„BRIC – Aufstrebende Schwellenländer?“

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Philipps-Universität Marburg
Institut für Politikwissenschaft
Fachbereich 03
Wilhelm-Röpke-Straße 6g
35032 Marburg/Lahn
„BRIC – Aufstrebende Schwellenländer?“
Sommersemester 2007
Farina Ahäuser
Hanna Al-Taher
Frank Beutell
Antje Clemens
Paul Hoffmann
Malte Lühmann
Matthias Middeldorf
M. Elisabeth Peters
Stefan Scheuer
Manuel Unger
Betreut von
Dr. (des) Stefan Schmalz
http://www.uni-marburg.de/fb03/politikwissenschaft/bric
Inhalt
BRIC – Das Jahrhundert der Peripherie? ....................................................3
Einleitung .....................................................................................................3
Brasilien .......................................................................................................5
Einleitung ..................................................................................................5
Politische Voraussetzungen in Brasilien ...................................................6
Strukturen und Perspektiven der brasilianischen Ökonomie...................13
Sozioökonomische Faktoren...................................................................23
Fazit........................................................................................................29
Literaturverzeichnis.................................................................................32
Russland ....................................................................................................36
Einleitung ................................................................................................36
Russland im postsowjetischen Umbruch – von Jelzin zu Putin...............37
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen unter Putin – Eine
nachhaltige Entwicklungsstrategie?........................................................44
Russlands Märkte ...................................................................................56
Fazit – Rentenökonomie Russlands? .....................................................62
Literaturverzeichnis.................................................................................65
Indien .........................................................................................................68
Einleitung ................................................................................................68
Das politische System ............................................................................69
Wann begann das Wachstum? Entwicklung der indischen Wirtschaft und
Wirtschaftspolitik.....................................................................................71
Aufbau und Struktur der indischen Wirtschaft.........................................78
Dauerhafter Boom? Die Grenzen des indischen Wachstums.................83
Fazit........................................................................................................93
Literaturverzeichnis.................................................................................95
Anhang ...................................................................................................99
China........................................................................................................101
Einleitung ..............................................................................................101
Entwicklung und aktuelle Situation .......................................................104
Literaturverzeichnis...............................................................................109
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Thesen .....................................................................................................111
Abhängigkeit von Auslandsinvestitionen...............................................111
Vergleich China und Indien...................................................................112
Export und Modelle...............................................................................114
Die Soziale Schere ...............................................................................116
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BRIC – Das Jahrhundert der Peripherie?
Wie aufstrebende Schwellenländer den Westen herausfordern
Einleitung
„BRIC-Fonds kommen in Mode“ (welt.de), denn BRIC-Staaten sind ein „Synonym für
Wachstum“ (manager-magazin). Hohe „Rendite mit Schwellenländern“ (banktip.de)
heißt das Versprechen, das Motto: „Mit BRIC-Fonds gewinnen“ (welt.de). Es sind
solche optimistischen Schlagzeilen, die die Presse dominieren seitdem die „BRIC“Staaten in die öffentliche Debatte getreten sind. Woher rührt diese Euphorie? Was
steht hinter der Abkürzung „BRIC“?
Erstmals kam der BRIC-Begriff 2003 im Sensationsbericht „Dreaming with BRICsthe path to 2050“ der Investment Bank Goldman Sachs auf. Wenn man der BRICDiskussion der letzten Jahre Glauben schenkt, werden die vier BRIC Staaten – Brasilien, Russland, Indien und China – bis zum Jahre 2050 die westlichen Industrienationen der G7 in punkto Wirtschaftskraft überholt haben. In einer Zeitspanne von 50
Jahren werden sich die Finanzbeziehungen und Investitionsflüsse in Richtung aufstrebende Schwellenländer verschieben.
Auf dem Börsenparkett jedenfalls, werden die BRICs bereits heute als Investitionsstandorte der Zukunft gehandelt. Banken wie Goldman Sachs profitieren davon, dass
sie Gewinn versprechende Fonds mit hohen Rendite anbieten. In die so genannten
BRIC-Fonds sind in den vergangen Jahren Milliardenbeträge geflossen. Und auch in
der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte ist das angekommen und wird sowohl in den betreffenden Staaten selbst, als auch im Ausland zunehmend kontrovers
diskutiert.
Die These von Goldman Sachs basiert klar auf modernisierungstheoretischen Annahmen: Wird die Wirtschaft der Entwicklungs- oder Schwellenländer modernisiert,
folgt automatisch wirtschaftlicher Aufschwung und Wohlstand. Modernisierung heißt
in diesem Zusammenhang insbesondere Liberalisierung der Märkte. Das Paper geht
davon aus, dass das Wirtschaftswachstum in den vier BRIC-Staaten weiterhin rasant
steigt, vorausgesetzt, sie schlagen den Erfolg versprechenden neoliberalen Weg ein.
Wenn also, wie Goldman Sachs es formulieren „alles richtig läuft“ – „if everything
goes right“. Soweit die momentane Mainstream Meinung.
Was aber geschieht wenn nicht alles „richtig“ läuft? Sind die von Goldman Sachs geforderten Reformen tatsächlich so aussichtsreich wie behauptet wird? „Brasilien ist
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nicht das einzige Land, das darunter leidet, eine glänzende Zukunft, vielleicht eine
ruhmreichen Vergangenheit, aber immer einer erbärmlichen Gegenwart zu haben.“
(Desai, 2006, 60). Hohe Wachstumszahlen für sich, geben noch keine aussagekräftigen Angaben über den Wohlstand einer Nation. In allen BRIC-Staaten ist, trotz
spektakulärer Wachstumsraten, auch ein wachsendes Auseinanderklaffen zwischen
Arm und Reich zu beobachten. Diese Realität beinhaltet hohen sozialen Sprengstoff.
Weiterhin stellt sie die Frage, inwiefern ist es überhaupt gerechtfertigt von den BRIC
Staaten als Einheit zu sprechen. Unterscheiden sich die Staaten nicht viel zu sehr
von einander, um sie sinnvoll vergleichen und in eine Kategorie einordnen zu können? Wenig Berücksichtigung im Paper von Goldman Sachs findet außerdem die
drohende Gefahr gewaltsamer Auseinandersetzungen um Energiequellen und anderer Rohstoffe. Solche, aus der Entwicklung folgenden Konflikte, könnten derselben
im Wege stehen und sie verlangsamen oder sogar verhindern.
In der vorliegenden Analyse der BRIC Staaten wollen wir uns mit diesen offenen
Fragen kritisch auseinander setzten. Als Grundlage dient unser Verständnis von
Entwicklung als die Aktivierung der spezifischen produktiven Potentiale einer Gesellschaft um einen Zustandes gesteigerter Bedürfnisbefriedigung ihrer Mitglieder und
der dafür notwendigen ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen
zu erreichen. Wachstum verstehen wir nur dann als entwicklungsfördernd, wenn es
sozialverträglich, umweltverträglich und arbeitsintensiv ist. Das heißt: Durch eine
breite Verteilung des erwirtschafteten Produkts und unter Einbeziehung der Bevölkerung in den Produktionsprozess, soll Entwicklung auf einer nachhaltigen und nicht
destruktiven Grundlagen stehen.
Unsere Analyse wird länderspezifisch stattfinden, zunächst sollen Brasilien, dann
Russland, schließlich Indien und zuletzt China untersucht werden. Die Länderanalysen orientieren sich an der Leitfrage, ob das zukünftige Wachstum – nach den dargelegten Prämissen - entwicklungsfördernd oder -hemmend stattfindet. Weiter wird
gefragt in welchen Bereichen und unter welchen Bedingungen es stattfindet – also
beispielsweise exportorientiert, arbeitsintensiv, mit eigenem oder ausländischem Kapital. Abschließend werden Entwicklungspotentiale der Länder und ihrer Bevölkerung
untersucht. Unsere Einzelanalysen haben wir dabei unter wirtschaftliche, wirtschaftspolitische und soziostrukturelle Gesichtspunkte gegliedert. Schließlich soll dann
durch Vergleiche zwischen den Ländern in einem Fazit festgehalten werden, wie die
aktuelle Debatte um die Entwicklung der BRICs, sowie die Entwicklung der BRICStaaten insgesamt zu bewerten sind.
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Brasilien
Einleitung
Gemessen an Einwohnerzahl und Fläche ist Brasilien das mit Abstand größte Land
Südamerikas. Die brasilianische Ökonomie ist zudem, nach der Mexikos, die zweitstärkste auf dem Kontinent, was zur Position Brasiliens als Regionalmacht in dieser
Weltgegend beiträgt. Das politische Gewicht des Landes erstreckt sich dabei noch
über Südamerika hinaus. So nimmt Brasilien zusammen mit anderen Schwellenländern eine treibende Rolle bei internationalen Verhandlungen, etwa in der WTO ein. In
der BRIC- Rangliste steht Brasilien jedoch bei der Fläche auf dem letzten und bei der
Einwohnerzahl auf dem vorletzten Platz. Auf der Basis dieser Kennzahlen lassen
sich also schon Unterschiede zwischen Brasilien und den anderen BRIC-Staaten,
insbesondere Indien und China feststellen. Bei dieser Analyse der BRICs, wie auch
in der Diskussion um diese Staaten stehen allerdings die wirtschaftliche Leistung und
Entwicklung im Mittelpunkt. Doch auch hier liegt Brasilien weit abgeschlagen hinter
Indien und China. Das einzige Land der BRIC-Staaten, das nicht in Eurasien liegt, ist
zwar wirtschaftlich und politisch gesehen führend in Lateinamerika, die Wachstumsraten der brasilianischen Wirtschaft dümpeln aber in den letzten Jahren vor sich hin
und erreichen nicht Ansatzweise die Rekordmarken Chinas oder Indiens. Dieses
wirtschaftliche Wachstum begründet sich zudem, wie wir noch zeigen werden, primär
durch die günstigen Weltmarktpreise für die Rohstoffe, die das Land exportiert. In der
Wirtschaftspolitik ist in den letzten Jahren eine Kontinuität festzustellen, die nicht aktiv für einen nachhaltigen Aufschwung sorgt. Weiter leidet die Republik unter einer
der höchsten sozialen Spaltungen weltweit, die sich ebenfalls negativ auf das
Wachstum auswirkt. Der Mangel an einer breiten Basis gut ausgebildeter Fachkräfte
und die unzureichende Binnennachfrage verdeutlichen dies. Diese Aspekte konnten
in der Analyse von Goldman Sachs möglicherweise aufgrund einer beschränkten
Sichtweise, die nur wenige Determinanten des wirtschaftlichen Wachstumsprozesses
im Blick hat, keine gebührende Würdigung erlangen. Demgegenüber soll in dieser
Arbeit ein breiterer Horizont auf Basis eines Entwicklungsbegriffes, der soziale, politische, ökonomische und ökologische Einflussfaktoren berücksichtigt, betrachtet werden.
Unsere Frage dreht sich darum, ob Brasilien wirklich eines der Länder sein wird, die
spätestens 2050, so Goldman Sachs, die G7 in puncto Wirtschaftsleistung überholt
5
haben werden. Dabei gibt es einige Anhaltspunkte die eine erfolgreiche Perspektive
für das brasilianische Entwicklungsmodell nahelegen. Zum Beispiel, dass der sehr
hohe Gini-Index sich langsam zurück entwickelt und die absolute Armut im Land abnimmt, wodurch der Binnenmarkt eine neue Dynamik entfalten könnte. Auch die Tatsache, dass das Land mit Embraer über einen der führenden Flugzeughersteller
weltweit verfügt, deutet auf eine dynamische Entwicklung hin. Aber am Ende bleibt
die Frage, ob das im Kern exportorientierte, rohstoffbasierte Entwicklungsmodell zukunftsfähig und nachhaltig sein kann.
Für die Analyse werden wir das Land getrennt, nach einzelnen Aspekten untersuchen. Zunächst wird sich Elisabeth Peters mit der Wirtschaftspolitik der letzten 3
Jahrzehnte und ihrer Zukunftstauglichkeit auseinandersetzen. Im Anschluss untersucht Malte Lühmann die wirtschaftlichen Strukturen, die Exporte und Importe und
speziell die Frage, worauf das aktuelle Wachstum und zukünftig mögliche Potenziale
beruhen. Matthias Middeldorf schließt die Arbeit mit der Betrachtung der Sozialstruktur ab.
Die Darstellung beginnt historisch mit der Schuldenkrise der Achtziger Jahre, da in
dieser Zeit die entscheidenden Grundsteine für die heutigen wirtschaftlichen Entwicklungen gelegt wurden. Uns ist Bewusst, dass Ursprünge und Grunddeterminanten
der brasilianischen Wirtschaft in der Kolonialzeit liegen, doch scheint eine so ausgedehnte historische Analyse in diesem Rahmen kaum möglich und gleichzeitig im
Hinblick auf eine ergebnisorientierte Bearbeitung der Fragestellung wenig sinnvoll.
Neben der historischen Darstellung, gliedern sich die Abschnitte nach Chancen und
Risiken sowie Hemmnissen für den wirtschaftlichen Aufstieg Brasiliens. Im Einzelnen
sollen Verknüpfungen zu den anderen Aspekten hergestellt werden.
Politische Voraussetzungen in Brasilien
Einleitung
Die ehemalige Kolonie Portugals gehört zu den wirtschaftlich stärksten Ländern Lateinamerikas. Geopolitisch kann das Land auch als führend in der Region gesehen
werden. Doch wie sind die politischen Voraussetzungen, um den von Goldman
Sachs prophezeiten wirtschaftlichen Sprung vor die Industrieländer antreten zu können? Noch Ende des letzten Jahrhunderts gehörte Brasilien zu den am höchsten
verschuldeten Ländern der Welt, litt unter einer Militärdiktatur und die Industrie war
nicht weltmarktfähig. Was hat sich seitdem insbesondere auf politischer Seite geän-
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dert? Welche Impulse wurden gesetzt? Sind die Entwicklungen so nachhaltig, dass
die Prophezeiungen erfüllt werden?
Im ersten Teil dieser Arbeit wird das politische System Brasiliens vorgestellt und auf
Chancen und Hemmnisse untersucht. Danach findet eine kritische Betrachtung der
Wirtschaftspolitik inklusive der außenpolitischen und sicherheitspolitischen Faktoren
statt. Im Anschluss werden noch einmal gesondert die Chancen und Hemmnissen
eines möglichen Aufschwungs betrachtet und ausgewertet.
Einführung in die politische Ordnung Brasiliens
Brasilien ist eine föderative Republik mit Präsidialdemokratie und teilt sich in fünf Regionen mit insgesamt 26 Bundesstaaten auf. Die Regierung wird aufgrund der Konstitution von 1988 gebildet, in der viele Strukturen festlegt sind. Dadurch verlangen
notwendige Strukturreformen meist eine Verfassungsänderung (Boeckh 2003). Brasilien zeichnet sich durch eine zersplitterte Parteienlandschaft aus. Deswegen wurde
seit 2006 eine Fünf-Prozent-Hürde eingeführt, um ins Parlament zu kommen. Die
Verhältniswahl, die eine absolute Mehrheit verlangt, wird über ein offenes Listenwahlsystem ausgetragen. Die Kandidaten haben meist eine schwache Parteienbindung. Die Parteien sind eher als lockere Verbindungen anzusehen (mit Ausnahme
der Arbeiterpartei PT) und es findet dadurch eine stark auf die einzelne Person zugeschnittene Wahl statt (Adam 2006). Die lose Parteienbindung macht deutlich, dass
brasilianische Politiker keine starren Ideologien vertreten. Boeckh bezeichnet Brasilien deshalb als „Kompromissstaat“ (2003). Da es seit 1985 nur Regierungskoalitionen gibt, so Boeckh weiter, werden jegliche Reformen „verwässert“, da sie immer
Kompromissen zum Opfer fallen (2003). Weitere Defizite im Wahlsystem sind die Anfälligkeit für wirtschaftliches Marketing (Faria 2003) und der starke Einfluss von regi-
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onalen Individualinteressen auf Bundesebene (Adam 2006). Ein interessantes
Merkmal im brasilianischen Wahlrecht ist die Wahlpflicht für alle 18-70 Jährigen1.
Diese Wahlpflicht führte jedoch schon vermehrt zu Fällen von Stimmenkäufen, insbesondere bei Menschen aus den unteren Einkommensschichten.
Der aktuelle Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, Lula genannt, von der Arbeiterpartei
PT ist in seinem Amt 2006 bestätigt worden. Die Amtszeit der Präsidenten ist auf
zwei Legislaturperioden beschränkt. Daher wird Lula 2011 aus dem Präsidialamt entlassen. Im Kongress sind generell die agrarökonomisch geprägten Bundesstaaten
überrepräsentiert. Diese zählen zu den alten Eliten und wirken gewichtiger als sie es
tatsächlich sind, blockieren jedoch bisher erfolgreich nachhaltige Landreformen
(Boeckh 2003).
Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 schwand zunehmend der Einfluss des Militärs, da die zivilen Ministerien stärker in Erscheinung traten. Im Kampf um knappe
Ressourcen konnte das Verteidigungsministerium immer weniger für seine Ziele
werben, so wurden Pläne für eine Atombombe bereits in den Achtzigern begraben.
Zwar hat Brasilien die größte Streitmacht Lateinamerikas, doch die Militärausgaben
sind marginal (2006 ca. 2,6 % des BIP (CIA). Eine gesellschaftliche Debatte um die
nationale Sicherheit ist quasi nicht vorhanden (global security).
Entwicklung der Wirtschaftspolitik und außenpolitische Prioritätensetzung
Die große Wirtschaftskrise der siebziger Jahre fand zu Zeiten der Militärdiktatur statt.
Nach dem Auslaufen der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) Ende der
fünfziger Jahre folgte ein expansiver Kurs der Militärregierung. Dieser wurde durch
1
Für 16-18 Jährige und über 70 Jährige ist die Teilnahme an Wahlen freiwillig.
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ausländisches Kapital und durch Konzentration auf die obersten Einkommensgruppen gefahren (2003). Wie viele andere Entwicklungsländer nimmt Brasilien in den
siebziger Jahren hohe Kredite bei der Weltbank auf, um Wachstums- und Einkommensverluste nach dem Ölpreisschock 1972/73 auszugleichen (Boeckh 2003). Als
die Zinsen in der Folge des rezessiven Kurses der Bank in die Höhe schnellten, hat
Brasilien Schulden, die zu einer wirtschaftlichen Krise im Land führten. Boeckh wertet nicht die Höhe der Schulden als Problem, obwohl Brasilien die höchsten Schulden
ganz Lateinamerikas waren, sondern die fehlende internationale Konkurrenzfähigkeit
der brasilianischen Wirtschaft, die aufgrund ihrer Binnenmarktorientierung fehlte. Dadurch konnte es zu keinem Exportwachstum kommen, wodurch die Schulden hätten
abgezahlt werden können (Boeckh 2003). Die wirtschaftliche Krise führte zum
Schwächung der Militärdiktatur und zum Erstarken der Opposition, so dass 1985
erstmals wieder demokratischen Wahlen statt finden konnten (Duarte 2003). Es folgte ein ständiger Wechsel verschiedener Stabilisierungsprogramme und Währungsreformen (Fritz 2002). So schaukelte sich die Fiskalkrise mit über 50 Konzepten zur
staatlichen Preispolitik, 6 verschiedenen Währungen und staatlichen Lohn- und
Preisstopps zu ihrem Höhepunkt 1994 bei einer Inflation von 50% pro Monat hoch
(Boeckh 2003). Der Grund lag, so Boeckh, an dem ungelösten Konflikt zwischen den
Interessengruppen des Staatsektors, den Unternehmen und Gewerkschaften sich
auf eine einheitliche Politik zu einigen (2003). Mit dem „Plano Real“ des damaligen
Wirtschaftsministers F.H. Cardoso wird die Krise beendet. Daraufhin wird er 1994
und 1998 zum Präsidenten gewählt. Die Ära Cardoso zeichnet sich durch die neoliberalen Elemente, den totalen Ausverkauf des staatlichen Sektors, aus. Boris fasst
die Regierungszeit als „Schritt zurück“ zusammen. Die sozialen Ungleichheiten haben sich in dieser Zeit vergrößert, die Arbeitslosigkeit stieg ebenso wie die Auslandsund Inlandsverschuldung an (Boris 2003: 3ff). Auch die Bertelsmann Stiftung sieht
trotz eines neoliberal agierenden Staates das geringe Wachstum des Staates (2003).
Faria hält genau dieses Wirtschaftsmodell für die Ursache des geringen Wirtschaftswachstums Brasiliens (2006).
Unter diesen Bedingungen trat Lula 2003 seine Amtszeit an. Diese zeichnet sich
durch eine gewisse Kontinuität aus. Das Programm des „Plano Real“ wird weitergeführt (CIA 2007) und wie alle Regierungen vorher, hat auch die Regierung von Lula
die Wirtschaftspolitik fest in der Hand, so dass nicht von einem neoliberalen Regime
nach Friedmann gesprochen werden kann (Bartelt 2005: 24f). Der Regierungspartei
PT sind, was Reformen betrifft, größtenteils die Hände gebunden. Einerseits findet
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die Schadensbegrenzung und –behebung der Cardoso-Regierung statt, was insbesondere den Abbau der Schulden betrifft. Andererseits hat die PT nur in einer Koalition die Mehrheit, so dass in den einzelnen Gremien und Abgeordneten-Kammern
viele Kompromisse eingegangen werden müssen (Bartelt 2005). Die Regierung betreibt eine strenge Fiskalpolitik mit hohem Leitzins, um die Inlandsschulden abbauen
zu können (Bartelt 2005: 25). Dies führt jedoch zu einer niedrigen Investitionsrate
und mangelndem Konsum und einer anhaltenden Stagnation, die seit 1981 andauert
(Faria 2006). Weitere Schwerpunkte der Fiskalpolitik sind die Bekämpfung der Inflationsrate, die Durchsetzung der Steuerreform und die Erhöhung der öffentlichen
Ausgaben (CIA 2007, Weil 2007: 125). Als große Errungenschaft kann sich die Regierung die Entschuldung beim IWF und dem Pariser Club verbuchen (Almanach
2007). Der Privatisierungswahn, der unter Cardoso herrschte, wurde gestoppt und
der Präsident Lula setzt jetzt verstärkt auf Public-Private-Partnership-Programme
(Weil 2007: 123). Außerdem lancierte die Regierung eine Rentenreform und zahlreiche Sozialprogramme. Zu diesen gehörte auch die Anhebung des Mindestlohnes,
und trotzdem sind die Reallöhne gesunken (Bartelt 2005).
Im Gegensatz zur Vorgängerregierung ist eine Veränderungen in der Prioritätensetzung eingetreten, bei der die Industrie verstärkt gefördert wird (Weil 2007: 124). Der
Exportsektor bleibt weiterhin führend in der brasilianischen Wirtschaft, trotz seiner
geringen Warenbreite. Dies liegt nicht zuletzt an günstigen Weltmarktpreisen und der
hohen Nachfrage aus China (Weil 2007: 123). Faria sieht das brasilianische Wirtschaftssystem als sehr abhängig und ohne Eigendynamik (2006). Das Land ist zwar
ein aufstrebendes Schwellenland, andererseits befindet es sich in einer strukturellen
Abhängigkeit und ist sozio-ökonomisch höchst verwundbar (Kohlhepp 2003).
Brasilien selbst sieht sich als führende Macht im geopolitischen Umfeld Lateinamerikas. Dieser Anspruch wird bei Verhandlungen zum Mercosul und gegenüber der EU
auch immer deutlich gemacht, doch sorgt dieser teilweise neoliberale Kurs auch für
Verstimmungen in der Region (Bernal-Meza 2006: 86ff; Calcagnotto 2006: 67). International versucht Brasilien viele Verbündete insbesondere auf der Südhalbkugel zu
finden. Das Ziel ist, eine multipolare Verhandlungsbasis zu erreichen, die das
Selbstbewusstsein der Schwellenländer enorm hebt und ihre Verhandlungsbasis
verbessert. In diesem Zusammenhang übernimmt Brasilien auch eine Führungsrolle
in der G22 (Boris 2003: 23). Daher hat Brasilien, wie auch Deutschland, das Ziel einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu erlangen (Faria 2006).
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Calcagnotto schlussfolgerte Anfang 2006 über Lulas Amtszeit, dass es eine positive
Entwicklung der Binnenwirtschaft gegeben hätte, die besonders hinsichtlich des
Ausgleiches der innerstaatlichen Disparitäten sichtbar wird. Jedoch zeigt sich eine
außenpolitische Schwäche vor allem im Hinblick auf die regionalen Hegemonieansprüche. Im Vergleich zu der Vorgängerregierung von Cardoso „bleibt die Schere
zwischen Brasiliens außenpolitischen Ambitionen und innenpolitischen (Miss)Erfolgen- allerdings nun mit umgekehrten Vorzeichen- weiterhin bestehen.“ (Calcagnotto 2006: 67)
Hemmnisse und Risiken der politischen Impulse für den brasilianischen Aufschwung
Im Vergleich mit den anderen BRIC-Staaten schneidet Brasilien schlecht ab: Die
Wachstumsraten sind weitaus geringer, das Wirtschaftssystem ist unflexibel und
auch in der Politik gibt es Zeichen, die dem großen Sprung im Wege stehen können.
Die Reformfähigkeit wird durch die Korruption gebremst. Erst 2006 gab es eine große Korruptionsaffäre, die die Regierung, Mitglieder vieler Parteien sowie staatliche
und nicht-staatliche Unternehmen umfasste. Der Präsident selbst ist jedoch offiziell
nicht verstrickt (Fischer Weltalmanach 2007). Auch regional in den Parlamenten häufen sich die Fälle von Korruption (Boeckh 2003: 58ff). Dieses Problem steht sicherlich im Zusammenhang mit der Elitenproblematik des Landes, die sich noch immer
aus den ländlichen Eliten formiert, die aus postkolonialen Zeiten stammen und sich
bis heute reproduzieren. Diese behindern auch Reformen, wenn es um Modernisierungsaspekte wie z.B. der Landreform geht (Boeckh 2003: 64). Auf die Politik wirken
daher Gruppen erheblich ein, die aus dem Agrarsektor stammen. Einflussreiche
Lobbygruppen von Großgrundbesitzern bestimmen das Bild in Brasilia unverhältnismäßig mit (Faria 2003). Der Einfluss der Landlosenbewegung, die sich für eine gerechte Verteilung des Landes u.a. mittels Landbesetzungen einsetzt, ist nicht zu unterschätzen (CIA 2007). Zwischen diesen Gruppen gibt es ein starkes Konfliktpotenzial, das auch schon mehr als 1300 Todesopfer gefordert hat (Fischer Weltalmanach
2007). Die Landlosenproblematik bringt die große Ungleichheit in dem Land auf den
Punkt. Die Ungleichheit ist zum Teil auch Auslöser für gewaltsame Konflikte. Die Differenzen finden sich zum einen regional manifestiert im armen und rückständigen
Nordosten und im reichen und modernen Süden. Deutlich wird die Ungleichheit auch
in den Beschäftigungsverhältnissen und den Löhnen andererseits (Faria 2003, Kohlhepp 2003). Als Gründe lassen sich hier Modernisierungen, die nur Teile der Wirt-
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schaft erfassen (Boeckh 2003) und das koloniale Erbe aufführen. Das Rechtssystem
ist schwer zugänglich für arme Menschen da es sehr undurchsichtig ist. Es gibt Korruption unter den Richtern und Prozesse sind langsam und teuer (Fleck Saibro
2005). Gleichheit vor dem Gesetz gibt es quasi nur auf dem Papier.
In Zukunft kann sich auch die Umweltpolitik problematisch für den Aufschwung Brasiliens gestalten. Der Regenwald des Amazonas ist bereits zu 15% seiner Gesamtfläche zerstört. Bei dieser Regionalplanung werden nicht nur der Lebensraum von Indigenen und eine hohe Biodiversität zerstört. Auch der Klimawandel wird aktiv vorangetrieben, wenn der Wald als Binder von CO² verschwindet (greenpeace). Außerdem
wird der illegale Holzeinschlag nicht strafrechtlich verfolgt, da im weitläufigen Amazonasgebiet eine Kontrolle nur sehr schwer möglich ist. Ein ständiger Konflikt zwischen der Bevölkerung und den Unternehmen führt dazu, dass soziale Bewegungen
bedroht werden, die teilweise aktiver als der Staat, den Wald schützen (Bartelt 2005:
30f; greenpeace, vgl Kids for Forest-Kampagne).
Chance für den Aufstieg
Aus weltwirtschaftlicher Sicht ist Brasilien die zehntgrößte Volkswirtschaft. Brasilien
besitzt die Hälfte der Fläche und der Bewohner Südamerikas und ist bereits jetzt einer der bedeutendsten Akteure auf der Weltbühne. Das Land gilt als Hoffnungsträger
und Stabilisator in der Region (Kohlhepp 2003). Außerdem vertritt Brasilien Hegemonieansprüche für die Region (Calcagnotto 2006: 64). Die Durchsetzungskraft jener Ansprüche lässt sich jedoch diskutieren.
Die Chancen für die Ärmsten haben sich seit dem Regierungsantritt Lulas positiv
entwickelt. Sozialprogramme wie Fome Zero (Null Hunger) und die Rentenreform
zeigen bereits jetzt erste Erfolge (Weil 2007: 126ff). Bartelt wertet die Armutsbekämpfung als positives Element, indem er argumentiert, man könne der Regierung
nicht die Bemühung und die Verminderung selbiger absprechen, jedoch wäre zu fragen, wie weit oben jenes auf der Prioritätenliste steht (2005: 29).
Auswertung
Es ist sehr schwierig, der Analyse von Goldman Sachs nicht uneingeschränkt die Rote Karte zu zeigen und sich zu fragen, wie es Brasilien in diese Analyse geschafft
hat. Doch täte man dem Land unrecht damit. Einige brasilianische Unternehmen haben den Sprung an die Weltspitze geschafft und es ist einfach unmöglich, das gesamt Land über einen Kamm zu scheren. Gerade hier liegt auch das Problem. Auf
der einen Seite gibt es Wirtschaftsstandorte, die auf dem Niveau der Industrieländer
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liegen, auf der anderen Seite sind Wirtschaft, als auch Teile der Politik irgendwo im
letzten Jahrhundert verhaftet. Der bereits 1974 von dem brasilianischen Ökonom
Edmar Bacha geprägte Begriff „Belindía“ (Belgien und Indien zur gleichen Zeit) trifft
das Problem auf den Punkt. Hier liegen die Hemmnisse für ein nachhaltiges Wachstum. Das Potenzial der Ressourcen zum wirtschaftlichen Wachstum wird immer wieder von inneren Unstimmigkeiten gebremst. Seien es die stetig auftretenden Fälle
von Korruption in Wirtschaft und Politik, die Ungleichbehandlung der Menschen oder
auch die ungleiche Repräsentation der Bevölkerung in der Politik. Mit Präsident Lula
hat die Regierung wichtige Impulse für ein stabileres Brasilien gesetzt, z.B. dass
auch die Ärmsten gefördert werden müssen oder die Förderung der Industrie. Doch
endet seine Amtszeit 2011. Wer auch immer dann ins höchste Staatsamt kommt,
wird er/sie diese wichtigen Faktoren auch berücksichtigen? Weiterhin kann gefragt
werden: What if everything won’t go right? Also was passiert z.B., wenn die Rohstoffpreise der brasilianischen Exportprodukte ihren Wert verlieren? Was passiert,
wenn China nicht mehr in Brasilien, sondern nur noch in Afrika einkauft? Dieses sind
alles hypothetische Fragen, doch sprechen sie dafür, dass Brasilien noch einen langen Weg vor sich hat, das Land in einen stabilen und nachhaltigen Zustand zu bringen.
Strukturen und Perspektiven der brasilianischen Ökonomie
In der Analyse von Goldmann Sachs wird von einem Durchschnitt der jährlichen
Wachstumsraten des brasilianischen BIP in Höhe von 3,6% über die nächsten 50
Jahre ausgegangen. Dieser Annahme wird hinzugefügt, die Leistung der brasilianischen Wirtschaft müsse, um diesen Durchschnitt zu erreichen, signifikante Verbesserungen im Vergleich zur Vergangenheit aufweisen (vgl. Goldmann Sachs 2003:
10ff.). Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Veränderungen der Wirtschafts-
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politik in den zurückliegenden drei Jahrzehnten kein bedeutendes Wachstum generieren konnten. Die Wachstumsraten über 10%, die unter den Bedingungen der
Militärdiktatur und unter anderen weltwirtschaftlichen Vorzeichen zwischen 1969 und
1974 auftraten, scheinen unerreichbar (vgl. Schmalz 2006: 24f.). Die Zahlen der letzten zehn Jahre blieben demgegenüber mit durchschnittlich 3,23% (1998-20072) unter
dem von Goldmann Sachs ausgegebenen Richtwert (vgl. bfai 2007a; Boris 2003: 4).
Um eine Aussage darüber treffen zu können, worauf das aktuell zu beobachtende
Wachstum beruht und ob es eine Chance hat über die nächsten Jahrzehnte stabil zu
bleiben, soll im Folgenden die aktuelle Struktur der brasilianischen Wirtschaft unter
die Lupe genommen werden. Dabei spielen die Fragen, welche Branchen sich zurzeit am dynamischsten entwickeln und wie die strukturellen Bedingungen für die zukünftige Entwicklung gestaltet sind, eine zentrale Rolle.
Entwicklung der einzelnen Wirtschaftssektoren
Primärer Sektor – Aggrobusiness auf dem Vormarsch
Die Modernisierung der brasilianischen Landwirtschaft hatte neben der generellen
Steigerung der Produktion eine verstärkte Ausrichtung auf den Export zur Folge. Im
Rahmen der Etablierung des Agrobusiness mit kapitalstarken Agrarunternehmern
und gewinnorientierten Betriebsformen hat sich die Schere zwischen Großgrundbesitz und subsistenzorientierten Kleinbetrieben weiter geöffnet. So besitzen die größten 10% der Betriebe fast 80% der zur Verfügung stehenden Anbaufläche, während
ca. 60% der Betriebe mit 5% der Anbaufläche auskommen müssen (vgl. Kohlhepp
2003: 21f.). Im Agrobusiness haben sich international operierende brasilianische Un-
2
2007: Prognose
14
ternehmen etabliert, die einerseits maßgeblich dazu beigetragen haben, die Produktivität von 1991 bis 2005 um 40% zu erhöhen (vgl. Rösler 2005: 2). Andererseits hat
insbesondere die Mechanisierung im Zuge dieser Rationalisierungsmaßnahmen zum
Verlust zahlreicher Arbeitsplätze in der Agrarwirtschaft geführt. Waren in den 1960er
Jahren noch 50% der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig so waren es 2003
noch 20,7% (vgl. IBGE 2003; Kohlhepp 2003: 23). Daraus und aus der ungerechten
Landverteilung erwachsen erhebliche Konfliktpotentiale im ländlichen Raum, die sich
etwa in Form des Kampfes der MST um Land niederschlagen (vgl. Kohlhepp 2003:
22f.).
