir ausführlicher sphärische Geometrie, also
X = S n,
G = O(n + 1)
und dann, davon abgeleitet, elliptische Geometrie, also
X = S n /(x ∼ −x) = RPn ,
7.1
G = PO(n + 1) = O(n + 1)/(±I).
Sphärische Zweiecke
Kollineare Punkte auf der Sphäre sind Punkte, die auf einem Großkreis liegen (also auf einem
Schnitt der S n mit einem 2-dimensionalen Unterraum).
Definition 7.1 (Hemisphäre, Zweieck). Eine Hemisphäre auf der S n ist eine Teilmenge von der
Form
HN := {x ∈ S n : hx, N i ≥ 0}
wobei N ∈ S n der Pol der Hemisphäre ist (N ∈ Hn , −N ∈
/ HN ).
Ein Zweieck ist der Schnitt von zwei verschiedenen, nicht gegenüberliegenden Hemisphären,
also HN ∩ HN 0 mit N 6= ±N 0 .
Lemma 7.2. Jede Hemisphäre hat die Hälfte des Volumens der n-dimensionalen Sphäre. Ein
Zweieck hat einen Anteil von alpha/2π am Volumen der n-Sphäre, wobei α der Innenwinkel
des Zweiecks ist (und α
b der Außenwinkel), also
α
b + α = π,
α
α
b
hN, N 0 i = cos α
b,
m
n
α
58
hN, N 0 i = − cos α.
7.2
Sphärische Dreiecke
Sehr viel Geometrie lässt sich von der Geometrie von Dreiecken ableiten.
Jedes Dreieck liegt in einer 2-dimensionalen Hypersphäre, also dem Schnitt der S n mit einem
3-dimensionalen Unterraum des Rn+1 . Daher nehmen wir im Folgenden ohne Einschränkung
der Allgemeinheit an, dass wir ein sphärisches Dreieck in der S 2 betrachten.
Definition 7.3 (Dreieck). Ein Dreieck 4 ⊂ S 2 ist in der sphärischen Geometrie ein Schnitt
dreier Hemisphären
4 := HA0 ∩ HB 0 ∩ HC 0
deren Pole A0 , B 0 , C 0 nicht kollinear sind (also nicht auf einem Großkreis liegen).
Lemma 7.4. Jedes sphärische Dreieck 4 ⊂ S 2 lässt sich auch beschreiben als
4 = {x ∈ S 2 : x = λA + µB + νC, λ, µ, ν ≥ 0}
für drei nicht kollineare Punkte A, B, C ∈ S 2 , die Ecken des Dreiecks.
C
a
b
A
c
B
Beweis. Die Punkte A, B, C sind gegeben durch
B0 × C 0
A= 0
,
|B × C 0 |
C 0 × A0
B= 0
,
|C × A0 |
A0 × B 0
C= 0
.
|A × B 0 |
Mit dieser Konstruktion überprüft man
hA0 , Ai > 0,
hB 0 , Ai = 0,
hC 0 , Ai = 0,
hA0 , Bi = 0,
hB 0 , Bi > 0,
hC 0 , Bi = 0,
hA0 , Ci = 0,
hB 0 , Ci = 0,
hC 0 , Ci > 0.
Alternativ: Die zwei Gleichungen in der ersten Spalte legen A fest bis auf einen freien Parameter, |A| = 1 legt dann A fest bis auf das Vorzeichen, hA0 , Ai > 0 legt das Vorzeichen fest.
59
Lemma 7.5. Im Dreieck 4 = ABC sind die Kantenlängen (in der intrinsischen Metrik der
Sphäre, vom Radius 1) gegeben durch
cos a = hB, Ci,
cos b = hC, Ai,
cos c = hA, Bi
und die äußeren Winkel durch
cos α
b = hB 0 , C 0 i,
cos βb = hC 0 , A0 i,
cos γ
b = hA0 , B 0 i,
mit Innenwinkeln α = π − α
b usw.
Proposition 7.6. Zu jedem Dreieck 4 = ABC gibt es das duale Dreieck 40 = A0 B 0 C 0 so dass
• das Duale des Dualen ist das Ausgangsdreieck: 400 = 4,
• die Kantenlängen des Dreiecks sind die Außenwinkel des Dualen, und umgekehrt: a0 = α
b,
usw.
Lemma 7.7 (Dreiecksungleichungen). Die Kantenlängen, Außenwinkel und Innenwinkel des
sphärischen Dreiecks 4 = ABC erfüllen
a+b−c>0
a−b+c>0
α
b + βb − γ
b>0
α
b − βb + γ
b>0
α+β−γ <π
α−β+γ <π
−a+b+c>0
−α
b + βb + γ
b>0
−α+β+γ <π
a + b + c < 2π
α
b + βb + γ
b < 2π
α + β + γ > π.
Beweis. Die ersten drei Ungleichungen für die Seitenlängen folgen aus der Dreiecksungleichung für die Metrik auf der Sphäre. Die vierte folgt aus
a+b+c = d(B, C)+d(C, A)+d(A, B) < d(B, C)+d(C, −B)+d(−B, A)+d(A, B) = π+π.
Die Ungleichungen für die Außenwinkel folgen daraus sofort nach Proposition 7.6, und damit
auch die Ungleichungen für die Innenwinkel mit α = π − α
b usw.
Insbesondere wissen wir aus Lemma 7.7, dass in jedem sphärischen Dreieck die Winkelsumme
α + β + γ größer ist als π.
Theorem 7.8. Die Fläche des Dreiecks 4 = ABC mit Innenwinkeln α, β, γ ist α + β + γ − π.
Beweis. Die Zweiecke, die von den Innenwinkeln von 4 und von denen des gegenüberliegenden
Dreiecks −4 aufgespannt werden, überdecken die Sphäre S 2 ganz, dabei die Dreiecke 4 und
−4 dreifach, den Rest aber einfach. Also erhalten wir
(2α + 2β + 2γ) + (2α + 2β + 2γ) = 4π + 2Vol(4) + 2Vol(4),
also
4α + 4β + 4γ = 4π + 4Vol(4).
Aufgabe 28. Sei V ein sphärisches Viereck, dessen vier Kanten alle gleich lang sind, und dessen Innenwinkel alle 2π/3 (also 120◦ ) betragen. Berechnen Sie die Fläche von V auf zwei
verschiedene Weisen, sowie den Umfang von V .
60
Aufgabe 29. Gegeben sei ein rechtwinkliges Dreieck mit Kathetenlängen 3π/8 und π/2. Berechnen Sie Umfang und Fläche des Dreiecks, falls es (i) ein sphärisches Dreieck (ii) ein euklidisches Dreieck (also in der Ebene R2 ) ist. Welches Dreieck ist größer?
−A
C
−∆
∆
−C
A
28. Juni 2012
Proposition 7.9. Seien a, b, c ∈ R.
(i) Ein sphärisches Dreieck mit den Kantenlängen a, b, c existiert dann und nur dann, wenn
die vier Dreiecksungleichungen
a+b−c>0
a−b+c>0
−a+b+c>0
a + b + c < 2π
erfüllt sind.
(ii) Wenn das Dreieck existiert, dann ist es eindeutig bis auf Kongruenztransformationen.
Beweis. Wir dürfen A, B im Abstand c auf dem Äquator platzieren, und betrachten die Kreisscheiben KA und KB vom Radius b bzw. a um A bzw. B.
Wir brauchen, dass die Kreisscheiben überlappen und sich die Randkreise in zwei Schnittpunkten (in der oberen und in der unteren Hemisphäre) schneiden. Das wird durch die vier Ungleichungen garantiert: Wenn a + b ≤ c ist, dann sind die beiden Kreisscheiben disjunkt. Wenn
a + c ≤ b, dann ist KB ⊂ KA ; wenn b + c ≤ a, dann ist KA ⊂ KB . Wenn a + b + c ≥ 2π, dann
ist KA ∪ KB = S 2 , die Kreischeiben überdecken die Sphäre, aber die Randkreise schneiden
sich nicht.
61
a
c
b
In allen anderen Fällen gibt es wie gewünscht die beiden Schnittpunkte, und daraus folgt Existenz und Eindeutigkeit des Dreiecks.
