Musiktherapie auf der Intensivstation

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Musiktherapie auf der Intensivstation 69
MONICA BISSEGGER
...dem anderen begegnen...
Musiktherapie auf der Intensivstation
Der Apparateberg türmt sich um das Kopfende des Bettes: verschiedene Bildschirme
mit sich bewegenden Kurven, Beatmungsgeräte, Spritzen, Schläuche. Die Apparate
geben pulsierende oder gleichbleibend monotone Geräusche von sich, ab und zu ein
piepsender Signalton.
Die Türe des Zimmers ist geschlossen, der geräuschintensive Stationsalltag (“Intensiv“-Station!) nach draußen verbannt, die Intensivpflege unterbrochen. Ich sitze neben
dem Patienten am Bett, gekleidet in eine bläßlich-grüne Schürze. Meine eigenen Kleider mit ihren Farben sind verdeckt. Der Patient liegt zugedeckt unter einer weißen
Decke. Weiße Schläuche führen von den Apparaten zu seinem Körper.
Wird unsere Begegnung “intensiv“ sein? - Erst einmal kommt in mir ein Gefühl von
Einsamkeit auf. Der Patient hat bei meinem Eintreten ins Zimmer auf meine Begrüßung hin nicht reagiert. Er kann äußerlich nicht reagieren, seine Bewußtseinslage läßt
es nicht zu. Nun sitze ich da, in einer geräuschvollen Stille. Der Monitor zeigt beunruhigende Atemfrequenzen, auf der Stirn des Patienten bilden sich dicke Schweißperlen.
- Bin ich willkommen, hat der andere eine Frage an mich oder möchte er lieber alleine
und in Ruhe gelassen werden? Wer ist er? Was erlebt er? Was empfindet er?
Die Stille wirkt lähmend auf mich. Ich bin froh, ein Musikinstrument dabeizuhaben. So
beginne ich zu spielen, spiele gegen die monotonen Geräusche der Apparate an, kann
dadurch selber wieder zu meiner inneren Beweglichkeit zurückfinden und damit zu
meiner Empfindsamkeit. So kann ich mich langsam von allen äußeren Begebenheiten
frei machen und mich dem Menschen zuwenden, der mir vielleicht in seiner eigenen
Sprache, jenseits von unserer gewohnten Sprache, jenseits von Mimik und Gestik, etwas sagen wird, so daß Begegnung stattfinden kann.
Alltag auf der Intensivstation
Die Stimmung auf einer Intensivstation ist eine besondere. Die Patienten sind in einem
Ausnahmezustand. Sie sind häufig unvermittelt in diesen hineingekommen, nach einem Herzinfarkt, nach einem Schlaganfall, nach einer Gehirnblutung, nach einer Intoxikation, nach einem Unfall mit folgendem Schädelhirntrauma, nach einer
komplikationsreichen Operation. Die Situation des Patienten ist geprägt von Schmerz,
von sich verändernden Bewußtseinslagen, von Gefühlen der Unsicherheit, der
Orientierungslosigkeit, der Verlorenheit, der Hoffnungslosigkeit, der Mutlosigkeit, der
Traurigkeit, der Angst.
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Auch für die Angehörigen ist es eine Ausnahmesituation. Die Umgebung einer Intensivstation mit den vielen technischen Apparaten wirkt bedrohlich auf sie. Sie sind in
großer Sorge um den Patienten. Wird er sich wieder erholen? Wird er wieder sprechen
können? Wird er überhaupt noch einmal die Augen aufmachen? Spürt er, daß jemand
bei ihm ist? Das mögliche Versterben des Patienten steht im Raum und damit das Denken an das, was gewesen ist, an das, was hätte sein sollen und an das, was in Zukunft
werden wird.
Vielleicht sind auch Vorwurfshaltungen gegenüber den behandelnden Ärzten und Pflegenden vorherrschend. Vorwürfe, daß eine Operation nicht gut durchgeführt wurde
und deshalb Komplikationen aufgetreten sind. Damit verbunden sind eigene Zweifel,
richtig und rechtzeitig gehandelt zu haben, die beste Behandlung für den Angehörigen
ausgewählt zu haben. Oft brauchen Angehörige von Patienten viel Geduld, eine ungewisse Situation über Tage, manchmal über Wochen auszuhalten, wo niemand sagen
kann, wie der Ausgang sein wird.