Die Landwirtschaft trug in Brasilien 2006 5,2% zum BIP bei (vgl. bfai 2007a).
Dieser Wert dokumentiert den abnehmenden Anteil des Agrarsektors, der 1985 noch
11,1% des BIPs ausmachte (vgl. Faria 2006: 44). Dem steht die wachsende Bedeutung des Agrobusiness für den Export gegenüber, wobei auch heute noch weniger
als ein Viertel der brasilianischen Agrarproduktion ausgeführt wird (vgl. Rösler 2005:
1). Das wichtigste Produkt ist hier neben den alten Bekannten Kaffee und Zucker die
Sojabohne, die vorwiegend als Futtermittel verwendet wird und mittlerweile das wichtigste agrarische Exportprodukt darstellt. Die Anbaugebiete für Soja dehnen sich rasant aus, indem der brasilianische Mittelwesten mit riesigen Monokulturen überzogen
wird. Sie hatten schon 2002 mit 16,3 Mio. ha die größte Ausdehnung aller Anbauflächen erreicht. So bilden sich globalisierte agroindustrielle Komplexe heraus und die
Konfliktpotentiale in ländlichen Regionen verschärfen sich (vgl. Kohlhepp 2003: 23f.).
Für den heimischen Markt ist die Produktion von Ethanol als alternativer
Treibstoff zunehmend wichtiger geworden. Es wird aus Zuckerrohr, das in ähnlichen
Monokulturen angebaut wird wie Soja, hergestellt. Brasilien nimmt hier weltweit den
ersten Rang ein. Im Jahr 2006 waren schon 80% aller neu zugelassenen Fahrzeuge
in Brasilien mit sog. Flex-Fuel-Motoren ausgestattet, die sowohl Benzin als auch Ethanol verbrennen können. Seine Vorreiterrolle hat Brasilien durch die frühe Förderung der Entwicklung dieser Technologie durch die Automobilproduzenten seit der
ersten Ölkrise in den 70er Jahren erlangt (vgl. Ribeiro 2006).
Im Agrarbereich hat Brasilien mit einigen Produkten den Anschluss an den
Weltmarkt geschafft bzw. gesichert, sodass dieser Sektor zu den dynamischsten und
wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsbereichen in Brasilien gehört (vgl. Brasilianische
Botschaft 2007). Gleichwohl ist seine relative Bedeutung für die Volkswirtschaft eher
rückläufig, da die Anteile am BIP und an der Beschäftigung niedrig sind und weiter
sinken. Zudem sind gerade die boomenden Bereiche der Landwirtschaft, also das
15
global ausgerichtete Agrobusiness und die Ethanolproduktion mit erheblichem Konfliktpotenzial behaftet. Die Rationalisierungsmaßnahmen in der Produktion dieser
Erzeugnisse führen einerseits zum Abbau von Arbeitsplätzen und andererseits zur
immer größeren Ausdehnung der monokulturellen Anbauflächen, wodurch Klein- und
Mittelbetriebe, die Nahrungsmittel für den lokalen Markt produzieren, verdrängt werden. Schließlich erwachsen zusätzlich ökologische Probleme aus der Ausdehnung
der Sojaanbauflächen in die südlichen Randgebiete des Regenwaldes am Amazonas
zusammen mit Infrastrukturprojekten, die eine nördliche Verkehrsanbindung dieser
Anbaugebiete zu den Überseehäfen schaffen sollen (vgl. Kohlhepp 2003: 24f.).
Sekundärer Sektor – Unterbrochene Industrialisierung
Die brasilianische Industrie hat seit dem Ende der ISI und der mit ihr verbundenen
aktiven Industriepolitik eine lange Phase des Abbaus und der Stagnation erlebt (vgl.
Boris 2003: 8f.). So hat sich der Anteil der Industrie am BIP im Zeitraum von 1985 bis
2006 von 42,3% auf 30,9% verringert (vgl. bfai 2007a; Faria 2006: 44). Trotzdem
nimmt sie nach dem Umfang der Produktion und der Produktdiversität weiterhin den
ersten Platz in Lateinamerika ein. Ihre hervorgehobene Stellung wird auch durch die
Anwesenheit fast aller globalisierten Automobilproduzenten von VW bis Toyota in
Brasilien dokumentiert. Diese machen das Land zu einem der zehn größten Automobilproduzenten der Welt. Die Automobilbranche, die zum ehemals dynamischen Kern
der brasilianischen Ökonomie zählt, litt allerdings unter der lange Zeit schwachen
Binnennachfrage und der insgesamt schwachen Konjunktur der letzten Jahre (vgl.
Kohlhepp 2003: 33). Seit 2004 sind die Wachstumsraten der brasilianischen Wirtschaft wieder angezogen, auch die Industrie ist in diesem Rahmen wieder gewachsen, wenn auch in höchst unterschiedlichem Maße je nach Branche (vgl. bfai 2007a).
Die Verteilung der Industriebeschäftigten, die 2003 20,9% der brasilianischen Beschäftigten ausmachten, ist über die einzelnen Branchen hinweg relativ ausgeglichen. Insgesamt entfällt auf die Branchen der verarbeitenden Industrie der Großteil
dieses Beschäftigungsanteils. Sie macht alleine 13,6% der brasilianischen Beschäftigten aus (vgl. IBGE 2003). Gerade die verarbeitende Industrie, zu der neben den
Automobilkonzernen viele Klein- und Mittelbetriebe gehören, wächst aber insgesamt
mit 1,6% (2006) nur sehr schwach (vgl. bfai 2007c). Diese fast stagnative Situation
kontrastiert auf den ersten Blick mit der Stärkung der Binnennachfrage und insbesondere des privaten und staatlichen Konsums durch die Sozialprogramme der Re-
16
gierung Lula und die Anhebung des Mindestlohns. Schätzungen zufolge wird die
Binnennachfrage aufgrund dieser Faktoren 2007 weiter um ca. 5,8% wachsen (vgl.
bfai 2007b). Anscheinend wurde der steigende Konsum bisher durch die ebenfalls
wachsenden Importe kompensiert, die 2006 um 24,2% zunahmen. Hier erweist sich
der Import von Konsumgütern, der vor allem aus China anwächst, mit einem Zuwachs von 42,6% im selben Zeitraum als entscheidend (vgl. bfai 2007b). Nur größere Konzerne können angesichts der Schwäche der Binnennachfrage in den Exportsektor flüchten, da nur sie in der Lage sind die relativ hohen strukturellen und institutionellen Hürden, die einer Exportorientierung in Brasilien im Wege stehen, zu überwinden. So teilten sich die 250 führenden Exportunternehmen im Jahr 2003 68% des
Exportvolumens und die absolute Zahl der exportierenden Unternehmen nahm von
2004 bis 2006 um 9,4% ab (vgl. bfai 2007d; Meyer-Stamer 2003: 132). Das führt zu
einer hohen Konzentration im Exportsektor und einer Benachteiligung kleiner und
mittelständischer Unternehmen. Ein anschaulicher Beleg für diese Konzentration ist
die Tatsache, dass der Export von Regionalflugzeugen im Jahr 2003 den größten
Einzelwert im Export von Fertigprodukten darstellte. Diese Flugzeuge werden wiederum von einem einzigen Unternehmen, Embraer hergestellt, dass pro Jahr Flugzeuge im Wert von 1 Mrd. US$ ausführt (vgl. Kohlhepp 2003: 36; Meyer-Stamer
2003: 132).
Die größten Wachstumsraten des sekundären Sektors in den letzten Jahren
sind nicht etwa in den Branchen der verarbeitenden Industrie sondern im Bergbausektor zu verzeichnen. Dieser Bereich wuchs 2005 mit 9,8% und 2006 immerhin
noch mit 6% weit überdurchschnittlich (vgl. bfai 2007c). Der Grund für das starke
Wachstum ist die boomende Nachfrage nach Rohstoffen wie Eisenerz, Stahl und
Mangan vor allem aus China (vgl. Busch 2006). Der Aufstieg des ehemals staatlichen Bergbauunternehmens Companhia Vale do Rio Doce (CVRD) zum zweitgrößten Unternehmen Brasiliens und auf den 130. Platz in der Forbes-Liste der weltweit
größten Unternehmen dokumentiert diesen Boom eindrucksvoll (vgl. Forbes 2007).
Nachdem CVRD Mitte der 90er Jahre privatisiert worden war und ausländische Unternehmen im Bergbausektor aktiv werden konnten, dürfte der Einfluss ausländischen Kapitals in diesem Sektor stark angewachsen sein (vgl. Brasilianische Botschaft 2007). Noch größer als CRVD ist in Brasilien nur der Energiekonzern
Petrobras, der in ganz Lateinamerika aktiv ist und direkt an der Wall Street gehandelt
wird (vgl. Busch 2006). Auch im Bergbau dominieren also letztlich wenige Großkonzerne die Branche.
17
Neben der Differenzierung in erfolgreiche, exportorientierte Großunternehmen und eher stagnative Klein- und Mittelunternehmen weist die brasilianische Industrielandschaft ein weiteres Ungleichgewicht mit der regionalen Verteilung der
Standorte auf. Seit dem Beginn der industriellen Entwicklung hat der Südosten des
Landes und speziell die Region um São Paulo eine Schlüsselrolle in diesem Prozess
eingenommen. So hat sich die Metropolitanregion São Paulo zum größten industriellen Ballungszentrum Lateinamerikas entwickelt. Im Südosten werden mit einer Konzentration von 60% der Industriebeschäftigten zwei Drittel der Industrieproduktion
erwirtschaftet. Seit der 90er Jahren verstärkt sich allerdings ein Trend zur Dezentralisierung, da Möglichkeiten, abseits der etablierten Zentren billiger zu produzieren,
wahrgenommen werden (vgl. Kohlhepp 2003: 33ff.).
Tertiärer Sektor – Handel und Finanzen wachsen
Im Zuge des Zuwachses der urbanen Bevölkerung, die bis 2006 auf 84% der Gesamtbevölkerung angestiegen ist hat auch der Dienstleistungssektor starke Zuwächse erfahren (vgl. Weltbank 2006; Faria 2006: 43f.). Der Grund für das Anschwellen
des tertiären Sektors kann im unzureichenden Wachstum des Arbeitsplatzangebots
in der Industrie, das nicht mit der Zunahme der urbanen Bevölkerung mithalten konnte, gesehen werden (vgl. Faria 2006: 44). Im Jahr 2003 arbeiteten 58,1% der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, der 2006 einen Anteil von 63,9% des BIPs generierte (vgl. bfai 2007a; IBGE 2003). Für Wachstum sorgen in diesem Bereich der
Handel und die Finanzdienstleistungen. Dabei profitiert der Handel vom anziehenden
privaten Konsum seit dem Regierungsantritt von Präsident Lula und wuchs 2006 mit
einer Rate von 4,8% (vgl. bfai 2007a; bfai 2007b). Ob sich solche Steigerungsraten
18
in Zukunft halten können, hängt angesichts der eher stagnierenden Kernbereiche der
Industrie von der weiteren Sozialpolitik ab.
Auch der Markt für Finanzdienstleistungen entwickelt sich dynamisch und erreichte zuletzt eine Wachstumsrate von 6,1%. Ein wichtiger Faktor bei der Expansion des Finanzsektors ist neben den ausländischen Investitionen, die nach der verflogenen Angst vor grundlegenden Reformen durch die Regierung Lula wieder in großem Maße ins Land fließen, die wachsende Gruppe der Superreichen. Die Kategorie
der sog. HNWI 3 umfasst in Brasilien nach Schätzungen 100.000 Personen, sie ist
2006 um 11,3% gewachsen (vgl. von Stockhausen 2007). Die Bedeutung des Finanzkapitals und damit der Finanzmärkte und -dienstleistungen sind im Zuge der
Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf monetäre Stabilität allgemein gestiegen. Im
Jahr 2005 konnten daher Finanzrentiers einen Anteil von 30% des nationalen Einkommens auf sich vereinigen. Diese Entwicklung wirkt sich allerdings negativ auf den
Konsum und die Investitionen aus (vgl. Faria 2006: 45).
Außenhandel
Die Ökonomie Brasiliens wird seit einiger Zeit vom Exportsektor angetrieben, der
nach dem Ende der importsubstituierenden Industrialisierung und wegen der folgenden Strukturreformen gegenüber dem Binnenmarkt deutlich an Attraktivität gewonnen hatte (vgl. Weil 2007: 123). Der Exportsektor stützt sich zwar nicht mehr wie
noch bis Anfang der 60er Jahre zu 90% auf den Kaffeeexport, die Palette der Exportgüter konzentriert sich aber weiterhin auf relativ wenige Produkte (vgl. Kohlhepp
2003:23; Weil 2007: 123). Produkte der verarbeitenden Industrie erreichten zwar
2006 einen Anteil von 55% am Exportwert, in diesem Segment zeichnet sich aber ein
3
HNWI: high net worth individuals; Personen mit einem Finanzvermögen ab 1 Mio.
US$
19
relativer und bei einigen Fertigprodukten sogar ein absoluter Rückgang ab. Für das
Exportwachstum von 16,2% im letzten Jahr sind demgegenüber die hohen Weltmarktpreise für Rohstoffe speziell für Soja und Eisen bzw. Stahl verantwortlich. Der
Anteil der Rohstoffe am Exportwert stieg denn auch von 22,8% im Jahr 2000 auf
29,3% im vergangenen Jahr. Dieser Trend bedeutet zwar einerseits wachsende Erlöse aus dem Rohstoffgeschäft, andererseits besteht die Gefahr durch eine resultierende Aufwertung der Währung den Export von Fertigprodukten weiter zu verteuern.
Ein Indikator für eine solche Entwicklung könnte der schwindende Handelsbilanzüberschuss sein, der im Laufe des Jahres 2007 voraussichtlich um 6,5% auf 43 Mrd.
US$ schrumpfen wird (vgl. bfai 2007d). China, dessen Importe nach Brasilien im ersten Quartal 2007 um 50,4% wuchsen und das die steigende Nachfrage nach brasilianischen Rohstoffen antreibt, hat sich zum drittwichtigsten brasilianischen Handelspartner entwickelt (vgl. bfai 2007b). In den wachsenden Handelsbeziehungen in Verbindung mit dem steigenden Anteil von Rohstoffen an den brasilianischen Exporten
schlummert aber auch eine Gefahr, die sich im brasilianischen Importboom äußert.
Insgesamt stiegen die brasilianischen Importe 2006 um 24,2%. Der Wert der importierten Konsumgüter stieg sogar um 42,6%, während Kapitalgüter eine Steigerung
von 23,9% erreichten (vgl. bfai 2007d). Sowohl auf dem eigenen Markt als auch international ist die brasilianische Industrie gegenüber den günstigen Produktionsbedingungen in China kaum konkurrenzfähig (vgl. Lehmann 2006: 2). Insgesamt kann
beobachtet werden, dass die brasilianische Wirtschaft Gefahr läuft durch ihre Rohstoffexporte von der chinesischen Konjunktur abhängig zu werden und gleichzeitig
die Potenziale für die eigene Industrie an günstige Importe zu verlieren.
Finanzstrukturen
Die Auswirkungen der Verschuldung auf die brasilianische Ökonomie sind von großer Bedeutung. Die Brutto-Außenverschuldung des Landes lag 2006 bei 172,5 Mrd.
US$ und im Jahr davor mussten fast 2% des BIP für Zinszahlungen aufgewendet
werden (vgl. bfai 2007a; Schmalz 2006: 23). Ebenfalls 2006 wurden 41,4% der Exporterlöse für den Schuldendienst eingesetzt. Die von der brasilianischen Zentralbank zur Abwehr von Währungsspekulationen bereit gehaltenen Devisenreserven
wuchsen im selben Jahr auf 85,6 Mrd. US$ an (vgl. bfai 2007a). Auch wenn die Gesamtverschuldung seit 2004 unter die Rekordmarke von über 220 Mrd. US$ gesunken ist, bleibt die Bedienung der Schulden ein bestimmender Faktor. Das zeigt sich
20
insbesondere bei den Investitionen, die in Brasilien auf sehr niedrigem Niveau liegen.
So zog die Investitionsnachfrage 2006 zwar kräftig um 8,6% an, die Investitionsquote
konnte damit aber nur um 0,5% auf magere 16,8% des BIP gesteigert werden (vgl.
bfai 2007a). Der Zufluss ausländischer Direktinvestitionen lag zuletzt bei 18,8 Mrd.
US$ (2006) und steigt damit seit 2003 wieder an. Eine Erhebung der brasilianischen
Zentralbank aus dem Jahr 2000 ergab zudem, dass sich 69,2% der ausländischen
Investitionen im tertiären Sektor und hier insbesondere im Finanzbereich (vgl. BCB
2001). Der überwiegende Teil der ausländischen Investitionen ist also nicht direkt in
produktive Bereiche involviert, sondern dürfte von den extrem hohen Leitzinsen, die
zur Zeit bei 12,2% liegen, angelockt worden sein (vgl. bfai 2007b). Die brasilianische
Hochzinspolitik und die hohen Schulden führen zu einer Situation in der die brasilianische Wirtschaftsleistung vom internationalen Finanzmarkt absorbiert wird und dadurch Investitionen in produktive Bereiche nur in geringem Maße stattfinden (vgl. Altvater 2003: 116; Schmalz 2006: 23).
Infrastruktur
Während der Umstrukturierung der brasilianischen Wirtschaft ab Mitte der 90er Jahre
war die Privatisierung staatlicher Infrastrukturbetriebe ein wichtiges Mittel zur Bedienung von Zinsen und Tilgungszahlungen für die aufgehäuften Schulden. Im Ergebnis
wurden im Infrastrukturbereich die meisten Betriebe von der Telekommunikation über
die Eisenbahn und die Energieversorgung bis zu Seehäfen an ausländische Investoren veräußert (vgl. Boris 2003: 8f.). Dabei sanken die staatlichen Investitionen in diesem Sektor zwischen 1989 und 2003 von 1,2% des BIP auf nur noch 0,4% (vgl. CNI
2005: 6). Ein Urteil über die Qualität der Infrastruktur muss im Falle Brasiliens differenziert ausfallen.
Einerseits konnte etwa die Telekommunikation zumindest in den Metropolen
und in den umgebenden Regionen modernisiert werden, wobei die Abhängigkeit von
importierten Technologien zu ihrer Bereitstellung nicht überwunden werden konnte
(vgl. CNI 2005: 24). Auf der anderen Seite ist insbesondere die Verkehrsinfrastruktur
veraltet und unzureichend ausgebaut. Die Eisenbahn spielt eine vergleichsweise
kleine Rolle in der Verteilung der Verkehrsträger, da sie nur 25% der Transportmasse bewegt (vgl. Erhart / Mauch Palmeira 2006: 4). Personenverkehr findet hier praktisch nicht statt und die Hauptfunktion der Eisenbahn liegt im Transport Exportgütern
zu den Seehäfen. Dabei machten im Jahr 2003 Eisenerz und Stahl 67,1% der Ge-
21
samttransporte mit diesem Verkehrsträger aus, während auf dem zweiten Platz Soja
mit einem Anteil von 9,2% folgte (vgl. CNI 2005: 18f.). Das Rückgrat der brasilianischen Verkehrsinfrastruktur sind die Fernstraßen, die sich aber in einem ähnlich
schlechten Zustand wie das Eisenbahnnetz befinden. Ihr Anteil an den Gesamttransporten lag 2006 bei 58%. Aufgrund des schlechten Ausbaus und der höheren Preise
der anderen Verkehrswege ist das Straßennetz deutlich überlastet (vgl. Erhart /
Mauch Palmeira 2006: 3f.). Der schlechte Zustand der Verkehrsinfrastruktur führt zu
einer signifikanten Behinderung der ökonomischen Entwicklung im Land. Die Standortdiversifizierung der Industrie und die Intensivierung der Landwirtschaft im Landesinneren hängen dabei in besonderem Maße von einer Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur ab (vgl. Erhart / Mauch Palmeira 2006: 1ff.). Die Energiewirtschaft des
Landes ist in einem vergleichsweise guten Zustand. Elektrizität wird zu 94% in Großkraftwerken aus Wasserkraft gewonnen, getrieben durch zunehmende Energieknappheit auch im Amazonasgebiet. Daneben werden kleine, umweltverträglichere
Wasserkraftwerke, regenerative Energien aber auch der Ausbau des einzigen Atomkraftwerkes im Land vorangetrieben (vgl. Kohlhepp 2003: 36).
Seit dem Beginn des Jahres 2007 existiert das staatliche Investitionsprogramm PAC4 mit einem Volumen von 500 Mrd. R$ verteilt über vier Jahre, was eine
durchschnittliche Investitionsrate von 4,6% des BIP pro Jahr ausmacht. Diese Gelder
sollen zu 54,5% in den Energiesektor, zu 34% in Wohn- und Sanitärversorgung und
zu 11,5% in die Verkehrsinfrastruktur fließen (vgl. BNDES 2007). Ob damit die Probleme im Infrastrukturbereich, die sich in den letzten 20 Jahren angestaut haben gelöst oder zumindest gelindert werden können bleibt fraglich.
4
PAC: Programa de Aceleração do Crescimento; Programm zur Beschleunigung des
Wachstums
22
Sozioökonomische Faktoren
Demographische Entwicklung
Brasilien ist mit 190.010 Millionen Menschen das fünfgrößte Land der Welt hinter
China, Indien, den USA und Indonesien; es ist durch einen hohen Grad an Urbanisierung gekennzeichnet. Im Jahr 2004 lebten etwa 83,4% der Einwohner Brasiliens in
Städten; zum Vergleich, 1940 lebten rund 13 Millionen Menschen (damals 31%) in
Städten. Nach dem die durchschnittliche Wachstumsrate in den 50er und 60er Jahren bei etwa 3% lag, beträgt sie heute infolge der zunehmenden Verstädterung, der
Berufstätigkeit der Frau und des ländlichen Strukturwandels nur noch etwas mehr als
1%. Neben dem Bevölkerungswachstum ist auch ein Rückgang bei der Geburtenrate
(2007: 16,3 Geburten pro 1000 Einwohner) zu verzeichnen, was den Arbeitsmarkt
und vor allem die Sozialversicherung zunehmend vor Probleme stellt, da sich die Altersstruktur der brasilianischen Gesellschaft ändert. (CIA) Infolge der Verbesserung
der Lebens- und Gesundheitsbedingungen geht die Sterbe- und Säuglingssterberate
zurück, was aber auch bedeutet, dass die Lebenserwartung der Menschen (Mann:
2007: 68,3 Jahre / Frau: 2007: 76,3 Jahre) steigt. Der Anteil der über 65 Jährigen an
der Gesellschaft nimmt stetig zu (2007: 6,3%), genauso der Anteil von 15-64 Jährigen (2007: 68,4%), jedoch geht der Anteil unter 15-Jährigen spürbar zurück; stellten
sie 1995 noch 32,5%, sind es im Jahr 2007 nur noch 25,3%. (Statistisches Bundesamt)
Die regionale Verteilung über das Land ist sehr ungleich; drei Viertel der Bevölkerung konzentrieren sich auf etwa 10% der Gesamtfläche, „einen bis 400-500 km
breiten Saum, der vom Nordosten bis zum Süden entlang der Küste verläuft“ (Kohlhepp: 20). Im Jahr 2000 lebten im Südosten des Landes 43% der Bevölkerung, im
Süden 14,8%, im Nordosten 28,1%, zum Vergleich im selben Jahr lebten im Norden
7,6% und im Westen nur 6,9% der Gesamtbevölkerung. Allein in den Staaten Sao
Paulo und Rio de Janeiro leben knapp 30% der Menschen, wobei Rio de Janeiro mit
328 Ew./Km² die höchste Bevölkerungsdichte besitzt. Die fünf oben genannten Regionen des Landes weisen nicht nur Unterschiede in der Topographie, sondern auch
enorme sozioökonomische Disparitäten auf. (Kohlhepp 2003: 17)
Die brasilianische Gesellschaft: Eine Gesellschaft der Ungleichheiten
„Eine Gesellschaft, die von großer Ungleichheit geprägt ist, mit einem Maß an sozialem Ausschluss, das ca. ein Drittel ihrer Mitglieder fernab jeder Möglichkeit zum
23
Wohlstand stellt; eine Gesellschaft, in der ein sozialer Aufstieg durch Lohnarbeit seit
nunmehr 25 Jahren verbaut ist, aber die im gleichen Moment ein offenes politisches
System mit Bürgerrechten, demokratischen Freiheiten und freien Wahlen garantiert“(Faria: 45).
In der Tat ist die brasilianische Gesellschaft durch ein hohes Maß an Ungleichheit gekennzeichnet. So betrug der Gini-Koeffizient im Jahr 2005 56,7, damit ist
Brasilien eines der Länder mit der ungerechtesten Einkommensverteilung der Welt,
so verfügen die unteren 10% der Bevölkerung nur über 0,7% des Gesamteinkommens, während die oberen 10% sich über 31% des Gesamteinkommens teilen. (CIA)
Jedoch muss man sagen, dass die Schere zwischen Arm und Reich etwas zurückgegangen ist. 1998 betrug der Gini-Koeffizient noch 60,7, im Jahr 2001 59,3. Dennoch manifestiert sich dies in einer extremen Ungleichverteilung des Pro-Kopf Einkommens. So erhalten Lohnarbeiter nur 35,6% des nationalen Einkommens. Im Jahr
2002 und 2003 gaben 58,5% der Familien an, mit weniger als 400US$ monatlich
auszukommen, die Anzahl der Familien mit einem monatlichen Einkommen über
2000 US$ betrug 3,6%. Diese ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung
führt letztlich dazu, dass die Mehrheit der brasilianischen Gesellschaft in relativer
Armut lebt (Kohlhepp 2003).
Doch nicht nur hinsichtlich der Schere zwischen Arm und Reich gibt es starke
Disparitäten. Auch in der Eigentumsfrage zeigt sich ein ähnliches Bild. Die Disparität
in der Eigentumsfrage betrifft vor allem den Landwirtschaftsektor. Durch die zunehmende Technisierung und Mechanisierung gingen in der Landwirtschaft viele Arbeitsplätze verloren. „Die Kündigung traditioneller Arbeitsplätze, die Auflösung sozialer Bindungen im Pachtwesen und die Ausweitung des sozial völlig ungesicherten
Tagelöhner-Systems erhöhten die sozialen Spannungen im ländlichen Raum“ (Kohlhepp 2003: 22). Die Folge war eine zunehmende Landflucht in die Elendsgürtel in die
bereits ohnehin überfüllten Städte oder die Eingliederung in das Heer der landlosen
ländlichen Bevölkerung, was zu der Gründung der „Bewegung der Landlosen“ (Moviemento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra = MST) führte. Der Anteil der Erwerbstätigen hat sei den 60er Jahren, wo noch über 50% in der Landwirtschaft tätig
waren, abgenommen. Heute arbeiten in der Land- und Forstwirtschaft noch 20,3%
der Gesamterwerbstätigen. Sie erwirtschafteten dabei 9,6% der Bruttowertschöpfung
Brasiliens im Jahr 2004. (Statistische Bundesamt) Die Landverteilung ist auch sehr
ungleich verteilt, dies wird durch den fehlenden geordneten Zugang zu Grundbesitz
verstärkt, was wiederum die ländliche Entwicklung belastet. Zwei Drittel der landwirt-
24
schaftlichen Betriebe (weniger als 20 ha) verfügen über 5% der gesamten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche, während 10% der Großbetriebe (mehr als 500 ha) fast
über 80% der Agrarfläche verfügen. Im Nordosten des Landes herrscht in den Küstenregionen des Landes dabei immer noch Großgrundbesitz, während im trockenen
Hinterland die Subsistenzlandwirtschaft und –tierzucht dominiert. Die Landwirtschaft
wurde mit erheblichen staatlichen Krediten gefördert, was bevorzugt den Mittel- und
Großbetrieben zugute kam, da wird auch das wesentliche Strukturproblem der brasilianischen Wirtschaft ersichtlich, die fehlenden Förderungsmaßnahmen für die kleinbäuerliche Landwirtschaft.
Auch bezüglich der Ethnie gibt es Unterschiede. Verschiedene ethnische
Minderheiten werden sozial benachteiligt, wobei die soziale Ungleichheit in Brasilien
keineswegs farbenblind ist. Indianer und Afro-Brasilianer gehören zu den sozial
Schwächsten. Indianische Bevölkerung, Sklaveneinfuhr und Einwanderung aus Europa und Ostasien haben zu einer ethnischen Vielfalt geführt. Während der Kolonialzeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden fünf bis sechs Millionen Sklaven aus Afrika nach Brasilien verschleppt. Die brasilianische Gesellschaft ist somit extrem heterogen, dennoch ist sie insgesamt von politischer und kultureller Toleranz geprägt
(Kohlhepp 2003). Es gibt heute keine offene Segregation mehr. Im sozioökonomischen Bereich ist dennoch eine starke Benachteiligung der Afro-Brasilianer ersichtlich, denen ein Anteil von 45 % an der Gesamtbevölkerung zukommt. Im Jahr 2002
lebten schätzungsweise 53 Millionen unterhalb der Armutsgrenze, wovon etwa 64%
Afro-brasilianischer Herkunft waren (Bundeszentrale für politische Bildung).
Frauen sind nach der brasilianischen Verfassung formal mit den Männern
gleichgestellt. Der Gender-Related-Development-Index, welcher die Ungleichheit
misst, führt Brasilien auf Platz 58. Das erwartete Jahreseinkommen der Frau im Jahr
2001 betrug 4.391US$, die Männer hatten in demselben Jahr ein erwartetes Durchschnittseinkommen von 10.410US$. Im selben Jahr waren auch nur 9,1% Frauen im
Parlament vertreten. Bezüglich des Zuganges zu Bildung (Einschreibung in primärer, sekundärer und tertiärer Bildung) haben sich im Jahr 2001 97% Frauen und 93%
Männer eingeschrieben. Auch im Alphabetisierungsgrad sind Frauen und Männer
gleich auf. Bei der Erwerbstätigkeit hingegen sieht das wieder anderes aus. Bei den
15-Jährigen und älter arbeiten 43,8% der Frauen, im Vergleich sind das nur 52% der
männlichen Erwerbstätigen. Zwischen 1995 und 2001 arbeiteten 19% aller weiblichen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, 10% in der Industrie und 71% im Bereich
der Dienstleistungen. (HDR)
25
Struktur des brasilianischen Bildungssystems
Der Alphabetisierungsgrad in Brasilien bei den über 15-Jährigen lag 2004 bei 88,4%.
Nach Schätzungen des deutschen Auswärtigen Amtes (02.2007) können etwa 20
Millionen der über 15-Jährigen weder lesen noch schreiben. (Auswärtiges Amt) Nach
Statistiken des Statistischen Bundesamtes wurden 2004 43 Millionen SchülerInnen
von 2,9 Millionen LehrerInnen unterrichtet, demnach kommen auf eine Lehrkraft
knapp 21 SchülerInnen. (Statistisches Bundesamt) Schulpflicht besteht für alle 7 – 14
Jährige. Neben der ethnischen, finanziellen Ungleichheit existieren auch regionale
Ungleichheiten beim Zugang zu Bildungs-, Einkommens- und Lebenschancen. Ist
der Zugang zu Bildung bei der Vorschule bei den 7-14 Jährigen noch relativ gleich,
Nordosten 94,1%, Südosten 96,7%, so zeichnet sich beim Zugang zur Fundamentalund Mittelschule ein anderes Bild ab. Im Norden nur 72% der 15-17 Jährigen, im
Südosten jedoch 86,5%. Dennoch hat der Südosten mit 31,2% am nationalen Anteil
den größten Satz derer, die keinen Zugang zur Bildung haben (Fritsche 2003: 89).
Das heutige brasilianische Bildungssystem wird zunächst grob in zwei Bildungsstufen unterteilt. Zum einen die Grundbildung (Educacáo Básica) und zum anderen die Hochschulbildung (Educacáo Superior). Die Grundbildung wird weiter unterteilt in die vorschulische Bildung oder Kindererziehung sowie in eine Fundamentalbildung und die Mittelbildung (Fritsche 2003).
Die vorschulische Bildung ist für Kinder bis sechs Jahre vorgesehen und soll
vor allem der sozialen, intellektuellen, physischen und psychologischen Entwicklung
zugute kommen. Übernommen wird diese Aufgaben für Kinder bis drei Jahre von
Kindergärten und Horten, von vier bis sechs von Vorschulen. Neben dem regulären
vorschulischen Bildungsangebot existieren noch Alphabetisierungsklassen, welche
man im Norden und Nordosten des Landes vorfindet. Es handelt sich dabei um eine
Art Zwischenstufe zwischen Vorschule und der Fundamentalbildung, die Mehrheit
der SchülerInnen ist älter als sieben Jahre alt. Die Mindestdauer für die Fundamentalbildung beträgt acht Jahren, wobei der Besuch obligatorisch und in öffentlichen
Schulen kostenlos ist. In der Fundamentalschule lernen die SchülerInnen die Fähigkeit des Lernens, d.h. Lesen, Schreiben und Rechnen. Ziel ist es, die SchülerInnen
zu mündigen Bürgern auszubilden und sie auf die Mittelbildung vorzubereiten. Die
Mittelbildung dauert drei bis vier Jahre und dient der Vertiefung und Verfestigung der
Kenntnisse, welche in der Fundamentalbildung erworben wurden sowie zur Vorberei-
26
tung auf das Arbeitsleben. Als letzte Bildungsstufe dient die Mittelschule der Vorbereitung auf die Hochschulen bzw. zum Eintritt in das Erwerbsleben. Sie ist von ihrer
Funktion vergleichbar mit der gymnasialen Oberstufe in Deutschland, von ihrem Aufbau unterscheiden sie sich jedoch stark. So sind die Auswahlmöglichkeiten auf den
Fremdsprachenbereich beschränkt. Es sollen eher technologische, wissenschaftliche
Grundlagen des Produktionsprozesses, zu dem soll den Schülern eine ethische Bildung vermittelt werden. An die Mittelschule knüpft die Berufsbildung und die Hochschulbildung an. Die Berufsbildung gliedert sich in die vorhandene Bildungsstruktur
ein, das Gesetz sieht die Existenz Berufsschulen vor, die zum einen den regulären
Bildungsauftrag wahrnehmen müssen und zum anderen den Zugang zum Arbeitsleben ermöglichen sollen. Die Hochschulbildung unterteilt sich in vier Formen: Fortbildungskurse, Graduierungskurse, Graduiertenkurse sowie Weiterbildungsprogramme.
(Fritsche 2003)
In der Regel wählt ein Schulabgänger einen Graduierungskurs, bei diesem
Abschluss handelt es sich um einen Bacharel (ähnlich dem US-amerikanischen Bachelor). Die Regelstudienzeit ist je nach Fachbereich zwischen drei und vier Jahren.
