DIE VIER ENDEN DER ERDE« - Münchner Rundfunkorchester

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Paradisi gloria 2015/2016
4. Konzert
In Zusammenarbeit mit der Erzdiözese München und Freising
Freitag, 10. Juni 2016
Herz-Jesu-Kirche
Einführungsgespräch: 19.00–19.30 Uhr
Konzert: 20.00 – ca. 21.30 Uhr
Einführungsgespräch mit Paul Daniel
Moderation: Doris Sennefelder
»DIE VIER ENDEN DER ERDE«
Lina Habicht REZITATION
Duncan Rock BARITON
Florian Adam ENGLISCHHORN
Münchner Rundfunkorchester
Paul Daniel LEITUNG
In den Konzerten der Reihe Paradisi gloria übernehmen im Rahmen
einer Kooperation mit dem Bayerischen Rundfunk Studierende der
Otto-Falckenberg-Schule München die Textrezitation.
Übertragung des Konzertmitschnitts am Sonntag, 19. Juni 2016, um 19.05 Uhr
auf BR-KLASSIK. Das Konzert kann anschließend unter br-klassik.de und unter
rundfunkorchester.de sieben Tage nachgehört werden.
Programm
JAMES MACMILLAN (* 1959)
»The World’s Ransoming«
für Englischhorn und Orchester
Florian Adam ENGLISCHHORN
»Das Abendmahl« von Rainer Maria Rilke
Lina Habicht REZITATION
PĒTERIS VASKS (* 1946)
»Viatore«
für Streichorchester
Andante cantabile
»Wer bist du, süßes Licht« von Edith Stein
Lina Habicht REZITATION
RALPH VAUGHAN WILLIAMS (1872−1958)
»Five Mystical Songs«
für Bariton und Orchester
nach Gedichten von George Herbert
Rise, heart (Easter)
I got me flowers
Love bade me welcome
The call
Antiphon
Duncan Rock BARITON
»Pfingsten« von George Herbert
Lina Habicht REZITATION
RALPH VAUGHAN WILLIAMS
Präludium und Fuge c-Moll
für Orchester mit Orgel
Prelude. Allegro moderato (con fuoco)
Fugue. Allegro moderato
Annika Forkert
Vorbereitung auf das Unvorbereitbare
Zu James MacMillans The World’s Ransoming
Entstehung des Werks:
1995/1996 im Auftrag des London Symphony Orchestra; Christine Pendrill zugeeignet
Uraufführung:
11. Juli 1996 in London mit dem London Symphony Orchestra und Christine Pendrill
(Englischhorn) unter der Leitung von Kent Nagano
Lebensdaten des Komponisten:
• 16. Juli 1959 in Kilwinning, North Ayrshire (Schottland)
The World’s Ransoming (Der Freikauf der Welt) entstand fünf Jahre nach dem berauschenden Erfolg von James MacMillans
ergreifendem Orchesterwerk The Confession of Isobel Gowdie bei den BBC Proms 1990 und hat einige Gemeinsamkeiten mit seinem
Vorgänger, den das Münchner Rundfunkorchester vor fast genau drei Jahren ebenfalls in der Reihe Paradisi gloria aufführte. Beide
sind einsätzige Orchesterwerke mit programmatischem Inhalt, die mit Zitaten von älterer geistlicher Musik die Liturgie der
christlichen Kirchen thematisieren. Mit The World’s Ransoming schlug MacMillan jedoch zumindest formal ein neues Kapitel auf,
denn das Werk ist der erste Teil eines musikalischen Triptychons über das christliche Triduum sacrum von Gründonnerstag,
Karfreitag und Osternacht.
The World’s Ransoming leitet dieses imposante Triptychon ähnlich einer Ouvertüre ein. Die beiden folgenden Teile, ein Cellokonzert
für Mstislaw Rostropowitsch (1996) und die Symphonie Vigil (1997), sind hingegen Werke von größeren Ausmaßen. Die drei Sätze
des Cellokonzerts, The Mockery, The Reproaches und Dearest Wood and Dearest Iron (Das Gespött, Der Tadel und Liebstes Holz
und liebstes Eisen) sind an das Geschehen am Karfreitag angelehnt. Sie erinnern an die Kreuzigung Jesu mit dras-tischen Effekten
vor allem im Soloinstrument und im Schlagwerk, bevor sich das Werk im Finale in einer immer höher sich aufschraubenden
Cellomelodie verliert. Die Symphonie ist ebenfalls dreisätzig (Light, Tuba insonet salutaris, Water − Licht, Es erschallt die Trompete
des Heils, Wasser) und erforscht die Tiefen der Symbolik von Feuer, Wasser und Klang in der Liturgie der Osternacht. Auch hier
unterbrechen zum Teil dramatische Gesten den Fluss der Musik und verdeutlichen so die Zweifel, aber auch die Hoffnung der
durchwachten Nacht.