Auch die Stimmung unter den Pflegenden und Ärzten ist eine andere auf einer Intensivstation gegenüber der Stimmung auf einer Normalstation. Das Arbeitstempo wirkt
schneller, man ist immer bereit und auf dem Sprung, eine Akutsituation sofort wieder
in den Griff zu bekommen. Die Erklärungen sind kürzer und knapper, geprägt von
medizinischen Fachausdrücken. Durch die intensive Versorgung können die Pflegenden aber sehr genaue Auskunft über das Befinden des jeweiligen Patienten geben. Die
große Erfahrung im Umgang mit Schwerstkranken ermöglicht es ihnen, die Entwicklung eines Krankheitsprozesses vorausschauend zu überblicken.
Indikationen und Ziele der Musiktherapie
Wie findet nun die Musiktherapie ihren Platz in diesem Geschehen?
In der Filderklinik gehören die künstlerischen Therapien zum Behandlungskonzept dazu,
insbesondere die Musiktherapie zum Behandlungskonzept der Intensivmedizin. Das
Behandlungskonzept ist die Anthroposophische Medizin. Dabei wird versucht, den
Menschen in seiner Ganzheit anzuschauen und aus dieser Sicht heraus die Behandlung
aufzubauen. Die Ganzheit ist nicht ein lineares Gefüge, sondern ein komplexes, so wie
alles Lebendige immer komplexe Ganzheiten bildet und einer höheren Kräfteordnung
unterliegt. Bei einer Erkrankung ist diese Ordnung gestört und muß durch äußere Eingriffe (Operationen), durch Medikamente (Stoffe substituieren, Prozesse anregen oder
hemmen), durch äußere Anwendungen (Wickelauflagen, Einreibungen von bestimmten Substanzen), durch äußere Bewegung (Krankengymnastik) wiederhergestellt werden.
Um der Komplexität des Menschen gerecht zu werden, sind auch die Umgebung, die
Ansprache und Gesinnung der Behandelnden von großer Wichtigkeit.
Zum Menschensein gehört aber auch die Kunst. Sie ist es, was ihn zum Menschen
macht, was ihm seine Würde gibt, was ihm Erinnerung, Sinn und Hoffnung gibt. Durch
sie können in ihm die ordnenden und damit selbstheilenden Kräfte angesprochen und
aktiviert werden. Die selbstheilenden, gesundend wirkenden Kräfte können das ins
Ungleichgewicht geratene komplexe Gefüge wieder zu einem Gleichgewicht zurückführen und dabei eine wichtige Rolle spielen.
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Welches sind nun die Indikationsstellungen für die Musiktherapie?
Durch die heutige Medizin sind wir immer mehr mit Situationen konfrontiert, bei denen Patienten in bewußtlosen Zuständen sind oder gehalten werden. Wir Musiktherapeutinnen haben mit unseren Intensivärzten zur Zeit folgende Abmachung der
Indikationsstellung für Musiktherapie:
Wir werden zu einer Behandlung dazugebeten, wenn ein Patient aus einer Bewußtlosigkeit, die verschiedene Ursachen haben kann, aufwachen darf und soll. Dies ist die
wichtigste Indikation auf dieser Station. Damit verbindet sich oft die Frage an uns nach
der Bewußtseinslage des Patienten.
Weiter kommen wir zu einer Behandlung dazu, wenn Patienten zwar wach sind, aber
aus einer gewissen Verwirrtheit, Desorientierung oder auch depressiven Verstimmung
nicht herausfinden.
Die Frage an uns stellt sich auch bei Patienten, die an der Schwelle zum Sterben stehen,
wo dieses Sterben aber schwierig ist und sich über längere Zeit hinzieht.