In jedem sphärischen Dreieck kann man aus den Seitenlängen die Winkel berechnen (wie in
der euklidischen Geometrie, mit Hilfe des Kosinussatzes!), aber auch aus den Winkeln die Seitenlängen berechnen.
Proposition 7.10 (Kosinussatz). Im sphärischen Dreieck mit Kantenlängen a, b, c und Außenbγ
winkeln α
b, β,
b gilt der Seitenkosinussatz
cos α
b=
− cos a + cos b cos c
sin b sin c
und der Winkelkosinussatz
cos a =
− cos α
b + cos βb cos γ
b
.
sin βb sin γ
b
und entsprechend für cos βb und cos γ
b bzw. cos b und cos c bei gleichzeitiger Permutation von
b
a → b → c und α
b→β→γ
b.
Beweis 1 (nach Pak [3, p. 360]). Wir dürfen nach einer Drehung annehmen, dass A im Nordpol
der Sphäre liegt, und B, C auf Großkreisen durch den Nordpol, die den Äquator in B̄ bzw. C̄
schneiden.
Wenn wir A, B, C, B̄, C̄ als Einheitsvektoren behandeln, so gilt offenbar
B = (cos c)A + (sin c)B 0
C = (cos b)A + (sin b)C 0 .
Nun gilt hB 0 , C 0 i = cos α, hB, Ci = cos a, sowie hA, B 0 i = hA, C 0 i = 0 und damit
cos a = hB, Ci = h(cos c)A+(sin c)B 0 , (cos b)A+(sin b)C 0 i = . . . = cos c cos b+sin c sin b cos α.
Der Winkelkosinussatz folgt dann aus Dualität.
Beweis 2 (nach Springborn [4, p. 7]). Seien V := (A B C) ∈ R3×3 und W := (A0 B 0 C 0 ) ∈
R3×3 die Basismatrizen, die dem Dreieck bzw. dem polaren Dreieck entsprechen.
62
Die Gram-Matrix zu V ist dann die symmetrische, positiv-definite Matrix

 

hA, Ai hA, Bi hA, Ci
1
cos c cos b
1
cos a .
G := V t V = hB, Ai hB, Bi hB, Ci = cos c
hC, Ai hC, Bi hC, Ci
cos b cos a
1
Genauso gehört zu W die Gram-Matrix
 0 0
 

hA , A i hA0 , B 0 i hA0 , C 0 i
1
cos γ
b cos βb
b
1
cos α
b .
G0 := W t W = hB 0 , A0 i hB 0 , B 0 i hB 0 , C 0 i = cos γ
0
0
0
0
0
0
hC , A i hC , B i hC , C i
cos βb cos α
b
1
Und schließlich berechnen wir das Produkt
 0
  0

hA , Ai hA0 , Bi hA0 , Ci
hA , Ai
0
hB 0 , Bi
0  =: D,
W t V = hB 0 , Ai hB 0 , Bi hB 0 , Ci =  0
0
0
0
0
hC , Ai hC , Bi hC , Ci
0
0
hC , Ci
eine Diagonalmatrix mit positiven Diagonaleinträgen, also invertierbar.
Damit können wir G0 einerseits aus W berechnen, also aus cos α
b, cos βb und cos γ
b, andererseits
t
−1
t −1
0
t
aus V mit W = DV
und W = (V ) D, und damit G = W W = DV −1 (V t )−1 D =
−1
DG D, und damit aus a, b und c.
Gleichsetzen der beiden Ausdrücke für G0 und Vergleich der Matrixeinträge liefert zuerst Formeln für die Diagonaleinträge von D, und dann die Seitenkosinussätze.
Die Winkelkosinussätze erhält man entweder analog, oder viel einfacher aus der Dualität von
Proposition 7.6.
Wir geben zwei weitere, wichtige Formeln/Resultat der sphärischen Geometrie ohne Beweis
an.
Proposition 7.11 (Sinussatz). Im sphärischen Dreieck mit Kantenlängen a, b, c und Außenwinbγ
keln α
b, β,
b gilt
sin b
sin c
sin a
=
=
.
sin α
b
b
sin βb sin γ
(Dies gilt natürlich genauso für die Innenwinkel α, β, γ, wegen α
b = π − α und damit sin α
b=
sin α, usw.)
Proposition 7.12 (Napier’sche Regel). Im rechtwinkligen sphärischen Dreieck mit Seitenlängen
a, b, c, Innenwinkeln α, β sowie γ = π/2, und “Seitenkomplementen” ā := π/2 − a, b̄ := π/2 − a
gilt
cos c = sin ā sin b̄ = cot α cot b,
sowie die vier weiteren Gleichungen, die man durch die zyklische Vertauschung
c → α → b̄ → ā → β → c
daraus gewinnen kann.
63
b̄
b
α
a
α
β
β
c
7.3
ā
c
Sphärische und Elliptische Geometrie
Im letzten Abschnitt haben wir die Geometrie von sphärischen Dreiecken in der S 2 analysiert.
Alle Ergebnisse gelten aber genauso in der S n (n ≥ 2), weil jedes Dreieck der S n in einer
2-dimensionalen Untersphäre liegt.
Weiter kann man analysieren, dass die hochdimensionale Geometrie sehr weitgehend aus der
Geometrie von Dreiecken abgeleitet werden kann. Siehe zum Beispiel die Beiträge zur “Coarse
Metric Geometry” von Mikhail Gromov, dem Abel-Preisträger von 2010, vgl. Burago, Burago
& Ivanov [1].
Trotzdem ist auch festzustellen, dass die Gewinnung von expliziten Formeln, zum Beispiel
für das Volumen eines sphärischen Tetraeders aus den Kantenlängen, schwierig ist, und tief
in andere Bereiche der Mathematik führt — zum Beispiel in die Algebraische Topologie (KTheorie!), siehe Dupont [2].
Die Geometrie, die wir dabei betrachten, ist nach Klein durch
X = Sn
G = O(n + 1)
gegeben. Zu den Invarianten gehört dann die Metrik
d(x, y) = cos−1 hx, yi,
die Werte im Intervall [0, π] annimmt.
Die Dimension der Gruppe O(n + 1) ist 21 n(n + 1), genau wie die der Gruppe Eukl(n).
Will man eine Geometrie im Sinne von Euklid und Hilbert gewinnen, in der es durch zwei
verschiedene Punkte immer genau eine Gerade gibt, so muss man gegenüberliegende Punkte
auf der Sphäre identifizieren:
Definition 7.13 (Elliptische Geometrie). Für die Elliptische Geometrie nehmen wir als Punkte
die Paare von antipodalen Punkten von S n , als Geraden die Mengen der Antipodenpaare auf
einem Großkreis. Wir erhalten so die Geometrie
X = S n /(x ∼ −x) = RPn
G = O(n + 1)/(±I) = PO(n + 1).
In dieser Geometrie geht nicht nur durch zwei verschiedenen Punkte genau eine Gerade, sondern zwei verschiedene Geraden schneiden sich immer in genau einem Punkt, es gibt also keine
Parallelen — genau wie in der projektiven Geometrie (X = RPn , G = PGL(n + 1, R), mit
64
n2 − 1 = n(n + 2) Freiheitsgraden), wobei die elliptische Geometrie aber eine viel kleinere
Gruppe hat, und dafür mehr Invarianten, unter anderem die Metrik
d(x, y) = min{cos−1 hx, yi, cos−1 hx, −yi} = cos−1 |hx, yi|,
die Werte im Intervall [0, π/2] annimmt.
Die Dimension der Gruppe PO(n + 1) ist 21 n(n + 1), genau wie die der Gruppe O(n + 1).
Dreiecke, Winkel, Volumina etc. verhalten sich dabei sehr ähnlich wie in der sphärischen Geometrie, wobei die Geometrie nur für ungerades n orientierbar ist.
Aufgabe 30. Berechnen Sie die Kantenlängen, Winkel, Fläche und Umfang des Dreiecks mit
den Ecken Berlin (Geographische Lage: 52◦ 310 N, 13◦ 240 O), Brüssel (50◦ 510 N, 4◦ 210 O)
und Athen (37◦ 590 N, 23◦ 440 O) auf der Erdkugel, auf der der Abstand von den Polen zum
Äquator bekanntlich 10.000 km beträgt.