The World’s Ransoming hingegen thematisiert den vorausgehenden Donnerstag, wie schon sein Titel, eine Wendung aus dem Thomas
von Aquin zugeschriebenen lateinischen Gründonnerstagshymnus Pange lingua (Besinge, Zunge), verdeutlicht. Das Stück verdankt
seine Struktur gänzlich dem Zusammenspiel von Orchester und Englischhorn. Dieser enge Verwandte der Oboe agiert durch das
ganze Stück hindurch praktisch solistisch und wird damit laut MacMillan zum Träger des Rituals dieser Gründonnerstagsklage, die
den Stil von The Confession of Isobel Gowdie fortführt. So beschrieb der Komponist selbst The World’s Ransoming als einen Prozess,
der sich von anfänglicher Ruhe und delikater Textur hin zu gewaltsamen und dramatischen Konflikten der verschiedenen Motive im
Orchester entwickelt, ohne dass diese Kämpfe im klassischen Sinne aufgelöst werden könnten oder auch nur wollten. Tatsächlich
stellt sich der von MacMillan beschriebene anfängliche Ruhezustand denn auch erst nach einigen tumultreichen ersten Takten ein.
Zunächst schält sich dann das Englischhorn aus dem Orchester heraus und beginnt die meditative Einleitung des Stücks mit einer
klagenden Geste und weich fließenden verzierten Figuren. Diese Arabesken des Soloinstruments definieren eine relativ freie
Harmonik für das durchkomponierte Werk. Das Orchester lässt sich bald von diesen mal östlich, mal westlich klingenden Arabesken
und der harmonischen Freiheit des Englischhorns anstecken und bildet so wechselnde Oppositionsgruppen. Vor allem die Blechbläser
etablieren sich zur Mitte des Stücks als Störfaktoren neben dem Englischhorn und stacheln das Kollektiv des Orchesters gegen sein
einzelnes Mitglied auf, bis dieses unterzugehen droht.
Die Eckpunkte des Werks sind jedoch seine Trio- und Soloepisoden. Das Englischhorn wird dabei von wechselnden Paaren begleitet:
zwei Fagotte, zwei Celli, zwei Hörner, zwei Schlagzeuger und schließlich zwei Piccoloflöten sowie kurzzeitig zwei Violinen.
Zusammen mögen diese zwölf Instrumente die beim letzten Abendmahl anwesenden Jünger Jesu symbolisieren. Am eindringlichsten
aber ist die letzte Solopassage des Englischhorns, in die sich leise trauernd Streicher und Becken mischen. Gegen Ende jedoch
beginnen Einwürfe des »großen Kubus« (ein würfelförmiger, mit Hämmern zu spielender Schlagkörper) immer wieder mit roher
Gewalt diesen beruhigenden Fluss zu unterbrechen; einmal vermeint man im Schlaginstrument geradezu das Rütteln von Pilatus’
Legionären an der Tür zu hören. Schnell stellt sich heraus, dass die Arabesken des Englischhorns sich vor dieser archaischen
rhythmischen Geste beugen müssen. Das Kontrafagott resigniert als letztes Melodieinstrument auf demselben tiefen Ton, mit dem es
das Stück begonnen hatte. Ohne eine klassische Abschlusskadenz oder auch nur eine bestimmbare Tonhöhe bereiten die Schläge des
Kubus, die an den Gebrauch der Holzklappern im Gründonnerstags- und Karfreitagsgottesdienst erinnern mögen, The World’s
Ransoming ein brachiales Ende. Damit hebt sich in MacMillans Liturgie der Vorhang direkt auf den Beginn des Cellokonzerts, das
mit einem ganz ähnlichen Schlag seine Klage zum Karfreitag beginnt.
Ich zitiere …
Musikalische Zitate sind seit jeher ein wichtiger Bestandteil der westlichen Kunstmusik und in all ihren Gattungen zu Hause.