Nur der Abschluss eines vollwertigen Graduierungskurses berechtigt die Studierenden zur Fortsetzung ihrer akademischen Laufbahn. Die Fortbildungskurse konzentrieren sich auf einen Spezialbereich des Fachstudiums, dauern zwei Jahre und sind
keine Kurzform des Bacharel. Der Graduierung folgt die Postgraduierung, dieser wird
mit dem Magister abgeschlossen, welcher wiederum Voraussetzung für das anschließende Doktorandenstudium ist. Neben dieser Form der akademischen Laufbahn gibt es auf der Ebene der Postgraduierung noch zwei andere Studienformen,
die Spezialisierung und die Fortbildung. Das nationale Weiterbildungsprogramm,
welches noch relativ jung ist, hat einen Austausch zwischen Lehre und Forschung
der Universität einerseits und den Menschen im Berufsleben andererseits zum Ziel.
Dieses Programm soll vor allem ärmeren Bevölkerungsschichten zugute kommen.
Grundsätzlich werden Steuereinnahmen aller Gebietskörperschaften, Einnahmen aus Zuweisungsmechanismen sowie der Bildungsbeitrag und andere Sozialbeiträge als Quellen für Bildungsinvestitionen herangezogen. Dabei soll die Union
jährlich nicht weniger als 18%, die Staaten, der Bundesdistrikt und die Gemeinden
nicht weniger als 25% ihrer Steuereinnahmen in das öffentliche Bildungssystem investieren. Während die Union ihr soll immer übertroffen hat, blieb die staatliche Ebene z.T. mitunter deutlich unter dem in der Verfassung festgelegten Niveau.
27
Betrachtet man die Entwicklung der Bildungsausgaben im Vergleich zum BIP,
so kommt man um die Erkenntnis nicht herum, dass seit dem Plano Real 1994 die
relevanten Einnahmen und somit auch die Ausgaben für Bildung und Kultur drastisch
zurückgegangen sind und sich auf einem niedrigen Niveau eingependelt haben.
Während der Anteil der Staaten am BIP 1993 noch 5,7% erreichte, waren es 1994
nur noch 2,2%. 2000 waren es 4,5%. Somit gibt Brasilien in etwa soviel für Bildung
und Kultur aus, wie die Niederlande.
Eine Besonderheit am brasilianischen Bildungssystem ist die Existenz zahlreicher privater Schulen. So betrug der Anteil an Privatschulen bei den Fundamentalschulen im Jahr 2000 10%, bei den Mittelschulen 32%.(Fritsche 2003: 63)
Die Verantwortung für die Hochschulen teilen sich die einzelnen Staaten und
private Verbände. 2004 studierten etwa 3,4 Millionen StudentInnen an den Hochschulen Brasiliens, davon befanden sich 1,2% im Doktorandensemester. Auch gibt
es 335 Forschungseinrichtungen (2004), wo es 19.470 Forschungseinrichtungen mit
rund 77.700 Beschäftigten gibt (1995: 7.721 Einrichtungen: 26.799 Beschäftigte/2000: 11.760 Einrichtungen: 48.781 Beschäftigte). Auch bei den Patentanmeldungen ist eine Zunahme zu verzeichnen, was zumindest die Anzahl eingereichter Anmeldungen von brasilianischen Menschen oder Unternehmen belangt. Im Jahr 1995
wurden 15.839 Anmeldungen (davon 45,7% von Brasilianern) eingereicht, 2000 waren es 24.117 (36,8%); 2004 ging zwar die Anzahl der Anmeldungen zurück
(21.742), dafür aber der brasilianische Anteil auf 50%. (Statistisches Bundesamt)
Chancen
Neben der Zunahme der Doktoranden, der brasilianischen Patentanmeldungen ist
auch eine Zunahme an Forschungseinrichtungen zu beobachte. Schwerpunkte in der
Forschung sind die Biowissenschaft (Landwirtschaft, Tierzucht, Gesundheit, Umwelt), Nukleartechnologie (6. Größtes Uranvorkommen der Welt), was sie in einem
neuen Nuklearprogramm sowie in dem Projekt zur Entwicklung von Atom-U-Booten
wiederspiegelt, sowie der Luft- und Raumfahrtbereich, wo Brasilien mittels einer eigenen Trägerrakete auf dem Weg zur weitgehenden Unabhängigkeit ist, was z.B.
den Start von Satelliten ins Weltall angeht. Ein Mehrjahresplan des Ministeriums für
Wissenschaft und Technologie sieht Investitionen im Bereich der Erhaltung tropischer Regenwälder vor. Brasilien zählt zu den 10 größten Automobilproduzenten der
Welt. Hunderte von ausländischen Firmen, darunter auch viele deutsche, gründeten
in Brasilien Tochterfirmen. (Kohlhepp 2003)
28
Vor allem der Bundesstaat Sao Paulo, wo der Urbanisierungsgrad bei etwa
93% liegt, übernimmt dabei eine führende Rolle. So ist der Staat durch eine hohe
Konzentration von Industrie- und Handelszentren gekennzeichnet. Er ist der am weitesten entwickelte Bundesstaat Brasiliens, was die Ausstattung der Industrieparks,
die Fachausbildung, die Infrastruktur und die Technologiezentren angeht. Sao Paulo
erwirtschaftet mit 3% der Gesamtfläche Brasiliens, jedoch mit 22% der Gesamtbevölkerung 34-40% der Industrieproduktion und knapp 35% des Sozialproduktes. Das
jährliche Pro-Kopf Einkommen liegt bei 10.820 R$, und ist somit um fast achtfach
höher als im Norden des Landes. 90% aller KFZ-Teile, 81% aller Maschinen und Anlagen, 67% aller Kraftfahrzeuge, 65% der Chemieprodukte und rund 53% der elektronischen Geräte Brasiliens werden in Sao Paulo hergestellt. Überhaupt ist der Südosten des Landes der Wirtschaftsmotor Brasiliens, so werden zwei Drittel der Industrieproduktion und knapp 59% des BIP dort erwirtschaftet. Die Metropole Sao Paulo
ist dabei nicht nur das führende Wirtschaftszentrum Brasiliens, sondern auch das
größte Ballungszentrum Lateinamerikas und der Dritten Welt. Nahezu alle deutschen
Firmen haben dort eine Niederlassung, von über 1.200 global agierenden Konzernen
haben ca. 1.000 eine Niederlassung in Sao Paulo, welche rund 230.000 Menschen
beschäftigen. (Deutsche Botschaft Sao Paulo) Sao Paulo wächst heute schon mit
der Millionenstadt Campinas und der Industriestadt Sorocaba zusammen, so dass
man von einer Metropolitanregion gesprochen werden kann. Durch dieses Zusammenwachsen wird der Effekt der industriellen Dezentralisierung, der in den 80er Jahren begann und die Entlastungspole im Umland Sao Paulos aufwertete, relativiert. In
Campinas bzw. in der Region um Campinas, wird mit rund 3% der Gesamtbevölkerung rund 9% des BIP erwirtschaftet, mit rund 10.000 US$ ist das Pro-Kopf Einkommen eines der höchsten Lateinamerikas. Zahlreiche global agierende Technologieunternehmen, wie IBM, Motorola, Nortel, Samsung, Bosch, 3M, Alcatel u.A. sowie
Forschungszentren, u.A. ein Forschungszentrum mit dem einzigen Teilchenbeschleuniger südlich des Äquators, und Universitäten sind Campinas beherbergt. Die
Region um Campinas wird auch als das brasilianische Silicon Valley bezeichnet.
Auch pharmazeutische und petrochemische Industrie ist in der Region angesiedelt.
Fazit
Als die Regierung Lula 2002 die Macht im brasilianischen Staat übernahm, stand sie
vor der schwierigen Aufgabe, die Hoffnungen eines großen Teils der brasilianischen
Gesellschaft gegen die Interessen und Befürchtungen einer kleineren, aber umso
29
mächtigeren Elite abzuwägen. Die Interessengegensätze manifestieren sich grundsätzlich auf allen in dieser Arbeit untersuchten Ebenen. Im politischen Bereich geht
es um die Demokratisierung der Strukturen, was die Bekämpfung der Korruption und
des Übergewichts ländlicher Eliten in den Gesetzgebungsorganen sowie die Sicherstellung gerechter und unabhängiger Gerichtsverfahren ohne Benachteiligung armer
Bevölkerungsschichten beinhaltet. Im ersten Abschnitt konnte gezeigt werden, dass
die Ergebnisse auf den genannten Gebieten noch weit von dem Ziel demokratischer
Strukturen entfernt sind. Die Fortschritte, die seit 2002 erzielt wurden, liegen in einer
engagierten Sozialpolitik, die ausweislich der wachsenden Konsumnachfrage Wirkung zeigt, und einer aktiven Außenpolitik, die sich vor allem in der Kooperation mit
anderen Staaten des globalen Südens ausdrückt. Im ökonomischen Bereich heißt
das Stichwort „Stärkung der Dynamik einer internen Entwicklung“. Hier ist aber schon
seit den 1980er Jahren die Förderung exportorientierter Wirtschaftskomplexe an die
Stelle einer eigenständigen Industrialisierung getreten. Dazu kommt die parallel gewachsene Dominanz der Schuldenproblematik, die zur Ableitung von Wachstumspotentialen von den produktiven Sektoren in den inländischen und insbesondere in den
internationalen Finanzsektor führt. An diesen strukturellen Defiziten der brasilianischen Wirtschaft hat sich auch unter Lula wenig geändert. Das aktuell zu beobachtende Wachstum erweist sich in diesem Kontext als trügerisch, da sein Kern im Export von agrarischen und mineralischen Rohstoffen u.a. für die boomende Ökonomie
in China liegt. Die Strukturen der Abhängigkeit, in denen das Land seit Jahrhunderten gefangen ist, verlagern sich dadurch tendenziell auf die aufstrebende Macht in
Asien, anstatt endlich gelockert zu werden. Die Bereiche der brasilianischen Wirtschaft, die für den Binnenmarkt produzieren und ihren größten Teil ausmachen, werden von diesem Boom kaum belebt, wie die geringen Wachstumsraten in diesen Bereichen zeigen. Im Gegenteil wird ihre Position durch wachsende Importe gefährdet.
Die jüngsten Bemühungen der Regierung mit gesteigerten Investitionen (etwa dem
PAC) und einer aktiveren Industriepolitik der Entwicklung unter die Arme zu greifen,
scheinen unzureichend, da sie an den beschriebenen Grundstrukturen kaum zu rütteln vermögen. Schließlich ist Brasilien nach wie vor ein Land mit tiefen sozialstrukturellen Spaltungen, was in allen Teilaspekten dieser Arbeit angeklungen ist. Die Konzentration von Einkommen, fruchtbaren Agrarflächen, Bildungs- und Lebenschancen
in den Händen eines relativ kleinen Teils der Gesellschaft steht einer nachhaltigen
Entwicklung unter Einbeziehung aller Teile der Gesellschaft fundamental entgegen.
Diese ungleiche Verteilung drückt sich auch in der extrem ungleichen Situation in
30
verschiedenen Regionen des Landes aus. Existieren in manchen Gegenden des
Südostens und Südens Verhältnisse vergleichbar denen in Westeuropa oder den
USA, so herrscht im Nordosten und Norden die Unterentwicklung als bestimmendes
Charakteristikum vor. Dieser Gegensatz manifestiert sich auch in jeder größeren
Stadt zwischen den „favelas“ der Armen und den „condomínios fechados“ der Reichen. Es ist dieses Feld auf dem entschieden wird, ob die brachliegenden Potenziale
einer Bevölkerung von über 180 Mio. Menschen genutzt werden können. Der Zustand des Bildungssektors zeigt, dass es auf diesem Weg noch einiges zu tun gibt.
Wir haben gezeigt, welche Dynamiken und welche Hemmnisse in der brasilianischen Gesellschaft zurzeit wirksam sind. Vor diesem Hintergrund muss letztlich
mit Luiz Augusto E. Faria gesagt werden, dass „Brasilien, abgesehen von seiner
wichtigen Präsenz auf der internationalen Bühne […], weit davon entfernt [ist, M.L.],
die Weltordnung entscheidend mitzuprägen“ (vgl. Faria 2006: 50).
31
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35
Russland
Einleitung
Russland ist mit über 17 Mio. km2 Fläche der in der Ausdehnung größte unter den
BRIC-Staaten. Hinsichtlich der Einwohnerzahl (ca. 140 Mio), erscheint es jedoch im
Vergleich zu China, Indien und sogar dem viel kleineren Brasilien nahezu als
„Zwerg“. Als einziges der betrachteten Länder hat Russland eine rückläufige Bevölkerungszahl. Das politische System ist durch semi-demokratische und autoritäre
Strukturen gekennzeichnet (vgl. Bieling 2007: 235). Ähnlich wie China blickt das
Land auf eine lange Epoche der staatssozialistischen Ökonomie zurück, welche
1991 nach 74 Jahren unter der Last wirtschaftlicher, sozialer und politischer Probleme zusammenbrach. Zuvor hatte Michail Gorbatschow mit der Etablierung von mehr
Transparenz und Offenheit, u.a. in den Medien (Glasnost) und der wirtschaftlichen
Umgestaltung, wie etwa mehr Selbständigkeit der Betriebe (Perestroika) eine Doppelstrategie der Erneuerung verfolgt, um nachlassenden Wachstumsraten, stagnierender Produktivität und der Informalisierung der Ökonomie Einhalt zu gebieten. Diese Strategie war jedoch nur von bescheidenem Erfolg gekrönt und verstärkte weiter
angestaute Krisenphänomene (vgl. Bieling 2007: 235).
„Was die Sowjetunion immer schneller auf den Abgrund zusteuern ließ, war das Zusammenspiel dreier Dinge: Glasnost, das in der Desintegration von Autorität gipfelte;
Perestroika, die in der Zerstörung jenes alten Mechanismus gipfelte, der die Wirtschaft am Leben erhalten hatte, ohne zugleich irgendeine Alternative zu ihm aufgebaut zu haben; und daraus folgend der immer dramatischere Abbau des Lebensstandards der Bürger.“ (Hobsbawm zitiert nach Bieling 2007: 236). Nichtsdestotrotz
können diese Reformen Gorbatschows als der Beginn eines Wirtschaftsliberalismus
gesehen werden, welcher Russland seither grundlegend verändert hat. Nach der Ära
Jelzin entwickelte sich Russland bis heute wieder zu einem bedeutenden Handelspartner und Rohstoffexporteur. Die Einnahmen aus den Gas- und Ölgeschäften stiegen in den letzten Jahren rasant an, was das Wirtschaftswachstum vergrößerte, die
Löhne und Renten steigen ließ und die, nach der Wirtschaftskrise von 1998, wachsende Verelendung vieler Bevölkerungsteile eindämmte. Russland befindet sich also
in einer Phase des Aufschwungs und bildet nicht zuletzt dadurch einen Teil des
BRIC-Begriffes der aufstrebenden Schwellenländer. Es ist jedoch fraglich, wie sich
das Wachstum in den nächsten Jahren und Dekaden entwickeln und wie es sich auf
36
die Entwicklung des Landes auswirken. Wird es gelingen, mit Hilfe der Einnahmen
aus dem Rohstoffsektor die restlichen Wirtschaftssektoren zu diversifizieren und modernisieren und wird dies überhaupt angestrebt? Umfasst der Aufschwung also alle
Sektoren der Ökonomie? Inwieweit profitieren die verschiedenen Bevölkerungsschichten Russlands überhaupt von diesem Aufschwung?
Die zentrale Frage, die in diesem Aufsatz behandelt werden soll lautet also wie folgt:
Kann man im Hinblick auf die russiche Strategie der letzten und folgenden Jahre auf
eine nachhaltige sozialverträgliche Entwicklung schließen, oder befindet sich Russland auf dem Weg zu einer unsozialen Rentierökonomie?
Zur Analyse dieser Frage soll zunächst die historische Entwicklung, vor allem die
Jelzinzeit betrachtet werden. Dann soll die neue Form der Regierung unter Putin behandelt werden sowie wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Veränderungen
und Reformen in dieser Zeit. Abschließend soll dann die momentane wirtschaftliche
Lage sowie die zentrale Frage genauer diskutiert werden.
Russland im postsowjetischen Umbruch – von Jelzin zu Putin
Die marktwirtschaftliche Schocktherapie unter Jelzin
Nach den bereits in den 1980er-Jahren begonnenen Reformen zur wirtschaftlichen
Liberalisierung, begann eine Reformergruppe um Boris Jelzin noch vor der Auflösung
der Sowjetunion, die Errichtung einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu erwirken.
Jelzins Radikaldemokraten hatten zusammen mit den „Kommunisten für Demokratie“, beides Gruppierungen mit Reformplänen, im März 1990 die Wahlen in der Russischen Teilrepublik (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik-RSFSR)
zum so genannten Kongress der Volksdeputierten, dem zu der Zeit höchsten gesetzgebenden Organ, gewonnen (vgl. Schröder 2003: 16). Die neue Regierung
schaltete sich stark in die Reformdiskussionen ein und legte einen 500-Tage-Plan
zum Übergang zur Marktwirtschaft vor. Aber erst der endgültige Wegfall der Zentralgewalt machte den Weg für Jelzin, der mit weit reichenden Kompetenzen ausgestattet worden war frei. Die Transformation umfasste vier Komponenten:
Die Liberalisierung umfasste die Freigabe der Preise, die Schaffung eines Kapitalmarktes und die Öffnung der Märkte nach außen.
Die Institutionenentwicklung sollte auf die Anpassung der Wirtschaftsgesetzgebung,
die Einrichtung einer Zentralbank und den Aufbau von Kreditinstituten abzielen.
37
Mit der Privatisierung sollte Staatseigentum in Privateigentum überführt werden und
mit der Politik der Stabilisierung sollten die Staatsfinanzen konsolidiert sowie die Inflation bekämpft werden (vgl. Schröder 2003: 16).
Es bestand nur wenig Strittigkeit darüber ob diese neuen Maßnahmen stattfinden
sollten, sondern die einzige Frage war wann und in welcher Reihenfolge.
Zunächst wurden 1992 die Verbraucherpreise freigegeben, was zu einer Hyperinflation führte. Die russischen Banken verstärkten diese mit ihrer sehr großzügig angelegten Kreditvergabepraxis (vgl. Bieling 2007: 236). 1993 lag die Inflationsrate bei
842% (Forschungsstelle Osteuropa 2004: 5). Durch das sehr instabile makroökonomische Umfeld kam es dann zu einem Einbruch der Investitionstätigkeit und der
gesamten wirtschaftlichen Entwicklung. Im Vergleich zum Vorjahr brach das Bruttoinlandsprodukt 1994 um 12,6% ein. Die Industrieproduktion veringerte sich um 20,9%.
Der monatliche Durchschnittslohn lag bei 100 US-Dollar und die Arbeitslosenquote
bei 7,5% (Forschungsstelle Osteuropa 2004: 5). Des Weiteren sanken die Steuereinnahmen und die Staatsverschuldung stieg an. Damit wurden die Möglichkeiten
des Staates, durch Struktur- und Entwicklungsmaßnahmen Einfluss auf die ökonomischen Verhältnisse zu nehmen weiter beschränkt (vgl. Bieling 2007: 236).
Zwischen 1991 und 1993 wechselten Phasen rascher und intensiver Reformschritte
mit Stagnationsperioden, je nach Situation des Kräftespiels zwischen der JelzinAdministration und dem Obersten Sowjet. Ungeachtet dessen führte die Privatisierungsbehörde unter Leitung von Anatolij Tschubais ihre Tätigkeit aus. Im Oktober
1992 begann die Ausgabe
von Anteilsscheinen an russische Belegschaften und
Manager, welche sie in Aktien eintauschen sollten. 144 Mio. Personen, also 97% der
Berechtigten bekamen diese Voucher genannten Privatisierungschecks. Allerdings
musste bald festgestellt werden, dass einige Betriebsdirektoren sich diese Scheine
ihrer Mitarbeiter abtreten ließen und somit ein erheblicher Anteil der Aktien in die
Hände von wenigen fiel, welche somit zu einflussreichen Kapitalinhabern (Oligarchen) wurden. Bereits unter Gorbatschow war es vielen Unternehmern gelungen, mit
Hilfe von staatlichen Fördermaßnahmen mit gleichzeitigen Ausnahmeregelungen um
an der Planwirtschaft vorbei zu wirtschaften sowie billigen Krediten in kurzer Zeit eine
riesige Menge Kapital anzuhäufen. Die Oligarchen gewannen in den 90er-Jahren
einen enormen Einfluss auf die russische Wirtschaft (vgl. Adam zitiert nach Schröder
2003: 19).
Durch die parallel eingeleitete Privatisierung der Betriebe, waren bereits 1993 70%
aller Kleinbetriebe in privater Hand und bis 1994 80% der Großbetriebe zu Aktienge-
38
sellschaften geworden (vgl. Schröder 2003: 17/19). Des Weiteren wurde ein Teil der
Privatisierung spontan vollzogen, also zu Gunsten von Managern und ehemaligen
Parteikadern (vgl. Bieling 2007: 236).
Die plötzliche Privatisierungswelle brachte jedoch nicht den erwünschten Erfolg, da
sich die aufstrebenden Oligarchen häufig aus Eigeninteresse gegen gesamtökonomische Erfordernisse verhielten. So kam es zu einem drastischen und anhaltenden
Kapitalabfluss. Die Öffnung und Liberalisierung der Märkte, verbunden mit der Auflösung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), setzten die einheimische,
sehr veraltete Industrie unter einen enormen Druck gegenüber der produktiveren
ausländischen Konkurrenz (vgl. Bieling 2007: 236).
Aufgrund seines neuen Kurses war Jelzin im Parlament sehr umstritten und immer
wieder kamen Konflikte zwischen beiden Parteien zustande. 1993 versuchte der
Volkskongress Jelzin abzusetzen, was scheiterte. Danach fuhr Jelzin seinen Reformkurs etwas herunter, was sich jedoch, nachdem ein Volksreferendum die überwiegende Unterstützung des Präsidenten ergeben hatte, schnell wieder änderte. Neu
gestärkt überschritt Jelzin am 21. September seine Kompetenzen, indem er per Dekret den Volkskongress und den Obersten Sowjet auflöste. Da sich das Parlament
weigerte, diesem Dekret nachzukommen, ließ Jelzin es im Oktober 1993 vom Militär
angreifen und erstürmte somit wieder die Macht. Im Anschluss ließ er alle Parteien
und Gruppierungen, die an den Unruhen beteiligt waren verbieten (vgl. Schröder
2003: 17). Im Anschluss an diese Unruhen verabschiedete die Jelzin-Führung eine
neue Verfassung, die die eigentlich unrechtmäßigen Handlungen des Präsidenten
legitimieren sollte. Am 12. Dezember 1993 stimmten dann tatsächlich 57% der Bevölkerung für den Präsidenten und die neue Verfassung, was die demokratische Legitimierung für die bis heute grundlegende Verfassung und Stellung des Präsidenten
darstellte. Die neue Ordnung konzentriert die Macht stärker in den Händen des Präsidenten. Die Legislative genießt nur eine schwache Machtposition und es wird sehr
deutlich, dass die Verfassung im Zuge der Konfrontation zwischen Parlament und
Präsident erschaffen wurde. Um in Zukunft eine ähnliche Situation zu vermeiden,
wurde die rechtliche Position des Präsidenten so abgesichert, dass Parlament und
Volk kaum noch in der Lage sind, eine wirksame Kontrolle über das Staatsoberhaupt
ausüben zu können. Zwar wurden auch Menschenrechte, das Recht auf Privateigentum und die Unabhängigkeit der Justiz in der neuen Verfassung geregelt, was jedoch
in der Rechtspraxis nur spärlich anerkannt und umgesetzt wurde (vgl. Schröder
39
2003: 17f.). Diese Sonderrolle nutzt auch der derzeitige Präsident Putin, welcher die
Kompetenzen allerdings noch erweiterte.
Eine derartig legitimierte Regierung von Boris Jelzin stand bereits unter schlechten
Ausgangsbedingungen. Jelzin brauchte zur Erfüllung seiner Aufgaben einen eigenen
Machtapparat. Als Jelzin, ermittelt durch Umfragen, bei den Präsidentschaftswahlen
1996 eine herbe Niederlage bevorstand, wich er von seinem Reformkurs ab und entließ fast alle Reformer. Zudem initiierten Finanzmagnaten, die durch ihn viel Macht
erhielten seine Wiederwahl in einer groß angelegten Wahlkampagne, was Jelzin
schließlich eine knappe Mehrheit bei der nächsten Wahl brachte.
Der Präsident war aus verschiedenen konzeptionellen Gründen aber vor allem wegen gesundheitlichen Beschwerden mit seiner Position überfordert. Während er an
Einfluss verlor, gewann sein Umfeld an politischem Gewicht. Neben politischen
Weggefährten Jelzins wie Tschubajs und seiner Familie, vor allem Tochter Tatjana
Djatschenko bestimmten in erster Linie Gouverneure der Regionen und Kapitalgruppen (Oligarchen) das System Jelzins, während die parlamentarischen Organe und
die Bevölkerung selbst kaum Einfluss ausüben konnten (vgl. Schröder 2003: 18f.).
Das Unvermögen der Jelzin-Regierung, der Einfluss der Oligarchen und der geringe
Einfluss von demokratisch legitimierten Organen sind einige Gründe für den Zusammenbruch der Wirtschaft.
Weitere Ursachen waren „[…] die Auflösung des einheitlichen sowjetischen Wirtschafts- und Währungsraums, die abrupte Beseitigung der wirtschaftlichen Planungsund Leitungsorgane, Korruption und organisiertes Verbrechen, der brutale Krieg in
Tschetschenien.“ (Meyer 2006: 53). Gert Meyer kritisiert zudem das Ziel der Machthaber in der Jelzin-Ära „[…]nicht die Förderung von Wirtschaft, Kultur und sozialem
Ausgleich, sondern die möglichst rasche, tiefgreifende und irreversible Privatisierung
der wesentlichen Produktionsmittel.“ (Meyer 2006: 53).
Zwischen 1989 und 1998 halbierte sich das BIP. Die Realeinkommen sanken und die
soziale Ungleichheit nahm zu (vgl. Bieling 2007: 237) Die Kriminalitätsrate stieg und
ein großer Anteil der Bevölkerung, vor allem Alte, verelendeten. Sämtliche Sozial-,
aber auch Bildungsausgaben gingen zurück und waren völlig unzureichend. 1995
konnte mit einem Stabilisierungsprogramm und einer lockeren Dollarankopplung die
Inflation gedämpft werden, während die Probleme des Kapitalabflusses und der Verschuldung bestehen blieben. 1998 gilt als Tiefpunkt der russischen Ökonomie. Durch
eine Währungs- und Finanzkrise stieg die Inflation wieder und das BIP sowie die
Renten und Einkommen gingen noch einmal drastisch zurück. Gleichzeitig wurde
40
aber die einheimische Industrie durch die Rubelabwertung und den Anstieg der Importpreise wieder gestärkt (vgl. Bieling 2007: 237). Seit 1998 befindet sich Russland
nun wieder in einem stetigen Wachstumsprozess.
Die Machtbasis Putins
Als Wladimir Putin am 26. März 2000 das arg geschwächte Land übernahm, galt es,
die Fehler der Vorgängerzeit zu beheben oder aber mindestens anzugehen.
Putin musste vor allem die Wirtschaft des Landes stabilisieren, die zunehmende Armut und Verelendung bekämpfen und die innerstaatlichen Machtverhältnisse neu
organisieren. Zu Beginn seiner Amtszeit sah er sich den Kräften gegenüber, die sich
in der Zeit Jelzins formiert hatten. Zum einen standen ihm die mächtigen Apparate
der Präsidialverwaltung und Regierungsbürokratie gegenüber, zum anderen die Kapitalgruppen und schließlich die regionalen Machthaber (vgl. Schröder 2003: 21).
Seine Politik zeichnete sich vor allem durch folgende Maßnahmen aus:
Zunächst veranlasste er eine Föderalreform, um seine Kompetenzen auf die regionalen Ebenen auszuweiten. Er ging gegen die Oligarchen vor, um deren enormen politischen Einfluss einzudämmen und wieder die Oberhand über die wichtigsten Wirtschaftssektoren zu erlangen. Zudem richtete er die Medienwelt und andere öffentliche Einrichtungen in seinem Interesse aus, um sich die Rückendeckung der Bevölkerung zu sichern.
Mit der Föderalreform wollte Putin den Machtspielraum der regionalen Machthaber
eindämmen. Per Präsidialerlass schuf er sieben neue Föderalbezirke, welche von
durch ihn ernannten präsidentennahen Vertretern regiert wurden. Diese sollten die
Politik der Zentralregierung auf regionaler Ebene umsetzen. Außerdem wurde der
Föderationsrat reorganisiert, so dass regionale Machthaber nicht mehr automatisch
Mitglieder des Oberhauses waren. Wenn die Duma dem zustimmte, hatte der Präsident ab diesem Zeitpunkt auch die Möglichkeit bei Rechtsbrüchen regionale Vertretungskörperschaften aufzulösen bzw. deren Oberhäupter zu entlassen. Diese Neuregelung, die im Jahre 2000 durchgesetzt wurde und die Harmonisierung von Bundes- und Regionalrecht zum Ziel hatte, drängte den Einfluss der Gouverneure auf
föderale Politik zurück und weitete im Gegenzug die Rechte des Präsidenten aus.
Häufig scheiterten zwar Versuche der Präsidialadministration, regionale Politiknetzwerke bei Regionalwahlen mit präsidentennahen Vertretern zu durchsetzen, da diese
sich dagegen wehrten, die politischen Einflussmöglichkeiten dieser wichtigen Ver-
41
handlungspartner des Präsidenten wurde jedoch erkennbar reduziert (vgl. Schröder
2003: 21).
Das Vorgehen gegen Oligarchen soll im späteren Verlauf des Textes noch genauer
analysiert werden. Putin ging zum einen strikt gegen politisch aktive Unternehmer an.
Entweder ließ er sie direkt verhaften oder sie mussten ins Ausland fliehen. Andererseits begab sich der Präsident mit den „unpolitischen“ und kooperativen Unternehmern in einen Dialog und baute somit seine Macht weiter aus. Er sicherte sich u.a.
die Kontrolle über die gesamte russische Erdgasförderung und über die russische
Medienwelt.
Wladimir Putin sicherte sich mit Hilfe verbündeter Kapitalgruppen die Verfügung über
die wichtigsten russischen Fernsehsender ORT und NTW. Auch das vorher unabhängige Meinungsforschungsinstitut WZIOM wurde 2003 in eine staatliche Aktiengesellschaft umgewandelt.
Der neue Präsident der Russländischen Föderation hat sich in den Jahren seiner
Amtszeit einen effektiven Machtapparat zusammengebaut. Putins Macht beruht grob
betrachtet auf 5 Pfeilern:
Erstens ist die sehr präsidentenzentrierte Verfassung der Jelzinzeit bis heute bestehen geblieben und von Putin sogar noch erweitert worden, indem der Föderalismus
eingeschränkt wurde.
Zweitens hat Putin wichtige Schlüsselstellen mit Personen seines Vertrauens besetzt
was auch als die „Invasion der Petersburger“ bezeichnet wird (Schröder 2003: 22).
Drittens wird seine Politik aufgrund geschickter diplomatischer Züge durch einen
Großteil der Großunternehmer und Kapitalgruppen gestützt und finanziert, während
regierungsfeindliche Oligarchen aus dem politischen Leben, wenn nicht sogar aus
dem Staat selbst verbannt wurden.
Viertens genießt Putin einen sehr großen Rückhalt im Volk. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung, die Verbesserung der Lebensqualität, welche mit der Politik des
Präsidenten verbunden wird, erreichte Putin in Umfragen stets sehr hohe Werte.
2006 bescheinigten ihm über das Jahr gesehen zwischen 72 und 79% der Befragten
gute Arbeit (Ria Novosti: 18.11.2006). Auch von ausländischen Medien und Politikern
wurde Putin zunächst als Glücksfall für die Entwicklung Russlands und deren Beziehungen zum Westen gesehen, gar als „Lupenreiner Demokrat“ (Gerhard Schröder)
bezeichnet. Inzwischen ist diese Ansicht zum Teil relativiert worden.
Fünftens hat der Präsident die russischen Medien hinter sich, die sehr einflussreich
für die Stimmung in der Bevölkerung sind. Kritische Berichte können zensiert wer-
42
den, so dass niemand von bestimmten Ereignissen erfahren muss. Werden negative
Nachrichten nicht ausgestrahlt, ist es natürlich auch schwer, eine größere Gruppe
von Menschen gegen diese Ereignisse aufzubringen (vgl. Schröder 2003: 22f.)
Letztendlich erscheint die Regierungsweise Putins als Beschneidung der Demokratie
und Transparenz zu Gunsten von Machtausbau und Wirtschaftswachstum. Während
demokratische Elemente, wie die föderativen Subjekte oder die Duma nur begrenztes Mitbestimmungsrecht in der Politik genießen und deren Rechte weiter eingeschränkt wurden, konzentriert der Präsident die Macht über die wichtigsten Wirtschaftssektoren (Gas-, Ölproduktion) sowie über die Medien in seinen Händen. Während politische oppositionelle Großunternehmer aus dem politischen Geschehen
ausgeschlossen werden, besetzt Putin Schlüsselstellen mit Personen seines Vertrauens und kooperiert mit gleichgesinnten und staatstreuen Kapitalgesellschaften
und Unternehmern. Zudem verfügt er über die Kontrolle der Medien und Umfrageinstitute. Mysteriöse Ermordungen von politisch wirksamen Journalisten oder Geheimdienstmitarbeitern sowie gewaltsamen Auflösungen friedlicher Demonstrationen stehen konträr zu der in der Verfassung festgehaltenen Achtung der Menschenrechte
und können ein Indiz dafür sein, wie in Russland mit oppositionellen Bewegungen
umgegangen wird. Generell ist die Rechtwirklichkeit in Russland hinsichtlich der Verfassung sehr kritisch zu beurteilen. Letztendlich bleibt fraglich, inwieweit die positiven
Umfrageergebnisse der Bevölkerung gegenüber dem Präsidenten auf Tatsachen beruhen, da diese in der Regel von nicht unabhängigen Meinungsforschungsinstituten
(WZIOM) erhoben werden. Meines Erachtens ist also unter Präsident Putin ein weiterer Demokratieverlust Russlands zu verzeichnen. Putins Motto, dass die beste Sozialpolitik eine gute Wirtschaftspolitik ist, kann nur für wirtschaftlich starke Zeiten erfolgreich sein. Die relative Akzeptanz der Bevölkerung für die Beschneidung demokratischer Elemente kann mit der Verbesserung ihrer Lebenssituation durch das
Wirtschaftswachstum zusammenhängen, was dann auch die Umfragewerte begründen würde. Sollte dieses aber einmal rückläufig sein wird sich höchstwahrscheinlich
die Zufriedenheit verringern. Dann wird es aber auf demokratischer Ebene schwierig
sein, gegen die Politik des Präsidenten und wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Fehlentwicklungen vorzugehen.
43
Die wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen unter Putin – Eine nachhaltige
Entwicklungsstrategie?
