Herkunft des grammatischen Geschlechts im Deutschen aus

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Galina T. Polenowa
Herkunft des grammatischen Geschlechts im Deutschen aus
typologischer Sicht
1. Einleitung
Das grammatische Geschlecht gliedert alle Substantive im Deutschen in die
drei Klassen der Maskulina, Feminina und Neutra. Bis vor kurzem wurde das
Geschlecht als eine grammatische Kategorie des Substantivs betrachtet. Es
gibt aber die Meinung, dass das Genus eine lexikalisch-grammatische
klassifizierende Kategorie ist (vgl. Moskalskaja 1983: 147 f.).
Die lexikalische Natur des Genus tritt besonders klar bei den Menschen- und
Tiernamen zutage, wo das Genus semantisch motiviert wird, wie z.B. der
Mann - die Frau, der Bruder – die Schwester, der Stier - die Kuh. Die
Sprache unterscheidet da deutlich ein männliches Lebewesen und ein
weibliches Lebewesen. Das Neutrum kommt da als Kennzeichen von Kindern
und jungen Tieren sowie der Diminutive vor, z.B. das Kind, das Lamm, das
Kalb, das Mädchen.
Es gibt aber sehr viele Substantive, deren Angehörigkeit zum bestimmten
Genus sich semantisch nicht erklären lässt, z.B. der Tisch, der Baum, das
Schaf , die Tafel. In diesem Fall spricht man von einer rein grammatischer
Kategorie. Die ursprüngliche semantische Grundlage dieser Klassifizierung
kann man nicht feststellen.
In der vorliegenden Arbeit versuchen wir auf die Frage zu antworten, wie sich
die grammatische Genuskategorie entwickelt hatte und warum sich das Genus
einiger Substantive der Bedeutung nach bestimmen lässt, der anderen aber
nicht.
2. Die geschichtliche Entwicklung der Genuskategorie der Substantive im
Deutschen
2.1. Die Kategorie des Genus der Substantive im heutigen Deutsch
Bekanntlich unterscheidet man beim deutschen Substantiv drei Geschlechter:
Maskulinum (männliches Geschlecht), Femininum (weibliches Geschlecht),
Neutrum (sächliches Geschlecht): der Mann, die Frau, das Kind.
Eine große Anzahl von Substantiven (meist einsilbige Wörter) weisen keine
Merkmale eines bestimmten Geschlechts auf, z.B. der Hund, die Maus, das
Pferd; der Raum, die Zeit, das Heft.
Bei vielen Substantiven dagegen kann das Geschlecht ihrer Bedeutung oder
ihrer Form nach bestimmt werden.
Wenn J.Erben von den Gruppen der sinnverwandten Wörter spricht, so
unterstreicht er: „Maskulina sind – abgesehen von den Bezeichnungen der
Lebewesen
männlichen
Geschlechts
–
vornehmlich
die
Gattungs-
bezeichnungen der größeren Lebewesen: Wal, Elefant, hirsch, Tiger, Adler,
Baum; die als ‘Handelnde’ charakterisierten Geräte: Schlüssel (das
Schließende), Deckel, Wecker, Bohrer ... Feminina sind – abgesehen von den
Bezeichnungen weiblicher Personen und Tiere – viele Gattungsbezeichnungen
kleinerer Lebewesen: Taube, Maus, Laus, Blume, Muschel“ (ebenda: 108,
unterstrichen von mir – G.P.).
Das Deutsche besitzt eine Reihe von Substantiven, die mit doppeltem Genus
gebraucht werden. Dabei sind zwei Hauptgruppen zu unterscheiden:
Substantive mit gleicher Form, gleicher Bedeutung und verschiedenem Genus
(schwankendes Genus), z.B. der/das Teil, der/das Silo u.a.
