Prof. Dr. Hagen Fleischer - Deutsche Vertretungen in Griechenland

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Saloniki unter dem Hakenkreuz
Prof. Dr. Hagen Fleischer
Thessaloniki, 15.03.2011
Ich freue mich nach anderthalb Jahrzehnten wieder im Goethe-Institut von Saloniki zu
sprechen. Das letzte Mal saß ich im November 1995 bei der 40-Jahrfeier des Instituts auf dem
panel. Als Co-Referent fungierte Kurt Graf Posadowsky-Wehner, der im September 1955 die
Aufgabe übernommen hatte, in Saloniki aus dem Nichts ein zweites Goethe-Institut in
Griechenland zu schaffen. Erst im Folgejahr, 1956, wurden das Deutsche Konsulat sowie die
deutsche Schule in Saloniki nach zwölfjähriger Unterbrechung wieder eröffnet und das
deutsch-griechische Kulturabkommen unterzeichnet.
Deprimierend ist hingegen der direkte Anlass zur heutigen Veranstaltung. Am 15. März
1943, auf den Tag genau vor 68 Jahren, begann die brutale Verschleppung der jüdischen
Bevölkerung Salonikis ins Todeslager Auschwitz.
Erfreulich wiederum ist, dass die Initiative zur heutigen Gedenktagung
von deutscher Seite erfolgte – dem Goethe-Institut sowie dem
Generalkonsulat - in Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde und dem
Verband der Widerstandskämpfer. Das ist umso bedeutender, da diese
Haltung nicht immer selbstverständlich waren. Noch in den 60er-Jahren
epfahl ein deutscher Konsul seinen Vorgesetzten in Bonn: ".... Der
indifferenten Einstellung der Griechen der Judenfrage gegenüber wird vom
Konsulat bei der Verteilung von deutschem Informationsmaterial zur
Judenfrage bewußt Rechnung getragen. Es wäre auch zu wünschen, dass
deutsche Filme, die das Judenproblem in erster Linie unter dem
Gesichtspunkt der Aufklärung der Jugend behandeln, möglichst nicht mehr
auf den griechischen Filmmarkt gebracht werden, da ein Erfolg im Sinn
einer Aufwertung des deutschen Namens davon hier nicht zu erwarten
ist."! -
Dieser Kommentar spricht primär gegen den damaligen
Verfasser. Wir kommen hierauf zurück.
Die Anfänge der deutschen Kolonie Mazedoniens liegen fast 150 Jahre zurück.
Unberücksichtigt bleiben Erscheinungen wie die im 15. Jahrhundert aus Bayern nach Saloniki
eingewanderten jüdischen Ashkenazim, die bald in den sephardischen (spaniolischen) Juden
aufgingen, die seit ihrer Vertreibung aus Spanien 1492 das Bild der Stadt prägten.
Erst der mit maßgebender deutsch-österreichischer Beteiligung betriebene Bau der
mazedonischen Eisenbahnen brachte seit den 1870er Jahren zunehmend Ingenieure,
Kaufleute, Pressekorrespondenten und sogar Landwirte aus den deutschsprachigen Ländern in
die noch türkischen Vilajets (Regierungsbezirke) Monastir und Salonik(i). Die Zunahme
reichsdeutscher Untertanen wie auch der Handelsbeziehungen führen (1887) zur Errichtung
eines deutschen Berufskonsulats in Saloniki.
Unter solch günstigen Vorzeichen wird die Deutsche Schule Saloniki im Februar 1888
eingeweiht. Die Schülerzahlen sind höher als die Stärke der deutschsprachigen Kolonie, sie
rekrutieren sich aus allen Nationalitäten der multinationalen mazedonischen Metropole. So
haben 1911 lediglich 25% der Schüler Deutsch als Muttersprache, 16% Griechisch; hingegen
sind 40% Sepharden. Mit konfessionellen Kriterien ist der jüdische Anteil noch höher. Das
gute Verhältnis zwischen deutscher Kolonie und sephardischen Juden übersteht die Wirren der
Balkankriege und des 1. Weltkriegs, wie etwa das prodeutsche Engagement des Oberrabbiners
Uziel Anfang der zwanziger Jahre zeigt. Vor der nazistischen Machtergreifung beträgt der
Anteil jüdischer Schüler noch 25 %. Danach aber sehen sie sich bald gezwungen, die Anstalt
zu verlassen, obschon die Direktion ihnen noch im April 1933 versichert, sie von jeglicher
Diskriminierung auszunehmen. Zugleich finden aber in den Folgejahren einige Hundert
jüdischer Flüchtlinge aus dem Hitler-Reich Asyl im Groβraum Saloniki.