[1] Dmitri Burago, Yuri Burago, and Sergei Ivanov. A Course in Metric Geometry, volume 33 of Graduate Studies in Math. Amer. Math. Soc., 2001.
[2] Johan L. Dupont. Scissors congruences, group homology and characteristic classes, volume 1 of
Nankai Tracts in Mathematics. World Scientific, Singapore, 2001.
[3] Igor Pak. Lectures on discrete and polyhedral geometry. book manuscript at http://www.math.
ucla.edu/˜pak/geompol8.pdf, version of April 20, 2010.
[4] Boris A. Springborn. Geometry I. Lecture Notes, TU Berlin/Berlin Mathematical School,
2007/08, 59 pp., ftp://ftp.math.tu-berlin.de/pub/Lehre/GeometryI/WS07/
geometry1_ws07.pdf.
65
8
Möbiusgeometrie
29. Juni 2012
Quelle/Referenz für dieses Kapitel: Springborn [1, Lectures 28/29]
8.1
Spiegelung an einer Sphäre
Jede Hyperebene H ⊂ Rn kann in der Form H = {x ∈ Rn : hx − a, vi = 0} geschrieben
werden, wobei a ∈ H ist und v 6= 0 ein Normalenvektor ist.
Die Spiegelung an H ist gegeben durch
x 7−→ x = x − 2
Dabei liegt x
b =: x −
hx−a,vi
x
hx,xi
hx − a, vi
v.
hv, vi
auf der Hyperebene, und es gilt |x − x
b| = |x − x
b|.
v
x
x
a
Sehr ähnlich definiert man die Spiegelung (oder “Inversion”) an einer Sphäre.
Definition 8.1 (Spiegelung an einer Sphäre). Sei S(c, r) := {x ∈ Rn : hx − c, x − ci = r2 } die
Sphäre mit Mittelpunkt c ∈ Rn und Radius r > 0.
Die Spiegelung an S(c, r) ist die Abbildung
s : x 7−→ x = c +
r2
(x − c).
hx − c, x − ci
x
r
x
c
Wir notieren:
• x liegt auf dem Strahl, der in c beginnt und durch x geht.
• Dabei gilt |x − c||x − c| = r2 .
• Die Punkte auf S(c, r) werden auf sich selbst abgebildet.
66
• Die Abbildung ist eine Involution: x 7→ x 7→ x = x.
• Die Abbildung ist für x = c nicht definiert. Wir fügen einen Punkt im Unendlichen “∞”
hinzu, und definieren dann die Abbildung als c 7→ ∞ and ∞ 7→ c.
• Mit dieser Festsetzung ist die Spiegelung an der Sphäre S(c, r) eine Bijektion Rn ∪
{∞} → Rn ∪ {∞}.
8.2
Möbiusgeometrie
Definition 8.2 (Möbiustransformationen, Möbiusgeometrie). Eine Möbiustransformation ist eine Abbildung f : Rn ∪ {∞} → Rn ∪ {∞}, die sich als Hintereinanderausführung von endlich
vielen Spiegelungen in Hyperebenen und/oder Sphären darstellen lässt.
Ist eine Möbiustransformatione ein Hintereinanderausführung einer geraden Anzahl von Spiegelungen, so ist sie orientierungserhaltend, andernfalls ist sie orientierungsumkehrend.
Die Gruppe der Möbiustransformationen bezeichnen wir mit Möb(n), die Untergruppe der orientierungserhaltenden Möbiustransformationen mit Möb+ (n).
X = Rn ∪ {∞},
G := Möb(n).
In dieser Definition sind natürlich einige Behauptungen versteckt, etwa dass Möb(n) wirklich
eine Gruppe ist und Möb+ (n) eine Untergruppe, und dass Orientierung wohldefiniert ist.
Lemma 8.3. Ähnlichkeitsabbildungen sind Möbiustransformationen:
Ähnl(n, R) = Rn o (O(n) × R>0 ) ⊆ Möb(n).
Beweis. Jede orthogonale Abbildung in O(n) ist eine Hintereinanderausführung von höchstens
n Spiegelungen an Hyperebenen.
Translationen kann man durch Spiegelung an zwei parallelen Hyperebenen erzeugen.
Die Streckung
x 7→ λx erhält man durch Spiegelung an S n−1 = S(0, 1), gefolgt von Spiegelung
√
an S(0, λ).
Hinweis: Mit “Sphären” bezeichnet man in der Möbiusgeometrie oft nicht nur die (n − 1)dimensionale Sphären S(c, r) ⊂ Rn , sondern auch die Hyperebenen (interpretiert als “Sphären
durch ∞”).
Theorem 8.4. Möbiustransformationen bilden Hyperebenen und Sphären auf Hyperebenen und
Sphären ab.
Beweis. (1) Es reicht, das für die Spiegelung in der Einheitssphäre S n−1 ⊂ Rn−1 zu zeigen,
weil jede Sphäreninversion in einer beliebigen Sphäre S dargestellt werden kann als
– Ähnlichkeitstransformation, die S auf S(0, 1) abbildet,
– gefolgt von Inversion in S(0, 1)
– gefolgt von Umkehrung der Ähnlichkeitstransformation.
(2) Wir zeigen, dass
{x ∈ Rn : p|x|2 − 2hx, vi + q = 0}
67
für |v|2 − pq > 0
genau die Sphären (also (n − 1)-Sphäre und Hyperebenen) im Rn beschreibt. Für p = 0 folgt
nämlich v 6= 0, und wir haben eine Hyperebenengleichung. Für p 6= 0 zeigt quadratische
Ergänzung, dass dies eine Sphärengleichung ist.
(3) Rechnung: Für x := |x|1 2 x gilt
p|x|2 − 2hx, vi + q = 0
⇐⇒
q|x|2 − 2hx, vi + v = 0.
Aufgabe 31. Beschreiben Sie das Bild der folgenden Konfiguration
nach einer stereographischen Inversion
• in einem der abgebildeten Kreise,
• in einem Kreis mit Mittelpunkt in einem der Berührpunkte.
Theorem 8.5 (Möbiustransformationen sind lokal winkelerhaltend (“konform”)). Möbiustransformationen erhalten lokal die Winkel zwischen glatten Kurven (insbesondere: Geraden, Kreise)
die sich schneiden.
Beweis. Weil Ähnlichkeitsabbildungen offenbar konform sind, reicht es, dies für die Inversion
in der Einheitssphäre x 7→ |x|1 2 x nachzuweisen.
Nun rechnet man das Differenzial dieser Abbildung (oder, wer mutiger ist, einer beliebigen
∂si
Sphäreninversion s : Rn ∪ {∞} → Rn ∪ {∞}) aus, also die Matrix Ds = ( ∂x
), und zeigt, dass
j
diese Matrix eine Ähnlichkeitsabbildung beschreibt, also Vielfaches einer orthogonalen Matrix
ist.
Bemerkung 8.6. (1) “winkelerhaltend” gilt auch bei ∞, wenn man den Winkel im Unendlichen
geeignet interpretiert. (Dazu betrachtet man Geraden durch den Mittelpunkt der Sphäre, in der
invertiert wird.)
(2) Für n > 2 gilt auch die Umkehrung: eine konforme Abbildung ist eine Möbiustransformation.
Auch schon lokal. Für n = 2 ist das global auch richtig, lokal aber völlig falsch: Riemann’scher
Abbildungssatz. Trotzdem ist komplexe Interpretation wichtig, siehe nächster Abschnitt.
Umkehrung von Theorem 8.4:
Proposition 8.7. Für n > 1 sind die Abbildungen f : Rn ∪{∞} → Rn ∪{∞}, die Hyperebenen
und Sphären auf Hyperebenen und Sphären abbilden, genau die Möbiustransformationen.
68
Beweis. Eine solche Abbildung bildet insbesondere auch Kreise und Geraden (die 1-dimensionalen Schnitte von Hyperebenen und Sphären) auf Kreise und Geraden ab.
(1) Im Fall f (∞) = ∞ werden alle Geraden auf Geraden abgebildet. Also haben wir es nach
Theorem 3.5 mit einer affinen Abbildung zu tun. Weiter dürfen wir (nach einer Translation)
annehmen, dass die Abbildung 0 auf 0 abbildet. Also ist die Abbildung linear.