Mögliche Ziele für die Musiktherapie können sein:
- den Prozeß des Wieder-zu-sich-Kommens fördern
- das Sich-selber-Erleben im Erleben der Musik ermöglichen
- Erinnerungen und dadurch das Sich-selber-Erleben ermöglichen
- Begegnungen vom Du zum Du im nicht-sprachlichen Raum herbeiführen
- Lebensmut, Lebenshoffnung, Lebenszuversicht, Lebensfreude anregen
- Selbstheilungskräfte aktivieren
- auf Atmungsvorgänge ordnend und regulierend einwirken
- Durchgangssyndrome in ihrem Ausmaß vermindern oder überhaupt verhindern
- erste selbstgestaltete Tätigkeiten ausführen helfen (nach Schlaganfall oder Schädelhirntrauma)
Musiktherapeutischer Alltag auf der Intensivstation
Wenn ich einen Patienten auf der Intensivstation mitbetreue, versuche ich als erstes
einen ruhigen Moment in seinem Tagesablauf zu finden, an dem die Musiktherapie
stattfinden kann. Ein nicht immer leichtes Unternehmen! Ich versuche, möglichst jeden Tag zur gleichen Zeit zu kommen, um dem Patienten dadurch eine Orientierung im
Tagesgeschehen zu geben. Damit unterstütze ich die Bemühungen der Ärzte und Pflegenden, einem fehlenden Tag-Nacht-Rhythmus entgegenzuwirken mit aktiven Maßnahmen wie Nahrungsgabe am Tage und möglichst viel Ruhe und abgedämpftes Licht
in der Nacht.
Bei meinem Kommen auf die Intensivstation kann ich mich nicht immer darauf verlassen, eine Therapie durchführen zu können. Ich muß darauf gefaßt sein, daß andere
Maßnahmen wie z.B. Röntgen- oder CT-Aufnahmen im Moment wichtiger sind oder
daß die Pflegenden noch nicht fertig sind, weil andere akute Situationen den Pflegeablauf verändert haben. Bei einer guten Zusammenarbeit zwischen den Pflegenden und
mir ist es aber möglich, alle therapeutischen Maßnahmen in der Regel so zu planen,
daß der Patient zu der Zeit der Musiktherapie entweder fertig gepflegt ist oder eine
Pflegepause hat, vielleicht der Drehturnus so eingerichtet ist, daß er auf dem Rücken
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liegt und somit mit beiden Ohren hören kann, alle leer werdenden Spritzen noch einmal
ersetzt sind, um unnötige Alarmsignale zu vermeiden, der Patient bei besserem Zustand eventuell im Stuhl sitzt und bereit ist für eine besondere Aktivität. Nach der Therapie wird, wenn immer möglich, eine Nachruhphase eingehalten. Auch dies gelingt
nur bei einer guten Zusammenarbeit.
Die Absprache bei einem Intensivpatienten muß also deutlich besser sein als bei einem
anderen Patienten. Die Pflegenden müssen die dazukommenden therapeutischen Maßnahme viel bewußter mit einplanen, als dies bei einem anderen Patienten notwendig
ist.
Jedesmal, wenn ich auf die Intensivstation komme, nehme ich erst Kontakt auf zu dem
behandelnden Arzt oder der betreuenden Pflegenden. Ich informiere mich über den
momentanen Zustand des Patienten. Der Zustand kann sich von Tag zu Tag unvorhergesehen verändern. Ich erhalte dabei einen Eindruck, ob der Patient belastungsfähig ist
oder ob er sich gerade in einem sehr labilen Zustand befindet und kann mich dementsprechend bei der Therapie darauf einstellen.
Im Ganzen gesehen ist die musiktherapeutische Arbeit auf der Intensivstation nicht
immer einfach. Die Wichtigkeit einer solchen Therapie muß immer wieder ins Bewußtsein gehoben werden, weil sonst die vordergründigen, lebensnotwendigen Maßnahmen allen Platz einnehmen. Dies geschieht am leichtesten, wenn ich mir die Zeit
nehme, nach der Therapie eine kurze Rückmeldung an die Pflegenden oder an die Ärzte über die Reaktionen des Patienten zu geben, so daß das Interesse daran wach bleibt.
