Einführung Psychodermatologie

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Akute und chronische Erkrankungen der Haut 19
oder eine akute allergische Urtikaria präventiv so auswirken, dass die
entsprechenden Auslöser tatsächlich gemieden werden. Dies wäre mit
einer Umstellung von Lebensgewohnheiten verbunden.
Die Bezeichnung „vorübergehend hautkranke Person“ ist im derma- Vorübergehend
tologischen Sprachgebrauch recht unüblich. An dieser Stelle soll der hautkranke
Terminus aus folgenden Gründen eingeführt werden (Seikowski Person
1999). Es gibt eine Reihe von Erkrankungen der Haut, die in bestimmten Abständen wiederkehren können, nicht unbedingt zu den chronischen Hauterkrankungen zählen und deren aktuelle Auslösemechanismen nicht immer bekannt sind. Meist hat der Hautpatient das Gefühl,
diesen Erkrankungen hilflos ausgeliefert zu sein. Hier wären Pilzerkrankungen ebenso zu nennen wie der rezidivierende Herpes labialis
und der Herpes genitalis sowie Manifestationen humaner Papillomviren (HPV). Es gibt Gründe anzunehmen, dass diese Störungen in Phasen besonderer psychischer Belastungen eher zum Ausbruch kommen.
Somit sind auch bei diesen Erkrankungen psychosoziale Auslöser
denkbar. Eine psychologische Diagnostik bei unklaren Rezidiven
würde zusätzliche Therapieansätze ermöglichen. Dieser Forschungsbereich ist noch recht jung und es standen uns nur wenige systematische Untersuchungen zur Verfügung, die diese These stützen. Doch in
Einzelfällen beobachteten wir selbst, wie Rezidive bei Patienten, die
z. B. mit dem Vermerk „chronische candida albicans“ zu uns überwiesen wurden, während einer Psychotherapie, in deren Verlauf der Patient lernte, mit der Erkrankung zu leben, vermindert oder gar nicht
mehr auftraten.
Interessant sind in diesem Zusammenhang psychologische Untersuchungen zum Herpes genitalis. So haben hochdepressive Personen mehr Rezidive. Emotionale Dysfunktionen i. S. von Gefühlsschwankungen und unausgeglichene Lebensstile beeinflussen ebenfalls die Rezidivhäufigkeit.
Psychologische Gruppeninterventionen wirkten am effektivsten bei depressiven und stimmungslabilen Personen, wobei jedoch lediglich durch
strukturierte Gruppentherapien eine geringere Anzahl von Rezidiven erreicht werden konnte, was für den Fall reiner „sozialer Unterstützungsgruppen“ nicht der Fall war (Seikowski 1999).
Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, mit welchen Proble- Chronisch
men eine chronisch hautkranke Person zu kämpfen hat, bei der in der hautkranke
Regel alle Funktionen der Haut beeinträchtigt sind. Unter „chronisch“ Person
sollen in der Regel solche Hauterkrankungen verstanden werden, die
länger als sechs Wochen persistieren. Wenn man dann noch bedenkt,
20 Das Fach Psychodermatologie
dass je 2 bis 3 % der erwachsenen Bevölkerung unter den beiden häufigsten chronischen Hauterkrankungen – der Psoriasis und der Neurodermitis – leiden, dann lassen sich zahlreiche psychosoziale Konflikte
vermuten. Ob ein Patient in der Lage ist, mit einer chronischen Erkrankung zu leben und darüber reflektieren kann, welche Möglichkeiten
der Verlaufsbeeinflussung es gibt, hängt jedoch von drei Faktoren ab
(Heim 1979):
1 von der Spezifik der Belastung durch eine chronische Erkrankung,
2 von den personellen Voraussetzungen der Krankheitsverarbeitung
und
3 von der sozialen Wertigkeit der Hauterkrankung.