Wenn nun weiter die Einheitssphäre auf die Einheitssphäre abgebildet wird, dann ist die Abbildung eine Ähnlichkeitstransformation (nämlich ein Vielfaches einer orthogonalen Abbildung).
(2) Gilt f (∞) = c, so sei g die Inversion in der Sphäre S(c, 1). Weil die Sphäreninversion g
Hyperebenen und Sphären auf Hyperebenen und Sphären abbildet, gilt dies auch für die Abbildung g ◦ f . Die Abbildung g ◦ f bildet nach ∞ nach ∞ ab, ist also nach Fall (1) eine
Möbiustransformation. Weil g = g −1 als Sphäreninversion aber auch eine Möbiustransformation
ist, gilt dies auch für f .
Bemerkung: für n = 1 ist das natürlich falsch.
Erweiterung von Lemma 8.3:
Korollar 8.8. Ähnlichkeitstransformationen sind genau die Möbiustransformationen, die ∞
fixieren.
Korollar 8.9. Für die n-dimensionale Möbiusgeometrie ist die Anzahl
der Freiheitsgrade, also
n+2
1
die Dimension der Gruppe Möb(n), gleich 2 (n + 2)(n + 1) = 2 .
Beweis. n Freiheitsgrade für den Punkt, der durch Inversion g in einer Sphäre vom Radius 1
nach Unendlich abgebildet wird. g ◦f ist dann eine Ähnlichkeitstransformation,
und für die gibt
es (wie schon diskutiert) n + 1 + n2 Freiheitsgrade, mit n2 = dim O(n).
Aufgabe 32. Beschreiben Sie die Möbiustransformationen, die die folgenden Folgen von Punkten aufeinander abbilden:
(i) (0, 0), (1, 0), (0, 1) → (0, 0), (1, 0), (2, 0),
(ii) (0, 0), (1, 0), (0, 1) → (0, 0), (1, 0), (−1, 0).
8.3
Komplex-projektive Interpretation der 2-dimensionalen Möbiusgeometrie
Im Fall n = 2 können wir den R2 mit der komplexen Zahlenebene identifizieren, R2 ∪ {∞}
also mit C ∪ {∞}.
Die Möbiustransformationen in der Ebene können wir alle als gebrochen-lineare komplexe oder
konjugiert-komplexe Funktionen darstellen:
• orientierungserhaltende Ähnlichkeitstransformationen sind z 7→ az + b für a, b ∈ C,
|a| = 1,
orientierungsumkehrende Ähnlichkeitstransformationen sind z 7→ az + b für a, b ∈ C,
|a| = 1,
• Spiegelung an der x-Achse ist z 7→ z,
• Spiegelung im Einheitskreis ist z 7→
1
z0
|z|2
69
= z1 .
b = C ∪ {∞}
Proposition 8.10. Die orientierungserhaltenden Möbiustransformationen auf C
sind genau die Transformationen
az + b
a b
für a, b, c, d ∈ C mit det
6= 0,
z 7→
c d
cz + d
b =
die orientierungsumkehrenden Möbiustransformationen auf C
tionen
az + b
a
z 7→
für a, b, c, d ∈ C mit det
c
cz + d
sind genau die Transforma
b
6= 0.
d
Beweis.
(1) Die angegebenen gebrochen-linearen Transformationen bilden eine Gruppe: Die orientierungserhaltenden sind dabei genau die projektiven Transformationen von CP1 .
(2) Als Spezialfälle identifizieren wir alle oben angegebenen Erzeuger für die Möbiustransformationen in der Ebene; also ist die Gruppe Möb(2) in der Gruppe der gebrochen-linearen
komplexen Funktionen enthalten.
(3) Umgekehrt sieht man aus
a
bc − ad
az + b
= +
cz + d
c c(cz + d)
für c 6= 0, dass jede gebrochen-lineare Funktion sich als Komposition der oben angegebenen
Erzeuger schreiben lässt. Entsprechend gilt das, wenn wir z durch z erzeugen. Daraus folgt
auch die umgekehrte Inklusion: Jede gebrochen-lineare komplexe oder konjugiert-komplexe
Funktion ist eine Möbiustransformation.
Insbesondere sehen wir also, dass Möb+ (2) ∼
= PGL(2, C).
Aus der Identifikation der Möbiusgruppe der Ebene mit komplex-projektiven Transformationen
können wir nun leicht mehrere wichtige Schlussfolgerungen ziehen
Korollar 8.11. (1) orientierungserhaltende Möbiustransformationen der Ebene erhalten das
komplexe Doppelverhältnis
[z1 , z2 ; z3 , z4 ] =
(z1 − z3 )(z2 − z4 )
,
(z2 − z3 )(z1 − z4 )
für vier beliebige komplexe Zahlen z1 , z2 , z3 , z4 ∈ C ∪ {∞} von denen mindestens drei
verschieden sind, orientierungsumkehrende Möbiustransformationen konjugieren das Doppelverhältnis.
(2) “6-Punkte-Formel”: Sind z1 , z2 , z3 und w1 , w2 , w3 jeweils drei verschiedene Werte, so gibt
es genau eine gebrochen-lineare Funktion f ∈ PGL(2, z) mit f (zi ) = f (wi ).
(3) Vier Punkte z1 , z2 , z3 , z4 ∈ C liegen genau dann auf einem Kreis, wenn ihr Doppelverhältnis
reell ist.
70
5. Juli 2012
8.4
Stereographische Projektion als Möbiusabbildung
Definition 8.12 (Stereographische Projektion). Sei S n = S(0, 1) ⊂ Rn+1 die Einheitssphäre,
und sei H ⊂ Rn+1 die durch xn+1 = 0 (Variante 1) bzw. xn+1 = −1 (Variante 2) gegebene
Hyperebene, welche wir (durch weglassen der konstanten letzten Koordinate, also 0 oder −1)
mit Rn identifizieren können.
Die stereographische Projektion ist die Abbildung
S n → H ∪ {∞},
die dadurch gegeben wird, dass der Nordpol N ∈ S N auf ∞ abgebildet wird, und jeder andere
Punkt von P ∈ S n auf eindeutigen Schnittpunkt der Geraden P N mit der Hyperebene H.
Variante 1:
N
O
Sn
H = {x ∈ Rn+1 | xn+1 = 0}
Variante 2:
N
O
Sn
H = {x ∈ Rn+1 | xn+1 = −1}
Proposition 8.13. Die Stereographische Projektion ist die Einschränkung einer Möbiustrans√
formation Rn+1 ∪ {∞} → Rn+1 ∪ {∞}, nämlich der Sphäreninversion in der Sphäre S(N, 2)
in Variante 1 bzw. der Sphäre S(N, 2) in Variante 2.
Beweis. Die Sphäreninversion bildet (in beiden Varianten) Geraden durch den Mittelpunkt N
der Inversionssphäre auf Geraden durch N ab, andererseits die Sphäre S n auf die Hyperebene
H ∪ {∞} ab — also den Schnittpunkt jeder Gerade mit S \ {N } auf den Schnittpunkt derselben
Geraden mit H. Daraus folgt schon alles.
Korollar 8.14. Die stereographische Projektion ist konform.
71
Korollar 8.15. Möb(n) ist genau die Menge aller bijektiven Abbildungen f : S n → S n , die
Kreise auf Kreise abbilden. Genauso ist dies die Menge aller bijektiven Abbildungen, die (n −
1)-dimensionale Teilsphären auf ebensolche abbilden.
Beweis. Mit Hilfe der (inversen) stereographischen Transformation können wir die n-dimensionale
Möbiusgeometrie auch auf der n-dimensionalen Sphäre X := S n ⊂ Rn+1 interpretieren.
Damit transportieren wir die Aussage, dass die Möbiustransformationen auf X = Rn ∪ {∞}
genau die bijektiven Abbildungen sind, die Hyperebenen und Sphären auf Hyperebenen und
Sphären abbilden — und genauso Kreise und Geraden auf Kreise und Geraden.