Während es ein Fehler wäre anzunehmen, dass erst das 20. Jahrhundert das volle Potenzial von musikalischen Zitaten ausschöpft, hat
doch die Explosion der Verfügbarkeit von Musik in diesem Zeitraum – sei es durch günstige Notenausgaben, Tonträger oder das
Radio – dazu geführt, dass solche Zitate einer größeren Hörerschicht zugänglich sind. Dies nutzen moderne Komponisten gerne zu
einem intensiveren Dialog mit ihren Hörern. MacMillan jedoch baut auf einen tieferen, prämodernen Assoziationsmechanismus. The
World’s Ransoming ist ebenso wie die zwei weiteren Teile von MacMillans »Triduum sacrum« durchzogen von Zitaten geistlicher
Musik des Mittelalters und des Barock, die den meisten Kirchgängern nicht aus dem Radio, sondern aus dem Gottesdienst bekannt
sein dürften. Die immer wiederkehrende Tonfolge h-cis-e-dis im Englischhorn lässt sich auf eine melodische Wendung aus Pange
lingua reduzieren, dutzendfach zitiert in Werken von Komponisten wie Josquin Desprez, Bach oder Mozart. Dieser alte liturgische
Gesang und die Antiphon Ubi caritas (Wo die Güte) sind jeweils für die Prozession des Allerheiligsten und (seit dem 20. Jahrhundert)
für die Gabenbereitung in der Messe des letzten Abendmahls am Gründonnerstag vorgesehen. Zusätzlich zu diesen Hymnen sticht vor
allem das kurze Zitat des Bach-Chorals Ach wie flüchtig, ach wie nichtig aus der gleichnamigen Kantate (BWV 26) in den Hörnern und
Trompeten hervor. Obwohl dieser nicht speziell für Ostern geschrieben wurde, fungiert er als ein wichtiger Kommentar zu
MacMillans Gesamtkonzept: Indem er auf die tragische Kürze des menschlichen Daseins hinweist, thematisiert er in dem als
Ouvertüre gedachten Stück eindringlich die Leiden des Menschensohnes, des Erlösers der Welt: »the world’s ransom«.
A. F.
Wolfgang Stähr
Der Minimalismus der Ewigkeit
Zu Viatore von Pēteris Vasks
Entstehung des Werks:
2001 im Auftrag des Konzert- und Kongresszentrums De Doelen und der Europäischen
Kulturhauptstadt Rotterdam
Widmung:
»Hommage à Arvo Pärt«
Uraufführung:
9. Dezember 2001 im Großen Saal des Konzert- und Kongresszentrums De Doelen in Rotterdam
mit I fiamminghi unter der Leitung von Rudolf Werthen
Lebensdaten des Komponisten:
• 16. April 1946 in Aizpute (Lettland)
»Ich auf der Erd’, am Himmel du, wir wandern beide rüstig zu«, singt der »Wanderer an den Mond« in Franz Schuberts
gleichnamigem Lied: »Ich ernst und trüb, du mild und rein, was mag der Unterschied wohl sein?« Auch das Streicherstück Viatore,
das Pēteris Vasks 2001 komponierte, trägt den Wanderer im italienischen Titel – und übersetzt die Einsamkeit der fragilen
menschlichen Existenz unter dem Ewigkeitsbogen des Firmaments in eine doppelte, zweiteilige, zwiespältige Musik, hier ernst und
trüb, dort mild und rein. Viatore, so erklärt Pēteris Vasks, »erzählt die Geschichte eines Wanderers, der ankommt in dieser Welt,
aufwächst in ihr, sich entwickelt, sich verliebt, seinen Weg geht und dann wieder verschwindet. Seine Reise wird illuminiert vom
Sternenglanz des unendlichen Universums. Die Komposition besteht aus einem Satz, aber sie wechselt zwischen zwei Klangbildern.