Substantive mit gleicher Form, verschiedener Bedeutung und verschiedenem
Genus (Homonyme), wie: der Band (= Buch) – das Band (= etwas zum
Binden), der Gehalt (= Wert) – das Gehalt (= Lohn), der Junge (= männliches
Kind - das Junge (= junges Tier), der Kiefer (Schädelknochen) – die Kiefer
(= Nadelbaum), der Leiter (Vorgesetzter) – die Leiter (= zum Steigen
bestimmt), der See (= stehendes Binnengewässer) – die See (= Meer), die
Steuer (= Abgabe an den Staat) – das Steuer (= Lenkvorrichtung) u.a. (s.
Helbig/Buscha 1976: 109-110).
Bemerkenswert ist da die Äußerung von J.Erben: „Dabei bezeichnet das
Maskulinum in vielen Fällen eine Person, das Neutrum oder Femininum eine
Sachgröße: Der, das Bauer, Erbe, Tor; der, die Heide, Kunde, Leiter. Oft wird
mit Hilfe des Genus Neutrum eine verächtliche Bezeichnung gewonnen: das
Mensch, Ekel, Wurm, Pack“ (Erben 1966: 106, unterstrichen von mir – G.P.).
Sehr wichtig ist für unsere weiteren Erläuterungen noch die Bemerkung von J.
Erben, dass die Abstrakta Umsetzungen von Prädikaten sind und dass die
Prädikationsfunktion in der Sprache grundsätzlich alles erfassen kann (ebenda:
110), z.B. Größe, Schwere, Treue;
Ruhe, Trauer, Kälte. Voraus gehen
Aussagesätze wie Er ist groß, schwer, treu; Es ist ruhig, traurig, kalt. Da hat
H.Brinkmann ganz Recht, wenn er sagt: „Was vorher Aussage war, ist nun als
Begriff verfügbar“ (Brinkmann 1950/51: 68).
G.Helbig und J.Buscha unterscheiden zwischen dem natürlichen Geschlecht
(= Sexus) und dem grammatischen Genus. „Das natürliche Geschlecht hat
zwei Formen (Maskulinum und Femininum), das grammatische Genus drei
Formen (Maskulinum, Femininum und Neutrum)“ (Helbig-Buscha 1976:
106). Die beiden Genusarten kommen aber vor allem an der Artikelform zum
Ausdruck.
2.2. Die historische Enwicklung der Genuskategorie des Substantivs im
Deutschen
Was ist denn der deutsche Artikel, das Geschlechtswort, historisch gesehen?
Nach H.Paul setzt sich die Flexion des Demonstrativums der, worauf der
Artikel zurückgeht, ursprünglich aus zwei
verschiedenen Stämmen
zusammen, idg. so, Fem. sā und to, Fem. tā. Dies Verhältnis ist im Gotischen
noch bewahrt, wo der N.Sg. für das Maskulinum sa und für das Femininum sô
ist (Paul 1968: 172).
Was das Substantiv selbst anbetrifft, so kann man noch im Althochdeutschen
die Spuren von der Kennzeichnung des Geschlechts durch die Flexiosendung
verfolgen, wo die Morphemstruktur zum Träger des grammatischen
Geschlechts wird, so z.B. in der Geschlechtsverteilung der Endungen des
Nominativs im Plural:
Tabelle 1. Geschlechtskennzeichen im Althochdeutschen
Stämme
Maskulinum
a-St.
ja-St.
wa-St.
tag-a ‚Tage’
hirt-e ‚Hirten’
hlē-wa
‚Grabhügel’
ō-St.
jō-St.
Femininum
wort-ө ‚Worte’
kunn-i
‚Geschlechter’
hor-o ‚Sümpfe’
i-St.
gest-i ‚Gäste’
gëb-ā ‚Gaben’
sunt-e, -eā
‚Sünden’
enst-i ‚Günste’
u-St.
sit-i ‚Sitten’
hent-i ‚Hände’
an-St.
jan-St.
han-on, -un
‘Hähne’
will-eon, -iun
‘Willen’
ōn-St.
zung-ūn ‘Zungen’
īn-St.
hōh-ī, -ī, īn
‘Höhen’
muoter-ө ‘Mütter’
(später –a)
r-St.
fater-a ‘Väter’
nt-St.
friunt-ө ‘Freunde’
Neutrum
quit-i
‚Aussprüche’
fih-iu, -u ‚Vieh’
fëh-u
hërz-un, -on
‘Herzen’
n-St.