8.5
Lorentz-Geometrie
Definition 8.16. Für p, q ≥ 0 bezeichnet Rp,q den Vektorraum Rn+1 mit der Bilinearform
hx, yi := x1 y1 + · · · + xp yp − xp+1 yp+1 − · · · − xp+q yp+q ,
die wir als Skalarprodukt bezeichnen.
Allgemeiner könnten wir mit einen endlich-dimensionalen reellen Vektorraum Rm arbeiten, auf
dem eine symmetrische Bilinearform gegeben ist, die nicht degeneriert (die also vollen Rang
hat: nur der Nullvektor ergibt mit jedem anderen Vektor Null), die aber nicht notwendigerweise
positiv definit ist.
In dieser Situation kann man den Algorithmus von Gram–Schmidt so anpassen, dass er doch
eine “Orthogonalbasis” e1 , . . . , en liefert, für die


für 1 ≤ i = j ≤ p,
1
hei , ej i = −1 für p < i = j ≤ p + q,


0
für i 6= j
gilt. Hier ist p die maximale Dimension eines Unterraums, auf dem h·, ·i positiv definit ist,
q die maximale Dimension eines Unterraums, auf dem das Skalarprodukt negativ definit ist.
Insbesondere gilt p + q = m (weil das Skalarprodukt nach Annahme nicht degeneriert ist), und
die Kennzahlen p und q sind für alle Orthogonalbasen dieselben. Das Paar (p, q) heißt der Index
des Vektorraums.
Mit O(p, q) bezeichnet man die Gruppe aller orthogonalen Transformationen auf Rp,q , die also
das Skalarprodukt erhalten. Uns interessiert im Folgenden besonders der Spezialfall q = 1.
Definition 8.17 (Lorentz-Raum). Der Raum Rn,1 , also der Vektorraum Rn+1 mit dem Skalarprodukt
hx, yi := x1 y1 + · · · + xn yn − xn+1 yn+1
heißt ein Lorentz-Vektorraum.
Die Lorentz-Gruppe aller linearen Transformationen T : Rn+1 → Rn+1 , die das Skalarprodukt
erhalten, für die also hT v, T wi = hv, wi für alle v, w gilt, wird mit O(n, 1) bezeichnet.
72
Lemma 8.18 (Koordinatendarstellung). Eine Matrix A ∈ O(n, 1) ist dadurch charakterisiert,
dass die Spalten eine Orthonormalbasis bezüglich des gegebenen Skalarprodukts bilden, dass
also
At EA = E
gilt, wobei E die Diagonalmatrix
E=
In 0
0t −1
bezeichnet.
1
Definition 8.19 (Bezeichungen aus der Relativitätstheorie). Ein Vektor x ∈ Rn, heißt
• raumartig, wenn hx, xi > 0,
• lichtartig, wenn hx, xi = 0,
• zeitartig, wenn hx, xi < 0.
Der Doppelkegel der lichtartigen Vektoren heißt der Lichtkegel.
R
zeitartig ( innerhalb“ des Lichtkegels)
”
lichtartig (auf dem Lichtkegel)
raumartig ( außerhalb“ des Lichtkegels)
”
Rn
Beispiel 8.20. Im Lorentz-Raum R1,1 ist das Skalarprodukt durch hx, yi = x1 y1 −x2 y2 gegeben.
Die Mengen {x ∈ R1,1 : hx, xi = 1} und {x ∈ R1,1 : hx, xi = −1} sind jeweils Hyperbeln.
√ 1
1
0
2
Orthonormalbasen sind zum Beispiel
,
und
, √ .
0
1
1
2
Beachte: Orthonormalbasen müssen wir als geordnete Folgen von Vektoren schreiben, weil es
auf die Reihenfolge ankommt.
73
hx, xi = −1
hx, xi = 1
x2
√
(1, 2)
(0, 1)
√
( 2, 1)
(1, 0)
x1
hx, xi = 1
hx, xi = −1
Definition und Lemma 8.21. Die Menge der zeitartigen Vektoren der Länge“ 1
”
Q := {x ∈ Rn,1 : hx, xi = −1} ⊂ Rn+1
ist ein zweischaliges Hyperboloid. Dabei bezeichnet
H n := {x ∈ Rn,1 : hx, xi = −1, xn+1 > 0}
die obere Schale.
Jede orthogonale Transformation bildet die Vektoren in der oberen Schale H n entweder auf die
Vektoren der oberen Schale ab, oder auf die Vektoren der unteren Schale (d.h., er vertauscht die
Schalen.
Die Untergruppe der orthogonalen Transformationen, die die obere Schale auf sich selbst abbilden, wird mit O+ (n, 1) bezeichnet. Sie ist
O+ (n, 1) = {A ∈ O(n, 1) : an+1,n+1 > 0}.
Die Bedingung an+1,n+1 > 0 kann dabei so interpretiert werden, dass das Bild Aen+1 des
(zeitartigen) letzten Basisvektors en+1 wieder zeitartig ist, also etn+1 Aen+1 > 0 erfüllen muss.
8.6
Das reell-projektive Modell
Die Gruppe O(n + 1, 1) ist eine Menge von linearen Transformationen, die den Lichtkegel auf
sich selbst abbildet.
Interpretieren wir die n-Sphäre nun eingebettet in den Rn+1,1 mit
S (n) ∼
= {x ∈ Rn+1,1 : hx, xi = 0, xn+2 = 1},
so sehen wir, dass O(n + 1, 1) bijektive Abbildungen auf S (n) induziert, die Kreise auf Kreise
abbildet – also Möbiustransformationen, nach Korollar 8.15.
Diese Gruppe kann man mit PO(n + 1, 1) identifizieren — S (n) wird dabei als der projektivierte
Lichtkegel im Rn+1,1 interpretiert. Genauso können wir aber die Gruppe mit O+ (n + 1, 1) identifizieren — dabei wird das als die Gruppe der Transformationen interpretiert, die den positiven
Lichtkegel auf sich selbst abbilden, und der ist eben ein Kegel über der S (n) .
Wir sehen also, dass PO(n + 1, 1) = O+ (n + 1, 1) ⊆ Möb(n). Es gilt aber noch mehr.
74
Theorem 8.22 (Das reell-projektive Modell der Möbiusgeometrie). Die n-dimensionale Möbiusgeometrie kann durch die Menge X = S n ⊂ Rn+1 ⊂ RPn+1 mit der Gruppe
PO(n + 1, 1) = O+ (n + 1, 1) = Möb(n)
dargestellt werden.
Beweis. Um dies zu beweisen, müssen wir nur noch zeigen, dass die Transformationen, die die
Möbiusgruppe erzeugen, mittels der stereographischen Projektion auf die Sphäre S n transportiert, durch projektive Abbildungen dargestellt werden können, die die Sphäre fest halten.
Die (n − 1)-dimensionalen Untersphären der S n können hierbei mit Hyperebenen im RPn+1 interpretiert werden, die S n echt schneiden — und diese können wir mit ihren Normalenvektoren,
also den raumartigen Punkten in RPn+1 identifiziert werden, also mit den Punkten “außerhalb”
der Sphäre S n ⊂ Rn+1 . Man verifizierte dafür, dass “außerhalb” hier wohldefiniert ist . . .
Korollar 8.23 (Darstellung von Möbiustransformationen durch Matrizen). Möbiustransformationen können durch die (n + 2) × (n + 2)-Matrizen in A ∈ O+ (n + 1, 1) dargestellt werden.
[1] Boris A. Springborn. Geometry I. Lecture Notes, TU Berlin/Berlin Mathematical School,
2007/08, 59 pp., ftp://ftp.math.tu-berlin.de/pub/Lehre/GeometryI/WS07/
geometry1_ws07.pdf.
75
9
Hyperbolische Geometrie
6. Juli 2012
Quelle/Referenz für dieses Kapitel: Springborn [1, Lectures 7–11]
9.1
Der n-dimensionale hyperbolische Raum
Definition 9.1 (Hyperbolische Geometrie). Die n-dimensionale hyperbolische Geometrie ist
die Menge
H n := {x ∈ Rn,1 : hx, xi = −1, xn+1 > 0}
(also die obere Schale des zweischaligen Hyperboloids im zeitartigen Bereich der (n + 1)dimensionalen Lorentz-Raum) mit der hyperbolischen Gruppe
O+ (n, 1) = {A ∈ R(n+1)×(n+1) : At EA = A, an+1,n+1 > 0}
der orthogonalen Lorentz-Transformationen, die die Schale auf sich selbst abbilden.