Neben den gut besuchten Deutschkursen für Erwachsene an der Schule wird auch eine
andere Institution auf diesem Sektor aktiv: Die "Deutsche Akademie", Vorläufer des GoetheInstituts. Ende 1933 befinden sich sieben der weltweit 17 Akademie-Außenstellen in
griechischen Städten, darunter Saloniki. In den nächsten Jahren erzielen die deutschen
Sprachwerber in Mazedonien weitere Geländegewinne; dieser Aufschwung überschneidet
sich jedoch mit dem noch steileren Aufwärtstrend der Briten, die 1936 beschlossen hatten, die
kulturpolitische Auseinandersetzung mit dem faschistischen Deutschland zu suchen.
Tatsächlich bildet in diesem Wettstreit die mazedonische Metropole für alle Rivalen einen
mit Athen gleichwertigen Schwerpunkt, sofern der Zeiger nicht gar nach Norden ausschlägt.
So genehmigt im Mai 1940 das Auswärtige Amt 352 Buchprämien für die Sprachkurse in
Griechenland: davon gehen zwei Drittel an die fünf Lektorate in Mazedonien, den 40 Büchern
für Athen stehen 150 für Saloniki gegenüber.
Auf dem psychologischen Sektor profitieren die Deutschen in Nordgriechenland von dem
Umstand, daß das Reich weitaus der beste Abnehmer des Hauptproduktes Tabak ist. Das gibt
der Propaganda die Möglichkeit, die ökonomischen Interessen der Region mit der Bedeutung
der deutschen Sprache für Handel und Wandel Mazedoniens zu verbinden. Es ist nur
folgerichtig, daß der Vertreter der (Zigaretten-)Firma Reemtsma, Krüger, auch die Funktion
des NS-Ortsgruppenleiters in Saloniki übernimmt.
Im Oktober 1940 wird das neutrale Griechenland in den Krieg gezerrt.
Nachdem die Griechen die italienischen Invasionstruppen weit auf
albanisches Gebiet zurückgeworfen hatten, eilte die Wehrmacht dem
gedemütigten Achsenpartner zu Hilfe. Am 6. April 1941 fallen deutsche Truppen in
Griechenland ein; drei Tage später besetzen sie Saloniki. Nach der schließlichen
Niederwerfung Griechenlands überließen die Sieger den größeren Teil der
Beute den lauernden italienischen und bulgarischen Verbündeten: Ostmazedonien und
Thrazien haben dabei nicht nur den Status besetzter Gebiete, sondern werden - wie auch das
jugoslawische Nordmazedonien um Skopje - de facto vom Sofioter Regime annektiert.
Die deutsche Besatzungszone hingegen sicherte lediglich strategische
und wirtschaftliche Schlüsselpositionen, darunter Saloniki, wo 2/3 der über
73.000 griechischen Juden lebten. Die antijüdischen "Maßnahmen" im
deutschen Machtbereich überschritten zunächst selten den Rahmen
individueller Schikane: Zwangs-Einquartierungen, Demütigungen,
einzelne Verhaftungen, Beschlagnahmungen. Gleich nach der Besetzung
Salonikis wird die letzte spaniolische Zeitung Messagero geschlossen und eine "arische"
deutsch-griechische Buchhandlung eingerichtet - nachdem zuvor zum Verdruß der
einheimischen Nazis ausgerechnet die Buchhandlung Molho einzige Bezugsstelle für
deutsche Presse und Literatur war! Diese relative Zurückhaltung im Vergleich zu anderen nur von deutschen Truppen besetzten Ländern- erklärt sich damit, dass Berlin
konzentriertes Vorgehen der Besatzungsmächte wünscht, die Italiener
aber jede Mitwirkung verweigerten. Zudem klagte das Sonderkommando
Rosenberg: "Für den Durchschnittsgriechen gibt es bisher kaum eine
Judenfrage. Er sieht nicht die politische Gefahr des Weltjudentums und
glaubt sich wegen der verhältnismäßig geringen zahlenmäßigen Stärke
vor einer kulturellen und wirtschaftlichen Bevormundung durch die Juden
sicher".
