Manuskript

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SWR2 Musikstunde mit Christian Schruff
„Carmen! Carmen! Nichts als Carmen?“
Der andere Bizet (3)
Sendung:
Mittwoch, 28. April 2010, 9.05 – 10.00 Uhr
Redaktion:
Ulla Zierau
Manuskript
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung
des Urhebers bzw. des SWR.
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Musikstunde mit Christian Schruff
SWR 2
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SWR 2 Musikstunde mit Christian Schruff
" Carmen!
Mitttwoch, 28.04.2010
Der andere Bizet (3)
Mittwoch, 28.04.2010
Carmen! Nichts als Carmen?“
Der andere Bizet (3)
Der Franzose Georges Bizet hat der Musikwelt ein für alle Mal klar gemacht,
wie das Spanische in der Musik zu klingen hat. So könnte man leicht der
Versuchung erliegen und Bizet für einen Komponisten halten, der sich
verschiedene lokale Tonfälle und nationale Musikfarben anverwandeln
konnte. Hatte er nicht auch typisch provenzalische Weisen in seine
Schauspielmusik zu „L’Arlesienne“ eingefügt?
Da tanzen die Menschen an der Rhône zum Beispiel eine „Farandole“. Das ist
ein Tanz zur Musik von Trommel und Einhandflöte. Die Menschen winden
sich in langen Schlangen, fassen sich an den Händen oder halten sich an
bunten Tüchern, und los geht’s durch die Gassen.
Musik 1
CD L’Arlesienne
Track 14
1:35
Georges Bizet: L’Arlesienne – Szenenmusik
Farandole I, 3. Akt
Les musiciens du Louvre
Ltg: Mark Minkowsi
NAIVE, V 5130, LC7496
Eine fantastische Szene haben die „Musicien du Louvre“ unter Mark
Minkowski da gespielt. In nur anderthalb Minuten hat Bizet ein lebendiges
Bild der Provence auf die Bühne gezaubert. Tambourin und Galoubet, die
provenzalischen Instrumente, dazu eine Melodie aus der Provence, und
schon war das Publikum in eine fremde und vom Blickpunkt Paris aus
exotische Welt versetzt.
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Der andere Bizet (3)
Wie authentisch diese exotischen Welten auf der Bühne waren, danach haben
die Hörer damals nicht gefragt. In diesem Fall, in der Musik zu Alphonse
Daudets erfolglosem Schauspiel „L’Arlesienne“, hatte Bizet tatsächliche
authentische Quellen für die Musik. Und die Stadt Arles hat er auch mit
eigenen Augen gesehen.
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Der andere Bizet (3)
Bizet ist aber nie in Spanien gewesen, nie in Ceylon oder Schottland, nicht in
Kairo oder Moskau. Das sind die Spielorte seiner anderen Musiktheaterwerke.
Bizet ist überhaupt wenig aus Paris herausgekommen. Von der großen
Romreise angesehen, sind noch Reisen nach Baden-Baden zu nennen. Dort
hat er sich um Opernaufträge bemüht, allerdings ohne Erfolg.
Den Rhein hat er also überquert. Dass er in seinen Klavierstücken „Les
Chants du Rhin“ („Rheingesänge“) dann aber eine „Bohémienne“ auftreten
lässt, eine Zigeunerin, das passt kaum zur deutschen Rhein-Romantik. Aber
darum ging es auch gar nicht, bei diesem Salonstück.
Musik 2
CD Klavierwerke CD II / Track 5 9:39 – 13:08
3:32
Georges Bizet: „La Bohémienne“, aus: „Les Chants du Rhin“
SETRAK, Klavier
HMA, 1905223.24, LC 7045
„La Bohémienne“, aus „Les Chants du Rhin“ von Georges Bizet, gespielt von
Setrak.
Zigeunerinnen konnten überall auftauchen. Sie waren ein beliebtes
Operngewürz jener Zeit in Paris. So ist es auch keine Überraschung, dass in
der schottischen Königsstadt Perth eine junge Zigeunerin Verwirrung stiftet.