Der Machtwechsel Jelzin –Putin fand genau zu einem Zeitpunkt statt, in dem sich die
russische Wirtschaft erholte und einen bis jetzt fortfahrenden Aufschwung erfährt. In
den Jahren zwischen 1990 und 1996 litt die Volkswirtschaft unter dem Transformationsprozess, der einen ökonomischen Abschwung mit sich brachte. Durch diesen
gingen Steuern und Abgaben verloren, was zu einen großen Haushaltsdefizit führte
und eine sinnvolle Sozialpolitik unmöglich machte. Im August 1998 kam es dann auf
Folge des Börsencrashs in Asien auch in Russland zu einem Einbruch des Rubelwertes. Russland überschritt die Grenze zur internationalen Zahlungsunfähigkeit und
musste Kredite mit sehr hohen Zinsen auf sich nehmen. Die darauf sprunghaft ansteigende Inflation führt zu einem rückläufigen Realeinkommen. Dies stärkte jedoch
die innerstaatliche Wirtschaft, da Importe aufgrund des billigen Rubels extrem teuer
wurden und sich Produkte aus dem Innland durchsetzten konnten (vgl. Trawin
2004:1).
Durch die Krise mussten staatliche Subventionen an Unternehmen zu lasten des
Haushaltes gestrichen werden und es entstand erstmals eine Vorraussetzung für einen Wettbewerbs - fördernden Markt. Der gleichzeitig erfolgende Anstieg des Erdölpreises und die an diesen angekoppelten Preis für Erdgas wirkten als „Lokomotive
der russischen Wirtschaftsentwicklung“(vgl. Götz 2006:7).
Im Gegensatz zu dem wirtschaftlichen Erbe, welches Putin Freiraum für Reformen
ließ, sah es im Bereich der Sozialpolitik katastrophal aus. Das Haushaltsdefizit belief
sich in den Transformationsjahren auf 9% des BIPs. Größtenteils konnten die Angestellten von staatlichen Unternehmen und Institutionen aufgrund des fehlenden Geldes in der Staatskasse nicht ausbezahlt werden. Die Renten wurden nur mit starker
Verzögerung der Inflation angepasst. Es entstand eine sogenannte „neue Armut“
(vgl. Trawin 2004: 1).
Wirtschaftspolitische Reformen unter Putin
Putin erstellte mit seinem Wirtschaftsminister German Gref im Jahre 2000 nach seiner Wahl zum Präsidenten ein umfangreiches Programm zur Neuorientierung der
Wirtschaftspolitik. Ziel dieses Programms war die feste Verankerung der Marktwirtschaft in Russland durch ordnungspolitische Maßnahmen. Durch verbesserte Insolvenzregeln, dem Abbau administrativer Hemmnisse für neue Betriebe und Investitio-
44
nen, der Verbesserung der Eigentumsrechte, Fortschritte beim Bodenrecht sowie die
Förderung des Wettbewerbs durch Monopolkontrolle wurden das Steuer- und Bankwesen sowie die Unternehmen reformiert (vgl. Höhmann 2003: 1). Durch diese ordnungspolitischen Maßnahmen sollte Russland als Investitionsstandort für ausländisches Kapital attraktiver gestaltetet werden.
a) Schuldentilgung und Kapitalzuflüsse
Seit Beginn des Transformationsprozesses hatte Russland nur einen geringen Kapitalzufluss aus dem Ausland zu verzeichnen. Nach den angestrebten Reformen PuDirektes Auslandskapital in Mrd.USDollar
2001
3,9
2004
9,420
2005
13,072
2006
13,678
Tabelle1: Quelle: eigene Dar-
tins ließ sich jedoch ein erster Erfolg verweisen. Im
Jahr 2001 Betrug das Auslandskapital 19,8 Milliarden US- Dollar. Dennoch hatten die Direktinvestitionen, welche in den Aufbau neuer Produktionsstätten und Vertriebsnetze gehen sollten, nur einen Anteil von 3,9 Mrd.US- Dollar (20,2%) an dem Auslandskapital (Höhmann 2003: 1). Die unter Putin
angestrebten
Steuerreformen,
die
pünktlichen
Schuldendienste und neue Konkurs- und Bodenrechte,
stellung, Daten entnommen aus:
welchen Ausländern den Erwerb von Grundbesitz er-
Bundesagentur für Außenwirt-
lauben, wirkten als vertrauensschaffende Basis für aus-
schaft, Wirtschaftsdaten - Russ-
ländische Unternehmen. So steigerten sich die auslän-
land
dischen Direktinvestitionen in den Jahren 2001 bis 2006 enorm.
b) Steuerreform
Wirtschaftsfördernde Maßnahmen und die Attraktivität des wirtschaftlichen Standort
Russlands haben unter Putin eine hohe Priorität. 2001 führte Putin eine sogenannte
flat-tax ein, eine niedrige Einheitssteuer, welche mit der Rückfuhr von staatlichen
Subventionen und Sonderfreibeträgen gekoppelt war. Den zuvor progressiv ansteigenden Steuersatz zwischen 12 Prozent und 30 Prozent wurde 2001 durch einen
einheitlichen 13 prozentigen Einkommenssteuersatz ersetzt. Auch die Sozialabgaben
wurden durch einen einheitlichen, degressiven Abgabensatz festgelegt (vgl. Fischer
2004: 1f). Neben der Standortattraktivität stand bei den Reformen auch die Bekämpfung der Steuerhinterziehung im Vordergrund.
2004 wurde die Reform erweitert, Unternehmen sollten steuerlich entlastet werden
und die Einsparungen für Investitionen nutzen. Durch Senkung des Höchstsatzes der
einheitlichen Sozialsteuer auf die Löhne und Gehälter von 35,6 % auf 26% wird nun
ein großer Teil des Einkommens der Arbeitnehmer besteuert. Diese Erweiterung
45
führt zu einer Umverteilung auf Kosten der Arbeitnehmer und zu der angestrebten
Entlastung der Unternehmer (vgl. Fruchtmann 2004: 3) Putin rechtfertigte die Steuerreform von 2004 mit folgenden Worten: „Die Steuerreform ist ein Instrument der Armutsbekämpfung. […] durch ein angemessenes Steuersystem können wir eine Erhöhung der Löhne und Gehälter sicherstellen und gleichzeitig `graue` Schemata der
Bezahlung ausschließen.“
(Wladimir Putin, Auftritt vor der gemeinsamen Sitzung des Finanzministeriums und
des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung und Handel, 19.03.2004, zitiert nach:
Fruchtmann 2004: 3)
c) Politik und Wirtschaftselite
Putin definierte nach seiner Wahl zum Präsidenten die Beziehung zwischen ihm und
den Großunternehmern neu. Das Prinzip der Äquidistanz wurde Grundlage der Beziehung zwischen Wirtschaft und Staat gegenüber den Interessengruppen (vgl. Stykow 2006: 139).
Durch Putins zeitweilige Verhaftungen von Oligarchen, welche durch kurz darauf folgende Intervention Putins wieder entlassen wurden, signalisierte Putin seine Stärke
gegenüber den Interessengruppen. Ziel dieser Machtdemonstration war die Verdrängung aller Oligarchen aus der „großen Politik“(Stykow 2006: 140). Im Januar 2001
einigte sich Putin mit dem Russländischen Verband der Industriellen und Unternehmen (RSPP) über eine feste Einigung neuer Spielregeln. Putin vereinbarte mit den
organisierten Vertretern aus der Wirtschaft regelmäßige Quartalstreffen. Dieses wirtschaftspolitische Privileg wurde aber auf Beharren Putins an eine „politische Abrüstung“ der Mächtigen der Wirtschaft gebunden, das heißt den Verzicht auf politische
Ambitionen und oligarchische Einflussstrategien in politische Entscheidungen. Eine
weitere Bedingung seitens Putin war die konsequente Einhaltung von Regeln des
Geschäftsverkehrs, beispielsweise die Achtung der Transparenz und das vorschriftliche Zahlen von Steuern. Hinzu kam die Kondition, dass wirtschaftliche Akteure die
staatliche Priorität bei Investitionsentscheidungen berücksichtigen müssen. Eine politisch-ökonomische Stabilisierung Russlands sollte durch einen sozialen Konsens einflussreicher und ökonomisch strukturbestimmender Großunternehmen stattfinden.
Putin verpflichtete die Wirtschaftseliten zur obligatorischen Übernahme sozialer Verantwortung in vom Staat zu bestimmenden Formen. So beispielsweise musste die
Unternehmerschaft 3 Milliarden Rubel in den Fonds zur Unterstützung von Wehrpflichtigen einzahlen. Das Einverständnis zu diesen Bedingungen konnte politisch
loyale Wirtschaftsakteuren den Zugang zur Politik eröffnen (vgl. Stykow 2006: 141).
46
Durch diese Vereinbarungen wurden Interessengruppen nicht vollständig aus dem
Bereich der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen, sondern selektiv berücksichtigt. Putin signalisierte durch die Festlegung seiner Spielregeln, dass er seine Partner als gut informierte Wirtschaftsexperten schätzte, ihnen aber keine genuine politische Rolle zugestand (vgl. Stykow 2006: 145). Die unter Jelzin geführten adhoc Begegnungen mit den Oligarchen wandelten sich damit in offizielle Spitzentreffen von Politik und Wirtschaft.
d) Forschungs- und Innovationsförderung
Wissenschaft und Forschung sind in Russland hauptsächlich von staatlicher Förderung abhängig. Im Gegensatz zu wirtschaftlich starken und entwickelten Ländern, in
denen die Innovations- und Technologieförderung bis zu 50% von der Wirtschaft finanziert wird, ist dies in Russland nicht der Fall. Die wirtschaftlich erfolgreichsten
Firmen in Russland sind die Erdöl und Erdgas fördernden und exportierenden Unternehmen. Diese sind jedoch nicht sehr forschungsintensiv und haben kein großes Interesse an neuen Technologien und Innovationen. Forschung und Innovation sind
aber zentrale Vorraussetzungen für einen anhaltenden Wirtschaftsaufschwung und
sind für die internationale Wettbewerbsfähigkeit unumgänglich. In den Transformationsjahren behielt Russland die Ausgabenstruktur für Wissenschaft aus der Sowjetzeit bei. Ein Vielfaches wurde für die Forschung und den Verteidigungsbereich ausgegeben, erheblich mehr als für den sozialen Bereich. Allerdings wird in der Forschung vorallem in die Bereiche der technischen Wissenschaft investiert, nicht in die
Biowissenschaften (vgl. Beketov 2003:1). Die staatlichen Investitionen in „wissenschaftliche Forschung für die nationale Wirtschaft“ lagen 2005 bei nur 0,2% des BIPs
(Federal State Statistic Service: 22.1), ungefähr so hoch wie in der Sowjetzeit. Der
Anteil von Firmen die aktiv Innovation in der Industrie betreiben lag 2004 erst bei 4
bis 5 Prozent (Beketov 2003:1f). Die Diversifizierung der russischen Exportprodukte
nennt Putin in seiner Amtsansprache 2006 als ein vorrangiges Projekt Russlands:
“Russia must realise its full potential in high-tech sectors such as modern energy
technology, transport and communications, space and aircraft building. Our country
must become a major exporter of intellectual services.”
(Wladimir Putin: Jährliche Ansprache zur Bundesversammlung, Moskau, 10. Mai
2006)
Ob eine langfristige Forschungs- und Innovationsförderung zukünftig auch von der
Wirtschaft getragen wird, muss sich in den kommenden Jahren herausstellen. Die
Notwendigkeit dieser Investitionen in Forschung, Wissenschaft und Bildung für die
47
russische Entwicklung hat Putin bereits angesprochen und die Wirtschaftseliten zur
Übernahme von Verantwortung in der wissenschaftlichen Forschung aufgefordert.
e) Korruption in Russland
Die Alltäglichkeit von Korruption in Russland belegt Petra Stykow (2004) kurz aber
eindrucksvoll: 90%-80% der Manager in Russland 2001 gaben an regelmäßig Bestechungszahlungen zu leisten. Derzeit liegt Russland auf Platz 121 von 142 des
Transparency International Rankings zusammen mit Honduras, Swasiland und Ruanda (TI 2006:6). Interessant ist, dass in der Untersuchung Stykows nur die Hälfte
jener die sich als betroffen von korrupten Praktiken bezeichneten dies als schwerwiegendes Problem angaben, Korruption nimmt trotz der offenbar weitgehenden
Durchdringung der Gesellschaft nur eine mittelmäßige Position bei den wahrgenommenen Problemen ein. Dies deutet auf zwei Sachverhalte hin: Zum einen Gewöhnungseffekte, die aus der traditionell engen und undurchsichtigen Verknüpfung von
Politik und Wirtschaft in Russland hervorgehen und zum anderen der Verdacht das
Korruption als ein Problem „zweiter Ordnung“ (Stykow 2004:248) zur Umgehung oder Milderung von Problemen erster Ordnung genutzt wird: Dies wären vor allem
Steuern und staatliche Regulierungen.
Damit rückt die Bestechung als Mittel zur Beeinflussung der Bürokratie in den Mittelpunkt: Untersuchungen der Weltbank zufolge findet diese zu 75% auf lokaler Ebene
statt und beziehen sich dabei mit gut 70% auf Kontrollinspektionen, Lizenzerteilungen und die Steuererhebung. Begrifflich wird diese Form der Korruption als bürokratische `bribe extortion´ erfasst, d.h. die Behörde stellt gezielt Sperren im Verwaltungsprozess auf die Unternehmen zur Zahlung dieser Bestechungsteuer zwingt
(Pleines 2005:250f). Ein Problem solcher Studien ist die verwendete Definition von
Korruption: Stykow (2004: 253) weißt darauf hin, dass die Weltbank vor allem monetäre Bestechung erfasst und Elemente klientelistischer und parochialer Korruption
nicht gewürdigt werden. Eine für die weitere Entwicklung relevante These ist das die
derzeit virulenten Formen monetärer Korruption vielleicht nur eine für die Transformation kennzeichnende Übergangsphase darstellt. Das bedeutet aber keine Tendenz zum Besseren, denn diese Übergangsformen haben sich aus anderen zwar
nicht geldzahlungsbasierten aber dennoch hoch problematischen Koordinierungsformen entwickelt, sind gewissermaßen Zerfallsprodukte des ‚Gefälligkeitentauschs’
in engen Personennetzwerken zu Zeiten der Sowjetunion. Der Verdacht lautet nun
dass ein Rückgang offener Formen der Bestechung auch in Zukunft nicht mit einem
Verschwinden der Korruption verwechselt werden darf sondern Prozesse der „Retra-
48
ditionalisierung“ (ebd.:256) stattfinden in denen subtilere Formen der Beeinflussung
und Interessendurchsetzung sich durchsetzen. Der übermäßig hohe Anteil ‚primitiver’
Bestechung auf niedriger Verwaltungsebene sollte daher nicht als Zeichen gewertet
werden das die Spitze des Systems weniger korrupt ist. Möglicherweise Fallen deren
Formen nur aus der statistischen Erfassung.
Die sozialpolitische Konzeption Russlands
Die wirtschaftspolitischen Reformen Putins werden von seiner sozialpolitischen Reform flankiert. Seine Konzeption stützt sich auf drei Hauptelemente, der Sicherung
des Bestands und der Loyalität der russischen Bevölkerung, der Monetarisierung sozialer Hilfe und der Eliminierung von aus der Sowjetzeit stammenden Sozialhilfsleistungen sowie steuerpolitischen Maßnahmen. Eine konsequente und erfolgreiche Sozialpolitik hält Putin nicht nur für den Garant des sozialen Friedens, sondern auch als
Basis der Sicherung des loyalen Verhältnisses des Volkes zum Staat (vgl. Fruchtmann 2004:1). Seit Beginn seiner Amtszeit kritisierte Putin die mangelnde Realisierung der sozialpolitischen Verpflichtungen des Staates gegenüber der Bevölkerung.
Um diese Missstände zu beseitigen reduzierte Putin die sozialpolitischen Verpflichtungen des Staates, um diese, gegenüber bisheriger Praxis, auch einzuhalten.
„Denn,“ so Putin auf einem Treffen mit Gewerkschaftsvertretern 2001, „durch die
Einhaltung der bescheidenen Verpflichtungen, […] geht wenigstens nicht das Vertrauen des Volkes in die Staatsmacht und alle anderen Institutionen, die eng mit der
Staatsmacht verbunden sind, verloren.“ (Putin; zitiert nach. Fruchtmann 2004:1)
a) Monetarisierung der Sozialpolitik
Putin strebte eine Gesetzesform an, welche eine Umwandlung der sozialen Hilfe
durch Sachleistungen in reine Geldleistungen vorsah. 27% der Bevölkerung hatten
bis dahin Anspruch auf freie Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, verbilligte öffentliche Versorgungsleistungen, kostenloses Telefon, kostenlose medizinische Betreuung sowie einer Vielzahl von weiteren Hilfsleistungen. Diese materiellen Nutzungsrechte wurden in Form von monatlichen Geldzahlungen in Höhe von 300 bis 1.550
Rubel ersetzt (Wolkow/Peters 2004: 1). Zusätzlich stellt die Regierung den Bedürftigen ein sogenanntes „Sozialpaket“ zur Verfügung, welches die Betroffenen für monatlich 450 Rubel erwerben können. In diesem Paket sind kostenlose ärztliche Behandlungen, Sanatoriumsbesuche und freie Benutzung des öffentlichen Nahverkehres enthalten. Jedoch können nur wenige Russen dieses Paket in Anspruch nehmen,
da die Ausgaben für dieses Paket das monatliche Budget der Bedürftigen überstei-
49
gen würden (vgl. Wolkow/Peters 2004: 1) Die von der Regierung angebotenen Geldleistungen müssen zudem in Relation der stetig steigenden Preise für Dienstleistungen – Gesundheitspflege, Versorgungsleistungen, Transport und Kommunikation gesehene werden. Die Betroffenen starteten eine Reihe wütender Proteste, worauf
zahlreiche Regionen die neue Regelung schlichtweg rückgängig machten (vgl.
Schwethelm 2005: 6f) Russlands Präsident sieht in den Geldleistungen aber vor allem einen Wachstums fördernden Effekt, da die Geldzahlungen die zahlungsfähige
Nachfrage steigern würden (vgl. Fruchtmann 2004: 2). Im Zuge der Monetarisierung
wurde auch festgelegt, dass ein Teil der Geldleistungen von den russischen Provinzen übernommen werden sollten. Der Anteil der Transfers vom föderalen Haushalt
an die regionalen Haushalte sank von 31,1% auf 29,8%. Viele dieser Provinzen sind
jedoch insolvent, haben kein ausreichendes Steuereinkommen und kommen mit den
gesunken Finanzspritzen aus Moskau nicht aus.
b) Privatisierung des Staatsbetriebes am Beispiel der Gesundheits- und
Rentenpolitik
In den Transformationsjahren hat sich eine Zweiklassen- Medizin herausgebildet.
Das Personal im Gesundheitswesen ist unterbezahlt, was einen Schwarzmarkt für
medizinische Dienstleistungen begünstigte. Da 95 Prozent der Russen vom staatlichen Gesundheitssystem abhängig sind, waren diese darauf angewiesen durch Bestechungsgelder und extra Zahlungen eine medizinische Versorgung zu bekommen.
Ohne diese Art von Bezahlung war nur eine medizinische Basisvorsorge zu erhalten.
Nur fünf Prozent der Bevölkerung sind privat versichert und haben so Zugang zu
medizinischen Versorgung westlichen Standards in Privatkliniken (vgl. Schwethelm
2005:7). Durch eine Trennung von staatlicher medizinischer Grundversorgung und
darüber hinausgehenden privat zu bezahlenden Leistungen sollte dem „Schwarzmarkt“ im Gesundheitswesen einen Riegel vorgeschoben und gleichzeitig das unterfinanzierte Gesundheitssystem entlasten werden.
Ähnlich sahen auch die Reformen in der Rentenpolitik aus. Viele Arbeitnehmer lassen sich einen Teil ihres Lohnes inoffiziell auszahlen, so müssen die Arbeitgeber
weder Steuern noch Rentenbeiträge für ihre Arbeitnehmer bezahlen. Ein Ergebnis
der Rentenreform soll sein, dass die Arbeitnehmer bei ihren Arbeitgebern darauf bestehen, ihren Lohn zu deklarieren um so höhere Renten zu bekommen (vgl. Schakina 2003).
„Der heutige Mitarbeiter ist wegen seiner zukünftigen Rente daran interessiert, „sauber“ bezahlt zu werden, nicht im Umschlag, sondern direkt. […]“
50
(Putin, Gespräch mit der Bevölkerung, 18.12.2003, zitiert nach: Fruchtmann 2004:4)
Die Rentenreform Putins sah einen partiellen Umstieg vom Umlageverfahren zum
Kapitaldeckungsverfahren zur langfristigen Entlastung des staatlichen Rentenfonds
vor (vgl. Schwethelm 2005: 3). Die bisherige „Einheitsrente“ wurde so in eine staatlich finanzierte Grundrente und einen Anteil der privaten Vorsorge aufgeteilt. Durch
diesen neuen Ansatz soll ein Markt für private Versicherungsgesellschaften und
Banken geschaffen werden und Rentengelder zur Grundlage finanzwirtschaftlicher
Geschäfte gemacht werden. (vgl.: Fruchtmann 2004: 3). Eine private Vorsorge ist
jedoch teuer und kann nicht von allen Arbeitnehmern in Anspruch genommen werden.
51
c) Armutsbekämpfung
Eines der schwerst zu lösenden Probleme
Bevölkerung
in Mil. Personen
1989
147,0
2001
146,3
2006
142,8
Russland
ist
der
Bevölkerungsrückgang.
Russland hat als einziger BRIC-Staat ein rückläufiges
Bevölkerungswachstum.
Seit
den
neunziger Jahren sinkt die Bevölkerungszahl
beständig. Zum einem resultieren diese Daten
Tabelle2: Eigene Darstellung, Daten ent-
von den Auswanderungen der Russen Rich-
nommen aus:OECD: country statistical
tung Westen in den Jahren nach der Grenz-
profiles: Russia
199
Gebur-
Todes-
Bevölke
ten
Fälle
rungs-
Pro
Pro.
zunah-
1000
1000
me
Einw.
Einw.
10,7
12,2
-1,5
9,0
15,6
-6,6
10,4
15,2
-4,8
2
200
1
200
6
Tabelle3: Eigene Darstellung, Daten
entnommen aus: Federal Statistic Service:
5.5
öffnung. Die Auswanderungen konnten jedoch relativ lange durch die Einwanderung
zurückkehrender Russen aus den angrenzenden ehemaligen Sowjetstaaten kompensiert werden, welche aber immer weniger
werden. Langfristige Auswirkungen wird zudem die sinkende Geburtenrate haben.Zwar
hat sich das negative Bevölkerungswachstum von Tiefstand 2001 mit -0.66 % verbessern können, dennoch wird die weiterhin negative Entwicklung von momentan -0.48%
schwerwiegende Probleme aufwerfen.
„In diesem Jahr ist die Geburtenrate weiter
gestiegen. […] Mehr als 31 Millionen [Bürger]
leben unterhalb der [Armuts]grenze. Solange
wir derartige Probleme nicht gelöst haben, können wir nicht sagen, dass wir unsere
Aufgabe gelöst haben. „
(Putin Gespräch mit der Bevölkerung, 18.12.2003, nach: Fruchtmann 2004:1)
Die negative Tendenz in der Bevölkerungsentwicklung sieht Putin als eine Folge des
hohen Grades der Verarmung der Bevölkerung und dem Mangel an sozialer Sicherheit (vgl. Fruchtmann 2004:1), welche vom russischen Staat bekämpft werden müssen.
d) Armut in Russland
Der Wirtschaftseinbruch im Jahre 1998 und die fehlenden Reformen sowie der Wegbruch des sowjetischen Sozialsystems trugen dazu bei, dass in Russland je nach
Studie 20- 25 % der Bevölkerung in Armut leben. Einer Studie von Tatjana Malewa,
52
in der das Einkommen der Haushalte mit den Ausgaben zusammen mit einer Selbsteinschätzung der Betroffenen ausgewertet wurde, fand heraus, dass 1999 knapp
25% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten, 2002 waren es „nur noch“
19,6% (vgl. Schwerthelm 2005:2).Von der Armut betroffen sind vor allem Familien,
Arbeitslose und Rentner. Über die Hälfte der Armen geht jedoch einer Arbeit nach,
kommt mit dem Lohn aber nicht aus. Für viele Experten liegt deshalb die Lösung des
Problems in der Erhöhung der Löhne (vgl. Schwethelm 2005: 4). Schaut man sich
die Entwicklung der Löhne in dem Zeitraum von 1995 bis 2006 an so sieht man, dass
schon eine enorme Lohnsteigerung stattgefunden hat. Besonders auffallend ist, dass
Bedienstete in den öffentlichen Bereichen wie Bildungswesen, Gesundheits- und Sozialwesen zu der einkommensschwächsten Gruppe gehören.
1995
2001
2006
Total
472,4
3240,4
10727,7
Landwirtschaft,
259,4
1434,6
4577,7
752.6
5386,5
15527,2
Bildungswesen
309,3
1833.0
6984,3
Gesundheits- und Sozialwesen
345.0
1959.9
8092.0
Forstwirtschaft und Jagd
Schürfung und Gewinnung von Energierohstoffen
Tabelle4. eigene Darstellung, Daten entnommen aus: Federal State Statistic Service, 7.7
Parallel zu der Lohnentwicklung sind aber auch die Kosten des Existenzminimums
gestiegen. Das Existenzminimum setzt sich aus den eingeschätzten Kosten der minimalen Menge an Lebensmittel und aus Kosten für Waren und Dienstleistungen
zum Schutz der Gesundheit und Lebenserhaltung sowie anderer notwendiger Gebühren - Kosten für Wohnen, Sozialausgaben, Steuern - zusammen (vgl. ErdmannKutnevic 2006: 34).
Existenzminimum RUR/Mon.
2001
2002
2003
2004
1500
1808
2112
2376
Tabelle 5: eigene Darstellung; Daten entnommen aus: Federal Statistic Service: 7.11
Lagen die monatlichen Durchschnittskosten im Jahr 2000 noch bei 1210 Rubel, so
stiegen sie jährlich um ungefähr 300 Rubel. 2004 betrugen die Kosten im Durchschnitt 2376. Für Kinder liegen diese Kosten generell etwas niedriger, für Menschen
im altersfähigem Alter etwas höher.
53
Besonders stark sind die regionalen Unterschiede in der Armutsverteilung in Russland. Im Jahre 2002 variierte der Anteil der Bevölkerung, welcher unterhalb der von
der Weltbank festgelegten Armutsgrenze von 3,1 % in St. Petersburg/ Stadt bis zu
55,6% im süd-östlichen Russland, in der Republik Dagestan. Knapp 1/3 der Bevölkerung auf dem Land lebt unterhalb der Armutsgrenze (vgl. Schwethelm 2005: 4). Aber
auch die regionalen, ländlichen Gebiete differieren stark. So liegt der Anteil der an
Armut leidenden Bevölkerung in dem Gebiet Kamtschatka/ Förderalgebiet Fernost
„nur“ bei 13,8% Prozent. In dieser Region sind große Erdölvorkommen, welche gefördert werden (russlandanalysen 49/2004:9f).
e) Bildungspolitik
Obwohl relativ viel Arme in Russland leben liegt die Alphabetisierungsquote bei 99%,
im Vergleich zu Brasilien, Indien und China sehr hoch. Trotz der sehr hohen Alphabetisierung der Bevölkerung ist das Bildungssystem schlecht und unterfinanziert.
Zum einem fand nach der Öffnung der Grenzen ein regelrechter „Brain- drain“ statt,
eine Auswanderungswelle von Akademikern gen Westen. Die Zahl der in Russland
tätigen Wissenschaftlern halbierte sich zwischen 1992 und 2004 von 804.000 auf
410.000 (Meyer:2006:1). Um die Zerfallstendenzen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich zu bekämpfen erklärte Putin im September 2005 Bildung und Wissenschaft
als „national vorrangiges Projekt“. Dieses Projekt sieht vor allem die finanzielle Unterstützung von Schulen und Hochschulen vor. Die Bildungsausgaben beliefen sich
2006 auf 0,8% des BIPs und wurden 2007 auf 0,9% des BIPs erhöht (vgl. Auswärtiges Amt 2007: Russlands Bildungs- und Kulturstruktur).
f) Umweltpolitik
Ein Großteil der Menschen in Russland leidet unter starkenUmweltverschmutzungen.
70% des von russischer Bevölkerung genutzten Trinkwassers liegt der Qualität nach
unterhalb des international festgelegten Mindeststandards. Auch der von landwirtschaftlichen Betrieben genutzte Boden ist zum größten Teil mit Schadstoffen verunreinigt. Die Lufterschmutzung in Russland ist gravierend. 67% der Bevölkerung
(Neidlin 2002: 1) leben in Gebieten mit einer sehr hohen Schadstoffbelastung der
Luft. Ungefähr 19% der Siedlungsfläche weisen Schwermetallkonzentrationen auf,
die Entsorgungssysteme für Industrie- und Haushaltsabfälle sind überbelastet –2002
hatten sich bereits 1,8 Milliarden Tonnen Giftmüll angesammelt, die Zuwachsrate
liegt bei 108 Mil. Tonnen- und Dutzend alter Atom-U-Boote produzieren jährlich 3500
Kubikmeter radioaktiven Müll (vgl. Neidlin 2002:1).
54
Putin verabschiedete 2002 das „Mittelfristige Wirtschaftsentwicklungsprogramm für
die Russische Förderation 2002 bis 2004“, in welchem unter anderen die umweltpolitischen Ziele formuliert sind. Als Ziele in der Umweltpolitik wurden der Ausbau ökonomischer Anreize für den Umweltschutz, die Durchsetzung des Verursacherprinzips
und die Förderung der ressourcen- und energiesparenden Technik formuliert (vgl.
Neidlin 2002:1).
Dennoch reichen diese Absichten nicht aus, um die ökologischen Schäden zu reduzieren geschweige denn zu beseitigen. Die von Russland verursachte Umweltverschmutzung hat in vielen Fällen bereits eine grenzüberschreitende Dimension erreicht. Eine Bekämpfung dieser Umweltprobleme ist deswegen unumgänglich, findet
aber unter Putin noch nicht genügend Beachtung. Putin gliedert den Umweltschutz in
sein Wirtschaftsentwicklungsprogramm ein, ordnet diesen jedoch der wirtschaftlicherfolgreichen Entwicklung unter.
Reformen zur nachhaltigen Entwicklung?
Putins sozialpolitische Reformen sind eine Verlängerung seiner markt- und wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik. Eine funktionierende Wirtschaftspolitik bleibt für
Putin die beste Sozialpolitik. Durch die Wirtschaftsförderung sollen sich auch Möglichkeiten zur Lösung von sozialen Problemen ergeben. Seine Strategie konnte jedoch nur im bedingten Maße die Verarmung der Bevölkerung verringern. In der
Amtszeit Putins konnte sich zwar eine neue Oberschicht herausbilden, jedoch ist
Diskrepanz zwischen den Einkommen dieser neuen Oberschicht und der unteren
Schichten der Bevölkerung stark gewachsen. Der Gini- Koeffizient des Einkommens,
welcher die soziale Ungleichheit misst, ist in den Jahren nach dem Zusammenbruch
und auch unter Jelzin und Putin in die Höhe geschnellt. Auf 40% der Bevölkerung
entfielen im Jahre 2004 67,1% des gesamten Einkommens Russlands, die Hälfte
dieser erwirtschaftete allein 46,4 % des Gesamteinkommens Russlands. Der GiniKoeffizient des Einkommens ist unter Putin von 0,395 auf 0,406 angestiegen (vgl.
Meyer 2006: 8).
Ein funktionierendes Sozialsystem konnte sich unter Putin noch nicht etablieren.
Durch die an die marktwirtschaftlichen Prinzipien angepasste Sozialpolitik entstand
eine neue Unterschicht. Der Anteil der unter dem Existenzminimum lebenden Bevölkerung ist unter Putin auf unter 20% gesunken, jedoch konnte die Diskrepanz zwischen den zentralen und den süd-östlichen Gebieten nicht verringert werden. Die
Bekämpfung der Armut gilt als grundlegende Bedingung für eine steigende Bevölke-
55
rungszahl. Das negative Bevölkerungswachstum könnte eines der größten Probleme
für die russische Wirtschaft und Sozialpolitik in den kommenden Jahren darstellen.
Bedingt bestünde die Möglichkeit mit einer vereinfachten Einwanderungspolitik Arbeitskräfte in das Land zu holen, jedoch stoßen Überlegungen dieser Art auf nationalistischen Widerstand und auf Integrationsprobleme der ausländischen Arbeiter in die
russische Gesellschaft.
Für eine ökonomische Entwicklung hat Putin in seiner Amtszeit grundlegende Reformen verabschiedet und auf kommende Probleme der Wirtschaft hingewiesen. Vor
allem die Diversifizierung der Wirtschaft muss voran getrieben werden um den ökonomischen Aufschwung zu erhalten.
Russlands Märkte
Binnenmarkt und Importe
Mit Blick auf die Ergebnisse der Weltbank (2006) in ihrem Russian Economic Report
und die Angaben des Federal State Statistic Service (GKS) stellt sich die Lage der
russischen Wirtschaft im Jahr 2006 wie folgt dar: Lohnsteigerungen auch durch die
Gewinne des Öl und Gasexports haben die Binnennachfrage gestärkt, dies ging einher mit steigenden Investitionen in fixes Kapital und einem Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen. Schwerpunkt des Wachstums lag bei den nicht handelbaren Gütern, insbesondere das Baugewerbe mit 13,2% Zuwachs, in der Mehrzahl
durch privaten Wohnungsbau, und dem Handel mit 12,5%. Beide machten 2006 gut
die Hälfte des BIP-Zuwachses von 6,6% aus. Das verarbeitende Gewerbe fiel im
Vergleich zurück, besonders Betroffen war die Produktion von Maschinen und Ausrüstungen die stagnierte und die Elektroindustrie die 1,5% schrumpfte. Ausnahme
waren die Gas-, Wasser und Energieversorger die um knapp 5% wuchsen. Über die
nächsten Jahre sollen mit sukzessiven Preissteigerungen (bis 2010 für Gas sind 90100% vorgesehen) ausstehende Investitionen finanziert werden. Im Gassektor ist
das Ziel die Profitabilität des Binnenhandels der des Exports anzugleichen – die Gewinne werden benötigt um bisher ungenutzte Vorkommen auszubeuten und einem
steigenden Bedarf gerecht werden zu können. Dies alles kann als Folge der fortlaufenden Aufwertung des Rubels (8% in den ersten drei Quartalen 2006) betrachtet
werden: Von dem Wachstum profitieren Branchen die keiner internationalen Konkurrenz ausgesetzt sind (Weltbank 2006:3).
56
Die Investitionen in fixes Kapital sind weiterhin auf den Energiesektor, die Logistik
und den Immobilienhandel konzentriert. Zieht man die Metallindustrie ab verblieben
im verarbeitenden Sektor nur 13% dieser Investitionen. Für ausländische Direktinvestitionen ergibt sich ein ähnliches Bild, hier bleiben nach Abzug der metall-, koksund ölproduzierenden Betriebe nur 17,1% der Gelder im verarbeitenden Gewerbe.