Wz-St.
(später –a)
man-ө ‘Männer’
naht-ө ‘Nächte’
brust-i ‘Brüste’
Nach St.Sonderegger (Sonderegger 1979: 104)
Im Gotischen ist von den konsonantischen Stämmen die Klasse der n-Stämme
(Stämme auf –an, -ôn, -ein) sehr reich entwickelt, während von sonstigen
konsonantischen Deklinationsweisen nur noch einige Reste erhalten sind. Es
gibt da vier vokalische Stämme: auf a, ô, i, u. Die Stammesmerkmale zeigen
sich in allen Klassen noch deutlich im Dat. und Akk. Plur., z.B. dagam,
dagans; - gibôm, gibôs; - gastim, gastins; - sunum, sununs (Braune/Helm
1952: 52).
Das a der germanischen a-Stämme geht auf idg. o, das ô der ô-Stämme auf
idg. â zurück (ebenda: 53, Anm.2.).
3. Die Genuskategorie im Indogermanischen
3.1. Thematische Stämme im Altslawischen
Im Altslawischen sind die ā-Stämme für Feminina kennzeichnend, vgl. æåíà,
âîäà, âðàæäà u.s.w., sowie für die Namen der Lebewesen männlichen
Geschlects wie ñëîóãà, ñòàðîñòà, âîåâîäà u.ä.
Die ŏ-Stämme waren Maskulina und Neutra, z.B. ðàáú, столъ, градъ u.s.w.;
село, иго, зрьцало u.s.w.
Der thematische Vokal ĭ kennzeichnete Maskulina und Feminina wie ãîñòü,
господь, тесть u.a. (masc.); кость, весть,двьрь u.a. (fem.).
Die indogermanischen ǔ- Stämme sind nur durch sechs Maskulina vertreten:
ñûнú, волъ, врьхъ, ледъ, медъ, полъ.
Die ū-Stämme vertritt eine geringe Gruppe von Feminina wie ápr, *крr, любr
u.a. (s. Хабургаев 1974: 166-184).
Also sehen wir im Altslawischen dieselben Themavokale wie im Gotischen.
3.2. Archaische indogermanische Substantivfomen
H.Krahe schrieb über den Bau des indogermanischen Substativs: “Ihrem Bau
nach sind die meisten Substantiva in drei Bestandteile aufzulösen: ein
wurzelhaftes, ein stammbildendes (vielfach gleichzeitig wortbildendes) und
ein flexivisches Element. In lat. duc-tu-s ist duc- die Wurzel, sie liegt auch in
allen anderen Wörtern der gleichen Sippe vor: dūc-ere, duc-s (=dux); -tu- ist
das stammbildende (und zugleich wortbildende) Element (wie in frūc-tu-s,
ex-i-tu-s usw.), während –s das Kasuszeichen (das flexivische Element)
darstellt (Krahe 1965: 8).
Als Archaismen im Anatolischen nannte Fr.Adrados unter anderem auch
solche: „Nur ausnahmsweise Opposition von Singular und Plural außerhalb
von Nom. und Akk. Entwicklung der Opposition Belebt/Unbelebt nur in
Ansätzen, völliges Fehlen einer Oppositon Maskulinum/Femininum samt den
entsprechenden Bildungsmitteln. ...Ein von der späteren Entwicklung
verschiedenes System der Personalpronomina“ (Adrados 1982: 13). Unter den
Germanisten ist die Anschauung allgemein anerkannt, dass die flektierten
Kategorien des Indoeuropäischen relativ jungen Ursprungs sind (s. Adrados
1985: 1).