Rund um den St. Valentinstag, so ungefähr im Jahr 1500, spielt sich in den 4
Akten eine Eifersuchts- und Verwechslungsgeschichte ab, die aber ein gutes
Ende findet.
Wie wichtig Zigeunerinnen damals auf den Operbühnen in Paris gewesen
sind, erkennt man schon daran, dass in der literarischen Vorlage zum
„Schönen Mädchen aus Perth“ gar keine Zigeunerin vorkam. Ein Louise aus
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Der andere Bizet (3)
der Provence hatte Sir Walter Scott in seinem Roman als fremde
Unruhestifterin eingebaut. Im Libretto der Oper wurde aus Louise die
Zigeunerin Mab.
Und mit dieser Mab war auch das farbenfrohe „Divertissement“ gesichert, die
Balletteinlage, die in keiner Oper in Frankreich fehlen durfte.
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Musik 3
Track 16
CD Perth CD I /
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3:10
Georges Bizet: La jollie Fille de Perth
Danse Bohémienne, II. Akt
Chœur der Radio France
Nouvelle Orchestre Philharmonique
Ltg.: Georges Prêtre
EMI, 395124 2, LC06646
Bizet versuchte sein Bestes, das dürftige Libretto des „Schönen Mädchens von
Perth“ mit guter Musik zu retten. Keine leichte Aufgabe, da er nur sehr wenig
Zeit hatte. Die Librettisten waren zu spät fertig geworden und hatten zudem
eine schlechte Vorlage geliefert. Bizet entschied; „Ich halte mich beim
Komponieren nicht an die Worte; mir würde keine Note einfallen.“
Um so erstaunlicher ist es, wie gekonnt Bizet die Stimmung der Szenerie in
Musik übertragen hat. Hier der Beginn des 2. Aktes: Am Anfang schafft Bizet
eine drollig instrumentierte Nachtstimmung. Da hinein zieht die Wache auf.
Und dann schlägt die Stimmung um: Es ist Karneval, das Volk will feiern. So
leicht wie ein Jacques Offenbach hat Bizet da komponiert.
Der Karnevals-Chor ist übrigens wieder eines jener „Recycling“-Produkte.
Bizet hatte ihn zuerst in der Buffo-Oper „Don Procopio“ geschrieben, die er
statt der obligatorischen Messe in Rom komponiert hatte. „Don Procopio“ lag
im Notenschrank des Akademie-Direktors Ambroise Thomas. Aber der Chor
feierte im schottischen Karneval fröhliche Auferstehung.
Musik 4
CD Perth CD I /
Track 12 + 13 (Ende bei: 1:53!)
Georges Bizet: La jollie Fille de Perth
Marsch & Chor der Patrouille, Karnevalschor, II. Akt
6:00
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Der andere Bizet (3)
Chœur de Radio France
Nouvelle Orchestre Philharmonique
Ltg.: Georges Prêtre
EMI, 395124 2, LC06646
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Der andere Bizet (3)
Das war aus dem 2. Akt der Oper „Das schöne Mädchen von Perth“ von
Georges Bizet zuletzt der Karnevalschor. Gesungen hat der Chor von Radio
France, gespielt hat das Nouvelle Orchestre Philharmonique. Die Leitung
hatte Georges Prêtre.
Die Oper ist beim Publikum nicht durchgefallen, ein Erfolg war sie aber auch
nicht. Immerhin aber ist sie nach Paris auch in Brüssel aufgeführt worden.
Bis ein neues und besseres Opernlibretto auftauchen würde, hat Bizet sich
wieder mit Instrumentalmusik befasst und dabei hat er noch ein anderes
Werk aus den römischen Jahren hat wieder aufgegriffen: die Idee einer
„italienischen Symphonie“. In Rom hatte er ja nur das Scherzo vollendet, den
2. Satz.
Mit dem Abstand von zehn Jahren hat Bizet jedoch den Plan aufgegeben,
jeden der vier Sätze unter dem Eindruck einer anderen italienischen Stadt zu
schreiben. Aus «Rom, Venedig, Florenz und Neapel» wurde die Symphonie
„Roma“. Nur dem letzten Satz hat Bizet eine programmatische Überschrift
gegeben: „Karneval“.
