Die ethisch reflektierte Entscheidung 3

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Die ethisch reflektierte Entscheidung
1. Situation
7.
Klinik
2. Entscheidungen treffen
7.1.
Beispiele ethischer HerausForderungen in der Medizin
– Anatomie eines alltäglichen Vorgangs –
und Krankenpflege
3. Die sittliche Herausforderung
4. moralische Argumentation
5. ethische Argumentation
 Spinoza
 Adam Smith
 J.S. Mill
 Moderner Utilitarismus
6. Modelle ethischer Entscheidungsfindung
6.1 Kasuistik
6.2 Tödt
6.3 Balance v.Thun
6.4 Axiologische Differenz
6.5 Nutzenkalkulation.
6.6 Rangfolge von Normen



Anfang
Mitte
Ende des Lebens
7.2. Entschlussstrategien
7.2.1. Tschudin
7.2.2. David Thomsma (USA)
7.2.3. Jonson ...
7.2.4. Bochumer AB (Sass, Viefhues)
7.2.5. Lateinamerika
8. Methoden ethischer Entscheidungsfindung
8.1.Ulm
8.2. Augsburg
8.3.Erlangen
8.4.Lübeck
2
1. Situation
Die rasante Entwicklung von Wissenschaft und Technik eröffnet uns in den verschiedensten
Bereichen unseres Lebens (Medizin, Raumfahrt, Kommunikation, Handel ...) ständig neue
Möglichkeiten und wirft damit aber auch eine Unmenge von neuen moralischen Problemen auf.
Zeitgleich mit dieser Entwicklung sind nun manche ältere moralische Ordnungen, aufgebaut auf
allgemein anerkannten Glaubensregeln, ins Wanken geraten. Das erschwert es, moralische
Entscheidungen zu treffen. Dazu kommt, dass in den entwickelten Gesellschaften alle
Entscheidungen in einem pluralistischen Klima getroffen werden müssen Es scheint, dass im
moralischen Klima von heute nie Einigkeit über Richtig und falsch erzielt werden kann. Nicht
selten entarten Auseinandersetzungen über die richtige Entscheidung in gegenseitigen
Verletzungen und Vorwürfen. Statt Klärungen hinterlassen solche Auseinandersetzungen dann
nur noch größere Unsicherheiten. Manche lässt diese Situation verzweifeln, andere suchen nach
hilfreicher Unterstützung.
Am ehesten sind Denkanstöße und Unterstützung wohl von der Ethik zu erwarten Versteht sie
sich doch als Wissenschaft vom moralischen Handeln und fragt unter anderem danach, wie
moralische Entscheidungen zustande kommen. Dabei sagt sie nicht, was das Gute in concreto ist,
sondern wie man dazu kommt, etwas als gut zu beurteilen.
R.-M.T. und die Evangelische Erwachsenenbildung laden ein, sich anlässlich einer
Ethikkonferenz mit Eigenart und Struktur moralischer Urteile und Entscheidungen auseinander
zusetzen.
28.08.02 - Vortrag
26.10.02 - Gruppenarbeit
Ziel ist es, sich der Instrumentarien und Schrittfolgen zu versichern, die von der herausfordernden
Situation über reflektive und diskursive Schritte bis zur ethisch reflektierten Entscheidung führen.
2. Entscheidungen treffen - Anatomie eines alltäglichen Vorganges
Das menschliche Leben ist auch eine andauernde Abfolge von Entscheidungen. Entscheidungen
sind zielgerichtete Tätigkeiten, bei denen aus mehreren Handlungsmöglichkeiten eine Variante
ausgewählt wird. Indem ich eine Handlungsalternative wähle und verwirkliche, schließe ich
andere, die ich auch hätte wählen können, aus. Damit ist in jeder Entscheidung auch ein Moment
des Verzichts enthalten. Ein Verzicht, der (in manchen Fällen) zu Unlust führen kann. Manche
versuchen sich dieser Unlust durch Vermeidung zu entziehen.
Beispiele:
 Verhungernder Esel zwischen zwei Heuhaufen (Beispiel des Aristoteles?)
 (unschlüssiges) Nichthandeln psychisch Belasteter.
Beide Beispiele machen deutlich: Entscheidungen sind unausweichlich. Auch wenn ich eine
Handlung unterlasse habe ich eine Entscheidung gefällt: Die Entscheidung in dieser Sache nichts
zu unternehmen und den dingen ihren Lauf zu lassen. Wer darum auf bewusstes Handeln (Leben)
nicht verzichten will, steht unausweichlich vor der Frage nach dem richtigen Handeln.
Problem der Entscheidung an einem Beispiel:
 Restaurant - Speisekarte
Zwischen die Situation, die eine Entscheidung herausfordert und dem Entschluss wird in der
Regel eine Phase der Überlegung, bzw. Besinnung eingeschoben. Es werden Kriterien gesucht,
die zu einer Entscheidung führen. In unseren Beispiel: Preis (Wert) / mein Gewicht, Gesundheit
3
(Folgen) / Lust (Wohlbefinden) / Kellner (Autorität) / Zufall ...
Im vormenschlichen Leben werden Entscheidungen ebenso wie das übrige Verhalten im
Wesentlichen durch Instinkte gesteuert. Die Verhaltensforschung (Eibl-Eibisfeld, Konrad
Lorenz) macht darauf aufmerksam, dass auch die Instinktausstattung der heute lebenden
Menschen äußerst beachtenswert ist. Allerdings erweist sich das Instinkterbe als einer
urtümlichen Lebensweise angepasst, von der sich der Kulturmensch weit entfernt hat. Unsere
biologische Entwicklung konnte mit der kulturellen Schritt halten.1 So können Handlungen, die
aufgrund solcher Instinktreste erfolgen sich gigantisch übersteigen (Möglichkeiten eines
Atomkrieges, Umweltzerstörung) oder erweisen sich als überfordert hochkomplexe
Sozialsysteme zu regulieren.
3. sittliche Herausforderung
Wenn es darum geht im Alltag Entscheidungen zu fällen, reicht es in der Regel aus, sich auf das
zu beziehen, was wir mit Intuition oder auch Gefühl umschreiben. Schwieriger ist die Situation
dort, wo es um schwerwiegendere Entscheidungen geht. Also um solche, deren Folgen einen
großen Einfluss auf meine Lebensumstände haben. Beispiele: Beruf, Partner, Wohnort ...
Eine sittliche Dimension bekommen Entscheidungen dort, wo die Bedürfnisse und Lebensräume
anderer Existenzen (Menschen, belebt und unbelebte Mitwelt) mit berührt werden. Ein Mensch
handelt dann sittlich verantwortlich, wenn er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, die
für eine Entscheidung relevanten Gesichtspunkte zu finden und wenn er imstande und bereit ist
darzulegen, wie und aus welchen Gründen er im Rahmen der objektiven Vorraussetzungen
wichtet.
Seit Menschen sich ihrer selbst bewusst geworden sind, haben sie immer wieder versucht
Orientierungen bzw. Maßstäbe für den Umgang miteinander, mit Gott und der Welt zu finden
und zu ordnen. Unzählige Religionen, Weisheitslehren, Gesetze und Gebote sind so in den
verschiedenen Kulturen und Epochen entstanden. Dabei haben Menschen immer wieder auch die
Erfahrung gemacht, dass es trotz guten Willens oft schwer ist das Gute auch zu verwirklichen.2
In der Regel schalten vor Entscheidungen eine „Bedenkzeit“ ein. Eine Zeit in der wir auf
unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Methoden die Alternativen unseres Handelns
abwägen.
 Vielleicht beraten wir uns mit jemanden, den wir in diesen Fragestellungen für kompetent
erachten. Das kann auch in der Form geschehen, dass wir nachlesen, was andere (für uns als
kompetent erachtete ) zu dieser Fragestellung geschrieben oder gesagt haben.
 Möglicherweise fragen wir nach den möglichen Folgen, oder
 wir rechnen durch welche Entscheidung den größeren Nutzen verspricht.
 Eventuell gibt es auch einen Moralkodex, den wir als Handlungsorientierung heranziehen
(Koran, Bibel, BGB ...).
1
Beispiel: Schreckreaktion (Klumbies, Psychotherapie s.15-16)
Jesus: „Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach.“ Mt 26,41: Mk 14,38 / Paulus: „Ich tue nicht was ich will,
sondern was ich hasse, das tue ich.“ Rm 7,15
2
4
In jedem Fall ist die „Bedenkzeit“ vor einer schwerwiegenden Entscheidung eine Zeit dichter
Kommunikation. Wenn nicht äußerer (in dem Sinne, dass ich mich mit anderen berate) dann doch
innerer (in dem Sinne, dass ich denkend mit mir rede).
Mein Anliegen ist es, Bedingungen und Strukturen dieser Kommunikation zu untersuchen, um
letzten Endes herauszufinden, wodurch sie gefördert bzw. behindert werden kann.
4. moralische Argumentation
Im Alltag ist es oft der Fall, dass eine geschehene oder beabsichtigte Handlung moralisch
unterschiedlich beurteilt wird. Das kann dann ein Anlass dafür sein, nach „guten Gründen“ für
die jeweilige Entscheidung zu fragen. Solche guten Gründe, vermittels deren sich jemand von der
Rechtmäßigkeit seines Handelns überzeugt oder andere zu überzeugen sucht, lassen sich grob in
sieben Klassen von Begründungsstrategien unterteilen:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Instinkt
Fakt
Gefühle
mögliche Folgen
Moralkodex
moralische Kompetenz /Autorität
Gewissen
Zu 1. Instinkt
H.E. Richter: Unbewusste Hörigkeit ist kein Sonderfall, sondern ein Merkmal des
durchschnittlichen Menschen3
Wir alle sind mehr oder minder dazu erzogen, die Kraft des Einflusses unseres persönlichen
Gewissens auf unser Handeln zu überschätzen. Unsere moralischen Fähigkeiten sind im
Grunde sehr viel geringer, als wir dies zu glauben. angehalten worden sind. Oder genauer:
unsere Fähigkeiten, unsere moralischen Grundsätze in der Praxis anzuwenden, sind überaus
labil und störbar. Psychoanalytische und sozialpsychologische Erfahrungen zeigen, dass
das persönliche Gewissen in vielen sozialen Entscheidungssituationen gar nicht in die
Funktion tritt, die von Moraltheoretikern automatisch unterstellt zu werden pflegt. Der von
übermächtiger Isolationsangst verfolgte Mensch ist vielmehr in einem ihm selbst
regelmäßig verborgenen Maße geneigt, im Konfliktfall äußeren Autoritäten die Kompetenz
eines Gewissensersatzes einzuräumen und sich unter Umständen von diesen Handlungen
vorschreiben zu lassen, die seinen persönlichen Vorstellungen strikt widersprechen.
Wenn man Phänomene wie die willfährige Teilnahme von einzelnen, von Gruppen, von ganzen
Völkern an unmenschlichen Verbrechen in der Geschichte besser verstehen und vor allem,
wenn man in der Erziehung solchen Gefahren besser vorbeugen will, muss man künftig
zweifellos den sozialpsychologischen Bedingungen moralischen Verhaltens sehr viel mehr
Aufmerksamkeit als bisher schenken. Es bedeutet eine schwerwiegende Irreführung der Kinder
und Jugendlichen, wenn man ihnen eine moralische Selbstverantwortung als
3
in „Flüchten oder Standhalten“ Kapitel 4
5
Selbstverständlichkeit predigt, die man ihnen auf Schritt und Tritt wieder abnimmt durch
Normen, die man willkürlich von außen setzt. In einer neuen Erziehung müssten die größten
Energien darauf verwendet werden, dem jungen Menschen seine gefährliche Bereitschaft
deutlicher zu machen, sich hörig äußeren Autoritäten zu unterwerfen, die sich ihm als Substitut
für seine Gewissensinstanz allenthalben anbieten. Gerade weil es notwendig ist, die in der
Realität sehr schwache Fähigkeit zu autonomen Gewissensentscheidungen zu erweitern, geht es
primär um eine Verbesserung der psychischen Bedingungen, die es dem Menschen überhaupt
möglich machen, mehr von seiner moralischen Eigenverantwortung auf sich zu nehmen. Dies
führt eben wiederum zu dem Problem, dass dem einzelnen geholfen werden muss, mehr
Einsamkeit zu ertragen, statt unablässig durch einen absoluten Anpassungszwang gefesselt zu
sein.
Vor einer Anknüpfung an diese allgemeinen Zusammenhänge seien zunächst einige
psychoanalytische und experimentalpsychologische Erkenntnisse und Befunde zum Problem
der Gewissensbildung und der Manipulierbarkeit moralischen Verhaltens betrachtet.
Die psychoanalytische Entwicklungspsychologie hat die Prozesse verfolgt, in deren Verlauf
das Kind ein System von Normen und Wertvorstellungen erwirbt, die sich schließlich in
einer Substruktur des Ichs niederschlagen. Es ist untersucht worden, wie sich die zunächst
ausschließliche Abhängigkeit von der Außenwelt dadurch reduziert, dass das Kind von einer
inneren Instanz abhängig wird, die FREUD als Über-Ich, gelegentlich auch als Ideal-Ich
bezeichnet hat.
FREUD hat sich zu diesem Prozess folgendermaßen geäußert: «Um diese Zeit» (um das
Alter von 5 Jahren herum, der Verf.) «hat sich eine wichtige Veränderung vollzogen. Ein
Stück der Außenwelt ist als Objekt, wenigstens partiell, aufgegeben und dafür (durch Identifizierung) ins Ich aufgenommen, also ein Bestandteil der Innenwelt geworden. Diese neue
psychische Instanz setzt die Funktionen fort, die jene Personen der Außenwelt ausgeübt
hatten, sie beobachtet das Ich, gibt ihm Befehle, richtet es und droht ihm mit Strafen, ganz
wie die Eltern, deren Stelle es eingenommen hat. Wir heißen diese Instanz das Über-Ich,
empfinden sie in ihren richterlichen Funktionen als unser Gewissen».:
«Als Niederschlag der langen Kindheitsperiode, während der werdende Mensch in
Abhängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich in seinem Ich eine besondere Instanz heraus,
in der sich dieser elterliche Einfluss fortsetzt. Sie hat den Namen des Über-Ichs erhalten. Im
Über-Ich bildet sich nicht nur das persönliche Wesen der Eltern ab, «sondern auch der durch
sie fortgepflanzte Einfluss von Familien-, Rassen- und Volkstradition sowie die von ihnen
vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Ebenso nimmt das Über-Ich im
Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von seiten späterer Fortsetzer oder
Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentlicher Vorbilder, in der Gesellschaft
verehrter Ideale.»
Resultat der von FREUD beschriebenen Verinnerlichung dieser vielfältigen Einflüsse ist
jedenfalls die potentielle Fähigkeit des Individuums zu einer moralischen Eigensteuerung.
Die ursprünglich äußeren Vorschriften und Idealfiguren wirken als innere Leitbilder fort.
Und man könnte sich vorstellen, dass diese inneren Maßstäbe den Erwachsenen gegenüber
dem System äußerer Bestrafungen und Belohnungen weitgehend immunisieren würden.
Seine innere Zensurinstanz sollte ihn hinreichend vor Korruption durch äußere Ma-
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nipulationsversuche schützen können. In der Tat rechnet man in weiten Kreisen diese
Widerstandsfähigkeit zur «Normalität», während man es eher für eine klinische Ausnahme
hält, wenn bei besonders schwach ausgebildetem Selbstgefühl eine hochgradige Abhängigkeit von Außenbestätigung und deshalb auch von Fremdbeeinflussung des moralischen
Verhaltens erhalten bleibt.
Vor allem in jüngerer Zeit hat die psychoanalytische Forschung jedoch wieder stärker darauf
hingewiesen, dass die äußere Lenksamkeit durch Autoritäten nicht unterschätzt werden solle.
