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Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“
Durchs tönende Universum
17.09.2012 00:00 Uhr
von Frederik Hanssen
Großer Saisonstart an der Deutschen Oper: Lothar Zagrosek dirigiert Helmut
Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“.
Klangräume. Gespielt wird auf drei Etagen, wegen Baustelle vor dem Eisernen Vorhang. Das Geschehen
rückt den Besuchern dadurch näher als gewohnt. - FOTO: BRESADOLA/DRAMA-BERLIN.DE
Nein, liebe Eltern: Auch wenn der Titel es nahelegt – hier geht es nicht um die neue
Weihnachtskinderproduktion. Die kommt in einem Monat an der Komischen Oper heraus, wird
– wir sind in Berlin! – halb auf Türkisch, halb auf Deutsch gesungen und heißt „Ali Baba und
die 40 Räuber“.
„Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann, mit dem der neue
Intendant Dietmar Schwarz am Sonnabend offiziell seine Amtszeit an der Deutschen Oper
einläutete, ist dagegen ein Werk strikt für Erwachsene. Und mehr noch: Für Menschen, die
bereit sind, im Musiktheater auf Melodien zu verzichten, ja sogar auf jedwede Art von Tönen
im traditionellen Sinne.
Lachenmann nämlich setzt seine Partitur aus Geräuschen zusammen. Nicht aus akustischen
Fundstücken von der Straße, sondern aus Geräuschen, die mithilfe von menschlichen
Stimmbändern und konventionellen Instrumenten erzeugt werden. Durch neuartige
Spieltechniken und ausgefallene Klangerzeugungsmethoden. Aus Abermillionen dieser
Sounds entsteht in knapp zwei Stunden Aufführungsdauer eines der faszinierendsten Werke
der zeitgenössischen Kunst.
Seit der Uraufführung 1997 in Hamburg haben sich nur drei Städte an das „Mädchen mit den
Schwefelhölzern“ gewagt: Stuttgart, Wien und Salzburg. Der Aufwand ist gewaltig, vor allem
die Orchestermusiker müssen erst einmal davon überzeugt werden, alles, was sie über den
korrekten Gebrauch ihrer Instrumente gelernt haben, beiseitezulassen. Lothar Zagrosek, dem
Dirigenten der Uraufführung, ist das in Berlin auf bewundernswürdige Weise gelungen.
Geschmeidig und entspannt wirken seine Bewegungen, ganz leicht scheint es ihm zu fallen,
die überall im Raum verteilten Sänger und Musiker zu koordinieren.
Weil derzeit an der Deutschen Oper noch Modernisierungsarbeiten an der Obermaschinerie
laufen, also an Beleuchtungsbrücken und Kulissenzügen, wird vor dem Eisernen Vorhang
gespielt. Ein Glücksfall, denn so kann Fritz Bornemanns holzvertäfeltes Zuschauerhaus zum
intimen Konzertsaal werden. Viel näher als gewohnt ist der Besucher hier am Geschehen.
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Die unteren Logenreihen rechts und links sind für Mitwirkende reserviert, der Orchestergraben
wurde hochgefahren, die ersten Parkettreihen überbaut, und auch im Hochparkett sind
weitere Musiker platziert. Ausstatter Christof Hetzer bleibt da nur die Flucht in die Höhe. Auf
drei Etagen türmt er seine Bühneninstallation übereinander. Da ist der nüchterne HochschulÜbungsraum mit Neonlicht und einem alten Flügel, an dem zwei Studentinnen in braven
Faltenröcken hocken. Dann folgt ein Wohnzimmer, in dem ein Mann Amateuraufnahmen
einer schönen Blondine im Bikini betrachtet. Ganz oben schließlich erahnt man ein
improvisiertes Labor in einem Bretterverschlag. Durch die Etagen dieses Hochhauses windet
sich ein Luftschacht, in dem zwei Tänzer hausen. Wenn sich der orchestrale Geräuschpegel
erstmals ins Schrille steigert, entbrennt zwischen ihnen ein kunstvoller Revierkampf in
Zeitlupe (Choreografie: Sommer Ulrickson).
Der Regisseur versucht erst gar nicht, Andersens traurige Geschichte zu erzählen
Solche phonstarken Ausbrüche aber sind bei Lachenmann die Ausnahme. Über weite
Strecken bleibt das Klangbild leise und zart. Wer bereit ist, sich auf jenes „offene Hören“
einzulassen, das der Komponist seinem Publikum abfordert, empfindet diese Musik nie als
dissonant, sondern nur als ungegenständlich, nie als kalt, sondern im Gegenteil als schön,
mitunter sogar als lieblich. Auch wenn die Geräusche mit konventionellen Kulturwerkzeugen
erzeugt werden, ist da eine Naturnähe: als Abstraktion von Waldesrauschen,
Meeresbrandung, Windsbrauterzählungen.