Im Hethitischen ist das Geschlecht nach H.B.Rosén noch nicht entstanden
(Rosén 1985: 416). Es werden nur genus neutrum und genus commune
gegenübergestellt.
H.Hirt meinte mit Recht, dass den ältesten Geschlechtsausdruck die
Pronomina der dritten Person hatten. Das ā bei Substantiven verband er mit
*māmā und *gwenā ‚Weib’ (Hirt 1968: 29).
Verschiedene
indoeuropäische
Sprachen
liefern
also
Zeugnisse von
verschiedenen Perioden der Geschichte der Ursprache. Und die Vorgeschichte
des Urindoeuropäischen kann man bei dessen Vergleich mit den Sprachen
anderer Systeme klären, besonders mit den Sprachen, die uns mehr von der
Geschichte der Entwicklung der uralten Gesellschaft bezeugen können, z.B.
mit den Jenisseischen Sprachen.
4. Widespiegelung der Entwicklung der uralten Gesellschaft in der
Sprache
4.1. Die Genuskategorie im Ketischen
Das Ketische ist die enzige der Jenissej-Sprachen, die noch vo ca. 700
Sprechern am Jenissej beherrscht wird. Die anderen Sprachen dieser Gruppe
(Kottisch, Jugisch, Assanisch, Pumpokolisch und Arinisch) sind ausgestorben.
Da die Sprecher dieser Sprachen als Nomaden gelebt haben, gibt es keine
schriftlichen literarischen Denkmäler. Die Sprachen wurden allerdings von
verschiedenen Linguisten – allen voran Dul’son (1968), Kreinovič (1968) und
Werner (1997) – beschrieben. Dabei hat sich herausgestellt, dass es sich um
eine Sprachengruppe mit sehr archaischem Sprachbau handelt.
Die ketische Genuskategorie klassifiziert die Substantive in den obliquen
Kasus. Die Adjektive im attributiven Gebrauch sind genusindifferent. Im
prädikativen Gebrauch bekommen sie Genuskennzeichen (s. Tabelle 4, Reihe
5), ohne dass das zu referierende Substantiv im Absolutiv irgendwie das
Genus ausdrückt.
Tabelle 2. Ketische Kasusformative
Kasus
Sg. Mask.
Sg.
Pl. belebt
Pl. unbelebt
-ө
-na
-naŋa
-nata
-naŋal’
-naŋta
-bes’
-as’
-an’
-ө
-d(i)/-t
-diŋa
-dita
-diŋal’
-diŋta
-ka/-ga
-bes’
-as’
-an’
-
Fem./unbelebt
Absolutiv
Genitiv
Dativ
Benefaktiv
Ablativ
Adessiv
Lokativ
Prosekutiv
Komitativ
Karitiv
Vokativ
Instrumental
-ө
-da
-daŋa
-data
-daŋal’
-daŋta
-bes’
-as’
-an’
-ŏ
-
-ө
-d(i)/-t
-diŋa
-dita
-diŋal’
-diŋta
-ka/-ga
-bes’
-as’
-an’
-a
-
-^
-
Nach H.Werner (Werner 1994: 55)
Die Genuskategorie findet auch im Verbalsystem in der 3. Person Sg. und Pl.
ihren Ausdruck. Die Personenzeichen im Ketischen gliedern sich in zwei
Gruppen: Klasse I d-, Klasse II b- nach K.Bouda (Bouda 1957: 98).
Tabelle 3. Kennzeichen der 3. Person des ketischen Verbs (Gruppe B)
Zahl
Genus
1. Reihe 2. Reihe
Maskulinum
a
o
Singular Femininum
i
u
Nichtlebewesen
i/ө
u
Plural
Lebewesen
Nichtlebewesen
aŋ
i/ө
oŋ
u
3. Reihe
bu
bu
ө
bu
ө
4. Reihe
bu
bu
ө
bu
ө
Tabelle 4. Kennzeichen der 3. Person des ketischen Verbs (Gruppe D)
Zahl
Genus
1.