Die Energieträgergewinnung ist hier insgesamt dominant.
Goskomstat gibt außerdem den Anteil der langfristigen Investitionen mit 30% am Gesamtaufkommen an. Diese sind auf den Bergbau, d.h die Energieträgerförderung,
und die Gas-, Wasser und Energieversorgung konzentriert. Verarbeitendes Gewerbe
und Chemieindustrie zeigen hier eine gemischt Bilanz, d.h. einen beträchtlichen Anteil kurzfristiger und damit volatiler Investitionen.
Schließt man sich der Analyse von Hermann Clement (2005:62f) über den Beitrag
der Außenwirtschaft zum russischen Aufschwung an dann gilt es zuerst festzustellen
das der schnelle Anstieg des Außenhandelsüberschusses seit 1999 nicht der Anstoß
für diese Entwicklung war. Unstrittig ist allerdings das es sich hier um einen massiv
stabilisierenden Faktor handelt. Ich werde hier die Entwicklung des Außenhandels
der russischen Förderation kurz darstellen und zentrale Elemente und Besonderheiten dieser Entwicklung diskutieren.
Handelsbilanz
140
Mrd. USD
120
100
80
GUS
Nicht GUS
60
40
20
0
1995
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
(Daten: www.gks.ru)
Zuerst ist der bemerkenswerte Anstieg des Außenhandelsüberschusses an sich, das
sich von 19,5 Mrd. $ 1995 auf 140,7 Mrd. $ im Jahr 2006 mehr als versiebenfacht hat
und dabei allein gegenüber 2005 um 27% zugenommen hat (GKS-Online). Hauptpartner sind dabei Staaten außerhalb des Kreises der GUS mit besonderem
57
Schwerpunkt bei der EU, die Ziel von gut 50% der russischen Exporte ist und aus der
45% der Importe stammen (vgl. Clement 2005:73).
Bezüglich der Art der Waren die im- oder exportiert werden hat sich eine über den
gesamten hier erfassten Zeitraum erkennbare Struktur herausgebildet die Anhaltspunkte für die weitere Entwicklung der russischen Wirtschaft liefert. Der Export mineralischer Rohstoffe war schon 1995 mit 42,5% des Gesamtexports der größte Posten und ist seitdem konstant gewachsen auf 62,7% im Jahr 2006. Außer den landwirtschaftlichen Produkten, deren Exportvolumen sich in diesem Zeitraum vervierfacht hat, haben alle anderen Exportgüter demgegenüber prozentual an Anteilen verloren. Die Kategorie der mineralischen Rohstoffe erfasst zu einem Großteil nur die
Förderung von Energieträgern, Clement gibt den Anteil des Energieträgerexports am
BIP für 2004 mit etwa 25% an (ebd.:64).
Auf der Importseite bildet die Einfuhr von Maschinen und Ausrüstungen dazu das
Spiegelbild. War diese Art von Gütern mit einem Drittel der Importe 1995 schon dominant so hatte sich ihr Volumen bis 2006 vervierfacht und ihr Anteil war auf 47,7%
gestiegen. Die Einfuhr von chemischen und Gummiprodukten hat ebenfalls ihren Anteil steigern können, hier auf 15,8%. Diese Importe haben insgesamt einen substitutiven Charakter, sie bedienen also eine Nachfrage die von keinem inländischen Anbieter gedeckt werden könnte. Ein Hinweis hierauf ist dass der beim Import so stark
vertretene Maschinenbau nur weniger als 6% des Exportes stellt. Für die Bewertung
ist das interessant weil substitutivem Handel im Gegensatz zu komplementärem auf
Dauer geringere Wachstumsperspektiven zugerechnet werden (ebd.:72). Diese spezielle Versorgungslücke im Maschinenbau könnte für eine weitere Modernisierung
des notorisch veralteten Maschinenparks der russischen Industrie, geschätzt wird
das nur ca. 5% der Maschinen jünger als 15 Jahre sind (vgl. ICM 2006:5), von Nachteil sein wie der sehr hohe Anteil von Importware in strategisch wichtigen Betrieben
andeutet. Hohe Investitionen hier gehen an der russischen Volkswirtschaft vorbei.
Probleme des Außenhandels
Vieldiskutierter und vielleicht auch problematischer ist die Einseitigkeit der Exporte,
die zunehmende Bedeutung fossiler Energieträger. Zunächst ist klar dass diese Ressourcen endlich sind, ihr Ende ist wohldokumentiert und absehbar. Doch selbst solange die Förderung noch aufrecht erhalten werden kann ist festzuhalten dass das
Verhältnis von investiertem Kapital und Wertschöpfung pro Arbeiter in anderen Industriezweigen wie im Metallverarbeitenden Gewerbe und dem Maschinenbau güns-
58
tiger ausfällt als im Rohstoffsektor. Hier kann die Produktivität durch weitere Investitionen mehr gesteigert werden als in der Förderung von Energieträgern (vgl. Hishow
2005:88). Dies steht in einem engen Zusammenhang mit der enormen Kapitalintensivität dieses Sektors was besonders in den Problemen des Pipelinenetzes deutlich
wird. Der Ausbau von Transportinfrastruktur die eine Verbreiterung des Abnehmerkreises für russisches Öl und Gas gen Osten ermöglichen soll erweist sich als enorm
kostenintensiv. Auch diese Bindung an Kunden durch einmal gebaute Pipelines stellt
für sich ein Risiko dar. Eine andere Frage ist die nach einer Wirkung von Preisschwankung auf den Rohstoffmärkten auf das russische Wachstum. Anschaulich ist
hier die Schätzung, dass ein Anstieg des Ölpreises um einen Dollar pro Barrel mit
zusätzlichen Einnahmen für die russische Wirtschaft von 2 Mrd. $ und einer Zunahme des Budgets der Förderation um 1 Mrd. $ verbunden ist (Clement 2005:71fn).
Das wären zwar nur 0,25% des Hauhaltes 2007, doch allein in der Zeit der Entstehung dieser Arbeit zwischen Mitte August und Mitte Juli schwankte der Rohölpreis
um 7$ pro Barrel. Es muss davon ausgegangen werden, dass Veränderungen im
Ölpreis spürbare Konsequenzen hätte – im positiven wie auch im negativen. Ebenfalls diskutiert wird die Gefahr einer für die bereits unterentwickelte Exportindustrie
verheerenden Aufwertung des Rubels aufgrund sprudelnder Devisenquellen auf dem
Rohstoffmarkt, die “Dutch Desease”. Ein verlässlicher Nachweis der „Holländischen
Krankheit“ in Russland konnte allerdings noch nicht erbracht werden. Obwohl einige
der zu erwartenden Symptome, Wechselkursaufwertung, Lohnniveausteigerung und
ein Rückgang des verarbeitenden Gewerbes zugunsten des Dienstleistungssektors
erfüllt werden. Das Problem bei der Diagnose ist das Phänomene wie die Lohnniveausteigerungen der letzten Jahre auch von anderen Prozessen verursachte werden, wie bspw. einer Erholung gegenüber den Einbrüchen von 1998, die Formalisierung von zuvor in die Schattenwirtschaft abgewanderten Arbeitsverhältnissen oder
auch von den real stattfindenden Produktivitätszuwächsen. Das Verhältnis von verarbeitendem Gewerbe zur Dienstleistungsbranche ist ebenfalls zwiespältig: Das beobachtbare schnellere Wachstum im Dienstleistungssektor könnte ein Hinweiß auf
eine relative Deindustrialisierung sein, könnte aber auch andererseits ein Aufholprozess typisch für die Vernachlässigung dieses Bereiches im sowjetischen System sein
oder auf Fehlern der offiziellen Statistik basieren. Besonders problematisch ist dass
das ausweisen von Geschäftsteilen als Dienstleistung mit Steuervorteilen verbunden
ist, weshalb dieser Bereich vermutlich überrepräsentiert ist (vgl. Höhl 2007:5f). Trotz
einzelner erfüllter Indikatoren ist aufgrund dieser Überdeterminierung ein klarer empi-
59
rischer Beweis von gesamtwirtschaftlich negativen Konsequenzen des Ölexports
nicht möglich. Dies kann zumindest insofern als Bestätigung der Initiative der russischen Regierung zur Einrichtung des Stabilisationsfonds gewertet werden als die
Folgen die durch diesen Fond eingedämmt werden sollen zumindest nicht offensichtlich eingetreten sind. Dennoch wird praktisch überall die Empfehlung einer Verbreiterung der Exporte und vor allem einer Diversifizierung der Industrie, vor allem in den
bei der Diskussion der Im- und Exporte aufgezeigten länger bestehenden Schwachstellen, aufrecht erhalten (vgl. Höhmann et.al. 2005).
Die Exportabhängigkeit der Rüstungswirtschaft
Eine Besonderheit der russischen Exportwirtschaft ist die Rüstungsindustrie, die in
den letzten Jahren dank eines wachsenden Verteidigungsetats ihre Produktion massiv steigern konnte. Interessant am Fall Russland ist allerdings vor allem das Verhältnis von Produktion für den Bedarf der eigenen Streitkräfte zu dem Verkauf an andere Nationen. Russland ist der weltweit zweitgrößte Exporteur von Militärgütern mit
einem geschätzten Exportvolumen von ca. 6 Mrd. $ für das Jahr 2006. Das sind unter Abzug des Exports von Energieträgern gute 6% der russischen Gesamtausfuhren
dieses Jahres und im Verhältnis zur Gesamtwirtschaft 14,9% des BIP (eigene Berechnungen, SIPRI-Online). Zum Vergleich beträgt dieses Verhältnis im Fall der USA
als weltgrößtem Exporteur von Rüstungsgütern nur 0,35%. Berechnet wurden hier
die vergebenen Exportlizenzen nach Angaben des US-Verteidigungs-ministeriums.
Auch unter Bezugnahme auf die Verteidigungsausgaben bestätigt die Exportlastigkeit der russischen Rüstungsindustrie: Die Ausfuhren 2006 hatten einen Wert von
17,3% des Rüstungsetats, für die USA beträgt dieser Wert im selben Zeitraum 5,3%.
Das hohe Rating Russlands in der SIPRI-Statistik für Waffentransfers verdankt sich
allerdings nicht nur diesen Zahlen. Rüstungsexporte haben die Eigenheit das die gezahlten Beträge nicht zuverlässig den `Gebrauchswert´ der gelieferten Waren widerspiegeln Das Problem sind hier nicht nur politisch motivierte Rabatte oder Aufschläge oder die Bewertung des technischen Standes des gelieferten Materials sondern
auch mehr oder weniger `geldwerte´, mit den Lieferungen eng verknüpfte Leistungen. Zu nennen wären hier die Regelung von Dienstleistungen wie Wartung und Instandhaltung, die Möglichkeit der Lizenzproduktionen im eigenen Land oder auch
sehr weitreichende Anpassungen der zum Verkauf angebotenen Systeme nach
Wünschen des Kunden bis hin zu einer gemeinsamer Forschung und Entwicklung.
Russland hat in diesem Bereich über die letzten Jahre eine außergewöhnlich kun-
60
denfreundliche Politik betrieben und so mehrfach europäische und amerikanische
Konkurrenzunternehmen im Wettbewerb um Beschaffungsausschreibungen ausgestochen. Das die SIPRI-Statistik über Rüstungstransfers zumindest Teile dieser besonderen Faktoren würdigt ist ein Grund für hohe Wertung Russlands direkt unter
den USA.
Hauptziele der russischen Exporte 2006 waren China mit 47%, Indien mit 18,5% und
der Iran mit 12,3% (SIPRI-Online). Von 1992 bis heute gerechnet erhielten diese drei
Länder knapp über zwei Drittel der russischen Ausfuhren. Indien erweißt sich dabei
als ein Paradebeispiel: Auf Basis langfristiger Zusammenarbeit erhielt das Land
hochwertige Flugzeuge zu ausnehmend günstigen Konditionen wie Produktionslizenzen und umfassenden Modifikationen unter Mithilfe von israelischen und französischen Rüstungsfirmen. Flugzeuge bilden auch insgesamt den Schwerpunkt der
russischen Exporte und eben deswegen ist die differenzierte Wertung der SIPRIDaten von Vorteil: Gerade hier sind Fragen der Ersatzteillieferung oder eigenproduktion, Wartung und Modernisierung besonders kostenintensiv und wegen
ihres technischen Niveaus begehrt, da der Erwerb des entsprechenden Know-Hows
für die Käufernation prestigeträchtig und auch real lohnenswert für Entwicklung einer
eigenen Hochtechnologiebranche sein kann. Es bleibt also festzuhalten, dass der
russische Staat große Mengen von Rüstungsgütern verkauft und dass diese von
technisch ungewöhnlich hohem Niveau sind.
Die russische Rüstungsindustrie befindet sich dementsprechend in einem deutlichen
Wachstumsschub, von 1999 bis 2006 konnte der Output um 80% gesteigert werden
und staatliche Investitionen in dem Sektor haben sich in diesem Zeitraum verachtfacht (vgl. SIPRI 2006:441f). Dies sollte allerdings nicht als ein Ausbau der Kapazitäten zur Waffenproduktion interpretiert werden. Vielmehr handelt es sich um die praktisch nachholende Finanzierung eines immer noch bestehenden Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsoverheads der die mageren Jahre gewissermaßen überwintern konnte. Die Reaktivierung solcher Kapazitäten ist bei weitem nicht abgeschlossen was sich momentan in rapide steigenden Stückzahlpreisen ausdrückt die
aus dem Instandhaltungskosten nicht genutzter Einrichtungen resultieren (vgl. ebd.:
444fn). Wenn ich oben auf den Wert des mit den eigentlichen Systemen exportieren
Know-Hows hingewiesen haben dann lässt sich daran anschließend feststellen dass
in diesem Bereich des Technologietransfers ähnliche Entwicklungen vonstattengehen. Die derzeit exportierten Rüstungstechnologien, wie beschrieben größtenteils im
Flugzeugsektor aber zunehmend auch maritime Technik, sind Entwicklungen der
61
achtziger Jahre, also ebenfalls Überbleibsel des sowjetischen Militärapparats die in
der Zwischenzeit in den Schubladen verschwunden waren oder von den einzelnen
Unternehmen auf eigene Kosten weiterentwickelt wurden.
Das die neuen staatlichen Mittel eher dem Erhalt der bestehenden Strukturen dienen
als dem Aufbau neuer zeigt sich noch deutlicher im Folgenden: Der Etat für Anschaffungen (procurement) betrug 2006 zwar nominell 70% des Budgets, das sind immerhin 6,3 Mrd. $, doch der Hauptteil dieser Gelder wird für Instandhaltung und zaghafte
Modernisierung bestehender Systeme verwendet. Wirkliche Neubeschaffungen sind
in dieser Sicht erst für den nächsten Finanzierungszyklus ab 2010 eingeplant (vgl.
ebd.: 443). Vorsichtig geschätzt hätten damit die derzeitigen Rüstungsexporte den
doppelten Wert der Neubeschaffungen für die russischen Streitkräfte. Auch mit den
Einschränkungen einer schwierigen Abschätzung ergibt sich daraus ein eigenartiges
Bild: Im internationalen Vergleich erfolgen quantitativ wie qualitativ überproportionale
Ausfuhren von Kriegsgerät die zwar auch den üblichen politischen Linien folgen (Indien, neuerdings Venezuela) aber auch in potentielle Krisengebiete wie den Iran gehen. Eine unangenehmer Nachgeschmack, selbst für den Waffenhandel, bleibt dabei
dass es möglicherweise ebendiese Exporte sind die es ermöglichen eine so große
und technisch fortgeschrittene Rüstungsindustrie zu erhalten. Um den Sektor für nationale Ansprüche zu erhalten muss exportiert werden und es wird exportiert was
verlangt wird – der Verkauf von Luftabwehrsystemen an den Iran während des Atomstreits zeigt dies.
Fazit – Rentenökonomie Russlands?
Grundbezugspunkt des Rentenbegriffs ist immer die Theorie der Preisbildung auf
freien Märkten: Renten werden dabei verstanden als eine Abweichung von dieser
Regel, gewissermaßen ein Fehlverhalten welches die optimale Verteilung knapper
Güter verhindert, sie sind die Differenz zwischen einem unter idealen Bedingungen
vollständiger Konkurrenz entstandenen Preis und einem höheren realen Marktpreis.
Ein Akteur ist demnach in der Lage ein benötigtes Gut künstlich zu verknappen und
damit seinen Preis durchzusetzen - worauf diese Marktverzerrende Kontrolle genau
beruht ist dabei erst einmal offen.
Wendet man den Begriff politisch und bezieht ihn wie für diese Arbeit nötig auf das
internationale System bleibt der Kern einer Umgehung des Marktes zum einstreichen
eines Zusatzgewinns erhalten, doch werden die getätigten Geschäfte nun als zwi-
62
schenstaatliche gedacht womit die Regierungen der einzelnen Länder als zentrale
Akteure erscheinen. Die fungieren als „Gatekeeper“ (Neelsen 1997:124) zwischen
nationalen und internationalen Märkten und stehen damit in dem Verdacht auch die
ersten Profiteure dabei abfallender Renten zu sein. Die Macht solcher Akteure über
vitale Ressourcen besteht zumeist aus dem exklusiven Nutzungsrecht ihres Staatsgebiets, sei es für Landwirtschaft, Bergbau oder Transit. Neelsen (ebd.) schlägt vor
bei diesen Vorgängen von Ausbeutung zu sprechen, die Erwirtschaftung von Extragewinnen ohne gleichwertige Gegenleistung die von ihrem Empfänger frei verwendet
werden können. In der Betrachtung des Rentierstaat werden einige, sich teils widersprechende negative Effekte dieses Prozesses hervorgehoben:
Die Distanz von Staat und Bürger wächst, da der Staat nicht mehr auf Steuereinnahmen angewiesen ist es so leichter hat über deren Kopf hinweg zu handeln. Dem
entgegen kommt ein politisches Desinteressen der rundum abgesicherten Bürger,
die deswegen auch nur eine geringe individuelle Leistungsbereitschaft aufweisen.
Dies beides legt die Entwicklung zentralistischer und paternalistischer Systeme nahe.
Die entscheidende Rolle staatlicher Institutionen bei der Vergabe der Gewinne legt
die Vorstellung nahe, dass Kräfte aus Gesellschaft und Wirtschaf hart um den Zugang zu Schlüsselpositionen im Vergabesystem kämpfen werden und dies zu einem
hohen Maß von Klientelismus , Korruption und Diskriminierung führen kann.
Der Blick der Politik liegt eher auf dem Ausland, eben dem Ursprungsort ihrer Haupteinnahmen. Dabei entziehen sich viele für die Realisierung der Renten wichtige Prozesse auf den Märkten den Einflussmöglichkeiten des Staates. Eine letzte Garantie
für den Fluss der Renten kann es nicht geben, die Anfälligkeit gegenüber äußeren
Krisen wächst.
Die Entwicklungstheorie hat diese Ansatz verwendet um Unterentwicklung als primär
innergesellschaftlich bedingt zu erklären: Ressourcenreiche Staaten in der dritten
Welt hätten demnach ihren kurzfristigen Reichtum mit einer lücken- und fehlerhaften
Modernisierung von staatlichen Institutionen und Wirtschaft sowie einer Lähmung
gesellschaftlicher Energien durch „Luxuskonsum“ (ebd.:126) bezahlt. Der Staat ist
das Zentrum der Kritik, sein Eingreifen in die Ökonomie, sein ausspielen exklusiver
Verfügungsmacht über knappe Güter gegenüber den internationalen Märkten hat
diese Konsequenzen heraufbeschworen. Dementsprechend ist die Handlungsaufforderung dieser Theorie eindeutig: Der Marktlogik muss Weg gegeben werden, es
müssen dem Regierenden die Möglichkeiten genommen werden Interventionen in
den Markt durchzuführen und Renten zu realisieren.
63
Was bedeutet diese Prognose für die Russische Förderation? Inwieweit und mit welchen Ergebnissen folgt die aktuelle Wirtschaftspolitik diesen Empfehlungen? Der
russische Staat nimmt über die Vergabe von Förder- und Exportlizenzen Renten ein,
ihre Verwendung und die Folgen ihrer Verwendung entsprechen aber nur in Teilen
den Kriterien eines Rentierstaats. Erstens kann von einer freien Verfügung über die
Gelder nicht gesprochen werden da große Teile in dem so genannten Stabilitätsfond
gebunden sind und die Verwendung dieser Beträge hartnäckig umstritten ist. Zweitens basiert die obige Vorhersage einer Rundumversorgung für die Staatsbürger auf
der Annahme eines relativ Bevölkerungsarmen oder kleinen Landes, dies sind sicherlich keine Eigenschaften Russlands. Doch eine solche expansive Sozialpolitik ist
(Siehe Sozialpolitik, S. 14) gar nicht gewünscht wenn Putin eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik als beste Sozialpolitik bezeichnet.
Damit fällt der Blick auf andere Fragen: Inwieweit wird gegen die Gefahren von Klientelismus, Korruption, Einflussnahme und `state capture´ vorgegangen, die eine
gleichmäßige Verteilung der Renten durch Vorteilsnahme verhindern würden? Die
gemischte bis schlechte Bilanz der letzten Jahre in diesem Bereich wirft deutliche
Schatten auf die These der Wirtschaftspolitik als bester Sozialpolitik. Sie bedeutet,
dass der exklusive Zugang zu den Verteilstellen in Regierung und Administration
Merkmale einer herrschenden Elite werden die in Selbstbedienung Renten abschöpfen kann.
Die Frage einer zunehmenden Distanzierung von Bürgern und Staat, insbesondere
in Form eines zurückgehenden zivilgesellschaftlichen und aktiv politischen Engagements scheint im System Putin nicht als Problem angesehen zu werden. Die weitere
Stärkung des Präsidenten unter der Losung der gelenkten Demokratie macht dies
klar.
Aus all dem folgt: Selbst wenn die Entwicklung in Russland nach den Begriffen der
BRIC-These `gut läuft´ werden die Ergebnisse nicht den Ansprüchen des von uns
formulierten Entwicklungsbegriffs genügen. Weder sozialer Ausgleich, breite politische Beteiligung noch die Nachhaltigkeit des Wachstums wurden ausreichend beachtet. Mehr noch: Wenn es nach den Kategorien von Goldman-Sachs `schlecht laufen´ sollte – und das könnte es im Fall eines Scheiterns der Reform des öffentlichen
Sektors, durch einen Einbruch der Außenhandelsüberschüsse als Wachstumstütze
oder eines Durchschlagend der ökonomischen Nebeneffekte der Einseitigen Exportstruktur – dann könnten die jetzt erreichten Erholung von Einkommen und Lebens-
64
standard nach der Transformationskrise ebenso schnell verloren gehen wie sie erreicht wurde.
Literaturverzeichnis
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Indien
Einleitung
Alexander der Große, die Mongolen, Portugal, England, die UDSSR, die USA und
nun Goldman Sachs? Schon viele haben über die Jahrhunderte ein Auge auf Indien
geworfen. Bereits im Mittelalter und früher waren Gerüchte von einem magischen
Reich der Sinne, welches unermesslichen Reichtum barg, in aller Munde. Ein Schalk,
wer sich beim Lesen des Papers „Dreaming with BRIC’s“ von der Investmentbank
Goldman Sachs daran erinnert fühlt. Doch was hat es auf sich mit diesem „Honigtopf“ um den kontinuierlich neue Fliegen schwirren, mit der Absicht teilzuhaben?
Im Folgenden wollen wir ergründen wie es Indien möglich war nach über 150 Jahren Kolonialzeit unter der Englischen Krone wieder zu einem Staat zu werden, von
dem behauptet wird, er wäre einer der Wachstumsmotoren der Weltwirtschaft. Denn
es ist nicht so, dass diese Entwicklung vorbestimmt gewesen wäre, man betrachte
nur die Negativbeispiele des Postkolonialismus in Afrika.
Auch ist ein Vergleich mit dem anderen großen Buchstaben des Begriffes „BRIC“
interessant: China. Die beiden mit Abstand bevölkerungsreichsten Länder der Erde,
zwei vollkommen unterschiedliche politische Systeme, zwei grundverschiedene Wirtschaftsstrukturen: zwei Erfolgsgeschichten? Der Faktor, der beiden Ländern gleich
ist, sind die Heerscharen von billigen Arbeitern, schließlich beherbergen sie allein
knapp 40 Prozent der Weltbevölkerung. Aber ist Demographie gleich Schicksal? Sind
68
bevölkerungsreiche Länder allein der Demographie geschuldet, zum Wirtschaftswachstum und damit einhergehenden Wohlstand „verdammt“?
In unserer Ausarbeitung haben wir uns an den Leitfragen und Prämissen unseres
BRIC-Projekts orientiert. Schlichtes Wirtschaftswachstum, so lautet unsere These, ist
nicht zwangsweise entwicklungsfördernd. Wachstum trägt nur dann zur Entwicklung
bei, wenn es umweltverträglich ist und die Bevölkerung in den Entwicklungsprozess
einbezieht. Wer sind die GewinnerInnen, wer sind die VerliererInnen und wie lange
noch? Ein dauerhafter Verlierer, der oft in Vergessenheit gerät, scheint schon jetzt
festzustehen: die Natur. Wenn in den nächsten Jahren nicht gehandelt wird, könnte
es zum Desaster kommen, sozial und ökologisch.
Zum Einstieg soll ein kurzer Überblick über das politische System Indiens gegeben
werden, spielt doch die politische Einbettung des Wachstums eine wichtige Rolle.
Anschließend folgt ein Abriss über die geschichtliche Entwicklung der indischen Wirtschaftspolitik. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob die geläufige Annahme, das
indische Wachstum habe mit den neoliberalen Reformen in den neunziger Jahren
eingesetzt, zutrifft. Ein Überblick über die Beschaffenheit der indischen Wirtschaft
und die Positionierung im Welthandel folgt im nächsten Teil. Anschließend soll näher
auf die Frage eingegangen werden, welche Grenzen dem indischen Wachstum gesetzt sind. Dabei werden sowohl ökologische als auch soziale Grenzen aufgezeigt.
Es wird sich zeigen wie die, ihrer enormen Vielfältigkeit geschuldete, tiefst säkulare und föderale Demokratie mit den Folgen des Wirtschaftswachstums umgeht. Nur
so lässt sich schlussendlich die Frage beantworten, ob die optimistischen Wachstumsprognosen – geäußert nicht nur von Goldman Sachs – der Wahrheit entsprechen oder doch nur einen kurzzeitigen Trend wiedergeben.
Das politische System
Indien ist ein Potpourri der verschiedenen Kulturen und Religionen aus Hindus, Muslimen, Sikhs, Jains, Christen und noch unzähligen mehr. Trotz allem entschied sich
Indien nach dem Ende der 150jährigen Kolonialzeit für den schwierigen Weg einer
Vielparteiendemokratie. Die neuere indische Politik ist gekennzeichnet von Koalitionsregierungen, in die selbst kleinere regionale Parteien eingebunden sind (vgl. Harald Müller 2006: 151, 156-159).
Dies ist wohl die beste Entwicklung, die die eigentlich auf dem britischen Westminstersystem basierende Demokratie nehmen konnte. Denn die indische Demokratie ist ein Beispiel dafür, wie sich trotz hoher Diversität der Bevölkerung in Bildung,
69
Religion und sozialem Status über eine Milliarde Menschen stabil regieren lassen.
Zwar wird dadurch eine einheitliche und stabile Wirtschaftspolitik erschwert, dafür
aber rechtliche Sicherheit und Stabilität erkauft (vgl. Oliver Müller 2006: 7). In dem
indischen Parlament sind über 40 verschiedene Parteien vertreten, welche nach dem
Niedergang der Kongresspartei in Teilen die Regierung stellen. Durch ihre große
Menge, die verschiedenartigen Hintergründe, Motivationen und Ziele, ist die Politik
die von ihnen ausgeht eine pluralistische, kompromissorientierte Politik der Mitte.
Durch die Vielfalt der Parteien, welche die Mannigfaltigkeit des Landes widerspiegeln, wäre es einer einzelnen Mehrheitspartei nicht mehr möglich innerhalb der demokratischen Grenzen von Neu Delhi aus den Kurs des Landes zu diktieren (vgl. Harald Müller 2006: 164f). Viele der kleinen Parteien fühlen sich einer bestimmten Minderheit oder Region verpflichtet, nur sieben Parteien engagieren sich indienweit (vgl.
Harald Müller 2006: 153f).
In dem stark föderalistisch orientierten Land klaffen teils riesige Lücken zwischen
den einzelnen Bundesstaaten. Nicht nur in Sprache – es gibt mehr als 18 Hauptsprachen - Religion und Klima unterscheiden sich die einzelnen Staaten. Das südliche
Kerala beispielsweise ist einer der erfolgreichsten Nutznießer der Wirtschaftsbooms
während die Menschen in Bihar in Apathie verharren. Nicht einmal 40 Prozent der
Menschen dort können lesen oder schreiben (vgl. Ihlau 2006 a: 107; Atlas der Globalisierung 2006: 171).
Die indische Gesellschaft ist von tiefen sozialen Gräben der Ungleichheit durchzogen: die Emanzipation der unteren Gesellschaftsschichten stellt dadurch die größte
Hoffnung auf dauerhafte Stabilität dar. Denn nur durch Teilhabe der unteren Gesellschaftsschichten können innergesellschaftliche Spannungslinien dauerhaft und
nachhaltig abgebaut werden (vgl. Harald Müller 2006: 51/52, 86).
Die Schatten zum Licht der Erfolge der indischen Demokratie finden sich vor allem
auf dem Land. Die Beteiligung der Legislative ist zumeist nur in engen Grenzen
spürbar, organisierte Kriminalität nimmt Einfluss auf die örtliche Politik – Klientelismus und Patronage sind allgegenwärtig. Die Polizei wird zumeist von den mittleren
Kasten beherrscht.
Auch die überall sichtbare, schon oft zu beschneiden versuchte, Bürokratie stellt
ein starkes Hemmnis für die weitere Entwicklung, besonders der ländlichen Regionen dar. Nicht nur, dass das Geld zumeist auf dem Weg von Neu Delhi verschwindet, durch die Mühlen der Bürokratie braucht es zudem oft kleine Ewigkeiten bis es
70
an seinem Bestimmungsort gelangt. Im Korruptionsindex von Transparency International belegt Indien Platz 88 von 192 Staaten (vgl. Harald Müller 2006: 96).
Ein Phänomen, welches auch auf nationaler Ebene sichtbar wird, ist die Schwäche
des Parlamentes gegenüber der Regierung. Viele Gesetze werden ohne Debatte im
Parlament direkt durch die Exekutive beschlossen. Im Gegensatz dazu ist die gesamte Judikative weitgehend unabhängig und eines der Vorzeigeobjekte Indiens
(vgl. Harald Müller 2006: 150 ff.).
In den letzten Jahrzehnten sieht sich die indische Demokratie zunehmen mit der
Gefahr des Hindu – Nationalismus konfrontiert. Diese stärkste religiöse Bewegung,
welche Moslems und Christen als nichtindisch ablehnt, nagt mit hohlem Zahn an
dem säkularen Staat. Die strikte Trennung von Staat und Region hat zum Zweck,
Konflikte in der Gesellschaft entschärfen und vor allem Indien als ganzes zusammenhalten. Nur so ist die Neutralität des Staates, das Schützen von Eigentumsrechten, religiösen und sozialen Praktiken, garantiert. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass Minderheiten den Hindus gegenüber im Konfliktfall meist zurückstecken müssen (vgl. Harald Müller 2006: 101 ff). Weitere Ursachen für soziale Konflikte
in Indien, werden in Kapitel V. detaillierter betrachtet. Zunächst jedoch ein Blick auf
die historische Entwicklung der indischen Wirtschaft.
Wann begann das Wachstum? Entwicklung der indischen Wirtschaft und Wirtschaftspolitik
Um die Politik Indiens und besonders die indische Wirtschaftspolitik nachvollziehen
zu können, ist eine historische Einbettung unerlässlich. Deshalb wird im Folgenden
zunächst Indiens Wirtschaft vor dem Beginn der britischen Herrschaft betrachtet, um
selbige dann während der Kolonialzeit genauer zu beleuchten. Anschließend werden
die wirtschaftlichen Entwicklungen und Entscheidungen seit der Unabhängigkeit analysiert.
Kolonialgeschichte: Indien unter den Britten
Null Uhr am 14. August 1947: Indien wird unabhängig! Das Jahrhundert der britischen Herrschaft ist endlich Geschichte. Aber ist auch der Schatten den sie wirft
Vergangenheit?
Ein kurzer Blick auf das Indien der Vorkolonialzeit soll veranschaulichen, wie sich die
britische Regentschaft auf Indiens ökonomisches, sowie politisches System auswirk-
71
te, und ob diese Auswirkungen sogar noch über den Zeitpunkt der Unhabhängigkeit
hinausreichen.
Indien war in vorkolonialer Zeit ein überwiegend landwirtschaftlich geprägtes Land:
90 Prozent der Bevölkerung lebte auf dem Land und baute vor allem Weizen sowie
Baumwolle an. Trotzdem waren auch die nicht-landwirtschaftlichen Erzeugnisse vielfältig und wurden in die übrige Welt exportiert. Indien verfügte weithin über eine positive Außenhandelsbilanz, und konnte dementsprechend das als Zahlung erhaltene
Gold und Silber im Land anhäufen (vgl. Lohaus 2006: 31 f). Insgesamt hatte Indien
einen der gegebenen Entwicklungsstufe entsprechenden, gut ausgebildeten industriellen Sektor, sowie ein hinreichend ausgeprägtes Handels-, Transport-, sowie Bankenwesen (vgl. Lohaus 2006: 31). Eigentlich waren die Voraussetzungen für industrielle Entwicklung sowie für Wachstum somit eher günstig und förderlich, als das
Gegenteil.
In hundert Jahren britischer Herrschaft stagnierten die wirtschaftliche und industrielle Entfaltung, sowie das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Inder und
Inderinnen dennoch. Anstatt sich weiter zu entwickeln, wurde Indien ein, aus ökonomischer Sicht, unterentwickeltes Land (vgl. Lohaus 2006: 33). In den Jahren vor der
Unabhängigkeit betrug die indische Wachstumsrate in der Volkswirtschaft 0,7 Prozent, und lag somit unter der Bevölkerungswachstumsrate (vgl. Lohaus 2006: 32).
Angesichts der positiven Voraussetzungen überrascht diese Entwicklung. Warum fiel
Indien in seiner Entwicklung zurück? Welche Kräfte führten dazu, dass vorhandenes
Potential nicht genutzt wurde, oder nicht genutzt werden konnte?