Musik 5
CD Bizet Symphonie
Track 8
5:47
Georges Bizet: Symphonie Roma
4. Satz: Allegro vivacissimo (Carnaval)
City of Birmingham Symphony Orchestra
Ltg: Louis Frémaux
EMI, 5176492, LC6646
Das City of Birmingham Symphony Orchestra unter Louis Frémaux spielte
das Finale aus Bizets Symphonie „Roma“.
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Der andere Bizet (3)
Die Uraufführung von „Roma“ fand 1869 statt. Schwere Zeiten standen bevor.
Der deutsch-französische Krieg, die Pariser Commune ––– Barrikaden und
Soldaten sind kein gutes Umfeld für Opern.
Musik 6
CD Enfants
Track 6
2:06
Georges Bizet: „Trompette et tambour“ aus: „Jeux d’enfants“, op. 22
Katia & Marielle Labèque, Klavier zu 4 Händen
PHILIPS, 420 159-2, LC 00305
Die Schwestern Katia & Marielle Labèque spielten „Trompette et tambour“,
den 6. Satz aus „Jeux d’enfants“ – Kinderspiele – von Georges Bizet. Noch ein
Recyling-Produkt – diesmal aus der Oper „Ivan IV.“
Bizet hat zwar bald danach wieder vier Bühnenwerke geschrieben, aber die
sind entweder verschollen oder nur Fragment geblieben. Kommen wir also in
der letzten halben Stunde diese SWR 2 Musikstunde über den „anderen“ Bizet
noch einmal zurück auf das Bild vom Anfang: das Bild von Bizet als Künstler,
der mit dem Lokalkolorit die Stimmung verschiedener Länder auf die Bühne
zaubern konnte.
Hören Sie die folgende Musik und überlegen Sie mal, in welchem Teil der
Welt sie angesiedelt sein könnte.
Musik 7
CD Ivan CD II /
Track 11
Georges Bizet: Ivan IV
„Ouvre ton cœur“ (2. Akt)
Michel Sénéchal, Tenor
Chor und Orchester des Französischen Rundfunks
Ltg: Georges Tzipine
2:41
Musikstunde mit Christian Schruff
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Der andere Bizet (3)
EMI, 5660202, LC06646
Nun? Was meinen Sie? Wo hat der Tenor Michel Sénéchal sein Lied gesungen?
Oder haben Sie eine Idee, aus welchem Land diese Opernfigur stammen
könnte?
Spanien?
Na klar! Sie haben einen „Bolero“ gehört. Mit dem klassischen ostinaten
Rhythmus, mit Tambourin und Triangel, allen Zutaten also, die Ihnen
spanisch vorkommen.
Und die Gesangsführung? Haben Sie auch diesen orientalischen Einschlag
bemerkt? Vielleicht etwas maurisches? Das wäre ja auch immer noch Spanien.
Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen:
Das war das Lied des „Jungen Bulgaren“, gesungen von der Kremlmauer in
Moskau! ––– So viel also zum treffenden Lokalkolorit. Ein Lied aus Bizets
Oper „Ivan IV“, der Schreckliche. Tatsächlich eine schreckliche Oper...
Aber der Fairness halber muss noch dazusagen:
Ursprünglich hatte Bizet dieses Bolero-Lied für seine Kantate „Vasco da
Gama“ komponiert. Und Portugal ist ja gar nicht so weit entfernt von Spanien.
„Vasco da Gama“ hat jedoch nie das Rampenlicht erblickt. Und so hat Bizet
die Musik recyclet und ohne Probleme nach Osteuropa verpflanzt.
Hauptsache exotisch!