Vor allem können Verletzungen des Selbstwertgefühls ein verstärktes Bedürfnis nach
«narzisstischer Nahrung» von außen hervorrufen. «In der sogenannten Über-Ich-Projektion
(oder Externalisierung) kann man beobachten, wie das Ich versucht, die ursprünglichen
Über-Ich-Objekte in der Außenwelt wiederherzustellen» (SANDLER"). Für diese Prozesse,
bei denen die innere Gewissensabhängigkeit wieder durch eine Auslieferung an äußere
Autoritäten ersetzt wird (durch Regression), hat man die Situation der psychoanalytischen
Behandlung, das Verhalten bei moralischem Masochismus, religiöse Bekehrung,
Bandenbildung und Heldenverehrung bei jugendlichen als Beispiele studiert (SANDLER).
Aber gerade die Auswahl solcher relativ extremen bzw. klinischen Beispiele zeigt, dass man
sich erst von Randphänomenen her allmählich dem Problem annähert, ob denn nicht auch im
Durchschnittsbereich des menschlichen Verhaltens Prozesse der Über-Ich-Externalisierung
eine wesentlich größere Rolle spielen könnten, als man dies gemeinhin angenommen hat.
Man sieht auch immer wieder, dass eine Schwierigkeit der Erfassung des Autoritätsproblems
für viele Psychoanalytiker darin liegt, dass sie diese psychischen Vorgänge lediglich unter
der Autorschaft des Ichs betrachten, das sich z. B. narzisstische Nahrung von außen suche
oder in der äußeren Realität Objekte als Über-Ich-Ersatz zu finden trachte. Es ist gewiss
einfacher, die Entscheidungsschwierigkeiten im Spannungsverhältnis zwischen inneren
Über-Ich-Konflikten und dem Außendruck realer Autoritäten zu studieren, wenn man in
einer sozialpsychologischen Perspektive die Außenrealität des Individuums voll miterfasst.
Immer wieder lässt sich feststellen, dass S. FREUD in manchen Ansätzen bereits viel
sozialpsychologischer gedacht hat als manche seiner theoretisch bedeutenden Schüler, die
zeitweilig ihre ganze Konzentration auf die Erforschung des Ich gelenkt und sich weniger
um die Interaktion zwischen Ich und Umwelt gekümmert haben.
Von neueren einschlägigen experimentellen Untersuchungen zu dem Problem der
Manipulierbarkeit des moralischen Verhaltens haben die Studien von ST. MILGRAM
Resultate erbracht, denen man wirklich eine revolutionäre Bedeutung zuerkennen muss. T
MILGRAM hat deutlich gemacht, dass in den Menschen aller Altersgruppen und aller
Sozialschichten eine dem allgemeinen Selbstverständnis krass zuwiderlaufende Bereitschaft
vorhanden ist, äußeren Autoritäten unter Preisgabe der eigenen moralischen Grundsätze
gehorsam zu sein. Die Experimente MILGRAMS sind im wissenschaftlichen Schrifttum und
i ,der Presse bekannt gemacht und kurze Zeit erregt diskutiert worden. Aber es erscheint
bezeichnend und zugleich beunruhigend, dass man mit den unerhört wichtigen Befunden dieser Experimente ähnlich umgegangen ist wie mit manchen anderen neueren großen
Entdeckungen: einen Augenblick ist man - unterstützt durch die Medien- davon fasziniert,
bis man von der nächsten Modesensation, etwa Exorzismus oder Parapsychologie, überschwemmt wird. Dem momentanen hektischen Interesse, folgt schnelles Vergessen, aber
eine eigentliche Verarbeitung des wirklich relevanten Erkenntnisgewinnes bleibt aus. Bei
MILGRAMS Experimenten spielt offensichtlich noch besonders der allgemeine Wunsch
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eine Rolle, die von ihm aufgedeckten peinlichen Wahrheiten schnell wieder zu unterdrücken.
In der Tat gibt es kaum andere Forschungsergebnisse aus der letzten Zeit, die geeignet
wären, unsere Selbstachtung ähnlich tief zu verletzen. Aber eben weil die Befunde Milgrams
o schnell aus der öffentlichen Diskussion wieder verschwunden und der Verdrängung
anheimzufallen drohen, seien hier noch einmal die wichtigsten Einzelheiten rekapituliert:4
zu 2. Fakt
Es ist die häufigste häufigste und üblichste Form einer moralische Begründung auf die Frage
„Warum“ mit  „Weil... + Situation“.
„Warum hast du dieser Frau deinen Platz angeboten?“
„Weil sie schwanger ist.“
Die Begründung bezieht sich auf ein allgemeines Werturteile, auf Normen deren Verbindlichkeit
von den meisten fraglos anerkannt ist:
z. B. Älteren, Schwangeren, in Gefahr geratenen, Freunden und Hilflosen muss man in einer
Situationen, die sie in allen einen nicht zu bewältigen Vermögen, ohne sich zu gefährden, nach
Kräften helfen.
! Es besteht allerdings eine fließender Grenze zwischen Vorurteil und verbindlicher Norm (weil
er, Farbiger, Jude... ist.)
zu 3. Gefühle
Auf die Frage„Warum“  „Weil... + Gefühl“.
„Warum hast du dieser Frau deinen Platz angeboten?“
„Weil sie mir leid tat.“
Doch kein noch so intensives Gefühle kann die Verbindlichkeit einer moralischen Normen
beanspruchten (nicht verallgemeinerungsfähig). Appelle an die Gefühle des Gesprächspartners
kann eine moralische Begründung nicht ersetzen.
zu 4. mögliche Folgen (Nutzen)
„Warum hast du dieser Frau deinen Platz angeboten?“
„Weil sie das sich sonst so stark belastet, dass das Kind gefährdet wird.“
Die Argumentationsform, die der Utilitarismus als einziger moralischer Begründung gelten lässt.
Zu 5. Moralkodex
„Warum hast du dieser Frau deinen Platz angeboten?“
„Weil dieser Platz für Schwangere reserviert ist.“
Gründe werden in der Regel von denen Mitgliedern der Gruppe, auf die sich die Geltung des
Moralkodex erstreckt, als hinreichend anerkannt.
Zu 6. moralische Kompetenz
Vater / Lehrer / Papst / Chef / Gerichtshof / Arzt
„Warum hast du dieser Frau deinen Platz angeboten?“
„Weil der Pfarrer letzten Sonntag über soziale Verantwortung gepredigt hat.“
Gefahren: Projektion von Verantwortung / kritische Hinterfragungen sind unerlässlich
Vorteile: Vereinfachung von Entscheidungen durch Vertrauen
4
Experimentbeschreibung bei ...
8
zu 7. Gewissen
„Warum hast du dieser Frau deinen Platz angeboten?“
„Weil mich mein Gewissen zwackte.“
Berufung auf das Gewissen als moralische letzte Instanz ist eine in der Praxis generell anerkannte
Formen der Begründung.
Allerdings: das Gewissen ist nicht unfehlbar.
5. Ethische Argumentation
Um der Gefahr einer Manipulation oder Irreführung zu entgehen, sollten in einem ethischen
Diskurs alle (moralischen) Argumente einzeln unterschieden und klassifiziert, sowie auf ihre
Stichhaltigkeit und Wahrhaftigkeit überprüft werden.
Die Frage nach der Herleitung moralischer Begründungen ist Aufgabe ethischer Reflexion und
Argumentation. Die Ethik ist als Wissenschaft, Teilgebiet der praktischen Philosophie und
versteht sich „als die Theorie richtigen Handelns“. Dabei muss allerdings klar sein, dass die
Ethik nicht Entscheidungen anbietet sondern Strategien. Strategien, wie sich moralische
Entscheidungen begründen lassen. Dass diese Strategien sehr unterschiedlich sind und auch zu
sehr unterschiedlichen Bewertungen führen können, macht die Sache nicht einfacher.
Wenn ethische Argumentationen solche eine Fülle von Vorraussetzungen bedingen, dann muss
die Frage erlaubt sein:
5.1. Wer ist zu solcher Reflexion und Kommunikation überhaupt in der Lage?
Nach Hastad/Martens (1966, S.19) ist „der charakteristische Ort ethischer Argumentation ... das
Gespräch (...) unter erwachsenen, handlungsfähigen, voll verantwortlichen Personen mittleren
Alters (...), die die moralische Erziehung hinter sich haben (...).“ Um argumentieren zu können,
sollte man zurechnungsfähig sein und die Fähigkeit besitzen, Verantwortung für seine
Handlungen übernehmen zu können.
Ziele einer ethischen Argumentation können sein:
1. die Gesprächspartner von getroffenen sittlichem Urteilen zu überzeugen,
2. in einem Problem, Dilemma, Konflikt gemeinsam zu einem sittlichem Urteil zu finden,
3. sich beraten zu lassen mit dem Ziel, " sich in im Geflecht der eigenen Motive, Einsichten,
Rationalisierungen und Ängste so zurecht zu finden, dass man zu einer Handlung oder
Unterlassung dergestalt schreiten kann, dass man mit ihr in der Zeit lässt möglichem Einklang
steht, auch wenn sie einem partielle weh tut“ (Hasted/Martens 1966, S.21).
Letztendlich ist das Ziel ethischer Argumentation die Verbesserung von Verantwortlichkeit.
Einerseits bedarf es der persönlichen Betroffenheit, andererseits aber auch einer Distanz im
rationalistischen Sinne. Je mehr es rational zu einer Aussperrung statt zu einer Integration von
Argumenten kommt, desto mehr besteht die Gefahr der Selbsttäuschung oder Verschleierung der
ursprünglicheren Triebkräfte der Argumentation.(Hasted/Martens 1966)
5.2. ethische Argumentationsstrategien
Bei ethischen den ethischen Begründungen moralischer Urteile können verschiedene
Argumentationsstrategien und Methoden angewandt werden.
9
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
logische
diskursive
dialektische
analogische
transzendentale
analytische
hermeneutische
zu 1. logische
Alle Methoden der Ethik, sofern sie zu wissenschaftlichen Ergebnissen führen sollen, müssen den
Kriterien der formellen Logik genügen. Es geht darum, konsistente und widerspruchsfreie
Zusammenhänge zwischen beliebigen normativen Sätzen aufzuweisen.
Zu 2. diskursive (zurückgehend auf Jürgen Habermas)
Es entscheidet nicht einer allein über die rechtmäßige Geltung von Normen, sondern die
Handlungsgemeinschaft, deren Mitglieder sich redend miteinander verständigen, um zu einer für
alle akzeptablen Handlungsregel zu gelangen. Schrittweise wird jedes einzelne Argument
begründet.
„Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer
an rationalen Diskursen zustimmen können.“5
Unbedingte Voraussetzungen für den Diskurs sind:
1. Konflikte werden nicht durch Gewalt, sondern durch gemeinsame Beratung aller Betroffener
oder ihrer Vertreter gelöst.
2. Jeder, der an einer solchen Beratung teilnimmt, ist berechtigt, seine Interessen ungehindert zu
vertreten.
3. Jeder, der an einer solchen Beratung teilnimmt, muss bereit sein, seine eigenen Interessen
nicht mit rhetorischen Mitteln durchzusetzen, sondern zu modifizieren. Die im Verlauf einer
gemeinsamen vernünftigen Willensbildung gewonnenen objektiven Zwecke sind dann die
allgemeinverbindlichen Normen, deren Befolgung als rechtmäßig gilt.
zu 3. dialektische (zurückgehend auf Platon)
In Form von Rede und Gegenrede wird versucht, zu einer Verständigung darüber zu kommen,
was zu tun ist bzw. welche Normen zu Recht Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erheben zu
können. Der Dialog vermittelt zwischen normativen und faktischen Ansprüchen.
zu 4. analogische (zurückgehend auf Aristoteles)
Das Gesollte wird als die Mitte zwischen zwei Extremen, die beide das Moralische verfehlen,
bestimmt (Z.B. Tapferkeit als Mitte zwischen Feigheit und Verwegenheit,). Eine Handlung gilt
dann als gerecht, wenn in einer gegebenen Situation der Vergleichspunkt von Personen (z.B.
Bäcker, Schuster) und Sachen (Schuhe, Brot) so festgesetzt wird, dass von diesem Maß als der
5
Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992
10
richtigen Mitte her entscheidbar wird, was jeden von ihnen zusteht (wie viel Brote einem Paar
Schuhe entsprechen).
Das Finden der richtigen Mitte kann dabei auf zweierlei Weise geschehen:
 arithmetisch
 geometrisch
Diese Methode wird stets dort angewandt, wo es darum geht allgemein anerkannte Normen und
Werte in Beziehung zu einer Einzelsituation zu setzen, um ethisch festzustellen, welche
Handlung in dieser Situation moralisch geboten ist (z.B. bei der Anwendung des Strafrechts).
Zu 5. transzendentale
Sie setzt einen Ur- oder Letztgrund moralischen Handeln voraus, den sie sucht. Jede
Handlung/Norm, die sich auf diesen Letzgrund (bei Kant: das Freiheitsprinzip) zurückführen
lässt, ist ethisch letztbegründet und insofern moralisch qualifiziert.
Für Immanuel Kant ist der Anstoß für die Annahme eines Letztgrundes die Beobachtung:
Wenn Ungebildete nicht weniger moralisch handeln können als Gebildete, muss es eine Instanz
im Menschen geben, die unabhängig davon, was der Mensch gesehen und verstanden hat in der
Lage ist moralische Entscheidungen zu treffen. Diese Instanz nennt Kant die „reine Vernunft“.
„Rein“ deshalb, weil sie „unabhängig von aller Erfahrung... ohne empirische Beimischung“ 6
funktioniert. Moralische Grundwerte sind für ihn „a priori“ angeborene Bestandteile
menschlichen Verhaltens. Wenn der Mensch ganz in sich geht und seine innere Stimme befragt,
würde er dann ganz von selbst hören, wie er sich richtig zu verhalten hätte. Die innere Stimme
formuliert vor allem Pflichten.
Zu 6. analytische
(zurückgehend auf Wittgenstein) Kein ethisches Verfahren ohne Analyse, insofern ein komplexer
Gegenstand nur durch eine begriffliche Zerlegung der in ihm enthaltenen Momente dargestellt
werden kann. (Sprachanalyse)
Zu 7. hermeneutische
(zurückgehend auf Gadamer im Anschluss an Heidegger) Aufklärung der geschichtlichen
Vermitteltheit des moralischen Selbstverständnisses
5.3. ethische Begründungen moralischer Urteile
Angewandt auf die weiter oben vorgestellten moralischen Urteile, können diese folgendermaßen
ethisch begründet bzw. infrage gestellte werden.
5.3.1. Instinkt
5.3.2. Fakt
6
Kant „Die reine Vernunft“
11
David Hume behauptet, dass alle ihm bekannten Moralsysteme von „ist“ Aussagen (z.B. über das
Dasein Gottes oder menschlicher Dinge) unvermittelt mit dem Prädikator „sollte“ übergehen.7
Dass also aus empirischen Tatsachen moralische Begründungen abgeleitet werden. Die hält er für
ungültig. Als „Humsches Gesetz“ sagt aus, dass es ungültig sei, „sollte“ Aussagen aus den von
ihnen völlig verschiedenen „Ist“ Aussagen ohne logische Begründung abzuleiten.
5.3.3. Gefühle
Eine Reihe von Philosophen vertreten den Standpunkt, dass sich moralische Urteile rational nicht
ableiten und begründen lassen.
a. David Hume
Die Vernunft könne zwar zwischen „wahr“ und „falsch“ unterscheiden, nicht aber zwischen
„gut“ und „böse“. Um eine Aussage als wahr oder falsch zu klassifizieren prüfe die Vernunft sie
auf Übereinstimmung zur Wirklichkeit oder auf ihre Möglichkeit sich logisch mit anderen
Aussagen verknüpfen zu lassen. Bei Affekt- und Willensäußerungen seien aber solche Fragen
sinnlos. Aus diesem Grund unterscheidet Hume zwischen Vernunft und Willen und zugleich auch
zwischen Vernunft und Moral. Ein Affekt könne nur insofern unvernünftig sein, als er auf einer
falschen Tatsachenvoraussetzung beruht oder für den beabsichtigten Zweck falsche Mittel wählt.