Reihe
2.Reihe 3.
Reihe
Maskulinum
di-
du:-
Femininum
da-
da:-
Nichtlebewesen
b- / ө/
da-
Lebewesen
di-
Singular
Plural
Nichtlebewesen b-/ө/
da-
bi- / ө
du:bi- / ө
5.Reihe,
Prädikativsuffixe
-a- / - -ja / - -du
osa
-i- / - -ja / - -da
usa
-b- / - -ja / - -am
msa
-aŋ-/oŋ-b- / m-
4.
Reihe
-jaŋ-/- -aŋ
oŋ-ja / - -am
sa
Es ist nicht schwer zu bemerken, dass das Genus vor allem durch die Vokale
a/o, i, u ausgedrückt wird, d.h. durch dieselben Vokale wie das
indogermanische Genus, s. oben.
Es ist auch wichtig, zu betonen, dass Maskulinum
und Femininum im
Jenissejischen weit nicht nur mit Sexus verbunden sind.
Maskulina sind z.B. Benennungen von Männern nach verschiedenen
Merkmalen und Eigenschaften (Alter, Verwandtschaftsbeziehungen, Ruf und
Stellung in der Gesellschaft, Beruf, Eigennamen, Rufnamen, Beinamen usw.):
ket. hi.γ ‘Mann’; o.p ‚Vater’; ba:t ‚Greis, alter Mann’; bis’ep ‚Bruder’.
Benennungen von großen und wichtigen Tieren und Vögeln wie qoj ‘Bär’; qaj
‚Elch’; s’εl’ ‚Rentier; Hirsch’; εr’ ‚Zobel’; ket. di? ‘Adler’ usw.
Benennungen von Fischen: ket. bә.tn eine Art sibirischer Weißlachse; qur’
‚Hecht’; ta.kt ‚Lachs’; ket. i.s’ ‚Fisch’ usw.
Benennungen von Reptilien und Würmern, Insekten; Bäumen; Himmelskörpern; Naturerscheinungen; Göttern und Geistern; Kultgegenständen,
Arbeitswerkzeugen, und Geräten des Hausbedarfs, der Jagd und des
Fischfangs.
Feminina sind Benennungen von Frauen nach verschiedenen Merkmalen und
manchen Eigenschaften (Alter, Verwandtschaftsbeziehungen, Beruf, Ruf,
Bedeutung und Stellung in der Gesellschaft usw.): ket. qi.m ‚Frau’; ba:m
‚Greisin, alte Frau’; am ‚Mutter’; hu?n’ ‚Tochter’; bis’ep ‚Schwester’.
Benennungen von kleinen und unwichtigen Tieren und Vögeln, z.B. ket. bε?s’
‚Hase’; ut ‚Maus’; du.m ‚Vöglein, Sperling’ u.ä.
Benennungen von Reptilien, Lurchen und Fischen wie: ket. ^?l’ ‚Frosch’;
ke.s’ ‚Quappe’; jug. is ‘Fisch’.
Benennungen von Insekten sind meistens Komposita wie: ket. tә.ŋhauŋs’
‚Haarwurm’ oder Entlehnungen aus dem Russischen wie: ket. lo?p (aus dem
russ. klop) ‚Wanze’. Das zeugt von deren späteren Herkunft.
Benennungen Himmelskörpern wie: ket. i. ‚Sonne’; qo? ‚Stern’.
Namen von Göttern, Geistern, und mytologischen Schamaninnen wie: ket.
Hosäedam ‘böse Göttin des Nordens’; Holaj ‚Herrscherin des Waldes’;
Tomam ‚Göttin des Südens’; Dotam ‚Herrscherin der Berge’; Iml’a
‚weiblicher Geist in der unterirdischen Welt’; s’εnam ‚Schamanin’; baŋis’
‚Kurpfuscherin’ u.a.
Die Namen der Flüsse werden als Nomina des weiblichen Geschlechts
gebraucht (s. Werner 1994: 30).