Still sitzend bewegt sich der Zuhörer in einem weiten Klangraum, treibt schwerelos durchs
tönende Universum. Und bekommt doch irgendwann Platzangst, fühlt sich auf sich selbst
zurückgeworfen, hilflos diesem rätselhaften Kosmos ausgeliefert, der sich offenbar doch ganz
minutiös in eine Partitur bannen lässt.
Natürlich ist das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ keine Oper. Ein autonomeres Gebilde
aus Vokal- und Instrumentalklängen lässt sich kaum vorstellen. Lachenmann selber hat die
Formel „Musik mit Bildern“ gewählt. Was Regisseur David Hermann optisch anbietet, die
Slow-Motion-Bewegungen der beiden hingebungsvoll agierenden Solosoprane Yuko Kakuta
und Hulkar Sabirova, den Gastauftritt des „nassen Onkels“, der Silvesterraketen in leere
Sektflaschen steckt, sind Assoziationsangebote. Die helfen oder nerven, je nachdem, ob man
mehr Augen- oder Ohrenmensch ist.
Dass Hermann gar nicht erst versucht, Andersens traurige Geschichte zu erzählen, ist
immerhin konsequent – da außer zwei kurzen unbegleiteten Texteinspielungen sowieso kein
Wort zu verstehen ist. „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ brauchte Lachenmann, um
seine Fantasie zu entzünden. Die Verwendung – und totale Verfremdung – von Zitaten
Leonardo da Vincis sowie Gudrun Ensslins ist darum prätentiös, ebenso wie beim „Prometeo“
seines Lehrers Luigi Nono, dessen ebenfalls unhörbar gemachte Texte gleich die ganze
Menschheitsgeschichte umgreifen wollen. Das große Kunstwerk aber ist stets klüger als sein
Schöpfer, braucht keine komplexen Gedankenkonstrukte, um sich zu erklären. Weil es
unmittelbar wirkt.
Helmut Lachenmann ist ein brillanter Denker, der virtuos den Diskurs-Sound der siebziger
Jahre beherrscht, in dem es stets um Widerstand gegen eine Gesellschaft geht, „die – ihrer
Entfremdetheit durchaus heimlich bewusst – aus nacktem Selbsterhaltungstrieb sich an ihr
gewohntes ästhetisches Weltbild verzweifelt anklammert“. Vor allem aber kann er auf
wunderbar ätzende Weise seine kommerziell erfolgreichen Kollegen zur Schnecke machen.
Oder besser gesagt zur „Made im Speck des tonalen Kadavers“. Parasiten der Vergangenheit
sind das, die sich „fett und behaglich in der alten Rumpelkammer der verfügbaren Affekte
wieder häuslich eingerichtet“ haben, um die Sehnsucht der zahlenden Masse nach einer
intakten Welt durch „eine schillernde ästhetische Fata Morgana zu beschwichtigen“!
Am Ende seines „Mädchens mit den Schwefelhölzern“ gerät allerdings auch Lachenmann
kurz in die Falle der Emotionsabbildung, zumindest mit einem Fuß. Orchester und Sänger
werden pathetisch, gustavmahlerisch, mit Totentrompeten, Choralsplittern,
Spannungsspiralen der Streicher. David Hermann lässt seine Tänzerin (Bini Lee) prompt doch
noch im Hemdchen auftreten, zum Tanz mit Gevatter Tod, bevor eine Filmeinspielung mit
galaktischem Sternennebel sie verschluckt. Zwei Etagen weiter unten erscheint derweil
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Mayumi Miyata, die das Solo auf der japanischen Mundorgel Shô bläst, zurechtgemacht als
Mélisande mit rotem Kunsthaar bis zum Po, Puffärmelkleid und schwarzen Schnürstiefeletten.
Übelster Intellektuellenkitsch.
„Wir greifen zu den ungebrochen magisch geladenen Geräten und Elementen aus anderen
Kulturen, ohne sie selbst verinnerlicht zu haben“, merkt der Komponist selbstkritisch zur Wahl
der exotischen Mundorgel an. „Dies ist alte europäisch-parasitäre Praxis.“ Dennoch: Ein
Abend, der sich ins Gedächtnis brennt.
Nur noch am 19., 20., 22. und 23.9.
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