Sollen moralische Äußerungen einen Einfluss auf unser Handeln haben, müssten sie sich deshalb
an das Gefühl und nicht an die Vernunft wenden.
b. Max Weber
Wertungen können nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnisse sein. Allerdings kann sich
die Wissenschaft mit der empirischen Tatsache des wertenden Verhaltens befassen.
c. Hans Albert
Moralische Systeme sind rational überprüfbar aber nicht begründbar.
d. Schopenhauer
Für Schopenhauer ist Mitleid die „alleinige Quelle der Handlungen von moralischen Wert“. 8
Von Nietzsche wiederum wird diese Haltung vehement in Abrede gestellt. „Wahrlich, ich mag
sie nicht, die Barmherzigen ... Wo in der Welt geschehen größere Torheiten, als diejenigen der
Mitleidigen.“9
5.3.3. mögliche Folgen
Bei einer moralischen Handlung lassen sich sowohl die Wahl des Zieles als auch der Mittel
getrennt begründen. Dafür haben sich in der angelsächsischen Ethik zwei unterschiedliche Wege
herausgebildet:
 Teleologie (Verantwortungsethik)
 Deontologie (Gesinnungsethik).
7
D. Hume, Treatise III 1,1
Grundlagen der Moral, 1840
9
Also sprach Zrathustra
8
12
Wie sind beide voneinander zu unterscheiden? (zwei Beispiele)
Die beiden folgenden, in der Literatur inzwischen klassischen Beispiele stammen von
Bernhard Williams (Smart/Williams 1973).
1. Georg hat gerade in Chemie promovierte, und er hat große Schwierigkeiten, eine
Stelle zu finden. Wegen seiner schwachen Gesundheit kommt eine Reihe von Stellen
für ihn nicht in Frage. Seine Frau muss arbeiten gehen, um die Familie zu
unterhalten. Weil sie drei kleine Kinder haben, bedeutet das eine große Belastung.
Ein älterer Chemiker kann für Georg eine gut bezahlte Stelle in einem Labor
vermitteln, das Forschung auf dem Gebiet der chemischen und biologischen Waffen
betreibt. Georg ist der Überzeugung, dass er diese Stelle nicht annehmen kann, weil
er chemische und biologische Waffen ablehnt. Der ältere Chemiker sagt ihm, auch er
selbst sei kein Befürworter dieser Waffen, aber wenn Georg die Stelle nicht annähme,
würde dadurch das Labor nicht verschwinden. Vielmehr würde sie dann ein
Studienkollege von Georg erhalten, der gegenüber chemischen und biologischen
Waffen keine Skrupel habe und die Forschung mit erheblich größerem Engagement
als Georg vorantreiben werde. Es sei, so der ältere Chemiker, nicht nur die Sorge für
Georg und seine Familie, sondern auch die Sorge wegen des Engagements des
anderen Bewerbers, die ihn veranlasst habe, Georg anzubieten, dass er seinen
Einfluss für ihn geltend machen werde. Georgs Frau hat gegen die Forschung auf dem
Gebiet der chemischen und biologischen Waffen keine grundsätzlichen Bedenken.
2. Jim kommt auf den zentralen Platz einer kleinen südamerikanischen Stadt. An einer
Wand stehen zwanzig gefesselte Indianer und vor ihnen zwanzig bewaffnete Männer
in Uniform. Jim wird von einem dicken Mann in einem durchgeschwitzten KhakiHemd angesprochen, der sich als der Chef des Kommandos, mit Namen Pedro, zu
erkennen gibt. Er erklärt Jim, dass es sich bei den Indianern um eine zufällig aus der
Bevölkerung herausgegriffene Gruppe handelt, die nach Protesten gegen die
Regierung erschossen werden sollen, um weitere Proteste zu verhindern. Weil Jim ein
angesehener Botaniker aus einem fremden Land ist, bietet Pedro ihm als Gastgeschenk an, einen der Indianer selbst zu erschießen. Wenn Jim zustimmt, sollen aus
Anlass seines Besuches die anderen Indianer freigelassen werden. Nimmt dagegen
Jim das Angebot nicht an, wird Pedro ausführen, was er vor Jims Ankunft vorhatte
und alle zwanzig Indianer erschießen lassen. Jim fragt sich, ob er, sobald er das
Gewehr in der Hand hat, Pedro und die anderen Soldaten bedrohen kann, aber das ist
unter den gegebenen Umständen unmöglich; jeder Versuch dieser Art würde
bedeuten, dass die Indianer und er selbst getötet werden. Die Männer, die an der
Wand stehen, und die anderen Einwohner verstehen die Situation und bitten Jim, das
Angebot anzunehmen.
Bei der Beurteilung dieser beiden Fälle lassen sich drei Positionen unterscheiden:
(a) die Teleologische (konsequentialistische „agent-neutral“) Position: Georg ist
moralisch verpflichtet, die Stelle anzunehmen; Jim ist moralisch verpflichtet,
den einen Indianer zu erschießen.
(b) die deontologische („agent-relative“) Position: Georg darf die Stelle nicht
annehmen; Jim darf den Indianer nicht erschießen.
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(c) eine Mischposition: Georg darf die Stelle annehmen, aber er ist dazu nicht
verpflichtet; Jim darf den Indianer erschießen, aber er ist dazu nicht
verpflichtet.
(a) (c) Ein Teleologe (Konsequentialist) und ein Vertreter der Mischposition würden
beim Beispiel von Jim folgendermaßen gegen den Deontologen argumentieren: Wenn
Jim den einen Indianer nicht erschießt, dann wird jeder der zwanzig Indianer von je
einem der uniformierten Männer erschossen. Dadurch wird das Übel verzwanzigfacht.
Das gilt unabhängig davon, wie wir den Wert ansetzen, der durch die Handlung verletzt
wird. Das kann das menschliche Leben sein; einmal verliert ein und einmal verlieren
zwanzig Menschen ihr Leben. Es kann das Recht auf Leben sein; einmal wird das
Lebensrecht eines Menschen und in dem anderen Fall wird das Lebensrecht von zw anzig
Menschen verletzt. Wir können aber auch von der Handlung her argumentieren und
sagen, einen unschuldigen Menschen zu töten sei eine in sich schlechte Handlung. Der
Konsequentialist würde dann antworten, es stünde eine sittlich schlechte Handlung gegen
zwanzig sittlich schlechte Handlungen, und es sei ceteris paribus besser, wenn eine
sittlich schlechte Handlung als wenn zwanzig sittlich schlechte Handlungen begangen
würden (vgl. Scheffler 1982, Kap. 4).
(b) Was könnte der Vertreter der deontologischen (agent-relative) Position darauf
antworten?
Ein Deontologe könnte gegenüber einem Teleologen (Konsequentialisten) folgendermaßen
argumentieren: Ich darf ein Versprechen nicht brechen oder nicht lügen, und ich muss unter
Umständen dafür schwerwiegende Nachteile in Kauf nehmen. Dagegen bin ich nicht verpflichtet, dieselben Nachteile in Kauf zu nehmen, um eine andere Person am Bruch eines
Versprechens oder an einer Lüge zu hindern. Wenn die Verpflichtung aus dem objektiven
Wert käme, würde diese Asymmetrie nicht bestehen; ich müsste dieselben Nachteile in Kauf
nehmen, um den anderen am Bruch des Versprechens zu hindern. Wenn es allein auf die
Folgen, d. h. auf die Verletzung von Werten ankäme, würden die Pflichten, einen Mord nicht
zu begehen und einen Mord zu verhindern, sich nicht unterscheiden. Unter sonst gleichen
Umständen bedeutet es für die negativen Folgen keinen Unterschied, ob ich oder ein anderer
den Mord begeht. In jedem Fall verliert ein Mensch sein Leben, wird das Lebensrecht eines
Menschen verletzt und wird ein in sich sittlich schlechter Akt gesetzt. Nach dem
Konsequentialismus ist es also unter sonst gleichen Umständen in demselben Maß sittlich
notwendig, einen Mord zu verhindern, wie es sittlich notwendig ist, einen Mord nicht zu
begehen. Das aber widerspricht unseren Intuitionen. Wenn ich vor der Wahl stände, ob ich
einen Mord verhindern oder eine Person retten soll, die ohne Verschulden einer anderen
Person durch einen Unfall ums Leben käme, und wenn gegenüber keiner der beiden
Personen eine soziale Bindung vorläge, so wäre die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs das
ausschlaggebende Kriterium. Die Tatsache, dass es sich in dem einen Fall um einen Mord
und in dem anderen Fall um ein äußeres Ereignis mit Todesfolge handelt, würde keine Rolle
spielen. Ich hätte in diesem Fall keinen Grund, den Mord zu verhindern, aber ich bin in
jedem Fall verpflichtet, einen Mord zu vermeiden. Ich dürfte, so unsere Intuition, nicht die
eine Person töten, um die andere vor dem Unfalltod zu retten.
Lässt diese Intuition sich rechtfertigen? Die Wendung „Ich habe die Pflicht, einen Mord zu
verhindern" ist mehrdeutig. Wir müssen bei einer Pflicht fragen, wem gegenüber wir diese Pflicht
14
haben. Haben wir in diesem Fall eine Pflicht gegenüber dem, der Unrecht tun will? Sind wir ihm
gegenüber verpflichtet, ihn daran zu hindern? Hat der potentielle Verbrecher ein moralisches
Recht darauf, von mir an seinem Verbrechen gehindert zu werden? Kann er sich mir gegenüber
beklagen, wenn ich ihn nicht daran hindere? Das ist offensichtlich nicht der Fall. Es handelt sich
nicht um eine Pflicht gegenüber dem Täter, sondern gegenüber dem Opfer. Das potentielle Opfer
hat Anspruch auf meine Hilfe; ich muss es, soweit mir das möglich ist, vor dem Unrecht
schützen. Das Opfer kann sich bei mir beklagen, wenn ich das hätte tun können und es nicht
getan habe.
Diese Pflicht, das Opfer zu schützen, ist eine Pflicht zur Hilfeleistung, die mit anderen Pflichten
zur Hilfeleistung konkurrieren kann. Die Asymmetrie ergibt sich also daraus, dass ich eine
Pflicht der Gerechtigkeit verletze, wenn ich einen Mord begehe, dagegen eine Pflicht der
Hilfeleistung, wenn ich ihn, obwohl ich es könnte, nicht verhindere.
Es ergibt sich also, dass bei demselben Zustand der Welt ein handlungstheoretischer Unterschied
- ob ich selbst etwas verursache oder ob ich einen anderen nicht daran hindere - für die
moralische Bewertung von Bedeutung ist, d. h. dass die deontologische (agent-relative) Theorie
gegenüber dem Konsequentialismus im Recht ist. Die Frage, weshalb Pflichten der Gerechtigkeit
Vorrang gegenüber Pflichten der Hilfeleistung haben; ist damit aber noch nicht für alle Fälle hinreichend beantwortet.
 Spinoza:
„Unter gut verstehe ich dasjenige, von dem wir sicher wissen, dass es uns nützlich ist. Unter
schlecht (oder böse) dasjenige, von dem wir wissen, das es uns hindert, irgendeines Guten
teilhaftig zu werden.“10 Als Quelle der Moral gilt ihm die Selbsterhaltung: „... das Bestreben nach
Selbsterhaltung ist die erste und einzige Grundlage der Tugend.“11
 Adam Smith:
„Wer nach eigenen Gewinn strebt, wird in diesem, wie auch in vielen anderen Fällen, von einer
unsichtbaren Hand geleitet, um einen guten Zweck zu fördern, den er in keiner Weise
beabsichtigt hat.“ Es kommt seiner Meinung nach nicht darauf an, welche Zweck man verfolgt,
sondern was mit dem handeln tatsächlich erreicht wird.
 John Stuart Mill:
“Wenn von etwas gesagt werden kann, das es gut ist, dann nur dadurch, dass es ein Mittel zu
etwas anderem ist, von dem man ohne Beweis zugegeben wird, dass es gut ist.“
Allerdings schränkt er ein: „Es ist besser ein unzufriedener Mensch zu sein, als ein zufriedenes
Schwein, besser ein unzufriedener Sokrates, als ein zufriedener Narr.“
 Der moderner Utilitarismus
fragt nach den messbaren positiven und negativen Auswirkungen des Handelns. Umstritten sind
die Parameter. So werden hohe Durchschnittseinkommen z.B. als Indiz für „Glück und
Wohlstand“, niedere als eines für „Not und Elend“ angesehen.
Der Philosoph Hans Lernk unterscheidet zwei verschiedene Typen des Utilitarismus12:
o Im Handlungsutilitarismus geht es um die beabsichtigten oder abschätzbaren Folgen
10
Spinoza, Ethik, V, Einleitung, Begriffsbestimmungen
Spinoza, a.a.O. 4. Teil, 22. Lehrsatzersatz - Folgesatz
12
Hans Lenk, Technik und Ethik 1987
11
15
des Handelns,
o im Regelutilitarismus um die Einhaltung von Regeln und Normen.
Nützlichkeitserwägungen bestimmen meist die Erörterungen über Grundprobleme moderner
Politik.
Es ist jedoch zu überlegen, ob das Prinzip der Nutzenmaximierung in der Tat für die
moralische Begründung einer Handlung hinreichend ist.
Kann es nicht auch Handlungen geben, die moralisch geboten sind, obwohl sie
möglicherweise Folgen haben, die nicht nur niemandem unmittelbar nützen, sondern sogar
mit einem gewissen Maß an Schaden oder Leid verbunden sind, ohne dass dadurch die
Moralität der Handlung in Frage gestellt würde? Pflicht und Glück sind nicht in jedem Fall
miteinander vereinbar, und besonders in Konfliktfällen kann es vorkommen, dass eine
Handlung geboten ist, die nicht das Glück der Betroffenen zur Folge hat.
Jemand hat seinem Vater versprochen, das alte Familienunternehmen weiterzuführen, und
fühlt sich auch nach dem Tod des Vaters trotz großer persönlicher und materieller Opfer an
sein Versprechen gebunden.
Oder - ein extremes Beispiel: Wer sein leben für eine Idee opfert,
- der Tod des Sokrates (um der Gerechtigkeit willen)
- der Tod Jesu Christi (um der Erlösung der Menschheit willen)
- der Tod der Märtyrer (um des Glaubens willen),
schadet nach utilitaristischer Auffassung nur sich selbst, ohne anderen zu nützen.
Im Gegenteil. Die Schüler des Sokrates galten als gottlos und verdorben, die Christen
wurden verfolgt, den Anhängern von Märtyrern drohte ein ähnlich gewaltsames Schicksal.
Also ist eine solche Handlung utilitaristisch gesehen nicht moralisch.
Um herauszufinden, ob bzw. inwieweit eine Handlung durch Rekurs auf mögliche Folgen
moralisch gerechtfertigt ist, müssen die Folgen nicht nur hinsichtlich ihres erwarteten
Nutzens
gewichtet werden, sondern darüber hinaus ist zu prüfen, ob der erstrebte Nutzen und die
Mittel, durch die er erreicht werden soll, Anspruch auf Moralität erheben können.
- Die Erhaltung eines alten Schlosses mit großen Kunstschätzen verschlingt Unsummen. Die
staatlichen Zuschüsse reichen bei weitem nicht aus. Der Besitzer beschließt, sich auf illegale
Weise die nötigen Gelder zu beschaffen, um der Nachwelt das Schloss zu erhalten.
- Eine Gruppe von Verbündeten wird mit dem Tod bedroht, wenn sie nicht einen bestimmten
Mann ausliefert. Wohl wissend, dass der Mann unschuldig ist und in den sicheren Tod
geht, liefern sie ihn gegen seinen Willen aus, um die Mehrheit der übrigen zu retten.
Das erste Beispiel könnte man unter die Rubrik subsumieren: der Zweck heiligt die Mittel.