Musikinstrumente und deren Einsatzmöglichkeiten
Welche Musikinstrumente nehme ich auf die Intensivstation mit?
Die Instrumente müssen tragbar und handlich sein. Das wichtigste Instrument, welches
bei mir am häufigsten zum Einsatz kommt, ist die Alt-Leier. Die Alt-Leier ist ein Saiteninstrument mit einem Tonumfang von E bis f“. Ihr Klang ist weich verklingend und
sehr freilassend. Ich kann sie sehr vorsichtig und leise spielen, aber auch kräftiger und
direkter werden lassen.
Häufig ist die Leier das erste Instrument, was ich im Patientenzimmer erklingen lasse.
Erst nach einer Weile komme ich vorsichtig mit der Stimme dazu. Die Stimme hat eine
viel intimere Wirkung. Immer wieder sind erst mit der Stimme Reaktionen zu beobachten. Trotzdem fange ich gerne mit der Leier an und frage damit den Patienten unhörbar,
möchtest Du, daß Musik zum Erklingen kommt? Bist Du bereit dazu? Ich stimme mich
auch selber mit der Leier auf die Situation ein. Ich versuche während des Spielens zu
spüren, wo der Patient ist und frage mich, ob ich ihn nahe oder weit weg erlebe, ob ich
einen Widerhall in mir erlebe. Diese Frage nach dem “Wo bist Du?“ braucht viel
Einfühlsamkeit und Konzentration im Spiel und gelingt nicht jeden Tag gleich gut.
Beim Spielen auf der Leier orientiere ich mich bei bewußtlosen oder bewußtseinsgetrübten Patienten an deren Atem. Ich versuche mich darauf einzuschwingen und ein
angemessenes Grundtempo zu finden. Ich verbleibe dann in diesem Grundtempo und
versuche damit die große Linie aufzuzeichnen mit aktiven und passiven Phasen. Plötzlich auftretende Unregelmäßigkeiten im Atemrhythmus des Patienten versuche ich zu
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überbrücken, mich nicht davon beeinflussen zu lassen. Mein Ziel dabei ist, dem Patienten eine Hilfestellung zu geben, einen gleichbleibenden Atemrhythmus zu finden, der
weniger anstrengend ist als der unregelmäßige, ständig schneller oder langsamer werdende Atemrhythmus. Manchmal gelingt eine gewisse Beruhigung und eine wohltuende Entspannung tritt ein. Manchmal läßt sich der Atem nicht beeinflussen, gerade wenn
eine zentralgesteuerte Störung vorliegt.
Sobald der Patient mit seinem Atem auf die Musik reagieren kann, ist es für mich ein
Zeichen dafür, daß er die Musik, wenn auch oft unbewußt, miterleben kann. Es ist ein
erstes, aber deutliches Zeichen für eine Begegnung.
Bei dem, was ich auf der Leier spiele, finde ich mich oft wieder in einem 6/8 Takt, mit
dem vorherrschenden Rhythmuselement kurz-lang. Dieses ist dem Atemrhythmus abgelauscht, mit der kurzen Einatemphase und der langen Ausatemphase. Der 6/8 Takt
mit seinem weich beweglichen Charakter bildet ein Gegengewicht zu dem starren Pulsieren des Beatmungsgerätes oder den oft zu sehr einander angeglichenen Atemphasen
des Patienten. Wie wohltuend wirkt es auf einen, wenn die Ausatemphase sich verlängert und eine kleine Pause vor einer neuen Einatmung entstehen kann. Dieses kleine
Ungleichgewicht zwischen den Phasen macht die Atmung sehr viel lebendiger. Wenn
der Patient sehr unruhig ist, fange ich erst mit gleichbleibend langen Tönen an in ruhig
fortschreitendem Tempo und gehe erst später in den mehr bewegten 6/8 Takt über.