Um dies zu ändern, versuchen die neuen Herren, mit ihrem
neugegründeten journalistischen Spachrohr „Neues Europa“
antisemitische Tendenzen der Vorkriegszeit zu aktivieren und zu
verstärken - Tendenzen, denen primär wirtschaftliche Rivalität sowie
nationalistisch oder religiös motiviertes Mißtrauen zu Grunde lagen. Am
11. Juli 1942 erfolgt die öffentliche Registrierung und Musterung der
arbeitsfähigen männlichen Juden –sinnigerweise- auf dem Freiheitsplatz.
Tausende werden zu schwerster Zwangsarbeit verpflichtet, wobei viele
an den brutalen Bedingungen elend zugrunde gehen; die Überlebenden
werden nach trügerischen Verhandlungen mit dem Chef der deutschen
Militärverwaltung Max Merten gegen immenses Lösegeld „frei“-gekauft.
Die „Freiheit“ währt nur kurz. Anfang 1943 beginnt ein aus Berlin
entsandtes SD-Sonderkommando (unter Wisliceny und Brunner) mit der
Vorbereitung der Deportation. Dabei stützen sie sich auf die tatkräftige
Mitwirkung der Wehrmacht, mit Merten als Verbindungsmann - ein Name,
dem wir wieder begegnen werden.
Der erste Transport nach Auschwitz verläßt Saloniki am 15. März. Im
August gilt Griechisch-Mazedonien als "judenrein". Nach der Kapitulation
Italiens im Sept. '43 verliert auch die italienische Zone für die dorthin
geflüchteten Juden ihren Asylcharakter, und nach vorbereitenden
Maßnahmen werden ab März '44 in Überraschungsaktionen sukzessive
die Gemeinden im übrigen Festland und auf den Inseln "ausgehoben".
Viele, so etwa alle kretischen Juden, finden schon in diesem Stadium
einen plötzlichen Tod. Insgesamt wurden aus Hellas etwa 60.000 Juden
deportiert; knapp 2000 überlebten. Weitere 2000 waren in den Nahen
Osten geflüchtet, über 8000 gelang es im Lande unterzutauchen. 96%
der Juden Salonikis (83% im Landesschnitt) fielen dem deutschen
Rassenwahn zum Opfer.
Damit ist aber der sonstigen Entwicklung vorgegriffen. Insbesondere
sollte noch die bemerkenswerte Entwicklung der Kulturpropaganda unter
Besatzungsbedingungen skizziert werden. Während im bulgarisch
besetzten Osten Sofia die Bulgarisierung der "neuen Provinzen" durch rigorose
Sprachverordnungen und blanke Gewalt durchzusetzen versucht, liegt in West- und
Zentralmazedonien das summum imperium, die "vollziehende Gewalt" beim "Befehlshaber
Saloniki-Ägäis". So sieht der neue Leiter der Deutschen Akademie in Saloniki und
zahlreicher Aussenstellen, Dr. Otto Kielmeyer seine kühnsten Träume durch die Wirklichkeit
übertroffen. Nicht nur hat die deutsche Kulturwerbung gegenüber den rivalisierenden
Großmächten eine Monopolstellung gewonnen, auch gegenüber den Einheimischen können
sie ganz anders auftreten. Die ideologische Note im Unterricht wird verstärkt. Die NaziPresse gehört in allen Lektoraten zur Standardausstattung der Bibliotheken, Goethe und die
anderen Klassiker werden von den literarischen Repräsentanten des "neuen Deutschland"
flankiert. Zudem benutzen viele Lektorate als Kurslektüre die neuesten Leitartikel von
Propagandaminister Goebbels.