Die hyperbolischen Geraden sind die nicht-leeren Schnitte von H n mit zwei-dimensionalen
linearen Untervektorräumen des Rn,1 .
Offensichtlich gibt es durch zwei verschiedene Punkte x, y ∈ H n immer genau eine Gerade.
Den folgenden Satz werden wir mit den Argumenten in den folgenden Abschnitten nebenbei
”
mitbeweisen“.
Theorem 9.2. Die hyperbolische Gruppe O+ (n, 1) operiert transitiv auf dem H n , und in jedem
Punkt kann sie eine beliebige Orthonormalbasis auf eine beliebige andere abbilden.
Insgesamt gilt also
dim O+ (n, 1) = n + (n − 1) + · · · + 1 = 12 n(n + 1).
Die Gruppe O+ (n + 1) der Isometrien des n-dimensionalen hyperbolischen Raums H n hat also
dieselbe Dimension wie die Gruppen O(n + 1) der Isometrien des sphärischen Raums S n und
wie die euklidische Gruppe Eukl(n).
Bemerkung 9.3 (Kleine Formelsammlung). Im Folgenden brauchen wir den hyperbolischen
Sinus und Kosinus
ex − e−x
ex + e−x
sinh x =
,
cosh x =
2
2
f (x)
f (x) = cosh x
f (x) = sinh x
1
0
1
x
76
Offenbar gilt sinh −x = − sinh x, cosh −x = cosh x, cosh x ≥ x, sinh0 x = cosh x, cosh0 x =
sinh x, und insbesondere
cosh2 x − sinh2 x = 1
für alle x ∈ R.
Die Umkehrfunktionen, Areasinus und Areakosinus, sind
√
√
arsinh x = ln(x + x2 + 1),
arcosh x = ln(x + x2 − 1),
letzterer nur für x ≥ 1.
9.2
Der 1-dimensionale hyperbolische Raum
Beispiel 9.4 (1-dimensionaler hyperbolischer Raum). Für n = 1 erhalten wir H 1 ⊂ R1,1 als
Hyperbelast.
x2
H1
(sinh s, cosh s)
x1
Dieser kann durch
sinh s
cosh s
γ(s) :=
parametrisiert werden — und dies ist die Parametrisierung mit “Geschwindigkeit 1”, also nach
Bogenlänge:
cosh s
0
γ (s) =
mit hγ 0 (s), γ 0 si = 1.
sinh s
Damit berechnen wir Abstände als
Z
length(γ(s)|[s1 ,s2 ] ) = s2
s1
p
0
0
hγ (s), γ si = |s2 − s1 |.
Wir berechnen das Skalarprodukt von zwei Punkten x = γ(s1 ) und y = γ(s2 ) auf H 1 als
hx, yi = hγ(s1 ), γ(s2 )i = sinh s1 sinh s2 − cosh s1 cosh s2 = − cosh(s2 − s1 ).
Damit ist die Metrik in der 1-dimensionalen hyperbolischen Geometrie gegeben durch
− cosh d(x, y) = hx, yi.
77
Lemma 9.5 (Hyperbolische Drehmatrizen).
cosh s sinh s
− cosh s sinh s
+
O (1, 1) = {
: s ∈ R} ∪ {
: s ∈ R}.
sinh s cosh s
− sinh s cosh s
Die erste der beiden Teilmengen von Matrizen ist die Untergruppe der Matrizen der Determinante +1, also SO+ (1, 1).
Die hyperbolischen Drehmatrizen sind genau die Matrizen, die H 1 auf sich selbst abbilden.
Wir definieren Metrik auf hyperbolischem Raum mit Hilfe des (nicht positiv-definiten!) Skalarprodukts von Rn,1 . Dieses definiert eine Metrik, weil die Tangentialvektoren raumartig sind!
Dafür verwenden wir, dass jeder Tangentialvektor γ 0 (0) an H n auf dem Vektor γ(0) senkrecht
steht, hγ 0 (0), γ(0), und dass daraus folgt, dass γ 0 (0) raumartig ist. (Das kann man geometrisch
argumentieren, weil spann{γ 0 (0), γ(0)} zweidimensional ist, also die Hyperebene xn+1 = 0
schneidet.)
Proposition 9.6. Der kürzeste (stückweise-differenzierbare) Weg zwischen zwei Punkten in H n
liegt auf der Geraden.
Damit ist aber insgesamt die Abstandsfunktion auf H n durch
− cosh d(x, y) = hx, yi.
gegeben, und die hyperbolischen Transformationen erhalten Abstände.
9.3
Der 2-dimensionale hyperbolische Raum
Beispiel 9.7 (2-dimensionaler hyperbolischer Raum). Für n = 2 erhalten wir H 2 ⊂ R2,1 als
obere Schale des zweischaligen Hyperboloids.
x3
H2
R2
Jede Gerade ` ⊂ H 2 lässt sich darstellen als ` = H 2 ∩ U für U = {x ∈ R2,1 : hx, ni = 0} mit
n ∈ R2,1 raumartig und normiert, hn, ni = 1.
Proposition 9.8. Seien n1 6= ±n2 raumartig, hni , ni i = 1, sowie `1 , `2 die zugehörigen Geraden. Dann sind äquivalent:
78
(i) `1 ∩ `2 6= ∅,
(ii) Das Skalarprodukt h·, ·i eingeschränkt auf spann{n1 , n2 } ist positiv definit,
(iii) |hn1 , n2 i| < 1.
Beweis. (i)⇒(ii): Für den Schnittpunkt x gilt {x}⊥ = spann{n1 , n2 }. Alle Vektoren, die auf x
senkrecht stehen, sind raumartig.
(ii)⇒(i): spann{n1 , n2 }⊥ ist eindimensional, und wird von einem zeitartigen Vektor aufgespannt.
(ii)⇒(iii): Wir stellen das Skalarprodukt eingeschränkt auf spann{n1 , n2 }⊥ durch die Matrix
hn1 , n1 i hn1 , n2 i
1
hn1 , n2 i
M=
=
hn2 , n1 i hn2 , n2 i
hn2 , n1 i
1
dar. Das Skalarprodukt ist positiv definit, wenn die Matrix positiv definit ist, und dafür muss die
Determinante positiv sein, also 1 − hn1 , n2 i2 > 0.
Lemma 9.9 (Winkel). Seien `1 , `2 zwei sich schneidende Geraden in der hyperbolischen Ebene
H 2 , und seien hi := {y ∈ H 1 : hy, ni i ≥ 0} die Halbebenen, die durch `1 , `2 gegeben sind, mit
Einheitsnormalenvektoren n1 , n2 .
Dann gibt es eine eindeutige hyperbolische Rotation (in H 2 ), gegeben durch eine Matrix/
Transformation T ∈ O(2, 1), um den Schnittpunkt {x} = `1 ∩ `2 , die h1 in h2 überführt und x
fest lässt.
Der Drehwinkel ist gegeben durch
cos α = hn1 , n2 i;
das ist auch der Außenwinkel des Kegels h1 ∩ h2 mit Spitze x in der hyperbolischen Ebene.
Beweis. Nach Konstruktion steht x senkrecht auf n1 und n2 . Verwendet wird die Drehung um
die von x aufgespannte Achse, die n1 in n2 überführt. Dabei ist der Winkel zwischen n1 und n2
genau der Winkel zwischen den 2-dimensionalen Unterräumen des R2,1 , die `1 und `2 enthalten,
und das ist nach Definition der Winkel zwischen `1 und `2 .
Beispiel 9.10 (Hyperbolische Dreiecke). Seien A, B, C ∈ H 2 nicht kollinear (also als Vektoren im R2,1 linear unabhängig). Dann bestimmen sie drei unterschiedliche Geraden, die ein
hyperbolisches Dreieck 4ABC ⊂ H 2 begrenzen.