Einige Intellektuelle sehen den wichtigsten Grund in der Politik der britischen Kolonialherren. Immerhin: Unter britischer Herrschaft wurden Justizwesen und Verwaltungsapparat samt ihren Gesetzen, sowie ein System öffentlicher Sicherheit aufgebaut. An sich förderlich für ökonomische Entwicklung und Wirtschaftswachstum. Tatsächlich nutzten diese Strukturen aber vor allem britischen Händlern und richteten
sich gegen das Interesse Indiens. Im Groben kann die von den Briten verfolgte Politik
wie folgt zusammengefasst werden: Sie zielte auf den Abtransport indischer Rohstoffe nach Großbritannien und den Import britischer Produkte nach Indien ab. Indische
Produkte waren in Großbritannien mit hohen Einfuhrzöllen belegt. Gleichzeitig waren
die nach Indien eingeführten Produkte oft günstiger als einheimische Erzeugnisse.
Insofern war diese Politik so angelegt, dass sie die einheimische Industrie zerstörte,
beziehungsweise verhinderte, dass neue Industrien entstehen konnten.
72
Ein weiteres Element der britischen Politik war die Erhebung einer Salzsteuer. Da
der Verzehr von Salz gerade im heißen Klima Indiens von lebenswichtiger Bedeutung ist, bedeutete das Salzmonopol der Briten eine sichere, beständige Geldquelle
für das Vereinigte Königreich. Für die indische Bevölkerung bedeutete es hingegen
die Abhängigkeit von britischer Willkür. Salz durfte nur von Vertragshändlern gekauft
werden, welche die entsprechende Steuer zahlten. Privates Salzsieden, selbst für
den eigenen Haushalt, war strafbar (vgl. Rothermund 2005). Als Gandhi und seine
Anhänger mit dem Salzmarsch im Frühjahr 1933 am Monopol der Briten rüttelten,
quollen die Gefängnisse bald über.
Anders formuliert, betrieb das Vereinigte Königreich ein ausbeuterisches System.
Indien unterstützte dabei, gezwungener Maßen und auf eigene Kosten, Großbritanniens wirtschaftliche Entwicklung. Wäre das nach Großbritannien transferierte Kapital, immerhin circa drei Prozent des indischen Nationaleinkommens, im Land selbst
produktiv angelegt worden – Indien hätte vermutlich aussichtsvoller da stehen können. So aber wird deutlich, warum Indien zum Zeitpunkt seiner Unabhängigkeit ökonomisch rückständig war. Vor diesem Hindergrund ist auch die Symbolkraft des
durch Gandhi populär gewordenen, indischen Spinnrads einleuchtend; stand es doch
für eine indische Selbständigkeit und das Recht auf Unabhängigkeit. Vor allem jedoch für wirtschaftliche Autarkie!
Indiens koloniales Erbe: Ökonomie und Wirtschaftspolitik nach der Unabhängigkeit
Tief von der kolonialen Erfahrung geprägt, schrieben die Väter der indischen Unabhängigkeit diese im wahrsten Sinne des Wortes in der Ordnung ihres Landes fest.
Die Selbstständigkeit gegenüber dem Ausland wurde emphatisch betont (vgl. Lohaus
2006: 35). In Folge waren Abschottung und Schutz der nationalen Märkte die prägenden Elemente der auf die Unabhängigkeit folgenden Jahre. Dabei erschwerten
hohe Importzölle die Einfuhr ausländischer Waren, und Importgebühren um die 300
Prozent und mehr waren keine Ausnahme (vgl. Tharoor 2005: 203). Autarkie war die
Richtlinie, Gandhi und sein Spinnrad das Leitsymbol.
Nicht nur der Import ausländischer Produkte, auch die Einfuhr von Technologie
und Kapital aus dem Ausland sollte verhindert werden. Denn in leidvoller Erinnerung
an die East India Company fürchtete die politische Elite in Indien, dass aus Investoren abermals Beherrscher werden könnten. Somit ist die Festlegung Indiens auf
möglichst völlige Selbstversorgung, sowie eines im weitesten Sinne sozialistischen
73
Wirtschaftssystems, auch auf die Erfahrungen mit der kolonialen Vergangenheit zurückzuführen.
Vor allem die Ernährung der indischen Bevölkerung sollte vollständig und ausschließlich durch inländische Produktion gewährleistet sein. Die produzierten Nahrungsmittel reichen im Wesentlichen auch für die Bevölkerung aus. Und obwohl Armut, Hunger und Mangelernährung in weiten Teilen des Landes ein ungelöstes Problem bleiben, gab es seit der Unabhängigkeit keine mit der Zeit unter den Briten vergleichbaren Hungerkatastrophen in großem Ausmaß mehr (vgl. Lohaus 2006: 37).
Diese ersten Jahre werden mit dem als Sozialisten bezeichneten Jawaharlal Nehru
in Verbindung gebracht – dem ersten Premierminister Indiens. Nehru führte Indien in
die Selbstständigkeit und setzte sich für ein sozialistisches System in seinem Land
ein, welches dem Großteil der Bevölkerung bessere Verhältnisse bringen sollte.
Der indischen Elite wird indessen häufig vorgeworfen, die von den Briten hinterlassene Struktur beibehalten und lediglich deren Platz übernommen zu haben, so
dass letztlich nur die oberen Klassen und Kasten Indiens, Vorteile durch die Unabhängigkeit erwarben. Für den Großteil der Bevölkerung habe sich an der Gesamtsituation nichts verändert, die britischen Herrscher seien lediglich durch indische ersetzt worden. Bei Betrachtung der Situation auf dem Land wird diese Sichtweise bestätigt: Nur Großgrundbesitzer profitieren von subventionierten Düngemitteln und subventionierter Elektrizität! Außerdem werden weiterhin große Teile der Ernte von
staatlichen Aufkauf-Organisationen abgenommen (vgl. Amin 2007: 705 ff). Die einfachen Bauern indessen, kommen nicht in den Genuss dieser Privilegien.
Trotz vieler Hindernisse und schlechter Voraussetzungen lässt sich nach 1947, im
Gegensatz zu der Zeit unter den Briten, wirtschaftliches Wachstum feststellen. Und
zwar mit stabilen 3,5 Prozent, der so genannten Hindu-Wachstumsrate. Diese Zahl
veranlasst beispielsweise den UNO Mitarbeiter Shashi Tharoor von Stagnation zu
sprechen: „In den mehr als fünf Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit hat Indien die
meiste Zeit eine Wirtschaftspolitik betrieben, bei der die Unproduktivität staatlich unterstützt, die Stagnation verwaltet und die Armut umverteilt wurde. Wir nannten das
Sozialismus“ (Tharoor 2005: 199).
Wenn auch vieles an dieser Auffassung zutreffend ist, so berücksichtigt sie doch
nicht, dass 3,5 Prozent Wachstum, angesichts der 0,7 Prozent zur Zeit der Briten,
eine enorme Steigerung sind. Zudem gab es Fortschritte bei der Alphabetisierung,
genauso wie bei allen wichtigen Sozialindikatoren (vgl. Lohaus 2006: 37). Trotzdem
gab und gibt es industrielle Arbeitsplätze nur in geringem Umfang, da die indische
74
Industrie nicht so schnell wächst, weshalb sich die indische Arbeiterklasse auch nach
der Unabhängigkeit nur relativ langsam entwickelte. 1990 waren nur elf Prozent der
Erwerbstätigen im industriellen Sektor beschäftigt. Im Vergleich zu China, dessen
Wachstum auf Schwerindustrie aufbaut, ist das extrem wenig.
Insgesamt ist für die ganze Zeit von der Unabhängigkeit bis Anfang der neunziger
Jahre eine führende Rolle des Staates zu verzeichnen. Die Wirtschaft sollte mittels
Fünf- Jahres- Plänen reguliert werden. Preis- und Außenhandelskontrollen, Subventionen, und Vorschriften für private sowie für ausländische Unternehmen waren Bestandteil dieser Wirtschaftspolitik (vgl. Amin 2007: 709). Die Wirtschaftskrise Anfang
der Neunziger, welche Indien dazu zwang, seine Goldreserven zu verpfänden, war
ein Schock für die indische Nation. Diese nationale Demütigung führte zu einer Abkehr von der bisherigen Politik hin zu einer zunehmenden Liberalisierung der Märkte,
was zu erhöhten Auslandsinvestitionen führte (vgl. Tharoor 2005: 213 f; Schmalz
2006: 26). Diese Maßnahmen hatten, obwohl sie bewusst behutsam eingeführt wurden, Einwände, aber auch Proteste zur Folge.
Der Boom seit den 90er Jahren: Liberalisierung und Wachstum
In Wirtschaftskreisen wird Indien derzeit hoch gehyped: Der Mainstream vertritt die
Auffassung, dass die Liberalisierung der indischen Märkte in den 1990er Jahren den
derzeitigen Boom der indischen Wirtschaft verursacht hat. Indien wird als Wirtschaftswunder gehandelt, gewissermaßen, das neue und bessere China der Zukunft
(vgl. Ihlau 2006 a: 10).
Die Wirtschaftspolitik Indiens sei bis zum Jahre 1990 zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Öffnung der Märkte in den 1990ern wird zum Wendepunkt in eine bessere Zukunft gewertet. Auch der Beginn des indischen Wachstums wird auf das Jahr
1991 datiert. Der Schock, dass Indiens Goldreserven verkauft werden mussten, hätte
Indien aufgeweckt. In Folge der Marktliberalisierung sei auch ein Abbau der Bürokratie, welche Indiens Wirtschaft lähme, zu konstatieren.
Die US- Investmentbank Goldman Sachs sagte 2003 in ihrem Global Economics
Paper No: 99 die Wachstumszahlen der BRICs bis zum Jahre 2050 voraus. Indien
schaut demnach einer rosigen Zukunft entgegen: „India hast the potential to show
the fastest growth over the next 30 an 50 years“ (Wilson/ Purushothaman 2003: 4).
Indiens Wachstum könnte in den nächsten 30 Jahren höher als fünf Prozent sein,
und sogar danach noch bei fast fünf Prozent. Als einziges Land der Welt wird es bis
2050 Wachstumsraten von deutlich über drei Prozent aufweisen können (vgl. Wilson/
75
Purushothaman 2003: 2 u. 4). In den Jahren zwischen 2015 und 2025 wird Indien
laut Goldman Sachs, sowohl Italien, als auch Frankreich und Deutschland gemessen
an ihrer Wirtschaftsleistung überholen (vgl. Wilson/ Purushothaman 2003: 3).
Diese Projektionen beruhen auf der Annahme, dass eine junge Bevölkerung und
hohe Bevölkerungswachstumsraten auch zu entsprechend hohen Raten beim Wirtschaftswachstum führen. Da Indiens Bevölkerung, die jetzt schon extrem jung ist,
dem Forschungspapier zufolge, als einzige der BRICs auch in den nächsten Jahren
noch rasant wachsen wird, leiten die Ökonomen von Goldman Sachs daraus auch
das Potential ab, dass auch das Pro-Kopf- Einkommen in Indien 35 Mal so hoch sein
wird wie heute. Aufgrund des stetigen Bevölkerungszuwachses trauen sie Indien sogar zu, den anderen Giganten, China, zu überrunden (vgl. Wilson/Purushothaman
2003: 10; Ihlau 2006 a: 68). Auch sonst soll Indien innerhalb der nächsten 50 Jahre
rasant aufholen und dadurch den Westen herausfordern. Wenn China die Werkbank
der Welt ist, dann wird Indien zum größten „back office“ der Welt, die Zuwachsquoten
im Outsourcing-Geschäft ist gewaltig, die IT-Branche boomt, die Anzahl der Millionäre steigt pro Jahr um 20,5 Prozent. Das klingt jedenfalls beeindruckend (vgl. Matern
2007: 2; Ihlau 2006 a: 69).
Allerdings wird dieses Wunder nur dann fortgesetzt, wenn Indien weiterhin auf
dem neoliberalen Zug fährt. Dass dieser Zug womöglich gegen die Wand fahren
kann, weil ein Großteil der indischen Bevölkerung nicht mitfährt, wird nicht in Betracht gezogen.
Sind die 90er der Wendepunkt? Eine Alternative zur Mainstream-Annahme
Die erläuterte Auffassung wird von einem großen Teil der indischen und westlichen
Ökonomen gleichermaßen geteilt. Für Börsenmakler und Investment- Berater zumindest bieten die Projektionen von Goldman Sachs wunderbare Gewinnchancen. Es ist
ja auch tatsächlich ein Aufschwung zu beobachten. Aber ist er wirklich so spektakulär? Ist die Ursache tatsächlich die Marktliberalisierung in den 1990er Jahren?
Entgegen der dargelegten Auffassung werden vermehrt kritische Stimmen laut.
Ihrer Ansicht nach beruhen die Annahmen von Goldman Sachs und Konsortien bezüglich Indiens zukünftigem Wohlstand im Rahmen der BRIC-Debatte auf falschen
Annahmen -sowohl was die indische Wirtschaft angeht, als auch bezogen auf die
Weltwirtschaft insgesamt (vgl. Desai 2006: 62). Die Vertreter dieser Auffassung
sprechen von einem Wachstum welches bereits in den siebziger Jahren begonnen
76
hat. Das von ihnen entworfene Modell unterscheidet sich grundlegend von den „umwerfenden Prognosen“ (Desai 2006: 63) der Investmentbank.
Wenn man die Projektionen des Sensationsberichts, die auf der These „Demografie ist Schicksal“ basieren auf die Jahre zwischen 1960 und 2000 anwendet, produziert das Modell irrige Ergebnisse. Zum Beispiel wird das Wachstum in Indien, sowie
in Brasilien überschätzt. Gleichzeitig wird das Wachstum Hong Kongs und Südkoreas unterschätzt. Anhand dieser Irrtümer wird deutlich, dass das Modell weder die besonders günstigen Voraussetzungen in den als Tigerstaaten bekannten Ökonomien
in Rechnung stellen konnte, noch Faktoren wie Abhängigkeit, Unterentwicklung und
Imperialismus, welche Wachstumshindernisse in Indien darstellen, berücksichtigen
kann. In dieser Zeit war die Demografie also nicht der bestimmende Faktor! (vgl. Desai 2006: 63; Wilson/ Purushothaman 2003: 12 u. 14).
Da die aufgestellten Annahmen also fehlerhaft sind, erscheint die Kritik daran in
weiten Teilen plausibler als die Annahmen des Papers. Dass die Prognosen des Modells für die westlichen Industrienationen, zutreffend waren, macht umso deutlicher,
dass das Modell nicht geeignet ist, die Zukunft der BRICs oder anderer Entwicklungsländer vorherzusagen (vgl. Desai 2006: 64). In dieser Periode hatte die Demografie also keineswegs die ihr zugesprochenen, positiven Eigenschaften. Zudem sind
die demografischen Prognosen für die Aufstiegsländer eher problematisch, „denn bei
ihnen ticken soziale Zeitbomben, sollte es für die Millionen-Massen nicht genügend
Arbeit geben“ (Ihlau 2006 a: 67).
Betrachtet man die indische Wirtschaft im gesamten 20 Jahrhundert, lässt sich
feststellen, dass es zwei entscheidende Wendepunkte in der indischen Wirtschaft
gab: Der erste Wachstumsschub fand in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, also
unmittelbar nach der Unabhängigkeit und mit dem Inkrafttreten der indischen Verfassung statt. Der zweite Wendepunkt ist Ende der 60er, Anfang der 70er sichtbar. Auf
dem Schaubild im Anhang ist diese Entwicklung deutlich zu erkennen. Das heißt,
selbst wenn nur die Entwicklung nach der Unabhängigkeit betrachtet wird, ist ein
wirtschaftlicher Aufschwung bereits vor den angeblich so phänomenalen 90ern festzustellen. Was wir heute beobachten, ist die Fortsetzung oder Folge der Entwicklung
in den 70ern (vgl. N2007: 1452 ff).
Wenn der Beginn des Wachstums heute auf die Liberalisierung der 90er datiert
wird, so hat das politische Hintergründe. Man will der Marktliberaliserung und der mit
ihr verbundenen Politik positive, für Indien förderlich Eigenschaften zusprechen.
Zieht man in Betracht aus welchem Bereich solche Annahmen kommen, werden
77
noch andere Hintergründe sichtbar: Banken wie Goldman Sachs fahren große Gewinne ein, wenn sie Geschäftsleute davon überzeugen in ihre BRIC-Fonds zu investieren. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass seit der Liberalisierung die Wirtschaft zwar weiterhin wächst, mit ihr aber zunehmend auch die soziale Ungleichheit
in Indien. Die Frage bleibt, wie Indien damit umgehen wird.
Im folgenden Kapitel wird zunächst auf die Situation der indischen Wirtschaft zum
heutigen Zeitpunkt eingegangen: Welche Sektoren tragen das Wachstum und worauf
baut es auf? Anschließend werden die hemmenden sozialen Auswirkungen genauer
betrachtet. Denn unabhängig davon, wann das Wachstum eingesetzt hat, stellt sich
die Frage, welche Faktoren dazu in der Lage sind, es positiv oder negativ zu beeinflussen.
Aufbau und Struktur der indischen Wirtschaft
Indien: das bessere China (vgl. Ihlau 2006 b: 26), Neuer Motor der Weltwirtschaft
(vgl. Oliver Müller 2006: 2), Weltmacht und neue Herausforderung des Westens (vgl.
Ihlau 2006 a). Das sind Schlagwörter, welche uns im letzten Jahr immer öfter zuwehten. In der Tat sind die jährlichen Zuwachsraten von sieben bis acht Prozent (vgl. Oliver Müller 2006: 2) sehr beeindruckend. Wenn man sich jedoch gleichzeitig vor Augen hält, dass sich Indien mit einem Bruttosozialprodukt von 728$ pro Kopf auf dem
118. Platz weltweit befindet (vgl. Ihlau 2006 a: 67), stellt sich die Frage, worauf dieses Wachstum sich gründet. Um zu verstehen wo und wie die Gräben in der indischen Gesellschaft verlaufen, richtet sich das Augenmerk zunächst auf den Aufbau
und die Struktur der indischen Wirtschaft.
Indien sei eine „Supermacht des Wissens“ werden JournalistInnen und WissenschaftlerInnen nicht müde zu betonen (Ihlau 2006 a: 9). Tatsächlich sind 25 Prozent
der Menschen im Bereich der Dienstleistung tätig, also dem Bereich der Wirtschaft
welcher die höchste Qualifikation von seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
voraussetzt und über 50 Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung Indiens generiert.
Wenn man sich aber nun vor Augen hält, dass nicht einmal 20 Prozent in der Industrie und immer noch 60 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft arbeiten (vgl. Harald Müller 2006: 96) stellt man sich schnell die Frage: Warum hat die Supermacht
des Wissens keine Werkbank?
Dass diese Werkbank angesichts der stetig wachsenden Bevölkerung, der immer
größer werdenden sozialen Probleme und des derzeitigen Bildungssystem mehr gebraucht wird denn je ist offensichtlich.
78
Industrieller Sektor
Für das Verständnis über die vermeintliche Schwäche des industriellen Sektors ist
ein Überblick über die natürlichen Ressourcen Indiens hilfreich. Trotz der immensen
Größe von fast 3,3 Million km2 Landfläche ist Indiens einziger fossiler Energieträger
welcher ausreichend vorhanden ist: Steinkohle. Indien ist der drittgrößte Produzent
von Steinkohle weltweit. Es gibt zwar kleinere Ölvorkommen welche jedoch nicht
einmal ein Drittel des aktuellen Bedarfs decken. Die massive Förderung von Steinkohle und die anschließende Verfeuerung in indischen Kraftwerken, welche 82 Prozent der indischen Energieerzeugung stemmen (vgl. Harald Müller 2006: 78), führen
zu massiven ökologischen Problemen. Weitere Bodenschätze, welche im größeren
Stil gefördert werden, sind Bauxit, Eisen- und Manganerz sowie Chrom. Es kann jedoch gesagt werden, dass die Menge an natürlichen Rohstoffen nicht ausreicht um
allein auf ihnen ein solides Wirtschaftswachstum fußen zu lassen.
Die noch immer vorherrschende Schwerindustrie, ein Erbe der Autarkiepolitik der
postkolonialen Zeit, hat mit zahlreichen Hindernissen zu kämpfen. Zum einen wären
da omnipräsente Stromausfälle welche dazu führen, dass fast jedes Unternehmen,
ob klein oder groß, eigene Stromgeneratoren unterhält. Fast ein Drittel der gesamten
in erzeugten Energie verschwindet in maroden Leitungen, was zu enormen Leistungsverlusten führt (vgl. Ihlau 2006 a: 81). Allein das raubt Indien nach Schätzungen ein bis drei Prozent seines Bruttosozialprodukts. Indiens Autobahnnetz hat 25
Prozent des Umfangs des deutschen bei der neunfachen Landesgröße. Von dem
miserablen Zustand der meisten anderen Überlandstraßen ganz abgesehen (vgl. Harald Müller 2006: 75 ff.).
Ein weiteres großes Problem, welches sich der exportierenden Industrie in den
Weg stellt, ist, neben den meist veralteten See- und Flughafenanlagen, die schwerfällige Exportbürokratie. So benötigen die Waren indischer Händler allein für die Zollabfertigung 50 Prozent länger als die ihrer südkoreanischen Kollegen (vgl. Harald
Müller 2006: 75). All diesen Problemen zum Trotz, entwickelte sich auch Indiens Industriesektor in den letzten Jahren in zunehmendem Maße. Der indische Konzern
Mittal ist unlängst durch den de-facto-Aufkauf von Arcelor zum weltgrößten Stahlkonzern herangewachsen (vgl. Kazim 2006). Außerdem bergen die Modernisierungsanstrengungen seit Anfang der 90er großes Wachstumspotential gerade für den Industriesektor.
79
Es bleibt zu hoffen, dass dieses Wachstum ausreicht um die Heerscharen des
jungen Indiens beschäftigen zu können. Die Agrarwirtschaft wird dies in einem Indien
des globalen Wettbewerbs und des stetigen Bevölkerungswachstums nicht mehr
leisten können (siehe Kapitel V.).
Dienstleistungssektor
Obwohl die Ostküste der USA und Indien etwa zwölf Zeitzonen trennen, gehen auf
beiden Seiten des Globus zeitgleich die Lichter in den Büros an. Indiens Dienstleistungsindustrie ist schon lange in einer globalen Welt angelangt. Damit die circa
250.000 Beschäftigten in Indiens zahlreichen Callcentern auch weltweit beraten können, stehen sie bereit wenn ihre Kunden sie benötigen. Dieser als Prestigejob für
Jungakademiker gehandelte Beruf bringt ihren Arbeitnehmern ungefähr 200-450€
pro Monat (vgl. Ihlau 2006 a: 20f) und zeigt worauf der Boom des Indischen Dienstleistungssektors basiert: Outsourcing.
Nachdem der Dienstleistungssektor Mitte der 80er exemplarisch von Rajiv Gandhi
geöffnet wurde, kam zu einem Boom der sich heute in der Spezialisierung vieler indischer Firmen auf die kostengünstige Übernahme von Diensten für ausländische Firmen manifestiert (vgl. Oliver Müller 2006: 4). Die niedrigen Löhne und der hohen
Ausbildungsstand der indischen Eliten ermöglichte das Heranwachsen solch großer
Unternehmen wie Infosys mit über 75.000 Angestellten welche von Indien aus weltweit operieren (vgl. Infosys 2007). Die meisten Software- und Callcenterfirmen konzentrieren sich auf den Bereich Bangalore, dessen Industriegebiete sich heute
schon, abgesehen von den Stromausfällen, mit westlichen vergleichen lassen können (vgl. Ihlau 2006 a: 14f)
Zwar werden heute nicht mehr Wachstumssteigerungen von über 50 Prozent wie
in den ersten Boomjahren erreicht, trotz allem ist der Dienstleistungssektor aber Träger des indischen Wirtschaftswachstums (vgl. Harald Müller 2006: 72). Zu erklären
ist dies mit dem weltweiten Aufschwung der Telekommunikation, des Internets und
auch zuletzt der immer globaler agierenden Wirtschaft.
Für europäische und US-amerikanische Firmen ist es opportun, die kostenintensive Wartungs- und Anpassungsarbeit von Firmensoftware, welche 80 Prozent des
eigentlichen Kaufpreises ausmacht, nach Indien zu verlagern. Da ein indischer Softwareentwickler gerade einmal 10 Prozent des Gehalts seines westlichen Kollegen
verdient, hat sich die indische Softwareindustrie besonders auf diesen Bereich spezialisiert (vgl. Harald Müller 2006: 96). Da ein indischer Ingenieur also zehn Prozent
80
weniger kostet, ist er für ausländische Firmen gewinnbringend. Was aber geschieht,
wenn die indischen Spezialisten ein vergleichbares Gehalt fordern, weiß keiner und
es scheint sich auch niemand Gedanken darüber zu machen. Das europäische ArbeitnehmerInnen auf Lohndumping in Verbindung mit der Drohung, Arbeitsstellen in
so genannte „Billig-Lohn-Länder“ wie zum Beispiel Indien zu verlegen, nicht erfreut
reagieren, dürfte hingegen hinreichend bekannt sein.
Ein weiterer Sektor, in dem gerade in der letzten Zeit Erfolge zu verzeichnen sind,
ist die Bioindustrie. Dies wiederum fördert die Entwicklung der westlichen Pharmaindustrie welche seit Mitte/Ende der 90er verstärkt nach Indien expandiert. Trotz des
Faktes, dass Patente von in Indien geleisteter Forschungsarbeit zumeist in den USA
eingereicht werden, ist damit zu rechnen, dass durch die Kompetenzgewinne in diesen Hochleistungsbranchen der Trend zum „Outsourcing nach Indien“ weiter anhält
(vgl. Harald Müller 2006: 72).
Durch den hohen Wertschöpfungsgewinn dieser Prozesse ist es erst möglich,
dass der Dienstleistungssektor 50 Prozent der indischen Wirtschaftsleistung mit nur
20 Prozent der Arbeiter und Arbeiterinnen stemmt. Es muss jedoch gesehen werden,
dass diese Situation hohen sozialen Sprengstoff beinhaltet, da sie den Massen von
ungelernten ArbeiterInnen keine Beschäftigung verschaffen kann. Dies kommt den
konventionellen Wirtschaftsbranchen zu. Denn die oft existenzwirtschaftliche Landwirtschaft wird dazu nicht in der Lage sein. Auf diesen Bereich wird in Kapitel V. über
die sozialen Aspekte des indischen Wachstums genauer eingegangen.
Es bleibt zu hoffen, dass sich auch bei einer Konzentration des Wachstums auf die
modernsten Sektoren der Wirtschaft, der Binnenmarkt entfalten kann und so auch
die unteren Gesellschaftsschichten mit einbindet. Auch wenn inzwischen die Sparquote bei 29 Prozent liegt, und somit fast die Grenze für ein nachhaltiges Wachstum
erreicht hat, ist der Weg, welcher vor Indien liegt, noch ein langer und vermutlich
steiniger. Die Liste der Probleme ist lang und neben den ökologischen und sozialen
Schwierigkeiten, schwebt eine „bedrohliche Gewitterwolke am Horizont: AIDS (vgl.
Harald Müller 2006: 92 ff) Die World Health Organisation (WHO) schätzt, dass sich in
Indien zwischen 2.2 – 7.6 Millionen Menschen infiziert haben. Das scheint angesichts
der 1.08 Milliarden Einwohner vielleicht noch im Rahmen, der Trend tendiert jedoch
zu einer stark steigenden Anzahl von HIV-positiven Menschen. Kulturelle Vorbehalte,
Analphabetismus und mangelnde Hygiene begünstigen eine schnelle Ausbreitung
besonders in den armen Bevölkerungsschichten (vgl. WHO Country Profile India
2006: 1ff)
81
Internationale Einbindung
Mit der Öffnung der Märkte hat sich Indien Richtung internationale Einbindung orientiert. Es ist aktiv in seiner regionalen Nachtbarschaft sowie auf den Märkten der USA,
Europas und Asiens. Indiens Aktivitäten erstrecken sich auch auf andere Entwicklungsländer.
Dies wird deutlich durch das Engagement in wirtschaftlichen Verbünden wie der
Association of Southeast Asian Nation (ASEAN). Ebenso ist Indien Mitglied der
World Trade Organisation (WTO) und anderen internationalen Wirtschaftsgremien.
Viele der Ausnahmereglungen, auf welche Indien in der Vergangenheit zum Schutz
seiner Märkte bestand, sind inzwischen zum großen Teil abgebaut (vgl. Harald Müller 2006: 89 ff). Mittlerweile liegt Indiens Anteil am Welthandel bei 1,4 Prozent und
steigt. Anfangs wurde diese positive Entwicklung, wie bereits erwähnt, besonders
von der IT-Branche getragen, aber inzwischen diversifiziert sich die Entwicklung. Besonders werden inzwischen vermehrt Elektrogeräte, Raffinerieprodukte sowie organische Chemikalien weltweit abgesetzt. Der Trend geht dahin, dass Indien seine
Rohstoffe selbst verwertet und somit höherwertige, verarbeitete Produkte exportiert.
Diese Streuung der Exporte auf verschiedene Bereiche stabilisiert die indische
Volkswirtschaft und schützt sie vor Wirtschaftsschwankungen.
Dies alles verbunden mit der langen politischen Stabilität der indischen Demokratie, welche zum Beispiel Patentsicherheit garantiert, führte zu der Entwicklung, dass
drei Viertel aller multinationalen Konzerne neue Investitionen in Indien planen (vgl.
Ihlau 2006 a: 68). Diese befindet sich heute schon bei über vier Milliarden Dollar pro
Jahr (vgl. Harald Müller 2006: 94). Die weitergehenden von der Industrie geforderten
Reformen, wie zum Beispiel Sonderwirtschaftszonen, Privatisierung von staatlichen
Sektoren wie Energieversorgung und Bankenwesen setzen die Politik unter Druck.
Es wird sich zeigen wie künftige indische Regierungen mit dieser Herausforderung
umgehen. Zudem sind die „Demographie ist Schicksal“ - Prognosen à la dem Paper
Dreaming with BRIC’s von Goldman Sachs mit Vorsicht zu genießen. Wie weiter oben schon deutlich geworden ist (siehe Kapitel III), beruhen deren Annahmen nämlich einzig auf einer simplen Verlängerung der aktuellen demographischen und ökonomischen Trends (vgl. Desai 2006: 63). Diese Vorgehensweise darf mehr als kritisch hinterfragt werden. Im folgenden Kapitel sollen deshalb auch die ökologischen
und vor allem sozialen Faktoren betrachtet werden, welche die Annahmen der Investmentbank stark relativieren.
82
Dauerhafter Boom? Die Grenzen des indischen Wachstums
„Es ist kein Klischee, es stimmt wirklich: Indien ist ein Land der Extreme. Und zwar
nicht nur in geographischer Hinsicht. Kaum irgendwo auf der Welt treffen Reichtum
und Armut, Modernität und Traditionalität oder Urbanität und Ländlichkeit so scharf
aufeinander wie in diesem von sozialen und politischen Gegensätzen zerrissenen
Bundesstaat.“ (Informationszentrum Dritte Welt 2005: 19)
Die Sorge vor einer Spaltung des Landes ist so alt wie die indische Union selbst. Als
sich Indien 1947 nach 150 Jahren Fremdherrschaft von der britischen Kolonialbesetzung befreite, sahen ihre politischen Führer die größte Gefahr für die junge indische
Union in der Fragmentierung ihrer Gesellschaft. Groß war die „Urangst des Separatismus“ (Ihlau 2006 a: 94), kein Wunder bei den 18 offiziellen Sprachen, über 1600
Dialekten, sechs Religionen und 3600 Kasten und Unterkasten des Hinduismus (vgl.
Harald Müller 2006: 136). „Indien“, sagte Winston Churchill, „ist nur ein geographischer Ausdruck. Es ist so wenig ein Land wie der Äquator.“ (zitiert nach Tharoor
2005: 27) Regionale Autonomiebestrebungen und Abspaltungsversuche waren keine
Seltenheit in diesem stark fragmentierten Land. Wie geht Indien damit um? Sind die
Gemeinsamkeiten groß genug um das Land zusammenzuhalten?
Nicht nur die sprachlichen, ethnischen und religiösen Zerklüftungen in Indien sind
massiv. Auch die Unterschiede zwischen den armen, ungelernten Massen und einer
aufsteigenden Mittelschicht, zwischen Stadt- und Landbevölkerung sind groß und
werden größer. Seit der Liberalisierung der Wirtschaft haben sich die Löhne auseinander entwickelt, der Kampf um Arbeitsplätze ist härter geworden, regionale Unterschiede verschärfen sich. So stellt sich die zentrale Frage, „ob angesichts von Bevölkerungsexplosion und verbreiteter Armut das Land überhaupt zusammengehalten
werden kann“ (Betz 2006: 52).
Unbestritten: Mit Wachstumsraten von sieben bis acht Prozent im Jahr holt Indiens
Ökonomie auf. Doch kommt dieses Wachstum allen zu Gute? Und wo sind seine
Grenzen? Im kommenden Abschnitt soll es um die Frage gehen, wer die Profiteure
des indischen Aufschwungs sind und wer die Verlierer. Wachstum, so heißt es in den
Prämissen unseres Projekts, muss sozialverträglich, umweltverträglich und arbeitsintensiv sein, um entwicklungsfördernd zu wirken. Wird die Bevölkerung nicht mit einbezogen, muss sich die politische Elite darüber im Klaren sein, dass Miss- und Aufstände wahrscheinlicher werden – und die Gefahr sozialen Sprengstoffs größer. So
könnte das indische Wachstum so schnell gestoppt werden, wie es begonnen hat.
83
Und auch ökologisch betrachtet, könnte das Wachstum an seine Grenzen geraten.
Dieser Aspekt soll zunächst betrachtet werden, bevor anschließend näher auf die
sozialen Konsequenzen des Wirtschaftswachstums eingegangen wird.
Ökologische Grenzen
Die Umweltpolitik in Indien ist seit der Verfassung von 1950 zu einem großen Teil
Sache der Unionsstaaten, somit ist die Situation häufig unterschiedlich (vgl. Zingel
1998). Trotzdem soll ein kurzer, allgemeiner Überblick über die ökologischen Auswirkungen des Wachstums versucht werden.
Seit der Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft wurden die historischen sozialen Bewegungen in Indien, etwa der Kleinbauern, durch Frauen-, Friedens-, und
auch Umweltbewegungen ergänzt (vgl. Raina 2005: 21). Offensichtlich gibt es also,
angesichts der seit der Unabhängigkeit wachsenden Wirtschaftskraft, noch Defizite in
der Umsetzung umweltverträglichen Wachstums.
Da Indien nach wie vor ein Agrarland ist, findet die meiste Ressourcennutzung,
außer in der Produktion, noch immer in der Landwirtschaft statt, wo auch die gravierendsten Umweltprobleme vorliegen. Künstlich Bewässerung und Düngung führten
zwar zu höheren Erträgen, verstärken und beschleunigen aber die Bodenversalzung.