Vom Tonmaterial her bewege ich mich gerne improvisierend zunächst mit den großen
Intervallen Quint, Sexte, Oktave, None, eventuell auch einmal eine Septime einbauend. Mit den großen Intervallen kann ich mich besser in den bewußtlosen, leibfernen
Zustand des Patienten einleben. Ich kann auch einer oft zu schnellen, sich bedrängt
anfühlenden Atmung mehr Raum zugestehen. Welchen Ausgangston und damit Hauptton ich wähle, ist verschieden. Ich versuche vor dem Spiel den für mein Gefühl zum
Patienten passenden Ton zu finden, bin dabei aber nicht immer frei von den Geräuschen im Zimmer. Ein Ton, von dem ich gerne ausgehe, der in sich etwas Weites hat, ist
das d. Es kann aber auch das a sein oder das g. Wenn jemand sehr weit weg ist, finde ich
öfter zum e. Im Laufe des Spiels kann es vorkommen, daß ich eine Rückung zu einem
anderen Ton hin mache, um dem Ganzen eine etwas andere Stimmung zu geben. So
rücke ich gerne vom Grundton d zum Grundton c, wenn ich das Gefühl habe, das Spiel
dürfe etwas konkreter werden. Bei den Intervallen benutze ich, sobald ich die Stimmung verdichten möchte, vermehrt die kleinen Intervalle. So ist das Hinzukommen der
kleinen oder großen Terz ein deutliches Hineintreten in eine viel persönlichere, nähere
Sphäre.
In diesem Moment nehme ich auch die Stimme dazu und unterstütze damit dieses Näherkommen. Ich lasse die mehr freie Improvisation in eine mehr wiederholende Melodie übergehen, vielleicht sogar in ein bekanntes Volkslied, um dem Patienten ein
Wiedererkennungsmoment zu ermöglichen. Mit der Stimme bin ich als Mensch viel
persönlicher anwesend. Ich spreche durch sie hindurch zum anderen. Es ist aber nicht
die Sprechstimme, sondern die Singstimme, die viel losgelöster ist von der Alltagswelt. Vielleicht gerade deswegen eignet sie sich so gut für die Begegnung mit jeman-
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dem, der nicht in der für uns normalen Bewußtseinssituation ist. Auch den kleinen
Kindern kann man manchmal mit der Singstimme mehr mitteilen als mit gesprochenen
Worten. Dabei kommt es nicht auf den Inhalt der Worte an, sondern auf die Stimmung,
die dahinter steht.
Neben der Leier und der Stimme, den für mich wichtigsten Instrumenten auf der Intensivstation, habe ich manchmal das Bedürfnis nach einem etwas kräftigeren Instrument.
Kräftiger soll es sein, um jemanden wie rufend anzusprechen. Es soll ihn aber klanglich nicht überbeanspruchen. Die Empfindsamkeit gegenüber Geräuschen und Klängen ist in einer solchen Situation sehr groß. Die englischen Handglocken eignen sich
dazu sehr gut. Sie haben einen weichen, sehr schön sich ausbreitenden Klang. Durch
das Anschlagen des Klöppels haben sie etwas Weckendes, Rufendes. Die Stimme läßt
sich dazu sehr gut kombinieren.
Manchmal, wenn auch eher selten, verwende ich neben der Leier und der Stimme auch
ein weich klingendes Blasinstrument, als Steigerung der Klangintensität. Ein tiefes
Gemshorn (z.B. Tenor-Gemshorn) eignet sich gut dazu. Es hat einen wohlklingenden,
runden und warmen Klang.
Sofern ein Patient erste eigene aktive Versuche auf einem Instrument machen kann,
bringe ich die Bordun-Leier (Klangleier) mit, ein auf einen Akkord gestimmtes kleines
Saiteninstrument, was durch eine kleine, strömende Bewegung leicht und ohne viel
Kraft zum Klingen gebracht werden kann. Oder, falls es etwas kräftiger und konkreter
sein soll, bringe ich zwei oder mehr Klangstäbe mit, bei denen immer wieder beobachtet werden kann, wie eine zittrige, tremolierende Hand zu einer gestalteten Bewegung
fähig ist, geführt durch einen Liedrhythmus.