Im gleichen Sinne verwirft Kielmeyer die Thesen seines Athener Kollegen von einem
ebenbürtigen deutsch-griechischen Kulturaustausch: "Die Zeiten haben sich geändert. Wir
sind nicht mehr die mehr oder weniger ungern geduldeten Ausländer, sondern die Herren des
Landes." Folglich brauche man die "störrischen und launischen" Griechen nicht länger zu
"verhätscheln", sondern könne nunmehr "andere Methoden anwenden".
Zu diesem Zweck verlangt Kielmeyer von den Militärbehörden noch größere
Unterstützung, doch diese haben vorerst andere Prioritäten - so etwa die "Sicherstellung
wehrwirtschaftlich wichtiger Güter", d.h. die Ausplünderung des Landes. Explizit dem
kulturellen Sektor zugerechnet wird jedoch eine andere, berufsspezifische Priorität: der "Heldenfriedhof" - mit dem Hinweis, unter Friedensbedingungen sei eine Lösung nicht möglich
gewesen. Bereits 1933, und dann über Jahre hinweg, hatte nämlich die Bundesführung des
Volksbundes für Kriegsgräberfürsorge geklagt, der 1924 eingeweihte deutsche Friedhof in
Zeitinlik (bei Saloniki) sei in erbärmlichem Zustand und unwürdiger (proletarischschmutziger-jüdischer) Nachbarschaft. Stattdessen sei auf dem Tumba-Hügel eine neue
Gräberstätte anzulegen - mit einem das Stadtbild beherrschenden Ehrenmal, das Deutschland
zum Stolz gereiche, den Griechen aber "Achtung abnötige vor der Höhe der deutschen Kultur" und der "wiedererwachten Kraft" des Deutschen Reiches. "So wie die Bauten des alten
Rom noch nach zwei Jahrtausenden, in fast allen europäischen Ländern Zeugen der
politischen und kulturellen Größe Roms sind, sollen auch die Ehrenmale, die Deutschland
seinen Gefallenen [...] baut, Zeugen der Kultur und Kraft des Deutschen Reiches sein." Als
die Baumeister des "1000-jährigen Reichs" gegenüber den Griechen keine Rücksicht mehr
nehmen müssen (1941), ist ihnen für die mittlerweile vermehrten eigenen Toten der TumbaHügel zu klein, zu niedrig, zu unbedeutend. Stattdessen diskutieren sie ehrgeizige Pläne für
einen Heldenfriedhof auf dem Olymp.
Infolge der sich ausbreitenden Partisanenbewegung <Andartiko> werden solch monströse
Visionen glücklicherweise nicht verwirklicht, dafür zeigen die ehrgeizigen Initiativen der
Deutschen Akademie eindrucksvolle Erfolge. Als im Oktober 1941 in Saloniki das neue
Schuljahr beginnt, werden zahlreiche Kandidaten abgewiesen, da die Kapazitäten des Lekto-
rats nicht reichen. Die zugelassenen Bewerber erhöhen sich dennoch auf 1.200 - fast doppelt
so viele als im Vorjahr. Im Schuljahr 1942/43 verdoppelt das Lektorat ein weiteres Mal seine
Schülerzahl - auf 2.400 mit weiter steigender Tendenz. Damit erreicht Saloniki eine
Spitzenstellung in Europa, vergleichbar nur mit den Lektoraten in Paris und Florenz. Dennoch
klagt Kielmeyer über ungenügende materielle Unterstützung. Unter den gegebenen
Umständen seien die deutschen Lehrer oft genug gezwungen, "in einer jüdischen Garküche
[majirio] hygienisch unkontrollierbares Essen" zu genießen.