Ebenso werden Indiens Flüsse zunehmend versalzt und vergiftet. Zum einen dringt
verstärk Meerwasser ein, da die Flüsse aufgrund der Wasserentnahme für künstliche
Bewässerung weniger Wasser führen. Zum anderen werden industrielle Abwässer in
die Flüsse geleitet. Schon in der 80ern war der Ganges hochgradig verseucht. „Eine
wirkungsvolle Abwasserbereitung gibt es kaum“ (Zingel 1998), somit ist die Trinkwasserqualität für die meisten Inderinnen und Inder schlecht. Zudem fällt im Konsumbereich (Indiens Ober- und Mittelschicht hat Konsumieren scheinbar zu ihrer
neuen Lieblingsbeschäftigung erklärt) zunehmend Verpackungsmüll wie Plastiktüten,
an.
Seinen steigenden Energiebedarf bezieht Indien vornehmlich durch Kohle, Wasserkraft und Atomenergie. Da in allen Fällen immer mit erheblichen Umweltbelastungen verbunden, steht das Land diesbezüglich vor einigen Problemen.
Ein weiteres Problem stellt das Ausmaß der Einfuhr von Gift und Sondermüll
(„Mülltourismus“) vor allem aus westlichen Ländern dar. Schon in den 90er Jahren
wurden mehr als 15 Tausend Tonnen Blei nach Indien transportiert (vgl. Zingel
1998).
84
Eine Tatsache, welche ökologische, und zugleich soziale Komponenten aufzeigt
und verbindet, ist der CO2-Ausstoß; hier belegt Indien einen der ersten Ränge (1.1
Mrd. Tonnen pro Jahr). Wegen der hohen Bevölkerungszahl, ist der pro Kopf
Verbrauch dennoch einer der niedrigsten in der Welt. Indiens Eliten verweisen gerne
auf diesen niedrigen Verbrauch und verstecken sich so gewissermaßen hinter dem
Rücken der Armen. Dauerhaft bietet diese Situation extremen sozialen Sprengstoff,
wodurch Wachstum und Stabilität gefährdet werden.
Die indische Wirtschaftsstruktur – Wachstum nur im modernsten Sektor
Das indische Wachstum hat etablierte Entwicklungsmodelle auf den Kopf gestellt, ist
das Land doch einen ganz anderen Entwicklungspfad gegangen als seine asiatischen Nachbarn. Zu Beginn des Aufschwungs von Japan, den „Tigerstaaten“ und
China stand die exportorientierte Massenanfertigung einfacher Produkte, häufig unterstützt durch ausländische Investoren (vgl. Oliver Müller 2006: 88). Indien bricht mit
diesem Weg: „Als einziges Schwellenland ist es in den vergangenen zwei Jahrzehnten vom ‚primären’ Agrarsektor direkt in den ‚tertiären’ Dienstleistungssektor gesprungen.“ (Oliver Müller 2006: 87)
Eine industrielle Revolution bleibt bisher aus – noch immer kommt Indiens Industriesektor für nur etwa 25 Prozent des Bruttosozialprodukts auf, ähnlich wie bereits
zwanzig Jahre zuvor (vgl. Oliver Müller 2006: 87; Harald Müller 2006: 96). Der
Dienstleistungssektor hingegen, dessen Beitrag zur Wirtschaftskraft 1980 noch bei
37 Prozent lag, erwirtschaftete 2005 bereits 54 Prozent – über die Hälfte! – des Bruttosozialprodukts (vgl. Oliver Müller: 87). Der Anteil der Landwirtschaft am Bruttosozialprodukt hat sich hingegen seit 1980 nahezu halbiert: Bei etwa 22 Prozent lag er
2005 (vgl. Harald Müller 2006: 96).
Die Zahlen zeigen: Die These, dass die marktliberalen Reformen das indische
Wirtschaftswachstum grundsätzlich beschleunigt hätten, ist ein weit verbreitetes
Missverständnis: […] both the material productive sectors have stagnated or declined, and the only sector which has ballooned in an abnormal manner is the tertiary or
services sector which now accounts for over half of GDP.“ (Patnaik 2007: 9) Es war
und ist vor allem die Dynamik im Dienstleistungssektor, die zu Wachstumsraten von
zuletzt acht Prozent geführt hat. Für die traditionellen Industriesektoren, allen voran
der Landwirtschaft, hat die marktliberale Reformpolitik dagegen keine signifikanten
Investitions- und Wachstumsschübe gebracht.
85
Liegt Oliver Müller, Korrespondent des Handelsblatts, also richtig mit seiner Beobachtung, dass sich Indien „in Rekordzeit von einer rückständigen Agrargesellschaft
in eine wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft verwandelt“ (2006: 1) hat? Wenn
ja, so hatte die Masse der Bevölkerung nicht Teil an dieser ‚Wandlung’. Denn ein
Blick auf die Beschäftigungszahlen zeigt: 25 Prozent der Beschäftigten arbeiten im
Servicebereich, davon nur 700.000 im boomenden Dienstleistungssektor. Weniger
als zwanzig Prozent verdienen ihren Unterhalt in der Industrie. Die große Masse –
etwa 60 Prozent – arbeitet noch immer in der Landwirtschaft (vgl. Harald Müller
2006: 96). Die Wirtschaftsstruktur Indiens mag modern und auf qualifizierte Arbeitskräfte ausgerichtet sein. Den Beschäftigungszahlen nach ist Indien trotzdem noch
immer ein Agrarland.
In großen Teilen der Literatur wird die These vertreten, dass das Wachstum des
Dienstleistungssektors schlussendlich auch zu einem Wachstum der anderen Sektoren führen werde. Wird die Informationstechnologie einen grundlegenden Wandel in
Indien hervorrufen? Werden davon auch die Massen der verarmten Bevölkerung profitieren? Um sich dieser Frage anzunähern, soll zunächst die Situation der Landwirtschaft näher betrachtet werden.
Landwirtschaft in der Dauerkrise
Die Krise der Landwirtschaft ist das „drängendste Strukturproblem“ (Müller, Oliver
2006: 6) Indiens – und eines der Hauptgründe, warum die Masse der Bevölkerung in
einer Armutsfalle steckt, aus der es keinen Ausgang zu geben scheint. Nahezu 700
Millionen Inder leben auf dem Land (vgl. Ihlau 2006 a: 46): „Eingezwängt in das soziale Korsett der Kastenhierarchie“ (Ihlau 2006 a: 46), ohne ausreichende Bildung, und
in nahezu feudalen Verhältnissen lebend, spüren sie wenig vom Boom in den indischen Metropolen. Seit Jahren befindet sich die indische Landwirtschaft in einer
Dauerkrise. Während sich der Anteil des Agrarsektors am Bruttosozialprodukt stetig
verkleinert hat, ist die Masse der Menschen, die von landwirtschaftlichen Erträgen
abhängig sind, kaum zurückgegangen (vgl. Patnaik 2007: 6).
Dabei sah es nicht immer so düster aus. In den Jahren nach der Unabhängigkeit
1947, als die nationale Eigenständigkeit das Leitbild indischer Wirtschaftspolitik war,
wurde alles getan, um das Land in der Produktion von Gütern völlig autark zu machen (vgl. Harald Müller 2006: 60, siehe auch Kapitel III). So betrieb die Elite eine
binnenmarktzentrierte Importsubstitutionspolitik, die dafür sorgte, dass die Produktivität im Agrarsektor erheblich gesteigert werden konnte. Jawaharlal Nehru führte eine
86
Landreform durch, die einige Teile der Bauernschaft aus einer praktisch feudalen
Abhängigkeit befreite: Traditionelle Großgrundbesitzer mussten einen Teil ihrer Nutzflächen an ärmere Bauern abtreten (vgl. Harald Müller 2006: 52). Die in den sechziger Jahren einsetzende „Grüne Revolution“, die Einführung moderner Agrotechnik in
der landwirtschaftlichen Produktion, tat ihr übriges: Die landwirtschaftlich genutzte
Fläche konnte erweitert, die Erträge pro Hektar nahezu verdoppelt werden (vgl. Harald Müller 2006: 82). In dieser Zeit schrumpften die Importe landwirtschaftlicher Güter von vier Prozent der Eigenproduktion auf beinahe null. Kurzum: Auch wenn durch
die „Grüne Revolution“ die Unterernährung und Armut der ländlichen Bevölkerung
nicht beseitigt worden war, so sorgte sie zumindest dafür, dass das Land sich mit
Nahrungsmitteln selbst versorgen konnte (vgl. Desai 2006: 69).
Das heutige Wachstum in der Landwirtschaft wird unterschiedlich eingeschätzt.
Während Olaf Ihlau (2006 a: 67) von einem Wachstum von drei Prozent und Oliver
Müller (2006: 154) von zwei Prozent ausgehen, beobachten andere AutorInnen seit
Jahren stagnierende Werte im Wachstum des Agrarsektors (Ghosh 2004, Chandrasekhar/Ghosh 2007, Patnaik 2007, Desai 2006). Egal, von welchen Zahlen ausgegangen wird – fest steht: Der Agrarsektors ist an einem historischen Tiefpunkt angelangt. „Rural India is in the grip of an agrarian crisis that is unprecedented in its
spread and severity, in these past fifty years.” (Ghosh 2004 a)
Die zunehmende Einbindung Indiens in die Weltwirtschaft sowie die steigende Exportproduktion hat der indischen Nahrungsmittelerzeugung immer mehr Land entzogen (vgl. Desai 2006: 73). Die Getreideproduktion sinkt, seit den neunziger Jahren
haben sich die Ernte-Erträge, verglichen mit denen der achtziger Jahre, nahezu halbiert (vgl. Patnaik 2007: 2). Auch der Getreidekonsum pro Kopf sinkt stetig – und das
in einem Land, in dem ein großer Bevölkerungsteil noch immer unterernährt ist (vgl.
Desai 2006: 73) Die Abschaffung landwirtschaftlicher Subventionen und die Verknappung von Krediten hat zahlreiche Bauern in die Verzweiflung gestürzt: „Mounting un-repayable farm debts have led to loss of land reflected in a sharp rise in landlessness, and to the historically unprecedented situation of many thousands of farmer suicides.“ (Patnaik 2007: 2)
Strukturelle Heterogenität
Indien ist damit nicht alleine. Alle BRIC-Staaten sind durch ein Phänomen gekennzeichnet, welches Abhängigkeitstheoretiker strukturelle Heterogenität nennen – „einem Flickenteppich marginalisierter und eingeschlossener Sektoren, einem Neben-
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einander verschiedener Produktionsweisen und der Nichtexistenz eines auf den Binnenmarkt ausgerichteten kohärenten Produktionsapparats.“ (Schmalz 2006: 33) Wie
kommt es dazu? Das indische Wachstumsmuster beruht maßgeblich auf der Nachfrage der Mittelklasse (vgl. Desai 2006: 71). Diese aufstrebende wohlhabende
Schicht imitiert westlichen Luxus – ihre Nachfrage nach Konsumgütern und der technischen Ausrüstung zu ihrer Herstellung wird stetig größer. Dies bleibt nicht folgenlos
für die Wirtschaftsstruktur des Landes: „Der hohe Kapitalfluss in den modernen Sektor spiegelt sich in einer geringen Investitionsquote in die übrigen Wirtschaftssektoren wieder, deren Aufbau eher den Anforderungen einer umfassenden nationalen
Entwicklung entsprochen hätte.“ (Franke 2004: 206) So werden die Entwicklungsunterschiede zwischen dem modernen und traditionellen Sektor größer. Das Ergebnis:
eine „gesellschaftliche Spaltung, die sich am deutlichsten in der Marginalität großer
Teile der Bevölkerung zeigt“ (Franke 2004: 207).
Neolieberale Reformen – verstärkte Ungleichheit?
„You need only to look out onto the streets, to see the enormous increase in conspicuous consumption by the rich […], and also to see side by side how the lives of
the poor have become even more vulnerable and precarious.“ (Ghosh 2004 b) Der
Schein dieser Alltagsbeobachtung trügt nicht. Indien hat, nach Japan, die meisten
Milliardäre Asiens, aber auch die meisten seiner Armen (vgl. Ihlau 2006 a: 8). Nach
Harald Müller (2006: 143) verfügen die ärmsten zwanzig Prozent der indischen Gesellschaft über 8,9 Prozent, das reichste Bevölkerungszehntel hingegen über 28,5
Prozent des Einkommens. Bereits seit Jahrzehnten klafft eine Lücke zwischen dem
Wohlstand der indischen Mittelklasse und der Armut der Massen.
Fahrstuhleffekt?
Die Frage, ob sich Ungleichheiten seit den neoliberalen Reformen verstärkt haben,
wird sowohl in der indischen Politik als auch in der Literatur kontrovers diskutiert.
Zahlreiche Ökonomen nehmen den Anstieg des indischen Pro-Kopf-Einkommens
zum Anlass, der gesamten indischen Bevölkerung materiellen Wohlstand zu prophezeien. So sei das indische Bruttosozialprodukt pro Kopf in den vergangenen 15 Jahren um etwa vier Prozent pro Jahr gewachsen (vgl. Harald Müller 2006: 94), die Investmentbank Goldman Sachs spricht von einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf um 58 Prozent seit 1995 (vgl. Struve 2007). Das steigende Pro-KopfEinkommen, so die Goldman Sachs ÖkonomInnen, beweise, dass die absolute Ar-
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mut unter der Bevölkerung geringer werde: Einem Fahrstuhl gleich, bewege sich die
gesamte Bevölkerung – mit all ihren Ungleichheiten – einige Stockwerke höher, in
Richtung Wohlstand der Industrienationen.
Was aber ist wenn Arme und Reiche in unterschiedlichen Fahrstühlen sitzen?
Wenn es – während die einen nach oben fahren – für die anderen unermüdlich nach
unten geht? Viele kritische Ökonomen argumentieren, dass trotz Wachstum und
steigendem Pro-Kopf-Einkommen reale Armutsprobleme in Indien nicht gelöst wurden: „[…] in spite of higher overall growth, the extent of decline in poverty in the postreform period has not been higher than in the pre-reform period. […] inequality has
increased significantly in the post-reform period and seems to have slowed down the
rate of poverty reduction.“ (Mahendra/Ravi 2007: 509) Im Widerspruch zum postulierten steigenden Wohlstand, stehen vor allem die Angaben zum Pro-Kopf-Verbrauch.
Nach einer Studie von Jayati Ghosh (2004 b) sind die Konsumausgaben vor allem
unter den reichsten 20 Prozent der Stadtbevölkerung gestiegen, also bei denjenigen,
die vorher schon genug hatten. Ihr Konsumverbrauch stieg seit 1990 um rund 40
Prozent. Bei den unteren 80 Prozent der ländlichen Bevölkerung – 600 Millionen
Menschen – ist der Pro-Kopf-Verbrauch jedoch seit 1990 zurückgegangen: […] more
than half of India has lower consumption per person than more than ten years ago“
(Ghosh 2004 b).
Und das bei steigendem Pro-Kopf-Einkommen? Auch wenn die indische Regierung und einige Investmentbanken das Gegenteil behaupten: Große Teile der Literatur sind sich einig, dass seit den neunziger Jahren die Verteilung des Einkommens
ungleicher und der Kampf um Arbeitsplätze härter geworden ist. Ein Blick auf den
Gini-Koeffizienten bestätigt dieses Bild: Dieser, die Einkommensverteilung messender Wert ist für Indien in den vergangenen zehn Jahren von 30,6 auf 36,8 gestiegen,
wobei 0,0 absoluter Gleichheit und 100 absoluter Ungleichheit entspricht (vgl. Struve
2007).
Armut
In ein Dickicht aus völlig unterschiedlichen Angaben, begibt sich, wer den realen Armutszahlen in Indien auf die Spur kommen möchte. Die indische Regierung rühmt
sich damit, dass die Armut seit den neunziger Jahren stetig zurückgegangen sei. Die
Ökonomin Jayati Ghosh (2004 a) jedoch hält dies für reine Augenwischerei: „It is not
surprising that the current government […] is trying to put the best possible gloss on
what is at best a very mixed economic picture, and at worst, a story of stagnation,
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decline, neglect and even deterioration for a substantial part of India’s population.“
Auch die Volkswirtin Utsa Patnaik hält einen Rückgang der Armutszahlen für unwahrscheinlich, sprechen doch die steigenden Nahrungsmittelpreise und das Zurückfahren von Beschäftigungsprogrammen, wie „Food for Work“, für ein Ansteigen der
Armut (vgl. Patnaik 2007: 6 f.). Fest steht: Zur Masse der Armen auf der Welt trägt
Indien den größten Anteil bei. Offizielle Zahlen besagen, dass 26 Prozent der Inder,
300 Millionen, mit einem Tageseinkommen unterhalb der Armutsgrenze von einem
Dollar pro Tag leben müssen (vgl. Ihlau 2006 a: 77). Tatsächlich dürfte die Zahl derjenigen, die unter bitterster Armut leiden, bei 400 bis 500 Millionen liegen (Harald
Müller 2006: 143; Ihlau 2006: 77).
Nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser und
Strom. Kinderarbeit ist weit verbreitet – sowieso ist die Hälfte aller Kinder unterernährt, jedes Vierte geht nicht zur Schule (vgl. Ihlau 2006 a: 183). Trotz rechtlicher
Gleichberechtigung ist die Frau in der indischen Männergesellschaft noch immer
marginalisiert - reproduziert wird diese Ungleichheit durch die Mitgiftpraxis, die „vielleicht finsterste Rückständigkeit der indischen Gesellschaft“ (Harald Müller 2006:
144). Indien hat 60 Prozent aller Leprösen der Welt (vgl. Ihlau 2006 a: 167) und ist,
nach Südafrika, das Land mit der zweithöchsten Zahl der am HI-Virus infizierten
Menschen (vgl. Harald Müller 2006: 87; siehe auch. Kapitel IV). Diese Liste an Indizien für die Armut der Bevölkerungsmasse ließe sich noch lange weiterführen.
Was die Ungleichheit reproduziert: Indiens elitäres Bildungssystem
Indien, das werden Wissenschaftler und Politiker nicht müde zu betonen, ist auf dem
Weg zu einer „Supermacht des Wissens“ (Ihlau 2006 a: 9), seine „Wissensrevolution
[macht] es zur verlängerten Denkfabrik der Welt“ (Oliver Müller 2006: 3). Immerhin ist
jeder dritte Software-Ingenieur der Welt ein Inder (vgl. Ihlau 2006 a: 18) und jedes
Jahr wird an den indischen Universitäten ein Heer von über 500.000 Technikern, Ingenieuren und Informatikern ausgebildet – das Rückgrat der enormen Entwicklung
im IT-Sektor.
Der Grundstein des indischen Bildungssystems wurde 1951 unter Jawaharlal Nehru gelegt: Hunderte Colleges, darunter die renommierten Indian Institutes of Technology, wurden in den fünfziger Jahren gegründet (vgl. Ihlau 2006 a: 18). Mit dieser
Entscheidung verfestigte die Kongresspartei eine Struktur, die bereits von der britischen Kolonialmacht aufgebaut wurde: Das Land übernahm ein Bildungssystem, das
auf die Förderung der Eliten ausgerichtet war (vgl. Harald Müller 2006: 63 f.). Nur so
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lässt sich erklären, warum in Indien, das eine überdurchschnittliche Zahl an Wissenschaftlern und Technikern ausbildet, etwa 43 Prozent der Männer und 55 Prozent der
Frauen weder lesen noch schreiben können (vgl. Ihlau 2006 a: 150 f). Und nur so
lässt sich auch erklären, dass die höhere Bildung in Indien zu den international Besten gehört, die Grundschulausbildung und Lehre an den staatlichen Schulen hingegen häufig katastrophal ist.
Indien gibt seit der Unabhängigkeit pro Jugendlichem in der höheren Bildung
sechsmal so viel aus wie für die Kinder in der Primärausbildung (vgl. Harald Müller
2006: 64). Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die indische Elite bewusst vor einer
breiten Volksbildung zurückschreckt, würde diese doch den unteren Kasten zuviel
Aufwärtsmobilität verschaffen. 2004 kamen nur 21,1 Prozent der Männer und 10,2
Prozent der Frauen auf dem Land in den Genuss der Bildung einer weiterführenden
Schule (Chandrasekhar/Ghosh 2007: 33). So kommen Chandrasekhar und Gosh
(2007: 33) zu dem Schluss: „[…] by no stretch of imagination can India currently be
characterised as a knowledge economy in any meaningful sense.”
Trickle-Down von Wachstumseffekten?
So gering ist die Zahl der Hochausgebildeten im Vergleich zu den armen, ungelernten Massen, dass die Annahme, Wirtschaftswachstum führe früher oder später auch
zum Wohlstand der gesamten Bevölkerung, in Bezug auf Indien deutlich relativiert
werden muss: „Es gibt im indischen Fall keinen Beleg für ein ‚trickle-down’ von
Wachstumseffekten.“ (Desai 2006: 74) So hilft auch der Aufschwung in der Informationstechnologie, mag er auch noch so beeindruckend sein, der Masse der Bevölkerung kaum: „It is true that the software and IT-enabled services sector is witnessing
high rates of growth […]. But that occurs on a low base in a sector which remains an
enclave and cannot compensate for the slow growth in the commodity producing sectors.” (Chandrasekhar 2004)
Der IT-Sektor bleibt eine Enklave, von dessen Boom nur eine Minderheit profitiert.
Diesen hegemonialen Block schätzt Jayati Ghosh (2004 a) auf etwa zehn Prozent.
Gut ausgebildet wie sie ist, profitiert diese aufstrebende Mittelschicht vom Boom im
Informationstechnologie-Sektor: „[…] global integration has increased the job opportunities for this favoured group, as financial and other services and IT-enabled activities have expanded.” Bis 2009 werden rund vier Millionen Inder im Informationstechnologie-Sektor beschäftigt sein (vgl. Schmalz 2006: 26), ein Bruchteil bei einer Bevölkerungszahl von 1,1 Milliarden.
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Gesamtwirtschaftlich gesehen wird der Einfluss des IT-Sektors also begrenzt bleiben – zumindest solange Armut und Analphabetismus auf ihrem jetzigen Stand verharren. Die Frage des britischen Historikers Paul Kennedy nach der Stabilität des
indischen Wachstums scheint vor diesem Hintergrund durchaus berechtigt: Kann Indien „die Belastung aushalten, auf globalem Niveau konkurrenzfähige HightechEnklaven mitten unter Millionen verelendeten Landsleuten aufzubauen?“ (Kennedy,
zitiert nach Ihlau 2006 a: 152)
Herausforderung Demographie – Arbeit schaffen für die Massen
Indien ist die zweitgrößte Nation der Welt und wird wahrscheinlich bald ihre größte
sein. Bis zur Jahrhundertmitte, so rechnen Ökonomen, wird die Bevölkerungsanzahl
Indiens – derzeit 1,1 Milliarden – auf 1,6 Milliarden anschwellen und damit China überholen (vgl. Ihlau 2006 a: 65/66). Es sind diese demographischen Aussichten, welche Ökonomen häufig als Wettbewerbsvorteil Indiens gegenüber China werten: Indien, so die Argumentation, wird auf Grund seiner jungen Bevölkerung eine kreative,
dynamische Volkswirtschaft auf die Beine stellen. China hingegen wird – als Konsequenz seiner „Ein-Kind-Politik“ – mit Problemen der Alterssicherung zu kämpfen haben (vgl. Harald Müller 2006: 95).
Indien ist eine junge Nation, die jüngste der BRIC-Staaten: eine halbe Milliarde
Inder sind unter 25 Jahre alt (vgl. Oliver Müller 2006: 3). Doch reichen demographische Faktoren, um Wachstumsprognosen zu erstellen? Nicht jede Prognose ist so
optimistisch wie die der Investmentbank Goldman Sachs. Tatsächlich wittern zahlreiche Ökonomen hinter der steigenden Beschäftigungszahl nicht nur eine Wirtschaftschance, sondern vor allem enormes internes Konfliktpotential.
Bis 2010 wird der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter um 83 Millionen
anschwellen (vgl. Oliver Müller 2006: 166). Zur Jahrhundertmitte wird Indien etwa
800 Millionen Menschen zwischen zwanzig und sechzig Jahren haben (vgl. Ihlau
2006 a: 67). Nach einer Studie von Chandrasekhar und Ghosh (2007: 30 f.) ist die
Jugendarbeitslosigkeit schon jetzt höher als die anderer Altersgruppen. “[…] the
youth face bleak and shaky futures, with little hope of secure employment, as job opportunities have simply not kept pace with the growth of the labour force.” (Ghosh
2004 a) Die Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation ohne Arbeit könnte dem
Wirtschaftswachstum zum Verhängnis werden. International gesehen mögen viele
junge Menschen mehr Macht bedeuten, intern aber sind sie sozialer Sprengstoff, findet sich für sie keine Beschäftigung: „If the economy does not generate adequate
92
employment of a sufficiently attractive nature, the demographics could deliver not a
dividend but anarchy.“ (Chandrasekhar/Ghosh 2007: 32)
Wie kann Indien seine demographische Dividende nutzen? Nach Oliver Müller
(2006: 166) bräuchte es „das größte Arbeitsbeschaffungsprogramm der Welt“ um für
die Millionen-Massen Arbeitsplätze zu schaffen. Der Dienstleistungssektor hilft hier
nur begrenzt weiter. Nur durch den Aufbau einer arbeitsintensiven Produktion – ähnlich der in China – kann Arbeit für die Massen geschaffen und die ihre Binnenkaufkraft gestärkt werden. „Tatsächlich gibt es nur einen Weg um die demografische
Stärke Indiens in effektive Nachfrage zu verwandeln: Erhöhung der Einkommen der
Millionen von ländlichen Armen.“ Höhere Löhne, aber auch bessere Sozialleistungen
und regionale Entwicklungsprogramme, würden nicht nur helfen, politische Stabilität
zu gewährleisten. Sie würden auch die Binnenökonomie fördern und damit die nationale Autonomie des Landes vergrößern (vgl. Franke 2004: 204)
Fazit
In Indien leben Asiens meisten Millionäre, aber auch die meisten seiner Armen.
Indien – Endlich ein Land mit sozialverträglicher Zukunft?
Dieser Tage feiert Indien den sechzigsten Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Die britische Kolonisierung hatte Indien in ein abhängiges, agrarkapitalistisches Land verwandelt, in welchem die Mehrheit der Bevölkerung von Bodenbesitz, sowie
Wohlstand ausgeschlossen war (vgl. Amin 2007: 703). Wie oben gezeigt wurde, waren die Wachstumszahlen unter den Briten kümmerlich und die Situation der Mehrheit der indischen Bevölkerung erbärmlich. In die Unabhängigkeit wurden große
Hoffnungen gesetzt. Was ist heute davon geblieben?
Die Wachstumszahlen in Indien sprechen scheinbar für sich; Indien zählt zu den
aufstrebenden Schwellenländern und ist eine der kommenden Großmächte. Indien
ist auf dem Weg in eine glanzvolle Zukunft. Aber nein! Nicht Indien, sondern nur einige privilegierte Inderinnen und Indern. Der Großteil der Bevölkerung lebt weiter in
tiefster Armut und merkt nichts vom indischen Wirtschaftswunder, welches den Europäern solche Angst um ihre Position in der Welt einjagt.
Natürlich sind die indischen Wachstumsraten von circa acht Prozent beeindruckend. Resultierten daraus automatisch Wohlstand und Stabilität, wäre die momentane Euphorie angebrachter. Das größte Problem Indiens ist jedoch, dass das
Wachstum nicht zum Wohle der gesamten Bevölkerung genutzt wird, und unter den
derzeitigen Voraussetzungen vielleicht auch gar nicht dazu genutzt werden kann.
93
Samir Amin zufolge hat Indien seit es unabhängig wurde, seine Hauptaufgabe nicht
geschafft, „nämlich die radikale Transformation der vom kolonialen Kapitalismus ererbten Strukturen“ (Amin 2007: 703). Diese Strukturen erkennt man in der beschriebenen Situation auf dem Land genauso wie in der Spaltung des indischen Volkes –
ein Folge der britischen Devise part and rule, welche den lokalen Widerstand
schwächte indem einzelne Gruppierungen gegeneinander ausgespielt wurden.
Das unabhängige Indien hat es versäumt, diese Strukturen zu überwinden, und die
führenden Köpfe Indiens scheinen sich mit der Ausbreitung eines abhängigen und
peripheren Kapitalismus zu begnügen (vgl. Amin 2007: 707). Dieser ist gekennzeichnet durch die Abhängigkeit der Peripherie, also Indien, vom Zentrum Großbritannien
erweitert durch die anderen westlichen Industrienationen. Dependenztheoretische
Ansätze gehen davon aus, dass diese Abhängigkeit so angelegt ist, dass sich die
Peripherie nicht ohne weiteres daraus befreien kann. Hinzu kommt, dass die Barrieren des kolonialen Erbes, welche dem Fortschritt im Wege stehen, durch das Fortbestehen des Kastensystems noch verstärkt werden.
Indien hat zwar mit der IT-Branche einen wettbewerbs- und zukunftsfähigen Wirtschaftssektor, trotzdem kann der Aufschwung nur fortgesetzt werden, wenn auch ein
arbeitsintensiver Sektor aufgebaut wird, welcher einer wachsenden Bevölkerung genügend Arbeitsplätze bietet. Indiens Zukunft hängt nicht ausschließlich an Innovationen im IT- und Biotechnologie- Bereich. Indien muss vor allem Arbeitsplätze schaffen, um mehreren Millionen Menschen ein ausreichendes Einkommen und Mindestmaß an Sicherheit bieten zu können. Die Voraussetzung für anhaltendes, langfristiges und stabiles Wachstum in Indien ist also nicht eine weitere Liberalisierung der
Wirtschaft, sondern die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für die Massen.
94
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98
Anhang
Quelle: Nayya, Deepak: 2007, S. 1452 und S. 1453
99
Quelle: Nayya, Deepak: 2007, S. 1452 und S. 1453
100
China
Einleitung
Seit den frühen 80er Jahren gehört die Volksrepublik (VR) China zu den am schnellsten wachsenden Ländern der Erde. Zwischen 1978 und 2005 lag das durschnittliche
Wachstum bei 10 %. Zusammen mit einer Bevölkerung von über 1,3 Milliarden Menschen im Jahr 2004 ist schon länger über das Potenzial der VR China für die Weltwirtschaft gesprochen worden. (vgl. Naughton 2007: 3) Schließlich avancierte die VR
China 2005 zur viertgrößten Volkswirtschaft hinter den USA, Japan und Deutschland
und zur drittgrößten Handelsnation hinter Deutschland und den USA. Die Wachstumsdynamik des Reiches der Mitte ist zu einem wichtigen Faktor in der internationalen Wirtschaft geworden zu sein. (vgl. Cho 2006: 76) Es scheint sogar in der populärwissenschaftlichen Literatur ein regelrechter Chinaboom ausgebrochen zu sein.
(exemplarisch siehe Sieren 2005, Hirn 2006 und Schoettli 2007) Der Tenor viele
Publikationen lautet, dass die Verlagerung der Weltwirtschaft nach Asien und insbesondere China zu einer unausweichlichen Tatsache geworden ist. Es gelte nun für
die westlichen Staaten sich darauf einzustellen. (vgl. Sieren 2005: 336) Neuen Aufschwung erhielt diese Diskussion durch die Prognosen der Investmentbank Goldman
und Sachs zum Aufstreben der BRIC-Staaten. Ihren Darstellungen zufolge werden
die BRIC-Staaten ab 2050 an der Spitze der Weltwirtschaft stehen und die etablierten Wirtschaftsnationen hinter sich lassen. Allen vorran: Die VR China. (Vgl. Goldman und Sachs 2003: 2 ff.)
Insgesamt scheint der VR China den Prognosen nach eine glänzende Zukunft bevorzustehen. Doch was sagen die makroökonomischen Daten über die wirkliche
Entwicklung des Reiches der Mitte aus? Reicht es aus, sich auf Indikatoren, wie das
Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu beziehen, um die Zukunft eines Landes vorauszusagen? Richtet man den Blick stärker auf die politische und ökonomische Entwicklung der Volksrepublik China, bietet sich ein spannendes Bild voller Widersprüche. Hyekyung Cho gliedert diese Betrachtung in drei Kategorien. So befinde
sich erstens die VR China seit 1978 in einem Übergangsprozess von einem planwirtschaftlichen hin zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, in dem die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) weiterhin ein Herrschaftsmonopol besitzt. Die KPCh behielt auch nach Beginn der Öffnungspolitik die Kontrolle über den zunehmend
marktwirtschaftlich gestalteten Wirtschaftsablauf (Cho 2005: 11). Eine These, die
101
auch durch andere Wissenschaftler gestützt wird, wie durch den in Trier lehrenden
Politikwissenschaftler Sebastian Heilmann (2004: 120 ff.).
Die zweite These von Cho bezieht sich auf die Wachstums- und Modernisierungserfolge der vergangenen zwei Jahrzehnte. In den 90er Jahren habe der Aufstieg der
VR China großes Interesse in der internationalen Geschäftswelt erregt, die in ihr einen gigantischen und lukrativen Zukunftsmarkt sehen. "Im Grunde kann es sich kein
Mittelständler mehr leisten, nicht im China-Geschäft aktiv zu sein", sagte Sabine
Hepperle vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung und beschreibt damit die Sicht vieler Deutscher Unternehmer
(Vgl. FAZ vom 06.02.2007: 16). Für Cho liegt hier der Grund für den „Mythos von der
‚Supermacht China’“ (Cho 2005: 11), der zunächst von Westen kreiert und dann von
der chinesischen KP-Führung als neue Grundlage ihrer Herrschaftslegitimation in der
Reformära übernommen worden sei. Dieser Mythos prophezeie den Anbruch eines
chinesischen Jahrhunderts, in dem die aufstrebende VR China die im Niedergang
begriffenen USA überholen würde. Eine These, die insbesondere durch die dargestellten Analysen von Goldman und Sachs, aber auch durch die populärwissenschaftlichen Publikationen von Hirn und anderen gestützt wird. (Vgl. Sieren 2005,
Hirn 2006 und Schoettli 2007)Allerdings ist hierbei der Begriff Mythos mit Vorsicht zu
gebrauchen. Cho erklärt ihre These mit der Tatsache, dass die euphorischen Meldungen über den Anbruch des pazifischen Zeitalters und den märchenhaften Aufstieg wichtige Faktoren ausblenden würden. Die VR China würde nach dem ProKopf-Einkommen zu einem der armen Entwicklungsländer gehören. Zudem sei das
Land mit einer Fülle von Entwicklungsproblemen konfrontiert. Cho verweist hier auf
den Gegensatz von Arm und Reich. Ein Index zu Überprüfung dieses Unterschiedes
ist der Gini-Index. Mit einem Wert von 0,44 im Jahr 2007 hat die Volksrepublik hier
ein vergleichsweise hohes Niveau. In Deutschland liegt der Wert aktuell bei 0,28,
wobei 0 eine gleiche Einkommensverteilung bedeutet und 1 eine vollkommen ungleiche Verteilung. (Vgl. WirtschaftsWoche vom 26.05.2007: 22). Dies ist ein wichtiger
Befund bei der Beurteilung der Zukunft Chinas. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt in
China aktuell bei 1.740 US $ pro Jahr. In Deutschland sind es 34.580 US $. (Vgl.