Das Thema des Reisenden ist dem Wachstum und der Entwicklung ausgesetzt. Das Thema der Ewigkeit verändert sich nicht und
bleibt stets im Pianissimo.«
Den zwei Themen ist nicht allein ein je eigenes »Klangbild« zugeordnet – und »geordnet«, klar, einleuchtend, einfach und zugänglich
erscheint diese Musik ohnehin vom ersten bis zum letzten Takt –, sondern überdies eine eigene Zeit. Die irdische Welt des Wanderers
oder Reisenden ist passenderweise mit der Vortragsbezeichnung Andante cantabile überschrieben: Das menschliche Maß bestimmt
das Tempo, die »gehende« Bewegung, und den Ausdruck, den gesanglichen Ton. Schlichter, elementarer, aber auch realer lässt sich
der Lebenslauf nicht in Noten darstellen: das Leben des Menschen, das »immer weitergeht« und das sich zugleich mitteilen,
ausdrücken, entäußern muss, wenn es nicht in Sprachlosigkeit und Isolation verkümmern soll.
Das »Thema der Ewigkeit« hingegen, im dreimal rascheren Vivo-Zeitmaß gehalten, vergegenwärtigt Vasks mit sphärischen
Flageolett-Tönen und leise, leicht, schwerelos durch die Stimmen des reinen Streicherensembles tänzelnden Vierteln, die sich
synästhetisch oder lautmalerisch auch als Sternenfunkeln hören ließen. Diese kosmischen Zwischenspiele klingen unendlich schön
und zugleich unsäglich fern, anziehend und rätselhaft, auf eine unfassbare Art allwissend, allgegenwärtig, unwandelbar, unberührbar
– jenseits der menschlichen, der persönlichen Sphäre. Man könnte die Objektivität dieser Musik annäherungsweise in ein Paradox
fassen: Sie scheint trostlos tröstlich, wie die Präsenz des abwesenden Gottes, ein Sehnsuchtsraum, kein Zufluchtsort. »Der Himmel,
endlos ausgespannt, ist dein geliebtes Heimatland«, singt der Wanderer an den Mond: »Doch bin ich nirgend, ach, zu Haus.«
Das tönende Universum, die wiederkehrenden Vivo-Takte, erinnern in ihrer ritualisierten Strenge, ihrer zahlen- und zeichenhaften
Organisation an die spirituelle Askese in der Musik des Esten Arvo Pärt – und ihm hat Vasks seine Partitur gewidmet: »Arvo Pärt, der
mein Leitbild war für viele Jahrzehnte«. Andererseits ruft dieses »Thema« (trotz aller kulturellen Differenz der Voraussetzungen)
Gedanken an die amerikanische Minimal Music herauf, die manchmal Repetitive Music oder Pattern Music genannt wird.
Minimalismus zeichnet auch Vasks »Ewigkeit« aus: in der radikalen Reduktion, der Wiederholung kürzester und schlichtester
Formeln, Motive und Rhythmen, im Prinzip der endlosen Reihung, der Additionsrhythmik und Mosaikform, der zeitlichen Dehnung
ins Grenzenlose. Und schließlich steht Vasks’ Viatore in einer musikhistorischen Beziehung zu einem Schlüsselwerk der Moderne
(nicht als Vorbild, wohl aber als Vorgänger): The Unanswered Question des Amerikaners Charles Ives, der hundert Jahre vor Vasks
bereits Zeitschichten und Klangbilder in Konstellationen setzte, um metaphysische Daseinsformen gegeneinander abzugrenzen – die
»ewige Frage« in einem Trompetensolo, die rast- und ratlos nach der Antwort jagenden Menschen in hektischen Holzbläserpartien,
»das Schweigen der Druiden« in statischen Streicherklängen.
»Das Mitleiden mit den Schmerzen der Welt empfinde ich als Ausgangspunkt meines Schaffens«, bekennt Pēteris Vasks, Sohn eines
Pfarrers aus der alten kurländischen Hansestadt Aizpute. Aber der lettische Komponist, der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag
feierte, schreibt gleichwohl keine Predigt in Tönen. Die Antwort auf die »ewige Frage« bleibt auch in seiner Musik offen. Die
Ankunft des Menschen in der Welt und sein Verschwinden symbolisiert Vasks am Beginn und zum Schluss von Viatore mit einem
Glissando, das aus der Tiefe aufsteigt und sich verliert – wohin, worin? Im Nichts, in der Stille, im Himmel, endlos ausgespannt? Oder
in der Ewigkeit, die den heimatlosen Wanderer zurückholt an den Ursprung seiner Reise, ans Ende seiner Schmerzen? Indem sie auf
jede Gewissheit verzichtet, schreibt diese Musik ihr eigenes Gleichnis. Sie lebt in der Vergänglichkeit, wie der Wanderer, sie geht und
vergeht. Und zielt doch ins Unendliche, Unvorstellbare, wie der letzte Ton, der nie verklingt.