Gemäß dem utilitaristischen Nutzenkalkül ist die illegale Geldbeschaffung (z.B. durch
Unterschlagung oder Steuerhinterziehung) moralisch gerechtfertigt, wenn diese Handlung
des Schlossbesitzers insgesamt weniger Schaden verursacht als der Verfall des Schlosses.
Oder anders gesagt: Das Plus auf der Seite der Erhaltung des Schlosses ist quantitativ
höher zu veranschlagen als das Minus auf der Schadenseite.
Was das zweite Beispiel betrifft, so wäre auch hier die Verlust- bzw. Gewinnrechnung
utilitaristisch höchst einfach. Ein toter Mann ist ein geringerer Schaden als fünf tote
Männer. Also ist es moralisch gerechtfertigt, den einen zu opfern, selbst auf die Gefahr hin ,
dass das Opfer unschuldig ist und durch seinen Tod dem Schuldigen das Überleben
ermöglicht.
16
In beiden Beispielfällen haben wir ein gewisses Verständnis für die beschriebene
Handlungsweise. Vielleicht ist es wirklich manchmal besser, etwas an sich Schlechtes zu
tun - um eines guten Zwecks willen. Aber wir würden wohl kaum so weit gehen zu sagen,
der Betrug des Schlossbesitzers oder der Verrat eines Verbündeten sei eine moralische
Handlung. Wir sind allenfalls bereit, solche Handlungen als Ausnahmen zuzulassen und
damit das Moralprinzip auf sie nicht anzuwenden. Weder der erwarteter noch deren
tatsächlicher Nutzen einer Handlung ist hinreichendes Kriterium für deren Moralität.
5.3.4. Moralkodex
a. Bibel
Der neueren protestantischen Ethik wird nachgesagt, dass sie dazu neige, aktuelle Normensätze
aus biblischen Einzelaussagen herzuleiten. Das trifft ohne weiteres auf ein prophetisch (nicht
wissenschaftlich reflektierte) Ethos zu. Die meisten namhaften protestantischen Ethiker wehren
sich allerdings gegen eine solche „prophetische und biblizistische Kurzschlüssigkeit“13. Biblische
Aussagen taugen ihrer Ansicht nicht zur allgemeinen Begründung moralischer Urteile, „weil
nicht alles in der Bibel Offenbarung ist“. Einerseits unterscheiden protestantische Theologen
zwischen heiligen und kanonischen Texten. Andererseits schränken sie auch die Begründung
moralischer Urteile direkt aus der Bibel stark ein. Nach Frey leitet protestantische Ethik Normen
nicht durch Deduktion feststehender (biblischer) Prinzipien her, sondern sie sichtet geschichtlich
gewordene Normen unter dem Blickwinkel eines „umfassendem Anspruch“14.
„Biblische Zitate können ... nur eingeführt werden, wenn sie an tragenden theologisch
herauszustellende Gesichtspunkte (Perspektiven) biblischer Tradition erinnern. Wenn es
überhaupt eine biblische Begründung gibt, dann stellt sie einen Beitrag zu einem komplexen
Begründungsgang dar.“15
Wenn protestantischer Ethik biblische Deduktion vorgeworfen wird, wird zumeist auf Karl Barth
wird hingewiesen,. Genau genommen wird dies wohl aber doch nicht zu halten sein.
b. Koran
5.3.4. moralische Kompetenz
H.E. Richter
6. Modelle ethisch reflektierter Entscheidungsfindung
Um sittlichen Problemen gerecht zu werden bedarf es sorgfältiger Verfahren, um vom Ethos zum
konkreten Urteil und zur Handlungsentscheidung zu kommen. Dabei geht es um die Frage,
welche Schritte notwendig sind, von anfallenden konkreten Problemen zu handlungssteuernden
Entscheidungen bzw. Empfehlungen zu gelangen.
Exkurs: Sittliche Urteilsfindung im Verhältnis zu christlicher Ethik
„Es wird kaum ein Zufall sein, dass bisher in den Traditionen evangelischer Ethik keine
Theorie sittlicher Urteilsfindung ausgebildet worden ist. Einige theologische Gründe, die einem
solchen Unternehmen hemmend im Wege zu stehen scheinen, sollen hier genannt werden.
Dabei ist freilich auch zu berücksichtigen, dass die philosophische Ethik, sei es dass sie an
13
Frey
Frey, Konfliktfelder des Lebens, 43
15
Frey, a.a.O 43
14
17
deutschsprachige Konzepte der Philosophie oder auch an angelsächsische Konzepte mit ihrer
Neigung zur analytischen Ethik angeknüpft hat, bisher keine derartige Theorie entwickelt hat.
Dietrich Bonhoeffers „Ethik“ beginnt in ihrer Neuausgabe 1962 mit den Sätzen: »Das
Wissen um Gut und Böse scheint das Ziel aller ethischen Besinnung zu sein. Die christliche
Ethik hat ihre erste Aufgabe darin, dieses Wissen aufzuheben« (E 19). Bonhoeffer bezieht
sich hier auf die biblischen Aussagen, dass der Mensch sich nicht damit begnügte, alle
Lebensorientierung aus Gottes Hand und Schöpfung entgegenzunehmen, sondern im
Sündenfall für sich das Recht beanspruchte, selbst zwischen Gut und Böse zu unterscheiden
und dementsprechend selbst zu wählen. Das Wissenwollen um Gut und Böse liegt also an
der Wurzel der Entzweiung zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mitmensch sowie
Mensch und Mitwelt. »Um Gut und Böse wissen heißt sich selbst als Ursprung von Gut und
Böse, als Ursprung einer ewigen Wahl und Erwählung wissen« (E 21). So muss man fragen,
ob eine Theorie sittlicher Urteile nicht in sich selbst schon eine Verstärkung dieses
verkehrten Wissenwollens um Gut und Böse ist, ist sie doch eine Theorie in der Situation
des Menschen in der Entzweiung.
So sorgfältig die Bedeutung der Sünde für sittliches Wissen und Verhalten zu bedenken ist,
so entschieden fordert doch auch die biblische Botschaft dazu auf, „zu prüfen, was Gottes
Wille ist, nämlich das Gute, das (vor Gott) Wohlgefällige und das Vollkommene“ (Röm
12,2). Die Aufforderung an die Christen, selbst zu prüfen, wird implizit vielmals und
explizit an etlichen Stellen des Neuen Testaments formuliert (Phil 1,10; vgl. 4,8; 1Thess
5,21; Lk 12,56f; Apg 4,19 u. ö.). Die paulinischen Briefe an seine Gemeinden, enthalten
geradezu paradigmatische Anleitungen zur Urteilsbildung in den Gemeinden, ohne dass in
ihnen Fragen des Glaubens und des sittlichen Verhaltens auseinandergerissen würden (vgl.
1Kor 8-10; Röm 14). Durch das Kommen des Glaubens haben die Christen also die
Vollmacht, mitten in einer von Sünde gezeichneten Welt zu prüfen, zu urteilen und
entsprechend zu handeln. Dieses Handeln und Verhalten geschieht aber nicht im eigenen
Namen, sondern aufgrund der Gnadengaben Gottes in Christus. Darum stehen den
sittlichen Imperativen die indikativischen Aussagen über die Vergebung und Versöhnung, die
Gaben des Heils in Christus, die Bevollmächtigung durch den Geist voran. Sittliche
Normen von Christen, so sehr sie auch auf die in der heidnischen Umwelt geltenden Sitten
Rücksicht zu nehmen haben, haben also einen Grund, der jenseits aller nur möglichen
sittlichen Argumentationen liegt. Die zweite These der Barmer Theologischen Erklärung
formuliert in diesem Sinne, dass Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sün den mit
»Gotteskräftigem Anspruch auf unser ganzes Leben« verbunden ist. im Rahmen der
Theologie wird eine Theorie sittlicher Urteilsfindung der Klärung dienen, wie Gottes
heilsamer Anspruch auf unser Leben den Menschen bis in die Konkretionen seines SichVerhaltens zu Mitmensch, Mitwelt und Selbst begleitet und bewegt. Es war die Schwäche
evangelischer Theologie und Ethik im 20. Jahrhundert, dass sie entweder Konkretionen
scheute, oder doch nicht aufzuweisen vermochte, welche Schritte getan, welche Sachmomente bedacht werden müssen, wenn konkrete Urteile und Entscheidungen zugleich zu
Antworten auf Gottes Zuspruch und Anspruch werden sollen. Diesem Defizit evangelischer
Ethik entgegenzuwirken dient auch eine Theorie sittlicher Urteilsfindung.
Um in einen ethischen Diskurs einzutreten ist es notwendig, eine bestimmte argumentative
Struktur zugrunde zu legen. Form und Inhalt sind dabei zu unterscheiden.
Bei der Form geht es um die Grundelemente, die in jeder Argumentation vorhanden sein müssen.
Der Inhalt betrifft die Kriterien, die bei einer moralischen Argumentation verwendet werden.
Grundelemente moralischer Argumentation:
18
1. faktische Prämisse (Beschreibung einer Sachlage, die ein moralisches Problem aufwirft)
2. ethische Prämisse (Formulierung eines moralischen Kriteriums, das auf die Situation
anwendbar ist und aus einer Norm, einem Wert oder einem Prinzip besteht, aus dem sich
eine moralische Verpflichtung ergibt)
3. ethische Schlussfolgerung (das moralische Urteil über die beschriebene Schlage)
Ein moralisches Urteil, dass keine ethische Prämisse enthält ist ungültig.
D.h.: Ein Wusch/Gefühl usw. ist kein hinreichender Grund für eine ethische Schlussfolgerung.
Vor diese muss (mindestens*) noch eine ethische Prämisse zwischengeschaltet werden.
*Sinnvoll für einen Diskurs ist es, eine ethische Prämisse mit Hilfe weiterer analog strukturierter
Argumente zu stützen.
Es ist durchaus auch möglich, dass sich aufgrund unterschiedlicher ethischer Prämissen unterschiedliche Schlussfolgerungen ergeben, die sich so stark voneinander unterscheiden, dass sie
sich nicht in Einklang bringen lassen (ethisches Dilemma).
Es erscheint hilfreich, bei einem Problemfeld zwischen Problemen, Konflikten und Dilemmata zu
unterscheiden.
 Probleme sind Aufgaben, die sich lösen lassen.
 Konflikte entstehen an den Schnittstellen von Interessengegensätzen.
 Bei Dilemmatas besteht die Wahl zwischen zwei gleich unangenehmen Möglichkeiten.
Die Urteilsentscheidung bedarf je nachdem es ob Normen, Güter oder Perspektiven16 zueinander
in Spannung stehen eigener Verfahren:
 Güterabwägung
 Nutzenkalkulation
 Festlegung der Rangfolge von Normen
Dafür sind zwei Schritte notwendig.
1. Die handelnde Person muss die Folgen der Handlungsmöglichkeiten, zwischen denen sie zu
entscheiden hat, feststellen. Sie wird zurückgreifen auf ihr empirisches Wissen, dass
allerdings endlich, zeitbedingt und fallibel ist.
2. Die Folgen müssen bewertet werden. Die Bewertung vollzieht sich in einem Prozess der
Abwägung zweier Kriterien:
a. Gewicht, der von den Alternativen tangierten Güter
b. Recht und Gerechtigkeit.
Der Begriff der Abwägung besagt:
Es gibt objektive Gesichtspunkte, an denen eine Entscheidung sich zu orientieren hat, aber es gibt
kein generalisierbares Verfahren, mit dessen Hilfe aus den objektiven Gesichtspunkten die
richtige Entscheidung abgeleitet werden könnte. Schon allein aufgrund unterschiedlicher
Erfahrungen können Gesichtspunkte unterschiedlich gewichte werden. Es ist nicht
auszuschließen, dass in ein und derselben Situation mehrere Entscheidungen richtig sind.
a. Kasuistik
In der klassischen Kasuistik dienten gewisse Fälle als Beispiele ("exempla"), die
veranschaulichen sollten, welche Maximen in einem gegebenen Ensemble von Umständen
16
„Pflicht“, „Tugend“, „Gut“ sind nach Schleiermacher jeweils andere Aspekte des Sittlichen
19
Geltung haben. Wenn gezeigt werden konnte, dass der gerade vorliegende Fall ähnlich bzw.
anders als der Paradigmenfall liegt, galt eine Entscheidung oder Regel über falsch und richtig als
mehr oder minder gesichert. Alles hing vom Zusammenspiel der Umstände und Maximen ab. Das
Gleiche gilt für die klinische Ethik von heute. Die Entscheidung über Richtig oder Falsch in
einem klinischen Fall gründet auf den Umständen und wird von einer Maxime oder Regel
gerechtfertigt. Also erfreut sich die Kasuistik, die Voltaire und andere mit zynischer Kritik für
alle Zeiten erledigt zu haben meinten, offenbar bester Gesundheit in der modernen medizinischen
Ethik.
Dass hat seinen Grund darin, dass klinische Ethik weder die Zeit noch das Interesse noch die
Bereitschaft hat, sich mit abstrakten Betrachtungen theoretisch-philosophischer Ethik zu
befassen. Sass betont: „Außerdem hat eine abstrakte Theorie bei Entscheidungen in der
klinischen Praxis keinerlei Wert.“
Die Kasuistik dagegen konzentriert sich auf die Umstände eines Falls und gibt konkreten
Leitsitzen den Vorzug. In der Klinik von heute besteht wie in der historischen Situation, in der
sich die Kasuistik herausbildete, eine zwingende Notwendigkeit zu schnellen Entscheidungen
und auch zur Rechtfertigung derselben. In der theologischen Kasuistik ging es um
Gewissensentscheidungen, um Dilemmata spiritueller Art, in der klinischen Ethik geht es um
Optionen in einem medizinischen Fall, der schnell abgeklärt und entschieden werden muss. Ganz
bestimmte Fragen müssen in jedem Fall gestellt und beantwortet werden. und diese sind in den
verschiedenen, hier vorgestellten Methoden der klinischen Ethik aufbereitet.
b.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Verlaufsstruktur ethischer Entscheidungen nach Tödt
Wahrnehmung, Annahme und Bestimmung eines Problems als ein Sittliches
Situationsanalyse
Beurteilung der Handlungsoptionen
Prüfung von Normen, Gütern und Perspektiven
Prüfung der sittlich-kommunikativen Verbindlichkeiten von Verhaltensoptionen
Urteilsentscheid
zu 1. Wahrnehmung, Annahme und Bestimmung eines Problems als ein Sittliches
Die meisten Probleme sind sektorale Probleme, die technisch, ökonomisch, politisch, medizinisch, juristisch, also „praktisch" gelöst sein wollen und entsprechende Sachkompetenz erfordern.
Dabei besteht die Gefahr, dass bei komplexen Problemen die sittliche Dimension dieser
übersehen wird.
Der übergreifenden latent, sittlichen Dimension wird man gewahr, indem das Teilproblem in
einen weiteren Zusammenhang integriert wird.
Für den modernen Menschen ist es allerdings naheliegender, anfallende Probleme in einem nur
sektoralen Zusammenhang wahrzunehmen und hier ihre technisch-pragmatische Lösung
anzustreben.
zu 2. Situationsanalyse
Probleme fallen in komplexen Realzusammenhängen, in „Kontexten", an. Weil diese Kontexte
vollständig zu erfassen eine unendliche Aufgabe wäre, gehört zur Analyse immer die Selektion.
Die anfängliche Problemdefinition wird so gegebenenfalls durch Erkenntnisse der Situationsanalyse korrigiert, infolge dessen es hier zu einer ersten Neudefinition kommen kann.
20
=:> „Das ist unsere Situation, in der sich unser Problem in dieser bestimmten Weise stellt." Die
Situationsanalyse verweist auf die Frage, in welcher Hinsicht die gegebene Situation sittlich
problematisch ist. Ethische Kriterien dafür sind folgende Fragen:
Welche sittlich relevanten Güter stehen auf dem Spiel?
 Glück (Wohlbefinden, Lust, Lebensqualität ...)
 Freiheit (Autonomie, Würde ...)
 Gerechtigkeit (Gleichheit, Bedürftigkeit, ...)