Seien A0 , B 0 , C 0 ⊂ R2,1 die zugehörigen normierten raumartigen Normalenvektoren, die also
nicht in R2,1 liegen, mit hA, A0 i > 0, usw. Seien hA0 , hB 0 , hC 0 die zugehörigen Halbräume, mit
hA0 = {y ∈ H 2 : hy, A0 i ≥ 0, usw. Dann kann gilt
4ABC = hA0 ∩ hB 0 ∩ hC 0 .
Die Kantenlängen im Dreieck sind gegeben durch
− cosh a = hB, Ci
usw.
− cos α = hB 0 , C 0 i
usw.
und die Winkel durch
(Achtung: hier steht ein echter Kosinus, kein cosh!)
79
Theorem 9.11 (Kosinussatz). Im hyperbolischen Dreieck mit Kantenlängen a, b, c und Außenbγ
winkeln α
b, β,
b gilt der Seitenkosinussatz
cos α =
− cosh a + cosh b cosh c
sinh b sinh c
und der Winkelkosinussatz
cosh a =
cos α + cosh β cosh γ
.
sin β sin γ
und entsprechend für cos β und cos γ bzw. cosh b und cosh c bei gleichzeitiger Permutation von
a → b → c und α
b → βb → γ
b.
Beweis. Analog zum sphärischen Fall, Theorem 7.10!
Theorem 9.12 (Dreiecksungleichungen hyperbolisch). Ein hyperbolisches Dreieck mit Kantenlängen a, b, c > 0 existiert dann und nur dann, wenn die Dreicksungleichungen gelten (also
a < b + c etc.).
Ein hyperbolisches Dreieck mit Innenwinkeln α, β, γ > 0 existiert dann und nur dann, wenn
α + β + γ < π.
Skizze. (1) Zunächst zeigen wir, dass die Gram-Matrix G = V t V für V = (A B C) von
A, B, C, die ja linear unabhängig sind, Signatur (2, 1) hat — in anderen Worten, die zugehörige
quadratische Form xt Gx hat diese Signatur.
(2) Dann berechnen wir die Gram-Matrix explizit, als


−1
− cosh c − cosh b
−1
− cosh a
G = − cosh c
− cosh b − cosh a
−1
und verwenden das Kriterium, dass sich die Signatur aus den Hauptminoren ablesen lässt: Die
Dimension des negativ-definiten Teils ist die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge G0 :=
1, G1 := g11 = −1, G2 = 1 − cosh2 c = − sinh c < 0. Also hat G genau dann die Signatur
(2, 1), wenn die Determinante det G < 0 ist.
(3) Explizite Berechnung der Determinante und Halbwinkelformeln ergeben
sinh a−b+c
sinh
det G = −4 sinh −a+b+c
2
2
a+b−c
sinh a+b+c
2
2
und man überlegt sich, dass diese Determinante genau dann negativ ist, wenn die drei Dreiecksungleichungen gelten.
(Hinweis: Es kann von den drei Dreiecksungleichungen nicht mehr als eine falsch sein, weil
aus a > b + c und b > a + c folgt 0 > 2c.)
(4) Und dann ganz analog für G0 , wobei die Rechnung ergibt
det G0 = −4 cos −α+β+γ
cos α−β+γ
cos α+β−γ
cos
2
2
2
80
α+β+γ
.
2
9.4
Die Modelle von Klein und Poincaré
Bezeichne im Folgenden Dn := {u ∈ Rn : |u| < 1} den offenen Einheitsball im Rn , also das
Innere des abgeschlossenen Einheitsballs B n . Insbesondere ist also D2 eine offene Kreisscheibe.
Definition 9.13 (Das Kreisscheibenmodell von Klein). Die bijektive Abbildung
 
x1 x1
2
2
x2  7−→ xx32
κ : H −→ D
x3
x3
überträgt die 2-dimensionale hyperbolische Geometrie auf die offenen Kreisscheibe D2 . Dies
ergibt das Klein’sche Kreisscheibenmodell für die 2-dimensionale hyperbolische Geometrie.
Die Geraden sind darin als die nicht-leeren Schnitte von D2 mit affinen Geraden des R2 gegeben.
Die Gruppenaktion der O+ (2, 1) sowie Winkel und Abstände werden durch κ auf das Modell
übertragen, können/müssen also mit Hilfe der Umkehrabbildung
 
u1
1
u1
−1
2
2

u2 
κ : D −→ H
7−→
u2
1 − u21 − u22
1
übertragen, zum Beispiel durch d(u, u0 ) := d(κ−1 (u), κ−1 (u0 )).
Definition 9.14 (parallel, ultraparallel). Zwei Geraden `1 , `2 schneiden sich, wenn die Normalenvektoren |hn1 , n2 i| < 1 erfüllen.
Sie heißen parallel, wenn |hn1 , n2 i| = 1 gilt, was einem “Schnittpunkt im Unendlichen” (also
auf dem Rand des Kleinschen Kreisscheibenmodells) entspricht. In diesem Fall schneiden sich
die zugehörigen 2-dimensionalen Unterräume U1 , U2 ⊂ R2,1 im Lichtkegel.
Sie heißen ultraparallel, wenn |hn1 , n2 i| > 1 gilt, was einem “Schnittpunkt jenseits des Unendlichen” (also außerhalb des Kleinschen Kreisscheibenmodells) entspricht. In diesem Fall
schneiden sich die zugehörigen 2-dimensionalen Unterräume U1 , U2 ⊂ R2,1 in einem raumartigen Untervektorraum.
In der Zeichnung schneiden sich `1 und `2 , `2 und `3 sind parallel, `1 und `3 sind ultraparallel,
`3
`2
`1
Proposition 9.15. Ist ` ⊂ H 2 eine Gerade und x ∈
/ `, so gibt es zwei verschiedene Geraden
und unendlich viele ultraparallele Geraden zu ` durch x.
81
Das Klein-Modell für den hyperbolischen Raum “funktioniert” ganz genauso in höheren Dimensionen: Die bijektive Abbildung
x
n
n
1
7−→ xn+1
κ : H −→ D
x
xn+1
überträgt die n-dimensionale hyperbolische Geometrie auf den offenen Ball Dn ; die Umkehrabbildung ist gegeben durch
u
−1
n
n
1
.
κ : D −→ H
u 7−→ 1−|u|2
1
Das Klein-Modell hat die besondere Eigenschaft, dass die Geraden des Modells genau die Geraden des Rn sind (die den offenen Ball Dn schneiden). Weiter kann man das Modell mit dem
Inneren der Sphäre S n ⊂ Rn+1 ⊂ RPn+1 identifizieren, und daran sehen, dass die Geometrie
auf dem Rand des Klein-Modells genau wieder die Möbiusgeometrie Möb(n) ist.
Das Klein-Modell ist aber nur eines von mehreren Modellen für die n-dimensionale hyperbolische Geometrie, die alle ihre interessanten Aspekte haben, und daher ein intensiveres Studium
wert wären. Wir geben hier aus Zeitmangel nur noch ein solches Modell an.
Definition 9.16 (Das Kreisscheibenmodell von Poincaré). Die bijektive Abbildung
 
x1
x1
2
2
1
x2  7−→
π : H −→ D
x3 +1
x2
x3
überträgt die 2-dimensionale hyperbolische Geometrie auf die offenen Kreisscheibe D2 . Dies
ergibt das Poincaré’sche Kreisscheibenmodell für die 2-dimensionale hyperbolische Geometrie.
Die Geraden sind darin als die Schnitte von D2 mit Kreisen gegeben, die den Rand S 1 = ∂D2
der Kreisscheibe senkrecht schneiden.
Die Gruppenaktion der O+ (2, 1) sowie Winkel und Abstände werden durch π auf das Modell
übertragen, können/müssen also mit Hilfe der Umkehrabbildung


2u1
u1

2u2
π −1 : D2 −→ H 2
7−→ 1−u12 −u2 
1
2
u2
2
2
1 + u1 + u2
übertragen, zum Beispiel durch d(u, u0 ) := d(π −1 (u), π −1 (u0 )).