»Wo sich unglückliche Menschen
aufhalten«
Auch wenn so oft das Gegenteil behauptet (oder gar gefordert) wird: Das 20. Jahrhundert mit seinen Kriegen und Diktaturen hat die
Klassiker nicht Lügen gestraft. Oder sollten etwa die Tyrannen, Kerkermeister und Zensoren das letzte Wort behalten? Gerade die
finstersten Epochen wären unerträglich ohne die Aussicht auf ein Gegenlicht. Umgekehrt scheint der Komfort der westlichen
Wohlstandsgesellschaften paradoxerweise den Reiz der Schwarzseherei und die Lust am Untergang zu steigern. »Die westliche
Kultur geht ein bisschen in Richtung Selbstmord, das ist negativ. Sie denkt: Schönheit, Harmonie ist etwas Altmodisches. Aber das
ist ein absurder, gefährlicher Weg«, weiß der 1946 geborene lettische Komponist Pēteris Vasks und bekennt in Erinnerung an die
Jahrzehnte der sowjetischen Besatzung und aggressiven Russifizierung seiner Heimat: »In unserer Musik und Kunst war das
Negative unmöglich. Wir haben gesagt: Ja, wir leben schlecht durch diese Okkupation, aber wir müssen Kraft finden, und wir werden das
überleben.« Nicht anders als bei Bach oder bei Mozart ist es auch in Vasks’ Musik der Gesang, von herzzerreißender Schönheit, der alle
Konfrontationen und Katastrophen überlebt. Und die Form, sie wird zwar attackiert in seinen Werken, zermürbt und aufgelöst, doch niemals aufgegeben. Ein Versprechen an die Zukunft: ein Ruf aus der Vergangenheit? Die Musik als Trösterin, als »Licht im
Dunkeln«, von dieser alten Idee will der Komponist nicht lassen. »Ich habe immer davon geträumt, dass meine Musik – tröstend und
fragend – dort zu hören wäre, wo sich unglückliche Menschen aufhalten: in Krankenhäusern und Gefängnissen, in überfüllten
Bahnen und Bussen.« Ob dieser Traum nur ein Anachronismus ist, naiv und weltfremd? Oder nicht doch zeitlos und wahr und in jedem
Fall: zutiefst menschlich.
W. St.
Anna Vogt
Im Dialog mit der Vergangenheit
Zu Ralph Vaughan Williams’ Five Mystical Songs sowie Präludium und Fuge
Five Mystical Songs
Entstehung des Werks:
1910/1911
Uraufführung:
14. September 1911 beim Three Choirs Festival in Worcester unter der Leitung
des Komponisten
Präludium und Fuge
Entstehung des Werks:
1920/1921
Uraufführung:
unbekannt (erste Veröffentlichung 1930)
Lebensdaten des Komponisten:
* 12. Oktober 1872 in Down Ampney (England)
† 26. August 1958 in London
In England herrschte nach Henry Purcell lange Zeit eine kompositorische Flaute, zumindest was einheimische Komponisten anging.
Denn mit Georg Friedrich Händel feierte ab 1711 ein Deutscher die größten Erfolge auf der Insel. Erst an der Wende zum 20.
Jahrhundert erlebte England mit Edward Elgar, Gustav Holst und Ralph Vaughan Williams eine fulminante musikalische Renaissance
und fand zu einer eigenen, opulenten Klangsprache, die auch international beachtet wurde. Vaughan Williams’ Five Mystical Songs
entstanden in den Jahren 1910/1911 für das traditionsreiche Three Choirs Festival, nachdem dort seine Orchester-Fantasie Theme by
Thomas Tallis begeistert aufgenommen worden war. Der Komponist selbst dirigierte die Uraufführung der fünf Lieder für Bariton,
Chor (ad libitum)und Orchester am 14. September 1911 beim Festival in Worcester.
Die Five Mystical Songs basieren auf geistlichen Gedichten aus George Herberts Sammlung The Temple. Sacred Poems, die der
anglikanische Priester und Poet in seinem Todesjahr 1633 veröffentlich hatte. Der Titel des Zyklus deutet schon an, dass Vaughan
Williams an Herberts Gedichten vor allem die mystische Seite interessierte: So wollte er mit seinen Vertonungen auch eine
individuelle Glaubens- oder Spiritualitätserfahrung ermöglichen (zu Vaughan Williams’ ambivalentem Verhältnis zur Religion siehe S.