 Welche Folgen (z.B. der zu erwartenden Nutzen) sind zu erwarten?
 Welche Werteinsichten und Werthaltungen sind bei den Beteiligten tangiert?
 Wer ist durch das sich in dieser Situation stellende Problem in einer spezifischen
Verpflichtung oder Verantwortung herausgefordert?
 Welche Normen stehen zueinander in Spannung/Widerspruch?
zu 3. Beurteilung der Handlungsoptionen
Hat man Problemfelder in der Situation analysiert, so stellt sich auch die tastende Vorstellung
von Verhaltensalternativen ein, mit denen auf sie zu antworten geboten erscheint. Eine große
Zahl heutiger Probleme scheint wertneutrale, gewissermaßen „technische" Lösungen zu fordern,
bei denen keine sittliche Problematik erkennbar wird (entsprechend der sektoralen Aufgliederung
der Lebenswelt).
Es ist nun zu fragen, wie kurzfristige und pragmatische Lösungen von Problemen zumindest
langfristig sittlich zu beurteilen sind. Verschiedene Verhaltensweisen werden nun nach ihrer
sittlichen Bedeutsamkeit bewertet.
zu 4. Prüfung von Normen, Gütern und Perspektiven
Hat man ein Problem in der Situation, der es sich verdankt, analysiert und hat man die möglichen
Verhaltensvarianten herausgearbeitet, so ergibt sich die Frage, welcher der möglichen
Verhaltensalternativen der Vorzug zu geben ist. Die sittlichen Prinzipien und Kriterien müssen
auf ihren Zusammenhang und das in ihnen maßgebende höchste Prinzip als das Unbedingte hin
geordnet und gewichtet werden.
Zu 5. Prüfung der sittlich-kommunikativen Verbindlichkeit von Verhaltensoptionen
Frage: „Lässt sich bevorzugte Handlungsvariante auf alle gleich gelagerten Fälle anwenden?“
Problem:
Unvorhersehbarkeit von Verhaltensfolgen und damit -> Wagnis einer möglichen Schuld!

zu 6. Urteilsentscheid (Entschluss)
Das sittliche Urteil selbst kann nur der fällen, der sich selbst durch dieses Urteil bestimmt; so
dass er in seinem Verhalten es zu verantworten bereit und verpflichtet ist.
Anderenfalls kann es sich nur darum handeln, andere zu beraten (konsiliarische Ethik).
c.
Balance der Werte nach F. Schulz von Thun
Um den dialektisch strukturierten Daseinsforderungen zu entsprechen, kann jeder Wert
(jede Tugend, jedes Leitprinzip, jedes Persönlichkeitsmerkmal) nur dann zu einer
konstruktiven Wirkung gelangen, wenn er sich in ausgehaltener Spannung zu einem
21
positiven Gegenwert, einer "Schwesterntugend", befindet. Statt von ausgehaltener
Spannung lasst sich auch von Balance sprechen.
Ohne diese ausgehaltene Spannung (Balance) verkommt ein Wert zu seiner
"Entartungsform" oder sagen wir lieber: zu seiner entwertenden Übertreibung. Nehmen wir
ein einfaches Beispiel aus dem Bereich der bürgerlichen Tugenden (s. Bollnow, 1958):
Sparsamkeit verkommt ohne ihren positiven Gegenwert Großzügigkeit zum Geiz,
umgekehrt verkommt auch Großzügigkeit ohne Sparsamkeit zur Verschwendung. Die
hierbei regelmäßig entstehenden vier Begriffe lassen sich nach Helwig zu einem
«Wertequadrat» anordnen, wobei jeweils die beiden positiven Gegenwerte oben und die
entsprechenden Unwerte unten zu stehen kommen:
Sparsamkeit
Großzügigkeit
Geiz
Verschwendung
Alle diese werthaften Begriffe ordnen sich zu einer „Vierheit“ von Werten und
Unwerten. In jedem Wert liegt eine «Quatermität von Werten» eingeschlossen...
Dieses Wertequadrat «verklammert» also die vier Begriffe miteinander. Jeder wird
damit doppelt gegensätzlich präzisiert»
In diesem Quadrat entstehen nun vier Arten von Beziehungen, durch die das Verhältnis
der Begriffe zueinander charakterisiert ist:
1. Die obere Linie zwischen den positiven Werten bezeichnet ein positives Spannungs- bzw.
Ergänzungsverhältnisverhältnis. Es lässt sich auch von einem dialektischen Gegensatz
sprechen.
2. Die Diagonalen bezeichnen konträre Gegensätze zwischen einem Wert und einem
Unwert;
3. die senkrechten Linien bezeichnen die entwertende Übertreibung,
4. die untere Verbindung zwischen beiden Unwerten «stellt gleichsam den Weg dar, den wir
beschreiten, wenn wir dem einen Unwert entfliehen wollen, aber nicht die Kraft haben, uns in
die geforderte Spannung der oberen Pluswerte hinaufzuarbeiten. Also wenn wir aus einem
Unwert in den entgegengesetzten anderen Unwert fliehen. Die Verbindung zwischen den
unteren Begriffen stellt also die Fehlleistung einer "Überkompensation" des zu
vermeidenden Unwertes durch den gegenteiligen Unwert dar.
11
Positives Spannungsverhältnis
22
22
entwertende
Übertreibung
33
Konträre Gegensätze
entwerte nde
Übertreibung
Überkompensation
44
Diese Wertequadrat-Struktur ist der von Aristoteles in seiner „N i k o m a c h s c h e
E t h i k “ entwickelten Vorstellung verwandt, nach der jede Tugend als die rechte Mitte
zwischen zwei fehlerhaften Extremen zu bestimmen ist: zum Beispiel Sparsamkeit
zwischen Geiz und Verschwendung oder Mut zwischen Feigheit und übermütigem
Leichtsinn. Die anzustrebende Tugend ist hier, im Unterschied zum Wertequadrat, als
ein Fixpunkt gedacht, der sich allerdings «verschieben» lässt. So ist die Sparsamkeit
dem Geiz näher als der Verschwendung, während die griechische Tugend der
«eleutheriotes» eher der deutschen Freigebigkeit oder Großzügigkeit entspricht
(Bollnow, 1958). Beim Wertequadrat ist die Vorstellung eines optimalen Fixpunktes
aufgegeben und durch die Vorstellung einer dynamischen Balance ersetzt.. Angemessen
ist auch die Vorstellung eines Yin-Yang-Verhältnisses der beiden oberen Werte: Sie
durchdringen sich gegenseitig und enthalten jeweils schon selbst ein Spurenelement des
Gegenpols. Im und für den Diskurs muss entschieden werden, auf welcher Ebene die
Auseinandersetzung geführt werden soll. Die Güterabwägung beginnt mit der
Zuordnung der Argumente zu den Quadraten im Wertequadrat. In Gruppendiskussionen
besteht die Neigung, sich selbst mit seinen Argumenten als Wertverkörperer, den
Konfliktgegner hingegen als Verkörperer der Fehlhaltung zu sehen. Die Auseinandersetzung droht dann in persönlichen Kränkungen unterzugehen.
! Das Recht hat die Aufgabe vor "entwertenden Übertreibungen" zu schützen.
6.4. Güterabwägung - Die axiologische Differenz (Friedo Riecken)
Ziele oder Güter begrenzen insofern einander, als die Verwirklichung eines Zieles oder Gutes
die anderer Ziele oder Güter ausschließen kann. Das gilt innerhalb der von einer Person
verfolgter Fiats (intapersonal): es gilt besonders bei den Fiats verschiedener Personen
(interpersonal).
Beispiele eines möglichen intrapersonalen Konflikts:
Berufliche Karriere und harmonisches Familienleben können einander ausschließen; ebenso
Besitzstreben und Bequemlichkeit. In einem interpersonalen Konflikt kann der äußere
Wohlstand des einen den des anderen verhindern; die Gesundheit des einen kann auf Kosten
der des anderen erkauft sein; die Sicherung des eigenen Lebens durch Gefährdung des Lebens eines anderen Menschen; ökonomische und ökologische Gesichtspunkte können
miteinander in Konflikt geraten. Sobald ich ein inhaltliches Ziel oder ein Gut, obwohl es ein
Gut, aber doch nur ein Gut ist, zum letzten Gesichtspunkt meiner einzelnen Entscheidungen
mache, fasse ich die Möglichkeit eines Konflikts mit anderen Zielen oder Gütern nicht ins
Auge. Ich treffe eine nicht gerechtfertigte Grundentscheidung für diesen einen Inhalt, ohne
die Inhalte in Betracht zu ziehen, deren Verwirklichung er möglicherweise ausschließt. Ich
mache einen Inhalt, der nur einer unter anderen ist, zum letzten Gesichtspunkt meiner
Einzelentscheidungen. Eine solche Grundentscheidung erscheint unverantwortlich; sie ist
23
vielmehr ein Verzicht auf praktische Rationalität. In ihr fixiert der Handelnde sich selbst auf
einen Inhalt, ohne die Frage beantworten zu können, weshalb er sich gerade für diesen und
nicht einen anderen Inhalt entscheidet.
Die einzelnen Güter, so eine zweite Überlegung, können deshalb keine letzten
Gesichtspunkte abgeben, weil sie ihrerseits nochmals auf übergeordnete Gesichtspunkte
verweisen. Alle Güter sind in dem Sinn indifferent, dass sie einen verschiedenen Gebrauch
zulassen. Auch der, der sich einen bestimmten Inhalt als letztes Ziel seines Handelns gesetzt
hat, hat bei den meisten dieser Inhalte zumindest grundsätzlich die Möglichkeit (wieweit er
sie benutzt, ist eine andere Frage), diesen Inhalt in verschiedener Weise zu gebrauchen. Die
einzelnen Güter lassen die Frage nach ihrem richtigen Gebrauch offen. Auf diesen wichtigen
Sachverhalt haben vor allem Platon, Aristoteles und Kant hingewiesen. Platon und
Aristoteles haben deshalb zwischen den Gütern und dem Guten unterschieden. Kant beginnt
die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" mit der Behauptung, außer einem guten Willen
könne nichts ohne Einschränkung für gut gehalten werden. Aristoteles spricht von natürlichen oder prima- facie-Gütern. Sie sind, an sich betrachtet und verglichen mit ihren
konträren Gegensätzen, Güter, aber das besagt nicht, dass sie unter allen Umständen und für
jeden nützlich sind; nützlich werden sie erst durch den richtigen Gebrauch. Ähnlich argumentiert Kant: „Verstand, Witz, Urteilskraft, und wie die Talente des Geistes sonst heißen
mögen, [...] sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie können
auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben
Gebrauch machen soll [...], nicht gut ist" (GMS, B 1).
Im Anschluss an die antike Unterscheidung zwischen dem (sittlich) Guten und den Gütern
bezeichnet Ricken17 die beiden Sachverhalte, dass Güter sich gegenseitig ausschließen können und
dass sie gegenüber ihrem Gebrauch indifferent sind, als „axiologische Differenz". Ihre Bedeutung
zeigt er am Beispiel einer Argumentation, die offensichtlich gegen sie verstößt. In seiner Schrift
„Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen" (Akad.Ausg. Bd. 8, S. 423-430)
diskutiert Kant folgenden Fall: Darf man einen Mörder belügen, der uns fragt, ob unser von ihm
verfolgter Freund sich in unser Haus geflüchtet hat? Benjamin Constant, gegen den Kant sich
wendet, argumentiert folgendermaßen: „Es ist eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Der Begriff von
Pflicht ist unzertrennbar von dem Begriff des Rechts. [... ]. Die Wahrheit zu sagen, ist also eine
Pflicht; aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat. Kein Mensch aber hat
Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet" (ebd. S. 425). Dem Verbrecher, so erwidert Kant,
der mich ungerechterweise zur Aussage nötigt, geschehe kein Unrecht, wenn ich die Wahrheit
verfälsche. Dennoch sei es „ „ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen <
einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft ` (ehrlich) zu sein" (ebd. S. 427).
Denn durch die Lüge tue ich der Pflicht überhaupt Unrecht: „ich mache, so viel an mir ist, dass
Aussagen (Deklarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf
Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der
Menschheit überhaupt zugefügt wird" (ebd. S. 426). Ähnlich argumentiert J. B. Schuster: „Die
sichere [...] Erhaltung des gegenseitigen Vertrauens ist ein notwendiges Gut der menschlichen
Gesellschaft. Das einzige von Natur aus notwendige Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, ist die
allgemeine Wahrhaftigkeit, die keine Ausnahme zulässt. Folglich ist die Lüge in sich [intrinsecus]
schlecht" (1950, § 195). Beide Autoren setzen ein Gut, das gegenseitige Vertrauen, absolut; es darf
ihrer Ansicht nach um keinen Preis geschädigt werden. Kant übersieht dabei, dass ich auch
dadurch, dass ich dem Mörder die Wahrheit sage, der Menschheit einen Schaden zufüge, indem ich
einem unschuldig Verfolgten den einzig möglichen Schutz, der in dieser Situation in der
17
Einführung
24
Falschaussage besteht, versage, d. h. das menschliche Leben nicht schütze. Sein Argument wäre
erst dann schlüssig, wenn er zeigen könnte, dass der uneingeschränkte Schutz des gegenseitigen
Vertrauens und der Rechte und Verträge Vorrang hat gegenüber dem Schutz des unschuldigen
menschlichen Lebens. Ebenso ist bei Schuster zu fragen, ob das absolut sichere gegenseitige
Vertrauen das einzige notwendige Gut ist und wie man sich bei einer Konkurrenz notwendiger
Güter verhalten solle. (gegen Kant ließe sich auch einwenden: Auch dadurch, dass ich dem Mörder
den Aufenthalt des unschuldig Verfolgten mitteile, schädige ich das gegenseitige Vertrauen.
Ebenso wäre an den Schuster die Frage zu richten, ob das gegenseitige Vertrauen in allen
Situationen durch die ausnahmslos geltende Regel, die Wahrheit zu sagen, tatsächlich wirksam
geschützt werden kann.
Die abwägende Vernunft und die Frage allgemeingültiger moralischer Urteile
Ist die Lehre von der abwägenden Vernunft mit der These vom Wahrheitsanspruch
moralischer Sätze vereinbar? Die Frage ließe sich mit folgender Begründung
verneinen: Aus der kognitiven These folgt, dass es gültige universelle deontische Urteile
gibt. Wenn A cp tun soll, weil für ihn die Gründe p und q zutreffen, dann soll jeder, auf
den p und q zutreffen cp tun. Diese Folgerung ist aber mit der Lehre von der
abwägenden Vernunft, nach der jeder einzelne Fall eigens zu beurteilen ist,
unvereinbar. Soweit der Einwand. Er lässt fragen, wie die gültigen universellen
deontischen Urteile genauer zu bestimmen und zu formulieren sind. Betrachten wir folgende drei Fälle: Fall 1: A hat einem Freund, der vier Autostunden von ihm entfernt
wohnt, einen Besuch von einigen Tagen versprochen, um mit ihm einige Fragen, welche
die Dissertation des Freundes betreffen, zu diskutieren. Als der Termin herankommt, hat
A keine Lust mehr und sagt den Besuch ab. Wir urteilen, dass A seinen Freund besuchen
(cp) sollte, weil der Freund auf seine Hilfe angewiesen ist (p) und weil er es ihm
versprochen hat (q). Folgt daraus, dass jeder, für den p und q zutreffen, cp tun sollte?