WirtschaftsWoche vom 26.05.2007: 22). Wobei es unterschiedliche Angaben zu diesen Zahlen gibt. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ war von einem Pro-KopfEinkommen von 1484 € im Jahr 2006 die Rede. (Vgl. Die Zeit vom 16.05.2007: 27)
Auch die aktuellen Daten bestätigen damit Chos Vermutung. Allerdings reichen diese
Befunde nicht aus, um das Chinabild als Mythos zu bezeichnen. Ein kritischer Ver-
102
weis auf das Pro-Kopf-Einkommen und die Einkommensverteilung ist dennoch hilfreich und sinnvoll.
In ihrer dritten These greift Cho die nationalistischen Tendenzen innerhalb der chinesischen Gesellschaft auf. In der Reformära habe sich die VR China aus ihrer maoistischen Selbstisolation herausgelöst. Die Weltmarktintegration ist auch für Cho ein
entscheidendes Moment für die nachholende Entwicklung mit kapitalistischer Prägung der VR China seit 1978. Mit dem vollzogenen WTO-Beitritt vervollständige sich
der Anschluss an den Weltmarkt. Gleichzeitig nähmen jedoch nationalistische Aufrufe in den politischen Diskursen besonders der 90er Jahre zu. (Vgl. Cho 2005: 11) Die
nationalistischen Tendenzen innerhalb der chinesischen Gesellschaft sind auch von
anderen Autoren thematisiert worden. (Vgl. Heberer/Senz 2006: 163 ff.) Die Auswirkungen auf die zukünftige Entwicklung sind zwar nur sehr schwer zu erfassen, doch
sie stellen einen wichtigen Faktor für die zukünftige Bewertung dar.
Es gibt also durchaus Tendenzen, die einer positiven Entwicklung des Reiches der
Mitte entgegenstehen können. Auch Goldman und Sachs verwiesen auf mögliche
Probleme mit ihrer einschränkenden Formulierung „If things go right“ (Vgl. Goldman
und Sachs 2003: 2). Doch worin genau bestehen diese Risiken und Probleme? Die
Merkmale des chinesischen Wirtschaftswachstums, mit der staatlichen Lenkung der
Wirtschaftsabläufe, zeigt viele Parallelen zu dem Profil der kapitalistischen nachholenden Entwicklung in anderen Ländern in der ostasiatischen Region nach dem
Zweiten Weltkrieg. Die chinesische Führung erklärt es zum Ziel ihrer Reform- und
Öffnungspolitik, die entwickelten Industrieländer mit Hilfe von deren Technologie einzuholen und sogar zu überholen, um so China ins Zentrum der Weltwirtschaft aufrücken zu lassen. Der Welthandelsstatistik zufolge, in der die VR China zu den zehn
größten Handelsnationen der Welt gezählt wird, befindet sich das Reich der Mitte auf
einem guten Weg. Die vier kleinen Tiger – Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur – und die neuen Schwellenländer – Malaysia, Thailand und Indonesien – schlugen einen ähnlichen Weg ein und bildeten die Basis für die These vom „Ende der
Dritten Welt“ (Menzel 1992: 20 ff.). Auch die Weltbank lobte die Entwicklung in ihren
Publikationen als „asiatisches Wirtschaftswunder“. (Vgl. World Bank 1993: 2 ff.).
Durch die Asienkrise von 1997/98 erhielt diese Vorstellung jedoch einen herben
Rückschlag. Die einstige Begeisterung über die asiatische Entwicklung erlosch
schnell. (Vgl. Cho 2005: 13). Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen muss auch
das chinesische Wirtschaftswachstum beurteilt werden.
103
Entwicklung und aktuelle Situation
Chinas Wandlung von einem Staatssozialismus zu der heutigen Wirtschaftsform begann 1978. Auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees der KP wurde das Ende der
„Ära des turbulenten Klassenkampfes“ deklariert und eine neue Ära der „Reform und
Öffnung“ eingeleitet (zit. n. Cho 2005: 76). Damit war es die Partei, die entschied,
dass durch den schrittweise Einsatz von mehr Markt in der Wirtschaft die bestehenden Probleme besser gelöst werden können: „It was the party’s decision to marketize
the Chinese economy.“(Bukett/Hart-Landsberg 2004: 30). Hier werden die Unterschiede zur Schocktherapie in der Transformation der Russischen Wirtschaft deutlich. Die VR China setzte ab 1978 auf eine langsame Außenöffnung der Ökonomie
und auf eine Stärkung des Privatsektors. (Vgl. Schmalz 2006: 26) Diese Öffnungsstrategie kann in mehrere Phasen unterschieden werden:
Eine erste Phase bilden die Jahre von 1978 bis 1983. In dieser Zeit wurden den Lokal- und Provinzebenen mehr Rechte zugeteilt. Gleichzeitig bekamen die Manager
der staatlichen Firmen mehr Freiheiten. (vgl. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 31f.) Anfang 1979 wurden zudem Sonderwirtschaftszonen für ausländische Investoren eingerichtet. Diese ausgewählten Bereiche an der Südküste der Provinzen Guangdong
und Fujian sollte neben ausländischen Direktinvestitionen auch neue Technologien in
die Volksrepublik holen. (vgl. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 33) Zudem wurde in dieser Phase der Umstrukturierung die Schaffung eines Markes für Arbeitskräfte vorangetrieben. Kleine private Unternehmen werdenzugelassen, deren Mitarbeiterzahl auf
sieben plus Lehrlinge begrenzt war. Damit stieg der Anteil von Arbeitern im Privatsektor rasant an. Waren Ende der 1970er Jahre gerade einmal 240.000 Arbeitnehmer im Privatsektor beschäftigt, so stieg ihre Zahl auf 1,1 Millionen 1981 und auf 3,4
Millionen 1984. Eine besondere Rolle spielte auch der Agrarsektor. Die staatlich garantierte Ertrag wurde von 20 auf 50 % erhöht, wenn die Produktion die vorgegeben
Quoten überschritt. Außerdem wurden die staatlichen Reglementierungen gedrosselt
und ab September 1980 die Dekollektivierung der Landswirtschaft eingeleitet. Dadurch erhöhte sich die landwirtschaftliche Produktion erheblich. Die jährliche Wachstumsrate betrug 9 %. Das ist, verglichen zu 4 % in der Mao-Ära, sehr viel. Zudem
verdoppelte sich das Pro-Kopf-Einkommen in der ländlichen Region zwischen 1978
und 1984. (vgl. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 33 ff.)
In der nächsten Phase von 1984 bis 1991 wurde vor allem die ökonomische Liberalisierung in den Städten vorangetrieben. 1984 begann die Regierung den Staatskonzernen und Provinzregierungen mehr Freiheiten einzuräumen. Während zuvor staat-
104
liche Zuschüsse den Konzernen zugeteilt wurden und später die Einkünfte an den
Staat zurückflossen, wurde dieses Verhältnis nun beendet. Die Firmen mussten von
nun an ihre Investitionen aus ihren eigenen Einkünften bestreiten. Ebenso mussten
die Provinzregierungen ihre Handlungen nun aus ihren Steuereinnahmen bestreiten.
(vgl. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 37) Diese Liberalisierungsmaßnahmen wurden
durch die Freigabe der Preise für einige Konsumgüter und landwirtschaftliche Güter
freigegeben. Lediglich der Preis für wichtige Industriegüter, wie Stahl, Kohle und Öl
blieb weiterhin staatlich fixiert. Allerdings wurde die Inflation zu einem immer größeren Problem. Zwischen 1985 und 1987 lag sie bei geschätzten 8 %. In den beiden
folgenden Jahren stieg sie jedoch auf 18 %. In großen Städten wie Peking sogar auf
30 %. In der Landwirtschaft kam es in Folge der Inflation und steigender Preise für
landwirtschaftliches Material zu einer Stagnation. Die Einkommen der ländlichen Bevölkerung stiegen 1989 bis 1991 nur um 2 %. 1978 bis 1984 waren es 15 %. Die
Städtische Bevölkerung war zwar auch betroffen, doch in gleichem Maße. (vgl. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 38 ff.) So begann bereits in dieser Zeit die gewaltige Bevölkerungsverschiebung aus ländlichen Regionen in die Städte. Der Versuch der
chinesischen Regierung durch die Begrenzung der Geldausgabe und der Bankkredite für Investitionen die Inflation zu bekämpfen, führte 1989 zu einer Rezession. (vgl.
Bukett/Hart-Landsberg 2004: 41)
Zu Beginn der Reformära durch Deng Xiaoping 1978 waren noch 71 % der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. 2004 sank ihr Anteil jedoch erstmals unter die Grenze von 50 %. Dieser Wandel vollzog sich im Wesentlichen in drei Phasen. Von 1983 bis 1987 zog es viele ehemalige Bauern in nicht-landwirtschaftliche
Betriebe. Viele verarmte Bauern, die in den Jahren zuvor noch von der Reformpolitik
profitiert hatten, erhofften sich bessere Perspektiven in den Städten. Als Wanderarbeiter versuchten sie sich eine bessere Zukunft zu erarbeiten. Von 1991 bis 1996
sank ihr Anteil nochmals ab, da das Wirtschaftswachstum neue Arbeitsplätze in den
Städten schuf und die Beschränkungen für Landarbeiter in den Städten gelockert
wurden. Die letzte Phase ist ab 2003 mit dem investitionsgetriebenen Wirtschaftswachstum auszumachen. (vgl. Naughton 2007: 151 f.) Obwohl noch fast die Hälfte
der arbeitenden Bevölkerung 2006 in der Landwirtschaft tätig ist, macht dieser Sektor
mit unter 25 % den geringsten Anteil am BIP aus. Hingegen dominiert der tertiere
Sektor mit über 50 % vom BIP. (vgl. Naughton 2007: 153ff.) Aktuell wird die Zahl der
Wanderarbeiter auf 200 Millionen geschätzt. Der Handelsüberschuss der VR China
ist 2006 im Vergleich zum Vorjahr um 10 % gestiegen. Eine beachtliche Zahl, an der
105
die billigen Arbeitskräfte einen großen Teil zu beigetragen haben. Schätzungen zufolge tragen sie rund ein Fünftel zum chinesischen Bruttoinlandsprodukt bei. (Vgl.
FAZ vom 06.02.2007: 46) Die geringen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen
bilden die Voraussetzung für die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft, doch
gleichzeitig stellt ihre Situation ein großes Potential für soziale Unruhen dar. Nach
Angaben der chinesischen Regierung wurden 2006 87000 Proteste von Arbeitern
registriert. (Vgl. Munro/Zhang 2006: 98). Die Grundlage für die heutige Entwicklung
ist bereits in der frühen Phase der Umstrukturierung gelegt worden.
Ab Anfang der 1990er Jahre konnte die wirtschaftliche Stabilität wieder hergestellt
werden. In dieser Zeit fällt auch die Reise Deng Xiapings in die südlichen Küstenregionen. Bei dem Besuch einer Sonderwirtschaftszone erklärte er: „solange es Geld
bringt, ist es gut für China.“ (zit. n. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 41) Damit beginnt
die nächste Phase ab 1991. In dieser Zeit wurde auch der Begriff der „Sozialen
Marktwirtschaft Chinesischer Prägung“ (zit. n. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 41) gelegt. Eine wichtige Entwicklung stellt die Privatisierung von Staatsbetrieben dar. Ab
1993 wurden 1000 zentrale und 2500 lokale Staatsbetriebe ausgewählt, die bis 1998
privatisiert wurden. Gleichzeitig wurde die Privatisierung ausgeweitet. Das Ziel bestand darin die 1000 größten Konzerne weiterhin in staatlicher Hand zu behalten und
die restlichen zu privatisieren. Aktiengesellschaften (AG) wurden zur dominanten Organisationsform für Unternehmen. 1997 gab es über 9200 dieser AGs. . (vgl. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 47 ff.)In den außenwirtschaftlichen Beziehungen verfolgt
die Regierung der VR China dabei eine konkrete Strategie. Exklusive Handelsrechte
wurden an einzelne Unternehmen vergeben, mit dem Ziel nur einer kleinen Anzahl
von Außenhandelsgesellschaften Rechte zu erteilen. So wurden die Konzentrationsprozesse im Wirtschaftsbereich gesteuert. Auf diese Weise förderte die chinesische
Regierung industrielle Konzentration, um so die internationale Wettbewerbsfähigkeit
zu steigern. Die Chinesische Regierung hat das Ziel ausgegeben die Anzahl der
Chinesischen Konzerne unter den 500 größten der Welt bis 2015 auf 50 zu erhöhen.
(Vgl. Cho 2006: 84) 2007 sind 20 Konzerne unter den Forbes Global 500 (Vgl. Forbes
Magazine
2007:
http://money.cnn.com/magazines/fortune/global500/2006/countries/C.html)
Während der Asienkrise 1997/98 zeigte sie die Krisenanfälligkeit der asiatischen Tigerstaaten. China erhält im Gegensatz zu diesem asiatischen Wirtschaftsmodell weiterhin die staatliche Kontrolle über den Kapitalverkehr und die Währungsregime aufrecht – allerdings mit Einschränkungen. Die chinesische Verweigerung der sofortigen
106
Liberalisierung der Kapitalmärkte wird jedoch international geduldet. (Vgl. Cho 2006:
81)
Die aktuelle und letzte Phase lässt sich mit dem Beitritt der VR China zur WTO 2001
ausmachen. Die Außenzölle wurden reduziert und der Investitionsverkehr weiter liberalisiert. Diese Entwicklung zog einen sprunghaften Anstieg der Exporte nach sich
von 22,3% (2002), 34,6 % (2003) und 35,4 % (2004). Gleichzeitig stieg die Investitionsrate von 36,3 % im Jahr 2000 auf 48,6 % im Jahr 2005. (Vgl. Schmalz 2006: 27)
Für 2006 wird die Investitionsrate mit 43,5 % des BIP angegeben. (Vgl Die Zeit vom
10.04.2007: 27) Dieser Anstieg ist auch im Vergleich zu den anderen BRIC-Staaten
gewaltig. In Russland liegt die Quote für 2006 bei 20,9 %, in Brasilien bei 20,6 % und
in Indien bei 33,4 %. (Vgl. Die Zeit vom 10.04.2007: 26 f.). Diese Zahlen belegen
gleichzeitig die hohe Außenabhängigkeit des chinesischen Wachstums. Die Exportabhängigkeit ist durch die Größe des Binnenmarktes extrem hoch. Zudem wächst
der Anteil ausländischer Unternehmen am chinesischen Außenhandel stetig. Im Jahr
1986 lag er bei 0,4% bis 1,2% der Exporte und 1,9% der Importe. Bis 2005 stieg er
auf atemberaubende 58,2 % bis 58,5% der Exporte und 58,7 % der Importe. (Vgl.
Cho 2006: 82) Bis Mitte der 1990er Jahre kamen die Investitionen aus den asiatischen Schwellenländern, besonders Hongkong, Taiwan, Korea und Singapur. Sie
zielten dabei hauptsächlich auf die Billigproduktion von arbeitsintensiven Gütern, wie
Schuhe, Sportartikel und Bekleidung Dann wurde jedoch auch die Produktion von
Industriegütern aus diesen Ländern nach China verlagert, dabei zunächst in die
Sonderwirtschaftszonen in der chinesischen Küstenregion. (Vgl. Cho 2006: 82)
Während der 1990er Jahren wurden in China hauptsächlich arbeitsintensive Billiggüter produziert. In den letzten kommen in zunehmendem Maße auch Hochtechnologiegüter hinzu. Im Jahr 2004 lag der Anteil von Hochtechnologiegütern am Gesamtexport bei 28 %. 87,3 % davon entfielen auf ausländische Unternehmen. (Vgl. Cho
2006: 82) Für die Produktion sind die Unternehmen allerdings auf Importe von dafür
notwendigen Vorprodukten und Kapitalgütern angewiesen. Diese sind auf dem Binnenmarkt nicht verfügbar. Der Import von Vorprodukt- und Kapitalgütern lag im Jahr
2005 bei 74,7% und 19,4% der Gesamtimporte. Konsumgüterimporte lagen hingegen bei einem Anteil von 3,3%. Dabei gehen 43,6% der Exportwerte auf den Import
von Vorprodukten zurück. In ausländischen Exportunternehmen liegt dieser Wert sogar bei 80%. (Vgl. Cho 2006: 83) Die Abhängigkeit Chinas vom Außenhandel und
ausländischer Technologie ist demnach sehr hoch. Das chinesische Wachstum ist
107
also zu einem sehr großen Teil von ausländischen Direktinvestitionen und dem Import von Technologie abhängig. (Vgl. Cho 2006: 83)
Die moderne chinesische Infrastruktur gehört zu den Kostenvorteilen und damit
Wettbewerbsvorteilen des Standortes gegenüber anderen Billiglohnländern und auch
den anderen BRIC-Staaten. Allein zwischen 2001 und 2005 entstanden über 24.000
Autobahnkilometer. Das ist mehr als doppelt so viel, wie es in ganz Deutschland gibt.
Bis 2011 sollen weitere 17.000 Kilometer Schienennetz gebaut werden. Das entsprich etwa der Hälfte des Deutschen Netzes. (Vgl. Die Zeit vom 10.04.2007: 27) Mit
den niedrigen Arbeitskosten, niedrigen Umwelt- und Sozialstandards sowie den weitgehend stabilen Wechselkursen ist China im Vergleich zu anderen Ländern unschlagbar. (Vgl. Cho 2006: 83)
Die Zukunft ist allerdings vom Absatz Chinesischer Güter auf dem Weltmarkt abhängig. Dabei spielen die entwickelten Industriestaaten die wichtigste Rolle. Die USA
und die EU sind hier sehr wichtig. In beide Märkte flossen im Jahr 1995 etwa 30 %
der chinesischen Exporte. 2005 waren es 42% in die USA und 22,8% in die EU. Dabei ging die Bedeutung des asiatischen Raumes als Empfänger chinesischer Exporte
zurück. (vgl. Cho 2006:83) Neben den Investitionen ist China also auch entscheidend
von der Absatzmöglichkeiten im Ausland abhängig, solange es keinen entsprechenden Binnenmarkt gibt.
108
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110
Thesen
Abhängigkeit von Auslandsinvestitionen
Generell stützen sich die wachsenden Ökonomien der BRIC-Staaten stark auf ausländische Investitionen. Die Öffnungs- und Liberalisierungspolitiken in den einzelnen
Ländern hatten zu einem großen Teil die Anziehung ausländen Kapitals zum Ziel.
Die Investitionen fungieren als Antrieb der ökonomischen Erneuerung. Die Abhängigkeit ist aber nicht in allen BRIC-Staaten gleich. China und Brasilien sind stark auf
ausländische Investitionen angewiesen, während Russland und Indien weniger akuten Bedarf haben. Brasilien ist sehr stark auf ausländischen Kapitalzufluss angewiesen, da das Land nicht genügend Kapital und Investitionen mobilisieren kann. Das
hohe Leistungsbilanzdefizit und die große Verschuldung Brasiliens erzeugen den
Kapitalbedarf (vgl. Bieling; 233).
In Russland werden Kapitalströme von Außen hauptsächlich in die Modernisierung
und Instandhaltung der Rohstoffförderanlagen sowie in die Erschließung neuer Rohstofffelder investiert. Durch den Leistungsbilanzüberschuss ist die Außenabhängigkeit aber nicht so groß. Seit Putins Reformen stiegen die Auslandsinvestitionen stark
an.
In Indien werden hauptsächlich in der IT-, Pharmazie- und Chemiebranche Investitionen benötigt. Durch starke Zuströme in diesen Bereichen konnte die zuvor negative
Leistungsbilanz relativ ausgeglichen werden (vgl. Bieling; 241).
China entwickelt den größten Bedarf an Kapitalzuflüssen. Hier werden vor allem Direktinvestitionen und der Import von Know-How zur Erneuerung der ökonomischen
Struktur benötigt.
In China liegt die Investitionsrate 2006 bei 43,5 % des BIP. In Russland liegt die
Quote für 2006 bei 20,9 %, in Brasilien bei 20,6 % und in Indien bei 33,4 %. (Vgl. Die
Zeit vom 10.04.2007: 26 f.).
Die Abhängigkeiten von ausländischem Kapital waren hauptsächlich in den Umbruchszeiten sehr stark gegeben. Mit zunehmender Entwicklung der Länder sinkt
jedoch mittlerweile diese Abhängigkeit wieder. China z.B. ist in den letzten Jahren
sogar selbst zu einem großen Investor, vor allem in die US-Wirtschaft geworden.
111
Vergleich China und Indien
Bei der Diskussion über die BRIC-Staaten wird immer wieder auf die zentrale Funktion der beiden Länder China und Indien verwiesen. Mit einem Wirtschaftswachstum
im Jahr 2006 von 10,7 Prozent in China und 9,2 Prozent in Indien liegen sie, zumindest was die Wachstumszahlen angeht, weit vor den 6,7 Prozent in Russland und
den 3,7 Prozent in Brasilien (vgl. Die Zeit vom 10.04.2007: 26 f.). Aber lässt sich die
Entwicklung in Indien und China überhaupt sinnvoll vergleichen, oder gar gleichsetzen? Es scheint, vor allem nach der vorangegangenen Analyse, viel mehr als würden
den beiden Nationen völlig unterschiedliche Entwicklungsmodelle zu Grunde liegen,
welche aber trotzdem, zumindest in letzter Zeit, ähnlich hohe Wachstumszahlen produzieren. Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede? Ist eines der beiden Modelle dem anderen überlegen?
Der augenscheinlichste Unterschied zwischen beiden Ländern ist ihr politisches System und die Wirtschaftspolitik. China befindet sich in einem Übergangsprozess von einem planwirtschaftlichen hin zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, in dem die KPCh nach wie vor dominant ist. Die KPCh behielt auch nach Beginn
der Öffnungspolitik die Kontrolle über den zunehmend marktwirtschaftlich gestalteten
Wirtschaftsablauf. (vgl. Cho 2005: 11) Im parlamentarischen Bundesstaat Indien wird
der Aufschwung dem Boom in der IT-Branche, und häufig auch einem marktgetriebenen Wandel zugeschrieben. Hier seien es die einzelnen Wirtschaftsakteure und
nicht eine Partei, die wirtschaftliche Abläufe gestalten. Die treibende Kraft des wirtschaftlichen Aufschwunges seien die freien kreativen Unternehmen. (vgl. Oliver Müller 2006: 4). Eine weitere Besonderheit des indischen Modells ist die Tatsache, dass
Indien scheinbar eine Industrielle Revolution übersprungen hat und sein Wachstum
schon heute auf dem tertiären, oder Dienstleistungs-, Sektor aufbaut.
In beiden Ländern fällt der hohe Investitionsanteil am BIP auf, der in China
bei 43,5 Prozent und in Indien bei 33,4 Prozent im Jahr 2006 liegt (vgl. Die Zeit vom
10.04.2007: 27). Die Außenverflechtung ist dabei in beiden Ländern sehr hoch. Experten schätzen hierbei das Risiko für Indien höher ein als das für China. Der Grund
hierfür seien mangelnde Arbeitsplätze für Millionen von jungen Inderinnen und Indern. In China hingegen sei dieses Problem aufgrund der exportorientierten Leichtindustrie nicht so groß. Hinzu kommt, dass der Anteil der unter 30-Jährigen in Indien
mit 450 Millionen über den 400 Millionen dieser Altersgruppe in China liegt. Und Indiens junge Bevölkerung wächst rasant weiter. Für China wird dagegen ab dem Jahr
2050 sogar von einer Vergreisung der Bevölkerung gesprochen, da nach Schätzun-
112
gen ein Drittel der Bevölkerung über 60 Jahren alt sein wird (vgl. FAZ.net vom
23.04.2006). Zwar müssen Prognosen über einen derartig langen Zeitraum mit großer Vorsicht genossen werden, bedingt durch die Ein-Kind-Politik liegt das Bevölkerungswachstum in China allerdings jetzt schon bei 0,85 Prozent. In Indien hingegen
bei 1,45 Prozent. Daher wird von Harald Müller die These vertreten, dass Indien in
Zukunft eine kreative und dynamische Volkswirtschaft haben wird, während China
mit Problemen der Alterssicherung zu kämpfen hat (vgl. Harald Müller 2006: 95)
Ein immer wieder angeführtes Problem in China ist die große Anzahl fauler
Kredite bei den Staatsbanken. Schätzungen zufolge sollen sogar 50 Prozent der
Kredite chinesischer Banken „faul“ sein. In Indien spricht man hingegen von nur 15
Prozent. Die aktuellen Börsengänge Chinesischer Banken könnten allerdings neue
Bewegung in diese Entwicklungen bringen. Wie sich dies allerdings konkret auf die
Praxis der Kreditvergabe auswirken wird, lässt sich noch nicht abschätzen (vgl. Harald Müller 2006: 95 f.)
Obwohl in beiden Ländern eine hohe Außenabhängigkeit herrscht, gibt es einen entscheidenden Unterschied: Das indische Wirtschaftswunder speist sich überwiegend aus heimischem Kapital. Indien ist dadurch nicht so stark von ausländischen
Investoren abhängig. Zudem ist die Wirtschaftsstruktur in beiden Ländern verschieden verteilt. Der Anteil der Landwirtschaft am BIP liegt in Indien bei 22,7 Prozent und
in China bei 14,4 Prozent. In Indien wird allerdings über die Hälfte des Bruttosozialprodukts im Dienstleistungssektor erwirtschaftet. Das ist ein untypischer Befund für
ein Entwicklungsland. In China liegt der Anteil hingegen bei 32,5 Prozent (Harald
Müller 2006: 97).
Die Liste der Unterschiede und Gemeinsamkeiten ließe sich für bei Länder sicherlich noch weiterführen. Festzustellen ist allerdings, dass den Aufschwung in Indien und China spezifische, und völlig unterschiedliche Entwicklungsmodelle zugrunde liegen. Beide Länder haben ein großes Potenzial und doch lassen sich keine gemeinsamen Prognosen abgeben. Beide Länder haben aber auch große Probleme,
soziale wie politische, welche ihrer Entwicklung trotz Potential im Wege stehen können. Vielleicht kann man sagen, dass Indiens Wachstumsmodell zukunftsorientierter
ist, allerdings über keine stabile Basis verfügt die dieses Wachstum dauerhaft stützen kann. Wohingegen China seinen Massen zwar Arbeitsmöglichkeiten bietet, aber
dringend Innovation zulassen muss um zukunfts- und wettbewerbsfähig zu bleiben.
Es bleibt also spannend zu beobachten, wie diese Länder in Zukunft Einfluss auf die
Weltwirtschaft ausüben werden.
113
Export und Modelle
Die vier BRIC-Staaten weisen, wie im Laufe unserer Arbeit dargestellt worden ist,
erhebliche Unterschiede in ihren wirtschaftlichen und politischen Strukturen sowie in
den sozialen Verhältnissen auf. Gemein sind ihnen die tendenziell wachsende Bedeutung in der Weltwirtschaft und in der internationalen Politik, aber auch zunehmende Konfliktpotentiale. Die ökonomischen Wachstumsprozesse, die in den einzelnen Staaten beobachtet werden können und durch die solche Prognosen gestützt
werden, basieren jeweils auf anderen Boom-Sektoren. Hier kann auch ein Grund für
die unterschiedlich starke Wachstumsdynamik in den vier Ländern gesehen werden.
Das Wirtschaftswachstum in Brasilien und Russland, die beiden an Bevölkerungszahl und BIP gemessen kleinsten Staaten der Gruppe, baut weitgehend auf die Gewinnung und den Export von Rohstoffen auf. Im Falle Brasiliens sind es mineralische, allen voran Eisenerz, und agrarische Rohstoffe, insbesondere Soja, die abbzw. angebaut und exportiert werden. Steigende Weltmarktpreise und die wachsende Nachfrage aus China nach Eisenerz und Soja sowie der gesteigerte Import von
Soja in der EU befördern diese Entwicklung. Der Rohstoffexport wirkt sich für die
brasilianische Ökonomie allerdings nicht unbedingt positiv aus. So trägt die damit
einhergehende Aufwertung des Reals zu einer schwindenden Wettbewerbsfähigkeit
der stagnierenden verarbeitenden Industrie bei. Da gleichzeitig mit 41,4% ein großer
Teil der Exporterlöse für den Schuldendienst aufgewendet werden müssen, bleiben
Investitionsimpulse für die heimische Wirtschaft eher aus und die Gewinne fließen
entweder ins Ausland oder konzentrieren sich in der Hand weniger vom Export profitierender Unternehmen.
Die russische Wirtschaft wird ebenfalls durch den Export von Rohstoffen gestützt,
hier werden aber überwiegend die Energieträger Öl und Gas ausgeführt. Es werden
durch diese Exporte mittlerweile 25% des russischen BIP erwirtschaftet, was die enorme Bedeutung des Wirtschaftszweigs illustriert. Auch der Großteil der in- und
ausländischen Investitionen entfällt auf diesen Sektor. Während hohe Wachstumszahlen außerdem auch im Baugewerbe und im Handel zu beobachten sind, stagniert
die verarbeitende Industrie mit Ausnahme der Rüstungsbetriebe. Der Niedergang der
Industrie, die im Zentrum der sowjetischen Wirtschaftspolitik stand begann mit der
radikalen Öffnung und Reform der russischen Ökonomie seit dem Beginn der 90er
Jahre. Analog zur brasilianischen Situation besteht die Gefahr negativer Konsequenzen des Rohstoffexports für die Mehrzahl der heimischen Unternehmen, indem eine
114
Aufwertung der Währung und die Konzentration der Gewinne Investitionen und Binnenmarktentwicklung behindern.
Anders sieht die Situation in China aus, das seit 1978 eine schrittweise und kontrollierte Öffnung seiner Wirtschaft für den Weltmarkt vollzogen hat. Die geringen Löhne,
gute Infrastruktur und gezielte Fördermaßnahmen haben dazu geführt, dass China
die Position einer Produktionshalle der Weltwirtschaft eingenommen hat. Das chinesische Wachstumsmodell, das auf die Industrieproduktion für den Export setzt, ist
dabei stark von ausländischen Investitionen und Unternehmen mit Produktionsstandorten im Land geprägt. Im Hochtechnologiesektor entfallen z.B. über 85% der
Exporte auf ausländische Unternehmen. Gleichzeitig müssen Vorprodukte und Kapitalgüter für die Produktion importiert werden, was die andere Seite der Außenabhängigkeit der chinesischen Wirtschaft ausmacht.
Der indische Wirtschaftsboom wiederum wird nicht durch Rohstoffe oder die Industrieproduktion sondern den Dienstleistungssektor und insbesondere die globalisierte
IT-Dienstleistungsbranche getragen. Seit der Öffnung dieses Sektors in den 80er
Jahren profitiert
die
Branche vom
Outsourcing insbesondere in
der
US-
amerikanischen IT-Industrie. Niedrige Löhne und die gute Ausbildung der indischen
Eliten haben diese Entwicklung ermöglicht. Das Outsourcing hochqualifizierter Arbeitsplätze nach Indien greift mittlerweile auch auf andere Bereiche, wie die Bio- und
Pharmaindustrie über. Eine Tendenz zum Übergreifen der Entwicklungsdynamik auf
benachbarte Sparten der heimischen Industrie findet vereinzelt statt, etwa in der Elektroindustrie beobachten. Eine tiefgreifende Industrialisierung bleibt aber weiterhin
aus. Außerdem sind die Lage in der Agrarwirtschaft und damit die Situation der Masse der Bevölkerung, die aufgrund mangelnder Bildung nicht an der Entwicklung teilhaben kann, weiterhin das Hauptproblem der indischen Ökonomie.
Insgesamt hat sich gezeigt, dass in den vier BRIC-Staaten sehr unterschiedliche
Wachstumsdynamiken und -modelle wirksam sind. In allen Ländern findet die Entwicklung aber auf den Export zentriert statt, mit den daraus resultierenden Verwerfungen und wachsenden Ungleichheiten zwischen den profitierende Wirtschaftsbereichen und den binnenorientierten Bereichen der Ökonomie, die im Vergleich stagnieren. Daraus resultiert außerdem eine starke Außenabhängigkeit von den Märkten
und der ökonomischen Entwicklung anderer Staaten und von ausländischen Investitionen und Krediten. Besonders interessant ist hier auch die zunehmende Verflechtung der Staaten untereinander, die sich als Quellen und Empfänger gegenseitiger
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Exporte und Investitionen zunehmend hervortun. Bisher sind die Waren- und Kapitalströme allerdings primär auf die westlichen Industriestaaten konzentriert.
Die Soziale Schere
In allen vier BRIC- Staaten etablierte sich aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwunges in den letzten Jahren eine neue Ober- und Mittelschicht. Gleichzeitig entstand
jedoch eine neue Unterschicht. In Russland verbesserte sich zwar die finanzielle Lage der am Existenzminimum lebenden Bevölkerung. Durch die wirtschaftliche Öffnung gen Westen stiegen jedoch auch die Lebenserhaltungskosten. Die Differenz
zwischen den Profiteuren des Wachstums der Wirtschaft und der armen Bevölkerungsschicht wuchs. In Russland lag der Gini- Koeffizient bei 0,41. Auch in China betrug der Wert 0,44, damit klafft die Lebensweise der zwei Bevölkerungsschicht sogar
noch stärker als in Russland auseinander
In Indien leben nach offiziellen Angaben über 26 Prozent der Bevölkerung unter der
Armutsgrenze, Brasilien sind es ähnlich so viele. Soziale Unruhen, Arbeitsstreik der
zu unzureichenden Löhne arbeitenden Bevölkerung und Schwarzarbeit sowie die
Verbreitung illegaler Geschäfte sind Folgen dieser Armut und ungleichen Lebensweise, mit denen die Staaten konfrontiert werden.
Ein Grund für die starke sozialen Ungleichheiten sind die regionalen Entwicklungsunterschiede innerhalb der Länder. Die Faktoren dieser regionalen Ungleichheit sind
länderspezifisch. In Indien sind die Differenzen zwischen dem entwickelten Südosten
und dem armen Nordosten auf postkoloniale Ursachen zurückzuführen. In China und
Brasilien entstanden Wirtschaftszonen rund um die Ballungszentren der Länder. In
China leben ungefähr 200 Millionen Menschen als Wanderarbeiter, da sie in ihren
Herkunftsregionen keine Arbeit finden. Das südliche Kerala beispielsweise ist einer
der erfolgreichsten Nutznießer der Wirtschaftsbooms während die Menschen in nördlichen Bihar in Apathie verharren. Brasiliens Wirtschaft findet sich ebenfalls in südwestlichen Landesteilen. Im Nordosten des Landes herrscht in den Küstenregionen
des Landes immer noch Großgrundbesitz, im halbtrockenen Hinterland dominiert
Subsistenzlandwirtschaft und –tierzucht. Der Südosten Brasilien stieg hingegen zum
wirtschaftlichen Zentrum des Landes auf. In Russland besteht ein West- Ost Gefälle.
Wirtschaftliche Ballungszentren sind dabei auch Moskau und St. Petersburg. Aber
auch in ländlichen Gebieten konnten sich wirtschaftliche Zonen etablieren. Jedoch
sind diese abhängig von den dortigen Bodenschätzen.
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