15). Zeit seines Lebens war der Komponist fasziniert von alten englischen Volksliedern und weit zurückliegenden Epochen wie der
Renaissance, und beides floss auch hörbar in seine Werke ein. In seinen »mystischen Liedern« setzte er auf Einfachheit und
Erhabenheit und rückte sie immer wieder mit ungewöhnlichen Ganzton-Skalen, die an alte Kirchentonarten erinnern, in die Nähe zu
liturgischem Gesang. Zugleich verband er diese Erkundung der Vergangenheit mit einem spätromantischen Orchesterklang und einer
flexibel erweiterten Tonalität.
Während die ersten vier der Mystical Songs sich eher introvertiert als persönliche Meditationen des solistischen Baritons entspinnen,
ist die abschließende Antiphon eine Hymne, die entweder im Wechsel von Chor und Bariton oder nur vom Solisten gesungen werden
kann. Im ersten Lied, einem Lobgesang auf den Herrn, dient die Laute als Sinnbild für die freudige Glaubensgewissheit des lyrischen
Ichs an Ostern. In I got me flowers und Love bade me welcome folgt der Solist dem einfachen Metrum der Gedichte, wobei gegen
Ende des dritten Lieds die Choralmelodie zu O sacrum convivium, dem Geheimnis der Eucharistie, hinzutritt und so für eine mystische
Grundierung dieser kleinen musikalischen Szene sorgt. In beiden Liedern werden zarte, impressionistische Töne angeschlagen,
unterstützt bisweilen durch Harfenklänge und ruhig fließende oder wellenartige Begleitmuster. Auch im vierten Lied, The call, wird
diese ruhige Innenschau beibehalten, die durch eine dunkel gefärbte, zwischen Dur und Moll changierende Tonalität besonderen
Ernst erhält. In der Antiphon schließlich, mit der Vaughan Williams in der Besetzungsvariante mit Chor auf den traditionellen
Wechselgesang im Gottesdienst Bezug nahm, tritt in der Fassung für Bariton solo der Sänger nur umso prominenter hervor. Mit
aufschäumenden Orchester-Wogen und prunkvollen Blechbläser-Klängen bildet dieser Satz einen triumphalen Abschluss des
Liederzyklus und sorgt für musikalische Überwältigungsmomente, in denen die Bedeutung des Textes sinnlich verstärkt wird.
Etwa zehn Jahre nach den Liedern komponierte Vaughan Williams 1920/1921 Präludium und Fuge in c-Moll, die allerdings erst
1930 veröffentlicht wurden, sowohl als Orgelstück wie auch in der Fassung für Orchester mit Orgel. Dass Vaughan Williams als
professioneller Organist hier die Register und die Klangpracht der »Königin der Instrumente« mitgedacht hat, hört man auch der
Orches-terfassung an, denn die Stücke folgen einer genau kalkulierten, abschnittsweise angelegten Architektonik des Klangs. Schon
der Titel Präludium und Fuge verweist daneben auch auf den berühmten Meister dieses Genres, Johann Sebastian Bach. Von seinen
modellhaften Kompositionen ließ sich Vaughan Williams wohl zur Ritornellform seines Präludiums inspirieren. So wird hier anfangs
ein klangsattes Thema präsentiert, mit ungewöhnlichen Betonungen auf der jeweils zweiten Zählzeit und einer absteigenden
melodischen Linie. Es erklingt anschließend im Wechsel mit freieren Abschnitten, die sich meist aus kleinen Läufen und
Umspielungen zusammensetzen – in einem prachtvollen Zyklus von Konstanz und Variation.
Die folgende Fuge in ABA-Form mit ihrem sanften, von den Klarinetten vorgestellten ersten Thema bildet dazu einen überraschenden
atmosphärischen Kontrast. Dieses Fugenthema mit seinem charakteristischen Triolen-motiv wird schon bald durch die Stimmen
gereicht und kontrapunktisch nach den Regeln der barocken Fugenkunst verarbeitet, bevor im B-Teil ein weiteres Thema eingeführt
wird. Neben aller barocken Stenge verortet sich aber auch diese Komposition mit ihrer immer wieder aufblitzenden BlechbläserUrkraft, vor allem in der Schlusssteigerung, deutlich an der Schwelle zwischen Romantik und Moderne.