Fall 2: B hat einem Freund, der in derselben Entfernung wohnt, dasselbe Versprechen
gemacht. Als der Termin herankommt, wird seine Mutter schwer krank und ist auf seine
Hilfe angewiesen. Obwohl die Gründe p und q auch für B zutreffen, werden wir nicht
urteilen, dass B seinen Freund besuchen sollte. Das universelle Urteil, dass jeder, für
den p und q zutreffen, cp tun sollte, gilt im Fall 2 also offensichtlich nicht. Die Notlage
der Mutter von B (r) und seine Verpflichtung ihr gegenüber (s) wiegen schwerer als p
und q. Wir können wiederum fragen, ob aus diesem Urteil folgt, dass jeder, für den p, q,
r und s zutreffen, ebenso wie B handeln sollte. Fall 3: Alle zu Fall 2 angeführten Umstände treffen auch für Fall 3 zu. Es kommt jedoch hinzu, dass C, als er gerade dabei
ist, seinem Freund abzusagen, erfährt, dass dieser unter schweren Depressionen leidet
und akut suizidgefährdet ist (t); man versichert ihm glaubhaft, sein Besuch könne
helfen, wogegen eine Absage den Freund in einem erheblichen Ausmaß zusätzlich
gefährden werde (u). Wir urteilen, dass C seinen Freund besuchen sollte; die Gründe t
und u wiegen schwerer als r und s. Das universelle Urteil, dass jeder, auf den p, q, r
und s zutreffen, cp tun sollte, gilt in diesem Fall also offensichtlich nicht.
Was ergibt sich aus diesen drei Fällen für die Frage nach gültigen universellen deontischen
Urteilen? Universelle deontische Urteile behaupten eine prima-facie-Pflicht. Sie sagen, dass
jeder andere, für den die angeführten Gründe zutreffen, ebenso handeln soll, es sei denn, bei
ihm kommen aufgrund der veränderten Situation weitere Gründe hinzu. Sie sind in dem Sinn
hypothetische Urteile, dass sie immer nur unter der Voraussetzung gelten, dass die in ihnen
oder für sie angeführten Gründe oder Gesichtspunkte die einzigen sind, die für den zu
25
beurteilenden Fall moralisch relevant sind. Das universelle deontische Urteil von Fall l muss
also lauten: „Jeder, für den ausschließlich p und q zutreffen, soll cp tun." Für die Begründung
einer aktualen Pflicht genügt es daher nicht, hinreichende Gründe für die entsprechende
deontische Proposition anzuführen; es muss vielmehr zusätzlich gezeigt werden, dass dies die
einzigen Gründe oder Gesichtspunkte sind, die in dem betreffenden Fall zu berücksichtigen
sind. Wenn A cp tun soll, weil p und q, so folgt daraus nicht, dass jeder, für den p und q
zutreffen, cp tun soll, sondern nur, dass jeder cp tun soll, für den ausschließlich diese Gründe
zutreffen. Das aber ist in jedem einzelnen Fall neu zu prüfen.
6.5. Nutzenkalkulation
(J. Bentham, J.S. Mill, P.Singer)
Eine Handlung ist dann moralisch, wenn sie die nützlichsten Folgen für alle Betroffenen hat, d.h.
wenn die Folgen einer Handlung darin bestehen, dass sie ein Maximum an Freude und ein
Minimum an Leid hervorbringt.
Bevor gehandelt wird , muss ein Nutenkalkül durchgeführt werden, in welchem die von der
Handlung zu erwartenden Freuden und Leiden hinsichtlich ihrer Intensität, ihrer Dauer, ihrer
Gewissheit oder Ungewissheit, ihrer Nähe oder Ferne, ihrer Folgenträchtigkeit, ihrer Reinheit
und ihres Ausmaßes berechnet werden. Dann werden die Werte aller Freuden ebenso wie die
aller leiden addiert. Überwiegt der wert der Freuden, so ist die Tendenz der Handlung insgesamt
gut und die Handlung somit moralisch geboten. (Pieper 271)
6.6. Festlegung der Rangfolge von Normen
Sittliche Normen regeln soziale Verhaltensweisen mit dem Ziel ... Nicht seltensten sie dabei in
Spannung zueinander, so dass es bestimmter Meta-Kriterien bedarf. In der philosophischen und
der katholisch-theologischen Ethikdiskussion haben die Verfahren zur Begründung sittlicher
Normen eine hohe Bedeutung. Es wird dabei die Frage nach ihrem sittlichen Geltungsanspruch
gestellt. Gegebenfalls wird es nicht nur darum gehen unter den vorgegebenen Normen eine
auszuwählen, sondern im Urteil eine neue zu gewinnen (Luther, WA 391, 47 -> Christen sind
im Glauben ermächtigt auch neue Dekaloge zu entwerfen, die klarer sind als der des Mose.).
Die Festlegung auf eine Norm beschreibt dabei nur die Grenzen eines Spielraumes, innerhalb
dessen sittlich gebotene Verhaltensweisen sich bewegen. Beispiel: „Du sollst nicht töten.“ (=
keine Erlaubnis andere schwer zu verletzen.)
7. Beispiele ethischer Herausforderungen in der Medizin und Krankenpflege
7.1. Am Anfang des Lebens
Über die ethischen Dilemmas im Zusammenhang mit dem Beginn des Lebens ist viel geschrieben
und diskutiert worden.. Nur einige dieser schwierigen Themen sollen hier angesprochen werden.
Andere, die weggelassen sind, sind nicht weniger wichtig.
a. Schwangerschaftsabbruch
26
Beim Schwangerschaftsabbruch geht es um mehrere Themen, die sich gegenseitig beeinflussen.
Die meisten von ihnen werden deshalb so heftig diskutiert, weil sie sehr persönlich sind und das
Leben des einzelnen stark beeinflussen.
Abtreibung wird oft mit «Mord» gleichgesetzt und dem «Leben» gegenübergestellt. Mord ist
die ungesetzliche und vorsätzliche Tötung einer Person. Strenggenommen kann man bei einem
Schwangerschaftsabbruch nicht von Tötung «mit Vorsatz» in diesem Sinne sprechen. Der
britische Abortion Act (1967) - ein gutes Beispiel für teleologische Ethik - erlaubt die
Zerstörung eines Fötus «mit dem Zweck, Leben zu retten oder Leiden vorzubeugen». Kant
jedoch argumentiert, dass der Zweck nicht zur Rechtfertigung der Mittel verwendet werden
kann. Es fragt sich also, ob es gerechtfertigt ist, ein Leben zu retten oder vor Leiden zu
bewahren (Zweck), und dafür einen Fötus zu zerstören (Mittel).
Eine der ethischen Grundforderungen ist die Achtung vor der Person. Das führt zur Frage, ob
ein Fötus überhaupt, oder von welchem Zeitpunkt an, als Person betrachtet werden kann
b. Künstliche Befruchtung
Die ethische Auseinandersetzung um die verschiedenen Techniken der künstlichen
Befruchtung verläuft viel weniger heftig als jene um den Schwangerschaftsabbruch. Die
Diskussion konzentriert sich eher auf die persönlichen Aspekte der künstlichen
Befruchtung, die entweder mit dem Samen eines Spenders oder jenem des Ehemannes
erfolgen kann. Welche Technik ist besser oder ethisch vertretbarer?
Es handelt sich hier um ein Forschungs- und Anwendungsgebiet, das sich rasch
weiterentwickelt und an Bedeutung gewinnt, vor allem hinsichtlich der Dauer der
Aufbewahrung und Verwendung von befruchteten Embryos.
Jansen (1985) schlägt vor, dass sowohl Sperma wie Eizellen «von anderem menschlichen
Gewebe, das gespendet oder transplantiert werden kann, zu unterscheiden seien, weil sie
Träger von leicht verwertbaren genetischen Informationen sind». Und verwertbare genetische Informationen werden zunehmend vom Recht geschützt, sei es in Form eines
Urheberrechts für Computerprogramme oder in Form von Patenten für genetisch künstlich
erzeugte Bakterien. Es ist daher wichtig, wem diese Information gehört. Jansen ist der
Meinung, dass sie dem Spender gehören soll.
Die ethische Problematik der künstlichen Befruchtung besteht in erster Linie darin, dass eine
solche Behandlung sehr teuer ist und daher nur wenige Leute davon profitieren können. Es
geht um die Frage der Prioritäten in der Medizin, was zu weiteren Diskussionen führt. Es
wird argumentiert, dass solche Behandlungen zur Überwindung von Krankheiten beitragen.
Dabei ist allerdings zuvor abzuklären, was unter Überwindung von Krankheit verstanden
wird. Gesundheit kann für jemanden bedeuten, dass er mit künstlichen Mitteln ein Kind
bekommen kann, und für jemand anderen, dass er dank der wissenschaftlichen und
medizinischen Forschung, die auf diesem Gebiet betrieben worden ist, keine Krankheit hat.
c. Missbildungen und Schädigungen hei Neugeborenen
Vieles in der embryologischen Forschung hat zu aufsehenerregenden Resultaten geführt. Die
Befruchtung in vitro ist möglich, und genetische Missbildungen können bei einem Fötus
frühzeitig diagnostiziert werden. Daher kann ein Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen
Gründen rechtlich empfohlen werden.
Trotzdem werden immer noch Babies mit Missbildungen geboren, die nicht erkannt
wurden oder nicht erkannt werden konnten. Viele dieser Babies leben zwar nur kurz,
27
aber die Medizin ist heute in der Lage, sie viel länger am Leben zu erhalten, als dies
noch vor wenigen Jahren der Fall war.
Als klassisches Beispiel für das sowohl ethische wie medizinische Dilemma auf diesem
Gebiet dient meistens der hypothetische Fall eines mongoloiden Kindes mit
Duodentalverschluss (Candee und Puka, 1984). Hier stellt sich die Frage, soll man
operieren oder nicht?
Der Schock, den die Eltern bei der Geburt eines missgebildeten oder geschädigten
Kindes erleben, ist für sie oft so stark, dass sie entweder das Kind ablehnen oder nicht
mehr in der Lage sind, logische Entscheidungen zu fällen. Gelegentlich sind sehr rasche
Entscheidungen notwendig, wenn das Baby am Leben bleiben soll. Häufiger ist es
jedoch so, dass zwei oder drei Tage abgewartet werden kann. Während dieser Zeit
können sich die Eltern vielleicht auf diese Geburt einstellen und der Zustand des Kindes
wird zeigen, was es für Überlebenschancen hat. Dennoch muss eine Entscheidung
gefällt werden.
Das ethische Dilemma lautet dann: Soll man Leben retten oder das Kind sterben lassen?
Man entscheidet über ein menschliches Wesen, das nicht für sich selber sprechen kann.

Wird ein Leben gerettet, auf das nur Operationen, Spitalaufenthalte und Leiden
warten?
 Kann das Gesundheitspersonal und die Eltern das Leiden quantifizieren oder sogar
entscheiden, was Leiden für dieses Kind bedeuten wird?
 Lässt sich Leben verneinen, wenn nicht gewusst werden kann, wie dieses Leben
aussehen wird?
 Kann die Familie zu Hause für das geschädigte Kind sorgen? Wenn nicht, müsste
das Kind sein ganzes Leben in einem Spital oder einer Institution verbringen?
Bei der Geburt lässt sich unmöglich sagen, welchen Intelligenzquotient (IQ) ein mongoloides
Kind erreichen wird. Auf der andern Seite kann ein Baby, das mit einer Spina bifida oder
andern kongenialen Missbildungen geboren wird, über einen hohen IQ verfügen, aber zu einer
Existenz verurteilt sein, die uns Gesunden unerträglich erscheint. Ist sie es auch für dieses
Kind?
Die medizinische Frage lautet:
 Ist es richtig, ein Leben von fragwürdiger Qualität mit großem Kostenaufwand zu retten,
wenn anderen, die bis jetzt ein nützliches Leben geführt haben, diese Betreuung
vorenthalten wird, weil die Mittel beschränkt sind?
Dies sind natürlich nicht alle Fragen, die sich in den ersten Lebensstunden und Tagen eines
geschädigten Säuglings stellen.
Die Beziehung zu einem geschädigten oder missgebildeten Säugling ist anders als zu
einer erwachsenen Person, aber die Beziehung der Eltern und vor allem der Mutter zu
diesem Kind beeinflusst jede zu treffende Entscheidung. Ob das Kind in diesem
Stadium angenommen oder abgelehnt wird, kann ein guter Indikator sein für das
Leben, das sowohl die Mutter wie das Baby erwartet.
Der Weg, der zu einer Entscheidung führt, ist sehr wichtig. Die Eltern werden mit den
Folgen der Entscheidung leben müssen. Als Beratende können wir vielleicht Eltern, die
sich in einer so schwierigen Situation befinden, helfen, zu einer Entscheidung zu gelangen.
Es ist möglich, dass die Eltern und andere Beteiligte später den gefällten Entscheid bereuen
werden. Es ist daher wichtig, dass sorgfältig, aufrichtig und teilnahmsvoll entschieden
28
wird, und dass man vielleicht sogar den Weg, der zur Entscheidung führte, aufzeichnet,
damit man ihn sich später wieder in Erinnerung rufen kann.
Candee und Puka (1984) haben den Fall eines Babys mit Down Syndrom und
Duodentalverschluss analysiert und haben die teleologische und die deontologische
Theorie systematisch angewandt. Beide Theorien ergaben mehr oder weniger das
gleiche Resultat; in diesem Fall wurde nicht operiert und das Kind starb nach zwei
Wochen.
7.2. In der Mitte des Lebens
Die Mitte des Lebens bringt andere ethische Probleme. Es geht weniger direkt um
das Leben als solches, sondern eher um die Kontrolle über Leben und Gesundheit.
a. Empfängnisverhütung
Es gibt verschiedene Argumente für und gegen die Empfängnisverhütung, und auf
beiden Seiten haben namhafte Autoren ganze Bände darüber geschrieben.
Empfängnisverhütung ist im wesentlichen eine persönliche Angelegenheit, die
jedoch weitgehende soziale und wirtschaftliche Auswirkungen hat. Da sie in
Zusammenhang steht mit der Sexualität und dem Sexualverhalten des Einzelnen,
geht es um viel mehr als nur um eine praktische Angelegenheit. Grundsätzliche
Überzeugungen in bezug auf Leben und Tod, bewusst wahrgenommene Werte und
Gründe für die Existenz sowie moralische Auffassung von Gut und Böse, all das
beeinflusst unsere Einstellung zum Thema Empfängnisverhütung.
b. Sexualität
Wenn Menschen mit Außenstehenden über ihre Sexualität oder ihr Sexualleben sprechen, tun
sie dies oft, weil sie Schwierigkeiten damit haben. Weil jeder am Gespräch beteiligte dazu
neigt, seine eigenen Normen anzuwenden, die in der Regel als die besten betrachtet we rden
sind solche Gespräche oft nicht leicht. Das ethische Problem kann daher für die Beraterin
darin bestehen, dass sie ihre Normen beiseite lassen muss, um den andern richtig verste hen zu
können. Der Patient muss eine Lösung finden, die besser ist als die gegenwärtige und die er
frei wählen kann, die aber vielleicht unvorhergesehene Veränderungen (bei ihm und bei
demjenigen, der ihm hilft) hervorrufen kann.
Ein Thema, das ebenfalls mit der Sexualität zusammenhängt, sind die beim
Gesundheitspersonal verbreiteten Befürchtungen, was die Kontakte mit AIDSPatienten und ihre Behandlung betrifft. Das Gesundheitspersonal hat nicht das
«Recht», jenen Patienten die Pflege zu verweigern. Gleichzeitig geht es allerdings
auch darum, die eigene Gesundheit zu schützen. Altruismus kann auch zu weit
gehen!
Diese Krankheit ruft bei vielen Leuten Fragen nach der Moral und dem
Sexualverhalten hervor. Wie beurteilen Pflegepersonen Patienten mit dieser Krankheit, und welche Werte sind die «richtigen»?. Inwieweit sind Pflegepersonen fähig
29
und bereit, die Grenzen der Betreuung in dem Masse auszudehnen, wie es diese
Patienten benötigen?
c. Suchtprobleme
Auch die Sucht ist ein Gebiet der Ethik und ethischer Konflikte in der Mitte des Lebens.