Trotz der angespannten finanziellen Lage kommen 16% der eingeschriebenen Schüler in
den Genuß freien oder verbilligten Unterrichts. Darüber hinaus werden die besten Leistungen
mit Geschenken und anderen Auszeichnungen belohnt; einige wenige erhalten Stipendien
nach München. Wettbewerbe zur Übersetzung kleinerer deutscher Werke werden veranstaltet,
doch sorgt man sich, es könnten versehentlich Übersetzungen sprachkundiger jüdischer
Provokateure preisgekrönt werden...
In seinen Berichten gibt sich der Lektoratsleiter keinen Illusionen hin, daß viele seiner
Schüler, gerade auch der Erwachsenen, aus opportunistischen Motiven kommen. So hilft ein
Akademie-Ausweis bei deutschen Razzien... Dennoch erklärt Kielmeyer, den "Opportunismus
der Griechen" für die eigenen Ziele ausnutzen zu wollen. Folgerichtig besetzt er in
Personalunion den mit Beschluß der Kollaborationsregierung im Februar 1943 geschaffenen
Germanistik-Lehrstuhl an der Aristoteles-Universität.
Schon früh mahnte Kielmeyer, dem anglo-französischen Modell monopolistischer
Kulturpropaganda zu folgen: Denn nur "eine planvolle, zielsichere [...] Arbeit totaler
Erfassung" gewähre die Voraussetzungen, "einerseits dem Deutschtum wirkliches Ansehen
und dauerhaften Einfluß zu verschaffen und andererseits dem Griechen auf einer zwar
unsentimentalen, aber sichtbaren und stabilen Basis zu einer kulturellen Selbsterneuerung zu
verhelfen". Insbesondere sei der Schwerpunkt der eigenen Kulturpolitik nach Saloniki zu
verlegen, dem nach gewonnenem Krieg als "deutschem Hafen" eine strategische
Schlüsselposition zukomme - wohingegen Athen wohl in der italienischen Sphäre verbliebe...
An dieser Stelle sei ein Exkurs über die geostrategischen Intentionen der nazistischen
Machthaber eingeschoben. Nachdem Hitler im März 1941 Saloniki gegenüber der
jugoslawischen Führung als Köder benutzt hatte, behält er sich im Mai die Besetzung
Zentralmazedoniens durch eigene Kräfte vor. Den weitaus grössten Teil der deutschen
Besatzungszone bildet der Befehlsbereich „Saloniki-Ägäis“. Unter Hinweis auf die rivalisierenden italienisch-bulgarischen Begehrlichkeiten werden die deutschen Behörden
angewiesen, im Bereich Saloniki keine Etablierung von "Vertretern fremder Mächte" zu
dulden, da über die Zukunft der mazedonischen Metropole "noch in keiner Richtung eine
Entscheidung getroffen" sei. In den folgenden Monaten unterstreicht das Oberkommando der
Kriegsmarine in Denkschriften an Hitler die Bedeutung Salonikis als "kontinentaler Endpunkt
der militärischen Kraftlinien Deutschlands" bzw. als Verbindungsglied zur "Festung Kreta",
die im Krieg wie im Frieden in deutscher Hand bleiben solle. Auch wenn die NS-Führung
aus politischen Erwägungungen jede Festlegung vor dem "Endsieg" vermeidet, vertreten
dennoch viele Amtsträger die These, das künftige deutsche Großreich müsse diese wichtige
Pforte nach Mitteleuropa auf Dauer kontrollieren.
Die exponierten Vertreter der „Neuen Ordnung“ in Saloniki verkörperten das gesamte
Spektrum möglicher Verhaltensweisen unter den Vorzeichen des totalitären Nazi-Regimes:
zumeist als „Pflichterfüllung“ kaschiertes opportunistisches „Funktionieren“ und KarriereDenken, oft im Laufe des Krieges eskalierende Brutalität, selten die Selbst-Verweigerung: die
Weigerung als Rädchen (γρανάζι) im Unterdrückungsapparat mitzumachen, zu funktionieren.