Soziale
Dimension von
Hauterkrankungen
Auf die personellen Voraussetzungen der Krankheitsverarbeitung soll
an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da diese sich in der Regel
unabhängig von einer chronischen Erkrankung entwickeln und vielmehr damit im Zusammenhang stehen, wie man bereits in der Kindheit
prinzipiell gelernt hat, mit Konflikten umzugehen. Das bedeutet, dass
es z. B. keine „Psoriasis-Persönlichkeit“ oder „Akne-Persönlichkeit“
gibt. Wenn ein Kind z. B. von hypochondrischen Eltern erzogen wurde,
wird es diesen Konfliktverarbeitungsmechanismus übernehmen und
eine potentielle chronische Erkrankung dann auch dementsprechend
verarbeiten, egal ob es sich um eine Akne, Psoriasis, Neurodermitis
oder einen Haarausfall handelt.
Die soziale Dimension einer Hauterkrankung ist für den Patienten
häufig belastender als die Krankheit selbst. Hünecke (1976) konnte
zeigen, dass die Bewertung einer hautkranken Person durch andere
starken Variationen unterliegt. So erhält der chronisch Hautkranke
hinsichtlich gleicher Verhaltensweisen von seinen Kommunikationspartnern unsystematisch positive und negative Verstärkungen und ist
demzufolge kaum in der Lage, die Reaktionen der Umwelt auf sein
Verhalten zu antizipieren, um auf dieser Grundlage konstantes und adäquates Verhalten aufzubauen. Außerdem führt die in Häufigkeit und
Intensität variierende Ablehnung durch die sozialpersonelle Umwelt
zur Konditionierung negativer Selbstbewertungen und zur Generalisierung einer negativen (skeptischen und misstrauischen) Erwartungshaltung auch gegenüber bisher unbekannten Personen („Paranoia-­
Hypothese“).
Psychosoziale Spezifik chronischer Erkrankungen der Haut 21
1.3
Psychosoziale Spezifik chronischer
Erkrankungen der Haut
Im Unterschied zu anderen chronischen Erkrankungen gibt es bei
chronischen Hauterkrankungen einige Besonderheiten, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet sind:
Psychosoziale Spezifik bei chronischen Erkrankungen der Haut
1.meist sichtbar (Entstellungskonzept): Gefahr der interpersonellen Isolation
2.Effloreszenzproblematik: Schwierigkeiten beim Verständnis
eines möglichen psychosomatischen Zusammenhanges
3.Chronisch bedeutet oft nicht immer bestehend: Wechselwirkung von Hoffnung und Verzweiflung
4.Selten lebensbedrohend: Gefahr der Verharmlosung durch
Ärzte und medizinisches Personal
5.Relativ hoher Zeitaufwand für die individuelle Behandlung:
Einschränkung sozialer Aktivitäten (z. B. im Freizeitbereich)
Infolge der äußerlich sichtbaren Hautveränderungen i. S. von Entstellungen können bei den Betroffenen zwischenmenschliche Schwierigkeiten bis hin zu Isolationsproblemen auftreten. Viele chronisch hautkranke Personen haben das Gefühl, ihre psychische Verfassung habe
auch etwas mit der Erkrankung zu tun. Jedoch fällt ihnen die Einordnung solcher Zusammenhänge aus zweierlei Gründen recht schwer.
Zum einen hat die Sichtbarkeit von Hauterscheinungen zu psychischen
Verleugnungstendenzen geführt „da ist doch etwas zu sehen, das kann
doch nicht psychisch sein“ –, zum anderen kommt es manchmal zu
erheblichen zeitlichen Differenzen (bis zu drei Wochen bei der Psoriasis) zwischen dem Auslöser (z. B. Angina oder einer akuten Stresssituation) und dem Auftreten neuer Hauterscheinungen (Effloreszenzen)
bzw. der Verschlimmerung der bereits beeinträchtigten Haut. Somit ist
es dem Patienten erschwert, Anlässe (Auslöser) im Wiederholungsfalle zur Vorbeugung zu nutzen.
Als Besonderheit chronischer Hauterkrankungen (z. B. Schuppenflechte) ist zu erwähnen, dass es hauterscheinungsfreie Intervalle von
mehreren Wochen, Monaten, manchmal auch mehreren Jahren geben
kann. Jeder neue Schub bringt dem Patienten dann Enttäuschung, da
die erscheinungsfreie Zeit von ihm meist als „Heilung“ interpretiert
wird, was aufgrund der genetischen Disposition jedoch nicht zutrifft.