Besser getroffen ist da schon die Färbung in Bizets wohl schönstem Lied
„Adieu de l’hôtesse arabe“ – Abschied der arabischen Gastgeberin. Ebenfalls
eine orientalisch wirkende Melodie über einem ostinaten Rhythmus. Der Text
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von Victor Hugo ist so sinnlich wie später auch „Carmen“ ihre „Habanera“
singen wird.
Musik 8
CD Lieder
Track 3
5:28
Georges Bizet: Adieux de l’hôtesse arabe (Victor Hugo)
Anne Murray, Mezzo-Sopran
Graham Johnson, Klavier
HYPERION, CDA66976, LC7533
Ganz schön nah an „Carmen“, dieser „Abschied der arabischen Gastgeberin“.
Anne Murray hat gesungen, begleitet von Graham Johnson.
Der Orient war das beherrschende Thema in den Künsten im Frankreich
jener Jahre. Wenn Sie heute durch Paris gehen, werden Sie viele Hausfassaden
aus der Gründerzeit sehen können, die orientalischen Schmuck aufweisen.
Der Orient war eine Traumwelt, in die man sich flüchtete. Es musste kein
authentischer Orient sein, es reichte eine gute Illusion.
1872, nach dem Krieg, war das Geld knapp für große Opern. Einakter waren
angesagt. Bizet bekam ein orientalisches Libretto in die Hände. Eine
Geschichte vom Schlage „1001 Nacht“.
Der reiche Türke Haroun traut den Frauen nicht, verstößt sie nach vier
Wochen. Djamileh aber, die Titelheldin, verliebt sich in Haroun, schafft es,
ihn noch einmal zu sehen und gewinnt seine Liebe.
Musikstunde mit Christian Schruff
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Der andere Bizet (3)
Die Oper spielt in Kairo, Haroun träumt zu Beginn an den Ufern des Nil. Und
Georges Bizet ist wieder der Meister der zauberhaften Klangwirkungen.
Durch die Pasteltöne des Chores und der hauchzarten Streicher wehen
Klaviertöne an Ohr. Das Klavier, Bizets eigenes Instrument seit Kindertagen,
hat er hier zur exotischen Klangfarbe im Orchester gemacht.
Musik 9
CD Djamileh
Track 2
6:06
Georges Bizet: Djamileh
Harouns Traum
Franko Bonisolli (Haroun)
Chor des Bayerischen Rundfunks
Münchner Rundfunkorchester
Ltg.: Lamberto Gardelli
ORFEO, C174881 A, LC08175
Die erste Szene aus „Djamileh“, Harouns Traum, mit Franko Bonisolli und
dem Chor des Bayerischen Rundfunks sowie dem Münchner
Rundfunkorchester unter der Leitung von Lamberto Gardelli.
Nach „Djamileh“ kamen noch zwei vergebliche Opernprojekte, und dann kam
„Carmen“. Doch die bleibt in dieser SWR 2 Musikstunde über den anderen
Bizet draußen...
Statt dessen zum Schluss noch ein wirklich exotisches Stück in Bizets
Schaffen. Ein Klavierstück voller kühner Ideen, voller Artistik auf den Tasten
und voll von barockem Tiefsinn: Die „Chromatischen Variationen“. Exotisch
sind sie gar nicht wegen dieser Aspekte, sondern weil Bizet dazwischen wie
aus einem völlig anderen Notenheft immer wieder reinste Salonmusik setzt.
Musikstunde mit Christian Schruff
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Der andere Bizet (3)
Immerhin, diese Variationen sind nicht nur Bizets größtes Klaviersolo, sie
sind auch das einzige Werk von Bizet, das der Pianist Glen Gould immer
wieder gespielt hat. Dieser Bizet ist wirklich ganz anders!
Musik 10
CD Gould
CD II / Tracks 1 – 16
Puffer
Georges Bizet: Variations chromatique
Glen Gould, Klavier
SONY,456 808-2, LC00305
(14:19)
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