Benennungen von Körperteilen: ket. hu.’Herz’; e.j ‚Zunge’; ty.l’ ‚Nabel’;
ma?m ‚weibliche Brust’; t^?q ‚Finger’: q^l’ ‚Daumen’; hu:t ‚Schwanz’ (der
Tiere).
Das Wort für ‘Feuer’ (ket. bo?k) wird wie ein Femininum oder wie ein
unbelebtes Nomen gebraucht. H.Werner vermutet mit Recht, dass im ersten
Fall der Geist des Feuers gemeint ist, der als ein weibliches Wesen empfunden
wird. Am Čuval, dem nationalen Herd, wurde bei den Keten gewöhnlich ein
weiblicher Kopf eingeritzt (ebenda: 31). Wenn das Essen recht gut schmeckte,
warf man davon ein Stückchen ins Feuer und sagte: - Qima, kyt tur’ä!
‘Großmutter, das ist Fett!’ (Крейнович 1968: 191-192).
5. Schluss
5.1. Die Genuskategorie in der Ursprache
Semantische Begründung der Genuskategorie ist nur vom Standpunkt eines
Urmenschen verstanden werden, wo alle Gegenstände und Erscheinungen der
Umwelt polarisiert worden waren, worüber wir noch Nachweise in den
Jenissejischen Sprachen vorfinden können, und zwar:
1. Im übernatürlichen Sinne: böse und gute Götter und Geister, männlich
und weiblich, aktiv und inaktiv.
2. Kosmische Objekte: günstig und ungünstig, männlich und weiblich1,
einzeln und mehrere.
3. Media: gut und böse, männlich und weiblich, einzeln und mehrere, groß
und klein, bekannt und wenig bekannt.
4. Unter Menschen und Tieren: Freund und Feind, gefährlich und
ungefährlich, geachtet und verschmäht, groß und klein, männlich und
weiblich, einzeln und mehrere, anwesend und abwesend, aktiv und
inaktiv, teilnehmend und nicht teilnehmend, nützlich und schädlich u.ä.
5. In der Pflanzenwelt ähnlich wie im Punkt 4.
6. Nichtlebewesen sind neutral und werden nicht polarisiert.
1
Der sprachsсhöpfende Naturmensch; der noch nicht im Stande war, den Unterschied zwischen sich und der
Außenwelt zu erkennen, stellte sie sich als solche Wesen wie er selbst vor, er personifizierte alles; was ihn
umgab, indem er das Geschlecht der Wesen zum Geschlecht der Wörter machte, nach W.Humboldt, zitiert
nach F. Miklosich (Miklosich 1883: 18).
7. Zeit und Raum: nah und fern, hoch und niedrig, hier und dort, sichtbar
und unsichtbar, jetzt und damals, Tag und Nacht, Sommer und
Nichtsommer usw.
Die Daten der Jenissejischen und der nostratischen Sprachen ergaben uns
für
die Zeit der Klassenstufe in der Enwicklung der Sprache nach
G.Klimow (Климов 1977: 291), dass alles, was den Menschen umgab, mit
Hilfe verschiedener Konsonanten in Verbindung mit drei DeiktikaVokalen: a/o, i/e, u klassifiziert worden war (s. Поленова 2002: 24-25).
Da der Urmensch die ganze
Umwelt antropozentrisch empfand, so
bedeutete zuerst der Laut a den Sprechenden, ohne das natürliche
Geschlecht zu unterscheiden, vgl. Genus Commune bei H. Eichner
(Eichner 1985: 168). Später, in der Zeit des Matriarchats, wies dieser Laut
auf die Frau hin, während der Mann das Kennzeichen o bekam, vgl. ket. ad
‚ich’, ab ‚mein’; am ‘Mutter’, op ‚Vater’; Vokativ: ama! ‚Mutter!’, obo!
‚Vater!’. Das Gegenüber des Sprechenden bezeichnete man mit dem Laut
u, vgl. ket. u ‘du’, uk ‚dein’, bu ‚er, sie’.