Auch das Poincaré-Modell kann analog für den n-dimensionalen Fall konstruiert werden:
Hn
x
π(x)
O
S
82
Dn
Theorem 9.17 (Geraden und Unterräume des Poincaré-Modells). Die stereographische Projektion π : H n → Dn ⊂ Rn bildet Schnitte von H n mit linearen Unterräumen des Rn+1 auf
Schnitte von Dn mit Sphären und mit linearen Unterräumen ab, die senkrecht auf dem Rand
S n−1 = ∂Dn des Modells stehen. (Die linearen Unterräume gehen also durch den Mittelpunkt
von Dn .)
Theorem 9.18 (Das Poincaré-Modell ist konform). Das Poincaré-Modell ist konform: Winkel
sind euklidische Winkel!
Die Metrik ist im Poincaré-Modell zum Beispiel dadurch gegeben, dass
d(0, y) = 21 ln
1 + |y|
.
1 − |y|
Proposition 9.19 (ideale Dreiecke). Alle “idealen” Dreiecke in H 2 (also Dreiecke, deren Seiten parallel sind, und deren Ecken auf dem Rand des Modells “im Unendlichen” liegen, sind
kongruent. Sie haben alle die Fläche π.
Proposition 9.20 (hyperbolische Dreiecksfläche). Die Fläche eines hyperbolischen Dreiecks
mit den Winkeln α, β, γ ist
A(4ABC) = π − α − β − γ.
Alle endlichen hyperbolischen Dreiecke haben also eine Fläche, die kleiner als π ist.
Man überlege sich dazu, dass beim Zerschneiden eines Dreiecks in zwei Dreiecke (mit einem
Schnitt durch einen Eckpunkt) sich die Größe π − α − β − γ additiv verhält.
Man überlegt sich genauso, dass in der hyperbolischen Ebene regelmäßige n-Ecke beliebig kleine Winkel haben — im Grenzfall von “idealen” regelmäßigen n-Ecken sind die Winkel gleich 0.
Andererseits sind die Winkel immer kleiner als die Winkel von regelmäßigen euklidischen nEcken. Zum Beispiel hat ein regelmäßiges euklidisches Fünfeck Winkel gleich 3π/5 = 108◦ ,
regelmäßige hyperbolische Fünfecke haben beliebige Winkel im offenen Intervall (0◦ , 108◦ ).
Genauso existieren hyperbolische Dreiecke mit beliebigen Winkeln 0 < α, β, γ für α + β + γ <
π. Experimentiert man nun mit Spiegelungen an den Kanten von solchen Dreiecken, so ergibt dies für besondere Winkeln Pflasterungen der hyperbolischen Ebene mit Dreiecken, regelmäßigen n-Ecken, usw.: wie man sie zum Beispiel aus Graphiken von Maurits Cornelis
Escher1 kennen kann.
[1] Boris A. Springborn. Geometry I. Lecture Notes, TU Berlin/Berlin Mathematical School,
2007/08, 59 pp., ftp://ftp.math.tu-berlin.de/pub/Lehre/GeometryI/WS07/
geometry1_ws07.pdf.
1
Holländischer Graphiker, 1898–1972, http://en.wikipedia.org/wiki/M._C._Escher
83
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10.1
Perspektiven der Geometrie
Gruppentheorie
Nach Felix Klein: die Gruppe bestimmt die Geometrie
Bespiel: Euklidische Geometrie der Ebene: Die Elemente der Ordnung 2 sind genau die Geradenspiegelungen und die Punktspiegelungen – wobei die Punktspiegelungen die Elemente sind,
die selbst Quadrate sind. Also kann man die Punkte und die Geraden der Ebene eindeutig mit
Gruppenelementen identifizieren.
Analog kann man versuchen, die Gruppen von bekannten Geometrien auch algebraisch zu verstehen, und auch interessante Gruppen geometrisch zu interpretieren. Dies bietet sich bei Liegruppen an (die glatte Mannigfaltigkeiten sind; benannt nach Sophus Lie), wird aber zum Beispiel auch für endliche Gruppen/Geometrien studiert.
10.2
Differenzialgeometrie
Geschlossene Flächen (technisch: orientierbare, zusammenhängende, kompakte 2-dimensionale
Mannigfaltigkeiten ohne Rand) kann man klassifizieren — und dann beweisen, dass jede solche Mannigfaltigkeit eine Metrik kompakter Krümmung hat, also vollständig als Raum mit
konstanter Krümmung modelliert werden kann: die Sphäre S 2 als Raum positiver Krümmung 1
und sphärischer Geometrie, der Torus (S 1 )2 als flacher Raum von konstanter Krümmung 0 und
euklischer Geometrie, sowie die Flächen vom Geschlecht g > 1 als Räume konstanter negativer
Krümmung mit hyperbolsicher Geometrie. Diese Diskussion ist klassisch, man kennt sie in der
Funktionentheorie als Uniformisierung, ein wesentlicher Schritt ist von Paul Koebe.
Für geschlossene Mannigfaltigkeiten der Dimension 3 sind erst mit dem Beweis der Geometrisierungsvermutung von William Thurston in diesem Jahrtausend durch Grigrij Perelman ein
entsprechendes Resultat: es besagt grob, dass man jede Mannigfaltigkeit aufschneiden kann
in Teile, die wiederum mit “Modellgeometrien” versehen werden können — dazu gehören die
sphärische, flache und hyperbolische Geometrie wie auch einige andere. Achtung: Sehr schwierig.
10.3
Konforme Abbildungen
Kreispackungen in der Ebene sind ein nur scheinbar elementares Thema, das das Studium lohnt.
So kann der Riemannsche Abbildungssatz aus der Funktionentheorie (“jedes einfachzusammenhängende Gebiet in der komplexen Ebene kann mit einer komplex-differenzierbaren, also
konformen, Abbildung auf eine Kreisscheibe abgebildet werden”) bewiesen werden, indem man
erst den Kreispackungssatz beweist, und diesen dann für Approximationen nutzt.
Die Theorie der ebenen Kreispackungen ist also sehr reichhaltig, während Kugelpackungen im
Höherdimensionalen viel weniger verstanden sind. Es gibt höherdimensional eben auch keine
lokal-konformen Abbildungen, die nicht global konform wären — also nur die Möbiustransformationen.
Referenz: Stephenson [2]
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10.4
Kugelpackungen
Betrachtet man Packungen von gleichgroßen Kugeln, so ist die Situation in der Ebene recht
einfach: Eine Kreisscheibe vom Radius 1 kann gleichzeitig 6 weitere Kreisscheiben vom selben
Radius berühren, die sich nicht überlappen. Man sagt, dass die Kusszahl in der Ebene, also
Dimension d = 2, gleich κ(2) = 6 ist.
Genauso ist die dichteste Kugelpackung in der Ebene die offensichtliche, in der die Kreisscheiben zeilenweise angeordnet werden.
Wir diskutieren hier nur kurz die Kusszahlen in höheren Dimensionen: Man weiß, dass κ(3) =
12 ist — das ist als Newton–Gregory-Problem bekannt — sowie, dass κ(4) = 24 — das wurde
erst kürzlich bewiesen, zuerst von Oleg Musin, sowie, dass κ(8) = 240 und κ(24) = 196.560.
Es gibt also in Dimensionen 8 und 24 ganz besondere geometrische Konstellationen, die wieder
von anderen Theorien abhängen: So verwendet man
◦ in Dimension 4 die Ecken des 24-Zells, ein besonders interessantes 4-dimensionales Polytop,
das mit der Liegruppe F4 zusammenhängt;
◦ in Dimension 8 das Wurzelgitter der Liegruppe E8 , die in der Klassifikation der einfachen
Liegruppen als besonders interessante Struktur auftaucht;
◦ in Dimension 24 das sogenannte Leech-Gitter, das man sowohl kodierungstheoretisch studieren kann (mit dem Golay-Kode der Länge 24), als auch graphentheoretisch aus dem Graphen
des Ikosaeders gewinnen kann. (Siehe [1]!)
Moral: Mit dem Studium der wichtigsten Geometrien haben wir die Bühne zur Verfügung, auf
der viele spannende Strukturen existieren — deren Studium sich lohnt . . .
[1] Martin Aigner. Gitter, Codes und Graphen. Lecture Notes, FU Berlin, 1994/95.
[2] Kenneth Stephenson. Introduction to Circle Packing. The Theory of Discrete Analytic Functions.
Cambridge University Press, Cambridge, 2005.
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