Die Abhängigkeit vom Alkohol, von Drogen und das Leim-Schnüffeln hat es schon
immer gegeben. Heute sind diese Suchtprobleme vor allem deshalb in das
Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen, weil die Süchtigen jünger sind als je
zuvor. Da die Sucht heilbar ist, steht die Frage nach den Werten, vor allem die Frage
nach dem Wert des Lebens, im Vordergrund.
d. Selbstmord
Auch Selbstmord ist oft ein Hilfeschrei von jemandem, dessen Welt zerbrochen ist, und
der allein nicht in der Lage ist, für sein Leben einen Sinn zu finden.
Die Betreuung eines Selbstmörders oder eines Suchtkranken ist sehr arbeitsintensiv und
aufwendig, was das Personal und seine emotionale Stabilität betrifft. Wenn ethische
Fragen gestellt werden, sollte auch der finanzielle und personelle Hintergrund beachtet
werden.
 Wenn jemand zu verstehen gibt, dass er oder sie nicht mehr leben will, ist es dann
richtig, Geld auszugeben, um dieses Leben zu retten?
 Retten wir sein/ihr Leben oder beruhigen wir unser Gewissen?
 Wessen Prioritäten sind ausschlaggebend?
Diese Fragen zu stellen, ist viel einfacher, als die richtigen Antworten zu finden!
e. Organverpflanzung
Das Thema Organverpflanzungen sorgt immer wieder für Schlagzeilen. Hier befassen
sich die ethischen Überlegungen meist mit den Risiken und den nicht voraussehbaren
Folgen. Nur Transplantationen der Augenhornhaut können heute mit guten
Erfolgschancen durchgeführt werden.
Die zu transplantierenden Organe und Gewebe stammen meist von toten Spendern.
Lebende Spender sind seltener, wegen der offensichtlichen Risiken, die eine größere
Operation mit sich bringt, und weil die Abstoßungsrate hoch ist. Das Problem bei Opfern
von Verkehrsunfällen, die als potentielle Herz- und Nierenspender in Frage kommen,
liegt darin, dass man die nächsten Verwandten in einem tragischen Moment um ihre
Zustimmung bitten muss (Dunean, Dunstan und Welbourne, 1981). Es gibt jedoch viele
Leute, die es schön finden zu denken, dass der Verstorbene in einem andern Menschen
weiterlebt.
Pflegekräfte haben es manchmal mit Situationen zu tun, dass eine Person über den Tod
hinaus künstlich am Leben erhalten wird, damit ihre Organe für Transplantationen
verwendet werden können
Der Grund, weshalb Transplantationen von bestimmten Menschen, sowohl Patienten wie
Krankenschwestern, nur schwer akzeptiert werden können, ist der, dass sie das Konzept
von Krankheit und Tod verzerren. Es ist einfacher, aufwendige Behandlungen zu
30
erfinden, um jemanden am Leben zu erhalten, als die Sterblichkeit zu akzeptieren. Eine
Ansicht ist, dass Transplantationen eine Möglichkeit bieten, dem Tod ein Schnippchen zu
schlagen.
In der Mitte des Lebens hängen also die Fragen, die Pflegekräfte beschäftigen, eng
mit der Kontrolle von Leben und Gesundheit zusammen. Wenn wir einige davon
näher untersuchen, tauchen möglicherweise noch andere auf, denen wir vorher keine
Beachtung geschenkt haben.
Wenn ein Team vorhanden ist, mit dem solche Fragen besprochen werden kann, lässt
sich viel vom Stress, den diese Situationen mit sich bringen, abbauen. Eigene Werte
werden dabei vielleicht in Frage gestellt, sie werden dadurch aber auch besser
bewusst und auf diese Weis lernt man die Werte der andern besser kennen.
7.3. Am Ende des Lebens
Wilson (1975b) baut seine Philosophie der Gesundheit auf dem Grundsatz auf, dass
der Tod ein Teil des Lebens ist und dass man ihn akzeptieren muss. Damit stimmt er
überein mit Thiroux' (1980) Zusammenfassung des Prinzips vom Wert des Lebens:
«Der Mensch soll das Leben verehren und den Tod akzeptieren.» Wilson fügt jedoch
hinzu, dass wir westlichen Menschen zur Auffassung gelangt sind, dass «der Tod das
schlimmste ist, was dem Menschen zustoßen kann». Wissenschaft, Medizin und
soziales Verhalten gründen alle auf dem gesellschaftlichen Tabu des Todes. «Wir tun
so, als ob wir die Sterblichkeit und Hinweise auf die Sterblichkeit, wie z. B. Krank heiten, bis zum Schluss verstecken könnten. Wir haben den Tod in ein Ghetto
verbannt und haben uns damit das Problem der tödlichen Krankheit geschaffen.»
Kein Wunder, dass die Betroffenen davor zurückschrecken, über den Tod zu
sprechen.
Ein ethisches Dilemma am Ende des Lebens besteht darin, dass sich auch die Art
unseres Sterbens oft der eigenen Kontrolle entzieht. Wir können vielleicht noch
denken, aber nicht mehr sprechen, uns nicht mehr bewegen und uns nicht mehr
mitteilen. Beim Sterben sind wir gewissermaßen ganz der Pflege anderer
ausgeliefert.
Viele Menschen glauben, dass die Sterbehilfe die einzige Möglichkeit ist, um die
Kontrolle nicht zu verlieren und sicherzustellen, dass ihre Wünsche ausgeführt
werden und man sich nicht über ihre Persönlichkeit hinwegsetzen wird.
a. Sterbehilfe
Thiroux (1980) unterscheidet drei verschiedene Stufen der Sterbehilfe:
Die ersten zwei als aktive, die dritte als passive Sterbehilfe.

«Gnadentod» bedeutet, dass das Leben einer Person durch eine aktive Handlung
beendet wird, weil diese Person es so wünscht. Dies kann als eine Form der
Beihilfe zum Selbstmord betrachtet werden.
31

«Gnadentötung» (Euthanasie) bedeutet - aktiv das Leben einer Person zu beenden,
ohne dass diese Person in der Lage ist, ihre Zustimmung zu erteilen. Eine solche
Handlung wird durch die Annahme gestützt, dass das Leben einer Person nicht
mehr «sinnvoll» ist, oder dass die Person sterben möchte, aber es nicht mehr sagen
kann. Thiroux glaubt, dass der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der
Sterbehilfe darin besteht, dass die Gnadentötung ohne die Erlaubnis der Person
erfolgt, während der Gnadentod mit dem ausdrücklichen Wunsch und der
Ermächtigung durch die betreffende Person geschieht.

Die dritte Form, «jemanden sterben lassen» (passive Sterbehilfe) heißt, dass man
erkannt hat, dass bei einer tödlichen Krankheit der Punkt erreicht worden ist, wo
jede weitere Behandlung keinen Zweck mehr hätte. Unter diesen Umständen sollte
man einer Person erlauben, gut und würdevoll zu sterben. Das bedeutet nicht, dass
jemandem zum Sterben verholfen wird, sondern dass ein der Situation angepasstes,
medizinisch vertretbares Vorgehen gewählt wird. Es werden keine therapeutischen
Maßnahmen mehr ergriffen, und jede angefangene Behandlung wird abgebrochen,
wenn klar wird, dass sie aussichtslos ist.
Jemanden sterben lassen verlangt ebenso viele medizinische und pflegerische
Fähigkeiten wie eine komplizierte Behandlung, setzt jedoch mehr Selbsterkenntnis
voraus. Wer akzeptiert, dass der Tod nicht das schreckliche Ende bedeutet, der hat
sich wahrscheinlich mit seiner eigenen Sterblichkeit abgefunden. 18
Es wird manchmal zwischen normalen und au0ßergewöhnlichen Mitteln der
Lebenserhaltung unterschieden (Campbell, 1984x). Außergewöhnliche Mittel
umfassen auch Medikamente, die sehr teuer sind, oder deren Wirkung ungewiss ist.
Nahrung und Getränke gelten als normale Mittel, da sie für die Aufrechterhaltung des
Lebens notwendig sind.
Das Gleichgewicht ist hier heikel. Es ist oft das Gebiet, das Krankenschwestern am
schwersten zu schaffen macht. In der ganzen Krankenpflege, nicht nur bei alten
Leuten, ist die Frage «Behandeln oder nicht behandeln?», oder «Wie weit soll man
behandeln?», akut und oft schmerzlich. Überbehandlung kommt als Problem häufiger
vor als Unterbehandlung, wobei es auch sehr belastend sein kann, wenn eine an sich
richtige Behandlung nur ungenügend durchgeführt wird (z. B. in der
Schmerzbekämpfung).
Beim Konzept des Sterbenlassens wird befürchtet, dass dies als Untätigkeit oder sogar
Vernachlässigung ausgelegt werden kann. Wenn Pflegekräfte zu einem Patienten eine
wirklich liebevolle und vom Einfühlungsvermögen geprägte Beziehung aufgebaut
haben, kann es vorkommen, dass er plötzlich mitteilt, dass er zum Sterben bereit ist
und kein Held mehr sein will. In diesem Stadium ist die Furcht vor einer
Schmerzmittelabhängigkeit unbegründet. Die Qualität des Lebens ist jetzt wichtiger
als die Quantität. Für Krankenschwestern kann dies ein Gebiet sein, wo sie als
Führsprecherinnen wirken müssen. Der Patient ist vielleicht zu krank und zu schwach
Tschudin: „Wenn wir es für uns annehmen können, dann können wir es
wahrscheinlich auch besser bei andern akzeptieren und jemanden sterben lassen, wenn
es richtig erscheint.“
18
32
oder verfügt einfach nicht über genügend Wissen, um die richtige Entscheidung zu
treffen. Wenn Leute sehr krank sind, dann brauchen sie keine Informationen mehr,
sondern jemanden, der für sie in ihrem Interesse handeln kann - wobei es wirklich um
ihr Interesse gehen muss und nicht um das unsere.
Pflegekräfte können sich auch zum Handeln verpflichtet fühlen, wenn Pflege und
Behandlungen nicht im Interesse des Patienten zu sein scheinen oder sich mit ihrem
Gewissen nicht vereinbaren lässt.
7.2. Entschlussstrategien
7.2.1. Behandeln oder nicht behandeln? (Nach V. Tschudin)
Um was geht es bei der Frage, ob ein Patient behandelt werden soll oder nicht?
Erster Schritt: Einschätzung











Wo liegt das Problem?
Liegt eine Überbehandlung, eine Unterbehandlung oder eine falsche
Behandlung vor?
Wie lange besteht das Problem schon? Wie lange wird das Problem wohl weiterbest ehen,
wenn man nichts unternimmt?
Hat der Patient seine Meinung geäußert?
Welche Personen sind daran beteiligt: Ärzte, Krankenschwestern, Verwandte, Freu nde?
Welche Person hat eine Schlüsselposition?
Wie sind die verschiedenen Personen am Problem beteiligt?
Welche Aspekte des Problems lassen sich leicht verändern? Weniger leicht? Überhaupt
nicht?
Hat es bereits Situationen wie diese gegeben?
Wodurch unterscheiden sie sich von der heutigen Situation?
Gibt es noch andere Faktoren, die zu berücksichtigen sind, und welche?
Zweiter Schritt: Planung
 Welches sind die möglichen Lösungen?
 Was kann jetzt verändert werden? Was später?
 Wer profitiert von jeder Lösung am meisten?
 Welches der ethischen Prinzipien steht im Vordergrund?
Das Prinzip vom Wert des Lebens
Das Prinzip vom Guten oder Richtigen
Das Prinzip der Gerechtigkeit oder Fairness
Das Prinzip vom Sagen der Wahrheit oder der Ehrlichkeit
Das Prinzip der individuellen Freiheit
 Ist es eine Frage der beruflichen Verantwortung?
 Überschneiden sich verschiedene Werte? Um welche Werte handelt es sich? Wessen
Werte sind es?
 Geht es um Loyalitäten, die sich widersprechen?
33


Ist ein Kompromiss möglich, oder ist ein bestimmtes Vorgehen notwendig?
Wird jemandem durch eine solche Handlung Schaden zugefügt? Wem? Wie?
Dritter Schritt: Ausführung
Jetzt muss man entscheiden, was man unternehmen will. Alle Beteiligten müssen wissen, was
sie zu tun haben, und müssen kooperieren. Die Beschlüsse müssen ausgeführt werden.
Vierter Schritt: Auswertung
Haben die Entscheidungen das Problem gelöst?







Wenn nicht, weshalb nicht?
Waren die Voraussagen bezüglich der möglichen Ergebnisse zutreffend?
Wenn nicht, weshalb nicht?
Sollten wir einige Schritte zurückgehen und eine bestimmte Frage von neuem überprüfen?
Wie beurteilen alle Beteiligten heute das Ergebnis?
Handelt es sich hier um einen isolierten Fall, oder hat er andere ähnliche Situationen
beeinflusst?
Wie hat er sie beeinflusst? Wie kann er ähnliche Situationen in der Zukunft beeinflussen?
Diese und ähnliche Fragen können eine Hilfe sein bei Dilemmata, die am Ende eines Lebens
auftreten. Jede Situation ist wieder anders, und auch wer über eine gewisse Sicherheit
verfügt, ist dadurch noch lange nicht routiniert, höchstens fähiger, alle damit
zusammenhängenden Fragen objektiv zu prüfen.
7.2. David Thomas - University of Tennnesse
Kurz nachdem die medizinische Ethik in das öffentliche Bewusstsein getreten war - in den späten
60er und 70er Jahren - hat David Thomas - an der University of Tennnesse in Memphis ein
Programm für die klinische Ethik vorgelegt. Sein Programm war eingebettet in die klinische
Praxis und die Methode, die er für die ethischen Probleme entwickelt hat, entsprach ganz der
Methode, nach der die Ärzte bei ihren medizinischen Entscheidungen vorzugehen pflegen.
Thomasma "destillierte" den moralischen Entscheidungsprozeß zu sechs Schritten, die den
Medizinern schon im Studium beigebracht wurden. lm Lauf der Jahre hat er diese sechs Schritte
etwas abgewandelt, aber im wesentlichen sind es die folgenden geblieben (Thomasma D, 1978):
1. Beschreibe die medizinischen Fakten des Falls.
2. Beschreibe die Werte (Ziele, Interessen) aller am Fall Beteiligten (Ärzte, Patienten,
Pflegepersonal, Krankenhausträger)
3. Bestimme die prinzipielle Wertekollision.
4. Bestimme die Vorgehensweisen, die so viele Werte wie möglich in diesem Fall schützen
würden.
5. Wähle eine Handlungsweise.
6. Verteidige diese Handlungsweise.
34
Thomasma erläuterte diese seine Methode und seinen Standpunkt, dass Mediziner in der
ethischen Gedankenführung eigens ausgebildet werden müssen, in einem Buch, das er 1981 mit
Edmund Pellegrino zusammen verfasst hat (Pellegrino E, Thomasma D, 1981).
7.2.3. Albert Jonsen, Mark Siegler , William Winslade
1982 veröffentlichten Albert Jonsen, Mark Siegler und William Winslade einen kleinen Band
über Medizinethik, der speziell für Ärzte in der Klinik gedacht ist (Joasen A, Siegler M,
Winslade W, 1982). Sie komprimierten Thomasmas sechs Schritte zu vier, packten aber viele
komplizierte Überlegungen hinein. In Anerkenntnis der Tatsache, dass die Ärzte medizinische
Entscheidungen sehr wohl nach einer bestimmten Methode zu treffen pflegen, aber bei
ethischen Entscheidungen unsicher sind, gehen die Autoren auf die Gründe für dieses
Unbehagen ein und versuchen dann, sie durch ein systematisches Vorgehen abzubauen. Ihre
Methode besteht darin, den Ärzten eine "Checkliste" an die Hand zu geben, um die
Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte sicherzustellen: Welche Fakten sind in dem
vorliegenden Fall am wichtigsten? Wie sollten die Fakten organisiert werden, um kritische
Punkte herauszubekommen? Und wie sollten die verschiedenen ethischen Gesichtspunkte
gewichtet werden? Die vier Schritte sind:
1. Medizinische Indikationen
- die eigentliche Domäne des Arztes: Diagnose, Prognose, therapeutische Alternativen,
klinische Strategie nach Abwägung von Risiko und Nutzen verschiedener
Behandlungsverfahren und der Besonderheiten des Patienten.