Mit der Zeit des Patriarchats tritt in der Sprache die Periode der aktiven
Typologie ein. Der Laut a bezeichnet jetzt einen Mann und alles Wichtige,
Bedeutende, Große, Aktive, Entfernte, während der Laut i alles Kleine,
Unwichtige, Unbedeutende, sich in der Nähe Befindende und dabei auch
den Bereich einer Frau kennzeichnet, s. ketische Kasusendungen, vgl. auch
die ketischen Demonstrativa: ki ‘hier’, tu ‚dort (sichtbar)’, qa ‚dort
(unsichtbar). Das heutige Ketisch lässt darauf schließen, dass die
Hauptdifferenz nicht zwischen männlich und weiblich besteht, sondern
zwischen sozial bedeutend / aktiv und sozial unbedeutend / inaktiv. Das ist
die Erklärung für die zwei Gruppen der Personalaffixe B (organisch) und D
(veräußert) (s. Поленова
2002: 172) und für zwei Kasusgruppen:
Absolutiv und Genitiv.
Dass das Indogermanische in seiner Entwicklung denselben Weg von der
klassifizierenden Sprache über die Sprache der aktiven Typologie zu der
nominativen durchgemacht habe, kann man schon für bewiesen halten (s.
Гамкрелидзе, Иванов 1984: 267-320).
Die für das Jenissejische angeführten Vokale fungierten auch in den alten
indogermanischen Sprachen als Themavokale im nominalen und im
verbalen System, als Bestandteil der mehrdeutigen deiktischen Partikeln
wie z.B. sa, so2 (vgl, gotische Demonstrativpronoimina), *si/se, *su und
*as,*os, *is/*es, us; ma, *mo, *mi, *mu und am, om, *im, um; *na, *no,
nu, *ni und an, on, un, in (vgl. ahd. Kasusendungen – Tabelle 1, und die
Kasusendungen im Gotischen), auch ähnliche Verbindungen mit anderen
klassifizierenden Konsonanten wie z.B. ti/te, tu, ta, to und it/et, ut, at, ot3.
Wenn wir die Partikeln des Indogermanischen bei Hirt und Brugmann mit
denen in den jenissejischen Sprachen vergleichen, so offenbart es sich, dass
die meisten auch materiell zusammenfallen.
Die Partikeln spielten in den Sprachen sowohl die wort-, als auch die
formbildende Rolle, in den jenissejischen Sprachen kann man das noch
deutlich verfolgen.
2
Die Flexion des deutschen Demonstrativums der, das sich auch zum Artikel entwickelt hat, setzt sich
ursprünglich aus zwei verschiedenen Stämmen zusammen, idg. so, Fem. sā und to, Fem. tā (s. Paul
1917/1968: 172).
3
Die Formantien ohne Sternchen kann man in den indogermanischen Sprachen finden entweder als
Demonstrativa, vgl russ. ty (Personalpronomen der 2. P.), te (Demonstrativum Pl.), tu (Demonstrativum
Fem. Akk.), ta (Demonstrativum Fem. Nom.), to (Demonstrativum Neutrum Akk., Nom.) oder als Kasusbzw. Personalendungen., oder als Partikeln (s. Carruba 1985: 79-94).
Wir teilen die Meinung von A.Desnizkaja, dass die grammatischen Formen
als Ergebnis der Agglutination von ursprünglichen selbständigen Stämmen
entstanden sind (Десницкая 1955: 38).
Im Urindogermanischen kann man also nur von der Kategorie der Klasse
sprechen, deren Kennzeichen ein Konsonant war. Der Klassen waren viele.
Die Formantien *-s für Lebewesen und –m für Nichtlebewesen sind
Überbleibsel von den mehreren Klassenzeichen in jeder Gruppe.
Die deutsche nominale Genuskategorie geht also auf die nominale
Klassenkategorie zurück (vgl. Маньков 2004: 81).
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