So spiegeln sowohl die Five Mystical Songs als auch Präludium und Fuge eindrucksvoll die unterschiedlichen Einflüsse wider, die
Vaughan Williams’ Œuvre prägen: Vor allem in den Harfen- und Orgelklängen und den sanft wogenden Orchesterpassagen klingt die
Welt der französischen Impressionisten an; immerhin hatte Vaughan Williams 1908 drei Monate bei Ravel in Paris studiert. Daneben
hört man aber stets auch die tiefe Verwurzelung dieser Kompositionen in den alten (kirchen)musikalischen Traditionen sowohl
Englands als auch des Festlandes, die Vaughan Williams mit einer opulenten, spätromantischen Ausdrucks-palette verband: zu einer
soghaften Mischung aus mystischer Verinnerlichung und klangprächtigen Effekten.
Auf Distanz
Ralph Vaughan Williams als Komponist geistlicher
Werke
Die meisten Komponisten von geistlichen Werken verstehen ihre Schöpfungen auch als Ausdruck ihres Glaubens, als
»Bekenntnismusik«, seien es Messen, Oratorien oder Kirchengesänge. Warum auch sollte man sich sonst diesem Genre widmen? Ralph
Vaughan Williams hinterließ ein reiches Œuvre auf diesem Gebiet, doch seine Haltung zur Religion gibt bis heute Rätsel auf. Er
wurde als Sohn eines Geistlichen geboren, war später Herausgeber des neuen Gesangsbuchs English Hymnal und arbeitete einige
Jahre als Kirchenorganist in London. Zu seinen sakralen Werken zählen eine Messe in g-Moll, ein Te Deum, eine große PsalmVertonung und ein Magnificat, somit einige Vertreter der traditionsreichsten geistlichen Gattungen.
Seine religiöse Haltung aber beschrieb Vaughan Williams immer wieder als »agnostisch«, was zwar nicht gleichbedeutend mit
atheistisch sein muss, eine gewisse Distanz zur Religion aber auch nicht verleugnen kann. Agnostiker halten schließlich die Existenz
einer höheren Macht wie Gott für nicht beweisbar. Deutlicher noch wurde Vaughan Williams in der überlieferten Aussage: »There is
no reason why an atheist could not write a good Mass« (»Es gibt keinen Grund, warum ein Atheist nicht eine gute Messe schreiben
könnte«). Vielleicht sah Vaughan Williams zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Zeit gekommen, die jahrhundertealte enge Verbindung
von Glauben und Kompositionspraxis in seinem eigenen Schaffen zu lockern. So nutzte er die spirituelle und mystische Kraft
altehrwürdiger Texte und geistlicher Musikgattungen für seine Kompositionen, ohne sich mit seinem persönlichen Glauben allzu sehr
einzubringen: ein Bekenntnis zur Bekenntnislosigkeit.
A. V.
Biografien
LINA HABICHT
Lina Habicht, geboren 1994 in Berlin, stand bereits im Alter von 13 Jahren erstmals auf der Bühne. Seitdem war sie Mitglied in
diversen Spielclubs und Theatergruppen, etwa am Landestheater Tübingen, und arbeitete als Regieassistentin bei mehreren
Produktionen. Sie gewann u. a. 2011 und 2012 einige Poetry Slams in Baden-Württemberg. Als Sprecherin war sie bei arte sowie im
Rahmen von Konzerten tätig, so in jüngerer Zeit z. B. bei einem Gitarrenabend in der Schwabinger Seidlvilla. Seit 2014 studiert Lina
Habicht Schauspiel an der Otto-Falckenberg-Schule in München. An den Kammerspielen trat sie dabei in diesem Jahr schon in Dejan
Dukovskis Stück Das Pulverfass in der Regie von Katharina Bianca Mayrhofer auf, einer Abschlussinszenierung im Fach Regie. Im
Rahmen der Tanztendenz München e. V. wirkte Lina Habicht 2015 bei Johanna Richters Projekt »Höfische Tänze – Begegnungen und
Tänze in einer Zeitreise von der Renaissance bis zur Gegenwart« mit.