2. Patientenwunsch
- Patientenentscheidung nach den medizinischen Indikationen:
Wie ist ein Konflikt zwischen 1 und 2 zu lösen:
Kompetenzfragen; Hinwegsetzen über die Weigerung eines Patienten; was ist zu tun, wenn der
Patient entscheidungsunfähig ist und im Sterben liegt?
3. Die Frage der Lebensqualität
- wenn Patienten nicht für sich selbst entscheiden können:
Wenn in Patient unfähig ist, selbst zu entscheiden, muss ein Stellvertreter sagen, ob die
Behandlung mehr Gutes oder mehr Belastung bringt (z.B. lohnt die Operation, die
Bestrahlung, die Diät usw.?). Wert wird gelegt auf typische menschliche Erfahrung, auf
Bewusstheit, Beziehungen, Schmerzen, Lebensaufgaben. Eine Bewertung der
Lebensqualität erfolgt nur, wenn der Patient selbst nicht entscheidungsfähig ist, wenn sein
Wunsch unbekannt ist, wein die medizinischen Erfolgsaussichten beschränkt sind, z.B. bei
unweigerlich zum Tod führender Krankheit, bei Patienten in dauerhafter Bewusstlosigkeit,
bei Neugeborenen mit Missbildungen, beim Fehlen von Vorschriften.
4. Äußere Faktoren
- wenn die Entscheidung für andere von Belang ist:
35
Klinische Entscheidungen haben Auswirkungen über die Triade Arzt/Patient/Stellvertreter
hinaus; man denke an die Familie, an deren Finanzkraft, an die Kosten überhaupt, an die
Bedürfnisse von Lehre und Forschung in der Medizin, die Sicherheit und das Wohl der
Gesellschaft. Diese Faktoren werden als letzte gewichtet und in Routineentscheidungen haben
sie keine große Bedeutung.
Bei dieser Methode hat der Arzt nicht nur einen Leitfaden für die Berücksichtigung der
hauptsächlichen Gesichtspunkte, sondern auch einen Ratgeber, wann der jeweilige Faktor
einzuführen und wie viel Gewicht ihm beizumessen ist. Die vier allgemeinen Gesichtspunkte
sind relativ einfach, aber in jedem stecken viele verschiedene Elemente und Niveaus ethischer
Reflexion.
7.2.4. Bochumer Arbeitsbogen (Sass, Viefhues)19
Ein von Sass weiterentwickeltes Modell, dass versucht, die verschiedenen Diskurs-Elemente
und -Niveaus voneinander abzuheben und zu zeigen, wie bei der Entscheidungsfindung
logischerweise von einem zum anderen vorzugehen ist (Drane JF, 1988).
Auch diese Methode hat vier Hauptschritte:
I. Expositionsphase - Anleitung zur Identifikation des relevanten Faktenmaterials
1. Medizinische Faktoren:
Diagnose, Prognose, therapeutische Wahlmöglichkeiten, realistische Erfolgsaussichten,
Behandlungseffektivität. Unsicherheiten aufgrund des Wissensstandes und der Erfahrung.
2. Ethische Faktoren:
Wer ist der Patient und was will er (oder sie)? Was sind die Interessen, Wünsche, Gefühle,
Intuitionen und Optionen des Patienten, der Ärzte, des Pflegepersonals, der
Krankenhausverwaltung, der Gesellschaft?
3. Sozio-ökonomische Faktoren:
vom Patienten, von dessen Familie, vom Krankenhaus, der Health Maintenance
Organisation, der Versicherung, dem Staat oder der Gemeinde zu tragende Kosten.
II. Rationale Phase - Anleitung zur geistigen Aufarbeitung der relevanten Daten
1. Medizinethische Kategorien: Fragenkomplexe, wie Einwilligung nach Aufklärung,
Verweigerung einer Behandlung, Arztgeheimnis, medizinisches Experiment und Euthanasie
schaffen eine generelle Taxonomie für die Organisation der Daten und verweisen auf die
vorliegende wissenschaftliche Literatur. Die Sprache der medizinischen Ethik liefert das
Instrumentarium für das Durchdenken des jeweiligen Falles.
19
Hans-Martin Sass und Herbert Viefhues, Direktoren des Zentrums für Medizinische Ethik in Bochum, sind die
Autoren des "Bochumer Arbeitsbogens zur medizinethischen Praxis" (Bochumer Arbeitsbogen, 1987).
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2. Prinzipien und Maximen: Wohltätigkeit, Selbstbestimmung, Achtung des anderen, Wahrheit,
Treue, Unantastbarkeit des Lebens, Gerechtigkeit sind weithin anerkannte Richtlinien für die
Überlegungen. Konkretere Anhaltspunkte sind in spezifischen Regeln gegeben:. Nicht das
Sterben verlängern, Schmerzen immer lindern, die Wünsche eines entscheidungsfähigen
Patienten achten.
3. Juristische Entscheidungen und Standesregeln: Paradigmatische Rechtsfälle sind und
aufschlussreich für andere Fälle, wie der Fall Quinlan. Standesregeln oder Berufs-Codices,
durch Erklärungen der Standesorganisation aktualisiert, sind ebenfalls eine pult
Entscheidungshilfe.
III. Ermessensphase - der Schritt von den Fakten und der Reflexion zur Entscheidung
1. Rangordnung der Güter. Wenn mehr als ein Gut oder Interesse realisierbar ist, müssen diese
nach einer Prioritätenliste geordnet werden. Zum Beispiel hat die Option eines
entscheidungsfähigen Patienten Vorrang vor der des Arztes oder der Familie. Bei einer
Epidemie haben die Interessen der Gesellschaft Vorrang über die des Einzelnen.
2. Rangordnung der Prinzipien: Wenn Prinzipien kollidieren, werden sie nach der persönlichen
Einstellung und Weltanschauung und dem Berufsethos des Arztes geordnet. Für einen Arzt ist
Wohltätigkeit (Sorge für einen Patienten, Heilen, Lebensrettung, Linderung der Schmerzen)
vorrangig. Andere Prinzipien werden zwar beachtet, haben aber niemals Vorrang.
3. Entscheidung. Ein verantwortungsbewusster Arzt trifft seine Entscheidung mit so viel
Klugheit und Umsicht, wie seine Persönlichkeitsentwicklung es zulässt. Besondere Sorgfalt
ist geboten, wenn eine Entscheidung über Leben oder Tod gefällt werden muss.
IV. Öffentliche Phase
Vorbereitung auf die öffentliche Prüfung und Verteidigung der Entscheidung
1. Annahmen explizit machen, sich selber klar werden über subjektive Faktoren und
zugrundeliegende Überzeugungen.
2. Wechselbeziehung feststellen zwischen Gründen und Gefühlen. Übereinstimmung anstreben
unter Anwendung von Prinzipien, Maximen und Regeln.
3. Organisation der Argumente für die öffentliche Diskussion: In einer pluralistischen
Gesellschaft wird eine Ethik akzeptabel durch überzeugende Argumente.
Die Methoden von Thomasma, Siegler und Drane greifen die gleichen grundlegenden Punkte auf.
Ihr Unterschied liegt im Grad der Deutlichkeit, mit der Schlüsselelemente abgehoben sind.
Keiner würde gegen ein Element im Modell eines der anderen Einwände erheben. Jedes Modell
versucht, ein systematisches Procedere zu bieten, an das sich alle Verantwortlichen in der Klinik
halten können, ganz unabhängig von ihrem Glauben oder ihrer Weltanschauung (Brody H. 1981).
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Die Methoden unterscheiden sich nur in der Wahl der Begriffe, der Ordnung der Gesichtspunkte,
in der Betonung der einzelnen Themen und in der zeitlichen Abfolge.
7.2.5. Eine europäisch/lateinamerikanische Methode
In seinem Vorwort zur spanischen Übersetzung dieses Arbeitsbogens befürwortet José A.
Mainetti von der Universität La Plata, Argentinien. die darin vorgeschlagene Methode als eine
gangbare Alternative zu den typisch US-amerikanischen Ansätzen, die nach seiner Meinung die
nordamerikanische Kultur, Gesellschaft und Medizin widerspiegeln. Mainetti sieht in der
nordamerikanischen Bioethik ein Abbild des Lebens in der USA, das durchtechnisiert,
religionsfrei und pluralistisch sei.
Nach Mainettis Meinung bewegt sich aber seit jüngster Zeit die nordamerikanische
medizinische Ethik in Richtung auf die europäische oder lateinamerikanische
Betrachtungsweise zu (Mainetti JA, 1988). Die Traditionen in der Medizin Europas und
Lateinamerikas seien humanistischer und ihre medizinische Ethik sei nicht so stark mit
deontologischen und utilitaristischen Theorien behaftet. Weil sie weniger formalistisch,
theoriebestimmt und regelbeherrscht sei, kann sie zur Erneuerung der medizinischen Praxis
beitragen.
Die europäische medizinische Ethik sei offener für Fragen der Moralität und weniger von
Prinzipien beherrscht. Deshalb bevorzugte sie ihre eigene Methode, die sich bewusst abhebt von
jeglicher mechanistischen Strategie, die, von Experten angewandt, auf gesellschaftlich akzeptable
Lösungen ausgeht. Mainetti wandelt den Bochumer Fragebogen in folgender Weise ab:
I. Feststellung der medizinisch-wissenschaftlichen Befunde:
Welche Behandlung wäre optimal angesichts des medizinisch wissenschaftlichen Befundes?
1. Allgemeine Überlegungen
Diagnose, Prognose, Therapiealternativen, Erfolgsaussichten der vorgeschlagenen
Therapiemöglichkeiten, Prognose ohne die vorgeschlagene Behandlung?
2. Spezielle Überlegungen
Wie wirken sich die Behandlungsalternativen mit ihren Vorteilen wie Nachteilen in dem
speziellen Fall aus?
3. Ärztliches Handeln
Liegen adäquate Behandlungsvoraussetzungen vor: Personelle? Team? Technischapparative? Berücksichtigung des Standes der medizinischen Forschung und ärztlichen
Erfahrung? Welche wichtigen Fakten sind unbekannt? Sind die benutzten medizinischen
Schlüsselbegriffe hinreichend klar?
II. Feststellung der medizinethischen Befunde:
Welche Behandlung wäre optimal angesichts des medizinethischen Befundes?
1. Gesundheit und Wohlbefinden des Patienten
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Welche Beeinträchtigungen (körperlich. geistig, psychisch) können bei den alternativen
Therapieweisen eintreten?
2. Selbstbestimmung des Patienten
Welche Werte hat der Patient? Wie ist seine Einstellung z.B. zur Intensivmedizin? Ist er
hinreichend aufgeklärt? Inwieweit kann der Wille des Patienten berücksichtigt werden oder
muss stellvertretend für ihn entschieden werden?
3. Ärztliche Verantwortung
Kann ein Konflikt zwischen Arzt, Patient, Pflegepersonal oder Familie gemildert oder
beseitigt werden, ohne das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, das Prinzip der
Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit zu untergraben? Sind die benutzten ethischen
Schlüsselbegriffe und ihr Verhältnis zueinander hinreichend klar?
III. Behandlung des Falls:
Welche Entscheidung ist in Anbetracht der obigen Erwägungen die beste?
1. Welche Optionen bieten sich in Anbetracht der medizinethischen Befunde an? Ist die
Beiziehung eines Experten oder die Überweisung des Patienten erforderlich?
2. Was sind die konkreten Verpflichtungen des Arztes, Patienten, des Pflegepersonals. der
Familie bei der gewählten Behandlung?
3. Gibt es Argumente gegen die Entscheidung? Wurde sie mit dem Patienten diskutiert? Hat er
seine Zustimmung erteilt?
IV. Zusätzliche Fragen zur ethischen Bewertung:
1. Bei Fällen von langdauernder Behandlung.
Routinemäßige Überprüfung der Behandlung und ethischen Bewertung. Ist der
Behandlungsplan flexibel? Werden bei infauster Prognose palliative Maßnahmen erwogen?
Ist sichergestellt, dass hierbei der explizite oder mutmassliche Wille des Patienten
berücksichtigt wird?
2. Bei Fällen von erheblicher sozialer Relevanz:
Familiäre, emotionale, berufliche oder ökonomische Folgelasten.
Können diese Folgelasten vom Patienten, der Familie, der Solidargemeinschaft getragen
werden? Wird die soziale Integration des Patienten, seine Lebensfreude und
Persönlichkeitsentfaltung gefördert?
Welche Bedeutung hat die Beantwortung dieser Fragen zur die medizinisch wissenschaftliche
und medizinethische Güterabwägung?
3. Bei Fällen therapeutischer oder nichttherapeutischer Forschung,
Inwiefern beeinflusst der Versuch die medizinisch-ethischen Aspekte? Wenn der Patient nicht
vollständig aufgeklärt worden ist oder die Aufklärung nicht voll verstanden wurde, kann dann
der Versuch gerechtfertigt werden? Wenn der Patient seine Zustimmung nicht erteilt hat,
kann dann der Versuch gerechtfertigt werden? War das Auswahlverfahren des Patienten
gerecht? Kann der Patient jederzeit von seiner Teilnahme zurücktreten?
Übereinstimmung und Unterschied (Bochum – Lateinamerika)
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Es gibt viele Übereinstimmungen zwischen der europäisch/lateinamerikanischen Methode
und der US-amerikanischen, aber doch auch typische Unterschiede. Die Prinzipien sind zwar
gleich, aber die sittliche Autonomie des Einzelnen ist im Bochumer System weniger betont.
Der Abschnitt zum Beispiel über das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist aus der Sicht
des Arztes geschrieben. In dem Arbeitsbogen wird gefragt, was dem Arzt über das
Wertsystem des Patienten, dessen Einstellung, dessen Wissen und Verständnis bekannt ist.
Dies führt zu der Frage: Wie weit kann der Patient in die Bewertung einbezogen werden oder
inwieweit kann sie ihm ganz überlassen werden? Eine solche Formulierung wäre in einer US amerikanischen Methode undenkbar, wo auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten
größter Wert gelegt wird. Nach dem Bochumer Modell ist es in erster Linie Sache des Arztes,
die Entscheidungen hinsichtlich der Behandlung zu treffen, wobei es ihm anheimgestellt ist,
mit dem Patienten den Vorschlag zu besprechen und dann zu entscheiden, ob er dem
Patientenwunsch folgt oder nicht. Der mindere Rang der Patientenautonomie gegenüber den
Werten des Arztes wird auch sichtbar in dem Abschnitt über therapeutische und
nichttherapeutische Forschung. Es wird gefragt, wie der Versuch zu rechtfertigen ist, wenn
der Patient nicht aufgeklärt worden ist, oder seine Zustimmung zur Teilnahme nicht erteilt
hat. In den USA wäre ein solches Verhalten ärztlicherseits moralisch und rechtlich nicht
haltbar.
Der Bochumer Arbeitsbogen ist genauso formalistisch und technisch wie nordamerikan ische
Modelle, aber er weist dort nicht enthaltene Elemente auf. Deutlicher werden
epistemologische Fragen gestellt: Welche wichtigen Fakten sind unbekannt? Sind die
benutzten ethischen Schlüsselbegriffe und ihr Verhältnis zueinander hinreichend klar? Eine
Unsicherheit oder Unkenntnis auf Seiten des Arztes überhaupt in Erwägung zu ziehen, ist
nicht nordamerikanische Art. Schon von jungen Medizinern wird erwartet, dass sie sich den
Habitus der Sicherheit und des Selbstverrauens (man könnte auch von "Unfehlbarkeit"
sprechen) aneignen. Allein der Gedanke. der Patient sollte auf Unsicherheiten oder Grenzen
des Wissens oder der Technik aufmerksam gemacht werden, liegt den meisten
nordamerikanischen Ärzten fern und würde gar als "Kunstfehler" erachtet werden.
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