22 Das Fach Psychodermatologie
Der chronisch hautkranke Patient lebt also oft in einem Spannungsfeld
zwischen Hoffnung („Heilung“) und Verzweiflung (Schub).
Die meisten chronischen Hauterkrankungen sind nicht unmittelbar
lebensbedrohlich. Dies verleitet jedoch immer wieder zu Verharmlosungen („seien sie froh, dass sie keinen Krebs haben“). Salben- und
andere Behandlungsformen erfordern bei den meisten chronischen
Hauterkrankungen relativ viel Zeit, die andere Personen dem Freizeitbereich widmen und die dem Hautpatienten zur Erholung verloren geht.
1.4
Der psychiatrische Ansatz
In der Dermatologie werden aktuell vier Erkrankungen primär psychiatrischer Genese unterschieden (Abb. 1):
Artefakte
Paraartefakte
Simulationen
Somatoforme
Störungen
Dermatosen infolge
Wahnerkrankungen und
Halluzinationen
Dermatosen
primär
psychischer
Genese
Dermatosen bei
Zwangsstörungen
Abb. 1: Dermatosen primär psychiatrischer Genese
1.4.1
Die artifizielle
Störung
Artefakte
Artefakte (Kunstprodukte) sind hier das absichtliche Erzeugen oder
Vortäuschen körperlicher und / oder psychischer Symptome an sich
selbst oder anderen Bezugspersonen. Die artifizielle Störung (ICD-10:
F68.1, L98.1) ist eine selbstschädigende Handlung, die unmittelbar
oder mittelbar zu einer objektivierbaren klinischen Schädigung des
Organismus führt. Damit ist keine direkte Intention zur Selbsttötung
verbunden.
Der psychiatrische Ansatz 23
Es gibt verschiedene Einteilungen der Artefakte. Zum Verständnis der
Pathogenese, des Verlaufs (Psychodynamik) und der Prognose hat sich
folgende Einteilung für die Praxis als hilfreich herausgestellt (Tab. 2).
Tab. 2: Einteilung der Artefakte
Erkrankung
Verletzung
Ursache(n)
Klinik
(eigentliche)
Artefakte
unbewusst,
Verletzung wird
nicht zugegeben
psychische Störung
wie depressive,
Zwang-Angststörung,
Persönlichkeits-­
Störungen
unterschiedliche Hautschädigungen durch Reiben,
Schneiden, Stechen, Stauen,
toxische Substanzen, Infek­
tionen, Medikamente
Para­
artefakte
meist halb-bewußt, Verletzung
wird zugegeben
Impulskontroll-Störung
Hyperkeratosen, Wunden,
Narben durch Kneifen,
­Kratzen, Reiben, Kauen
Simula­
tionen
bewusst, Verletzung wird nicht
zugegeben
vorgetäuschte Ver­
letzung / Erkrankung
zwecks Vorteilser­
langung
entsprechende Verletzungen
wie bei Artefakten
Davon abweichende Sonderformen der artifiziellen Störungen sollen Sonderformen
der artifiziellen
noch kurz angesprochen und definiert werden:
Störung
Gardner-Diamon-Syndrom: Vorwiegend bei jungen Frauen schubweise auftretende schmerzhafte blaue Makulae an den Extremitäten,
teilweise mit Allgemeinbeschwerden wie Kopf- und Abdominal­
schmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhöen, Gewichtsverlust sowie
verschiedenen neurologischen Symptomen und Persönlichkeitsstörungen.
Münchhausen-Syndrom: Gekennzeichnet durch die Trias Kranken­
hauswandern, Pseudologia phantastica und Selbstverletzung, häufig
auf der Grundlage einer Borderlinestörung (Gattaz et al. 1990).
Münchhausen-by-proxy-Syndrom: Artifizielle Schädigung bei einer Bezugsperson, meist eines Kindes. Diese Situation kann für die
Person lebensgefährlich sein, so dass sie rasch aus diesem sozialen
Umkreis herausgenommen werden muss.
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