DUNCAN ROCK
Der australische Bariton Duncan Rock absolvierte sein Studium an der Guildhall School of Music and Drama und am National Opera Studio in London. Als Jerwood Young
Artist beim Glyndebourne Festival erhielt er 2010 den John Christie Award. Zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien folgten, so
war er Young Artist bei der Royal Philharmonic Society. Gastspiele führten ihn an die English National Opera (Papageno in der
Zauberflöte), ans Royal Opera House in London (Marullo in Rigoletto) oder an die Deutsche Oper Berlin (Tarquinius in Brittens The
Rape of Lucretia). 2015 machte Duncan Rock in Boston als Don Giovanni auf sich aufmerksam und gab den Marcello in La bohème an
der English National Opera. Zuletzt konnte man ihn als Billy Bigelow im Musical Carousel erleben. Konzertante Auftritte u. a. mit
dem BBC Symphony Orchestra unter Sir Andrew Davis oder dem London Symphony Orchestra unter Valery Gergiev runden das
Porträt des Sängers ab.
FLORIAN ADAM
Der gebürtige Münchner Florian Adam erhielt im Alter von 13 Jahren ersten Oboenunterricht an der Jugendmusikschule in Wangen im
Allgäu. Er war Jungstudent am Konservatorium in Bern und absolvierte sein Hauptstudium an der Hochschule für Musik Freiburg.
Wichtige Anregungen empfing er auch bei Dieter Salewski vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und im
Aufbaustudium bei Klaus Becker an der Musikhochschule in Hannover. Meisterkurse u. a. bei Maurice Bourgue rundeten seine
Ausbildung ab. Florian Adam war Zweiter Oboist/Englischhornist im Orchester der Beethovenhalle Bonn und Solo-Englischhornist
im WDR Sinfonieorchester Köln. Mit dem Orchester der KlangVerwaltung unter Enoch zu Guttenberg ist er regelmäßig bei großen
Festivals sowie Konzertreisen im In- und Ausland zu hören. Seit 2002 gehört er dem Münchner Rundfunkorchester an – zunächst als
Englischhornist/Oboist und seit der Saison 2010/2011 als Stellvertretender Solo-Oboist.
PAUL DANIEL
Der in Birmingham geborene Dirigent Paul Daniel absolvierte sein Studium am King’s College in Cambridge. Nach Positionen als
Musikalischer Direktor der English National Opera (1997–2005) sowie als Chefdirigent des West Australian Symphony Orchestra
(2009–2013) übernahm er 2013 die Leitung des Orchestre National Bordeaux Aquitaine. Aktuell ist er zudem Chefdirigent und
Künstlerischer Leiter der Real Filharmonía de Galicia. Neben zahlreichen Gastauftritten am Pult renommierter Orchester wie des
Royal Philharmonic Orchestra, des Orchestre de Paris, des Mozarteumorchesters Salzburg sowie bei namhaften Klangkörpern der
USA und Russlands ist er regelmäßig an den weltweit führenden Opernhäusern zu erleben, so u. a. an der English National Opera (Le
nozze di Figaro), der Deutschen Oper Berlin (Les troyens) oder dem Teatro Real Madrid (Hänsel und Gretel). Zuletzt dirigierte er im
April The Turn of the Screw an der Opéra National de Bordeaux.
Impressum
MÜNCHNER RUNDFUNKORCHESTER
Ulf Schirmer KÜNSTLERISCHER LEITER
Veronika Weber MANAGEMENT
Bayerischer Rundfunk, 80300 München
Tel. 089/59 00 30 325
facebook.com/muenchner.rundfunkorchester
Programmheft
Herausgegeben vom Bayerischen Rundfunk
Programmbereich BR-KLASSIK
Redaktion: Dr. Doris Sennefelder
Gesamtkonzept Erscheinungsbild:
fpm factor product münchen
Grafische Umsetzung: Antonia Schwarz, München
Druck: alpha-teamDRUCK GmbH, München
Nachdruck nur mit Genehmigung
Das Heft wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.
Textnachweis:
Annika Forkert, Wolfgang Stähr, Anna Vogt: Originalbeiträge für dieses Heft; Gesangstext Five Mystical Songs: © 1911 Stainer & Bell Ltd., London; Übersetzung: Doris
Sennefelder; Biografien: Teresa Ramming (Daniel, Rock), Doris Sennefelder (Adam, Habicht).
Auswahl der Rezitationstexte: Teresa Ramming
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