Patientenbeispiel
Ich möchte bei diesem Patientenbeispiel nur den Anfang beschreiben, dabei den Aspekt
der Reaktionen des Patienten hervorheben und die Möglichkeiten des Festhaltens dieser Reaktionen mittels Ausdrucken der Monitordaten aufzeigen.
Ich bekomme vom Arzt folgende Diagnosenliste des Patienten:
Hauptdiagnose: Intrazerebrale Hämorrhagie links frontal (Gehirnblutung)
Sekundärdiagnosen: Zustand nach (Z.n.) intrazerebraler Hämorrhagie re frontal
Postoperative Infektion, Hirnabszeß
Hydrocephalus occlusus bei Z.n. Hirnabszeß (vermehrte Wasserbildung im
Gehirn)
Z.n. Kraniotomie (Eröffnung der Schädeldecke)
Z.n. Ventrikeldrainage (Drainage der aufgestauten Hirnwasserkammern)
Z.n. Trachiotomie (Luftröhrenschnitt)
Weiter teilt der Arzt mir mit, daß der Patient kontrolliert-assistiert beatmet wird, keine
sedierenden Mittel mehr bekommt, also nicht mehr künstlich im Schlaf gehalten wird,
aber trotzdem nicht aufwachen kann. Die Frage an mich ist nun, wenn möglich diesen
Aufwachprozeß mit meinen Mitteln zu unterstützen. Ebenfalls wäre der Arzt interes-
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siert an meinem Eindruck über die Tiefe der Bewußtlosigkeit, um sein Bild über den
Zustand des Patienten zu ergänzen. Die Pflegende erzählt mir, daß der Patient kaum
Reaktionen zeigen würde, nur bei starkem Schmerz, wie z.B. beim Absaugen des
Schleimes aus den Atemwegen. Manchmal hätte er die Augen einen Spalt offen, ohne
dabei mit dem Blick zu fixieren.
Auf meine Begrüßung hin reagiert der Patient nicht, auch auf eine leichte Berührung
des Armes nicht. Ich beginne mit zwei englischen Handglocken, die im Quintabstand
zueinander stehen, zu spielen. Dabei kann ich beobachten, daß der Patient zwar nicht
äußerlich, aber deutlich mit dem Blutdruck reagiert. Dieser steigt zu Anfang an und
beruhigt sich allmählich wieder, wie ich mit der Leier diesen Quintenruf der Glocken
übernehme, in andere Töne hinein auflöse, nach und nach leiser werde und in einer
Melodie ende, bei der ich auch die Stimme dazu nehme.
Trenddiagramm (10 Minuten Abstände):
Zeit der Musiktherapie *
Blutdruck,
Systole
Blutdruck,
Diastole
Atemfrequenz
(Resp.)
CO2-Kurve
Diese Blutdrucksteigerung erlebe ich als deutliche Reaktion des Patienten auf die von
mir gespielte Musik. Beide Werte, die Systole (Anspannung), wie auch die Diastole
(Entspannung) reagieren in einer ähnlichen Kurve, was als gutes Zeichen interpretiert
werden kann. Manchmal ist die Anspannung oder die Erschlaffung zu sehr vorherrschend. Bei der Atemfrequenzkurve ist eine deutliche Beruhigung zu beobachten. Die
C02-Kurve steigt etwas an, d.h. die Atmung ist auch faktisch ruhiger, die Hyperventilation
weniger geworden.
Nach der Musiktherapie schaue ich das Trenddiagramm mit der betreuenden Schwester an. Auch sie ist überrascht über diese unerwartete, aber deutliche Reaktion direkt
beim ersten Mal.
Wenn man das Trenddiagramm vom zweiten Mal anschaut, sind nur sehr kleine
Veränderungen zu beobachten. Bei den Blutdruckkurven eine geringe Entspannung,
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bei der C02-Kurve ein diskreter Anstieg und bei der Atemfrequenzkurve eine leichte
Beruhigung. Bei allen Kurven kann eine positive, wenn auch nur eine gering positive
Entwicklung festgestellt werden.
Ein für mich wichtiges Erlebnis findet in diesem Trenddiagramm aber keinen Niederschlag. Während des Leierspiels macht der Patient ganz unvermittelt die Augen auf.
*
Systole
Diastole
CO2
Resp.
Ich werde davon sehr überrascht, da ich nicht darauf gefaßt bin und brauche eine gewisse Zeit, bis ich mich wieder gefangen habe. Es ist, wie wenn der Patient für einen
Moment aufgetaucht wäre, um dann wieder in seine Welt zurückzukehren. Die Kraft
fehlt ihm, um länger gegen die Bewußtlosigkeit anzukämpfen. Da dieser Moment so
unvermittelt und überraschend gekommen ist, hinterläßt er in mir einen starken Eindruck und das Gefühl von Hoffnung auf ein mögliches, vielleicht baldiges Erwachen
des Patienten.
Das nächste Mal ist vor allem bei der Atemfrequenzkurve eine deutliche Veränderung
in Richtung Beruhigung zu beobachten.
*
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Resp.
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0
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14:15
14:30
14:45
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Ein weiteres wichtiges Ereignis ist aber auch dieses Mal in den Kurven nicht wiederzufinden. Ich habe beim Verabschieden meine Hand leicht auf den Arm des Patienten
gelegt. Als Reaktion darauf hat der Patient wieder die Augen aufgeschlagen, ohne mich
dabei direkt anzublicken und sie dann auch gleich wieder geschlossen. Mein Gefühl
während des Spielens, daß der Patient nicht sehr weit weg ist, auch wenn er keine
direkten Reaktionen gezeigt hat, wurde bestätigt.
Auch am nächsten Tag (der Therapieablauf ist immer noch gleich wie am Anfang: mit
Glocke - Leier - Stimme) zeigt die Atemfrequenzkurve eine Abflachung auf, wobei die
Werte teilweise eher beunruhigend tief werden.
*
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6
Resp.
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0
14:00
14:15
14:30
Bei der folgenden Atemfrequenzkurve werden die vor der Musiktherapie stattfindenden Pflegemaßnahmen sichtbar und die schöne Beruhigung während der Musiktherapie.
Der Wert zum Ablesezeitpunkt ist 18 Atemzüge pro Minute, was einer normalen Atmung entspricht.
*
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20
18
Resp.
10
0
14:15
14:30
14:45
Ich wollte mit diesen Kurven aufzeigen, daß das Dokumentieren der Reaktionen eines
Patienten mit Hilfe der Monitordaten möglich ist und wenig Aufwand braucht, sofern
die technischen Voraussetzungen auf der jeweiligen Intensivstation vorhanden sind, daß
die Wahrnehmung des Musiktherapeuten das Bild aber ergänzen muß. Bei dem beschriebenen Patienten waren neben den Reaktionen wie Augen öffnen auch noch andere Reaktionen zu beobachten, die keinen direkten Niederschlag in den Kurven fanden. Der Patient schloß z.B. einmal den Mund, so daß das Gesicht einen viel gestalteteren Ausdruck
bekam, was ein Zeichen für mehr Anwesenheit sein kann. Oder ich konnte beobachten,
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daß der Patient am Kopf sehr geschwitzt hat als ich kam; nach der Musik aber keine
Schweißperlen mehr zu sehen waren. Ein deutliches Zeichen für nachlassende Anspannung. Sollten diese Wahrnehmungen auch dokumentiert werden, müßten Videoaufnahmen gemacht werden, die wiederum aber die vielschichtige Wahrnehmung des Musiktherapeuten nicht ganz ersetzen können. Gerade die Stimmung, die in solchen Momenten in einem Patientenzimmer entsteht, kann videotechnisch nicht vollständig aufgezeichnet werden.
Diese Stimmung ist es aber, die so wichtig ist in der Arbeit mit bewußtlosen oder
bewußtseinsgestörten Patienten. In ihr liegt die Begegnungsmöglichkeit zwischen Patient und Therapeut. Die Musik dient als Brücke dazu.
Monica Bissegger, Musiktherapeutin, Filderklinik, Im Haberschlai 7,
70794 Filderstadt
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