In die erste Kategorie fällt der bekannte Byzantinist Franz Doelger, der bereits vor dem Krieg
parteipolitische Propaganda-Missionen in Griechenland übernommen hatte und 1941 dafür
belohnt wird. Als Leiter des „Sonderstabes Athos“ lobt er öffentlich die infolge des deutschen
Sieges verbesserten „Arbeitsbedingungen“. Endlich könne er seine Forschungen in der
Mönchsrepublik „frei von friedensmäßigen Schikanen“ durchführen. Ein Jahrzehnt später -auf
dem IX. Byzantinistenkongreß, 1953 in Saloniki- attackieren ihn deswegen mehrere
griechische Zeitungen - kurzfristig, bis sie dem aussenpolitisch bedingten Druck der Athener
Regierung nachgeben.
Am deutlichsten offenbaren sich die Verhaltensspielräume beim Vergleich von drei im
Raum Saloniki stationierten Wehrmachtsangehörigen, alle in verschiedener Weise verbunden
mit der Zerstörung des benachbarten Dorfes Chortiatis im September 1944 und der viehischen
Ermordung aller 146 greifbaren Einwohner, namentlich Frauen und Kinder.
1) der für seine mörderische Brutalität berüchtigte Feldwebel Fritz Schubert, als
Hauptverantwortlicher dieses Massakers und vieler anderer, im Oktober 1947 weit über 200
Mal zum Tode verurteilt und hinter dem Gefängnis Eptapyrgion exekutiert.
2. Der spätere UN-Generalsekretär sowie österreichische Präsident, Oberleutnant Kurt
Waldheim, damals trotz niedrigens Rangs im Generalstab für die Feindlageberichte (εκθέσεις
για την αντιστασιακή δράση) verantwortlich und somit einer der am besten informierten
Offiziere auf dem besetzten Balkan. Systematisch verschweigt er diese Phase seines Lebens
nach dem Krieg, um seine nationale und internationale Karriere nicht zu gefährden.
Zusammen mit Waldheims Netz der Lügen zerreisst in den späten Achtzigerjahren auch die
„Lebenslüge“ Österreichs, derzufolge die Alpenrepublik Hitlers erstes Opfer gewesen sei und
daher keine Mitverantwortung an den deutschen Verbrechen trage.
Als Mitglied der Internationalen Historikerkommission, die damals Waldheims
Kriegsvergangenheit untersuchte, fragte ich ihn eindringlich, was er zu Chortiatis wisse –
zumal das Dorf in seiner unmittelbaren Nachbarschaft lag. (Waldheim war in ArsakliPanorama stationiert.) Und wie so oft, antwortete der Präsident, er höre davon zum ersten
Mal.... (Sollte sich jemand für Waldheim interessieren: ich spreche morgen abend –auf
griechisch- in der Mazedonischen Universität über seine Rolle im besetzten Griechenland.)
3) Weit erfreulicher war der habilitierte Major Georg Eckert, Leiter der Marine-Wetterwarte in
Saloniki. Wiederholt half er gefährdeten Griechen (Juden und Christen), organisierte eine
Gruppe von Regimegegnern in der Wehrmacht und nahm Verbindung zum griechischen
Widerstand, namentlich der EAM auf. Als die Besatzer Ende Oktober 1944 Saloniki
verlassen, bleibt der Sozialdemokrat Eckert mit einigen Gesinnungsgenossen in der Stadt. In
den folgenden Monaten wird er zu seinem Erstaunen registrieren, daß viele Griechen auch
nach den bitteren Erfahrungen der Besatzungszeit zwischen Deutschen und Nazis zu
unterscheiden wissen. Besonders beeindruckt ihn sein Besuch im Märtyrer-Ort Chortiatis, wo
er und andere deutsche Deserteure am 1. November einen herzlichen Empfang erhielten, wie
er später dem SPD-Chef Schumacher berichtet. Nach dem Kriege begründet Eckert das
Internationale Schulbuchinstitut in Braunschweig zur Aussöhnung der Völker.
Abschließend macht es wenig Sinn, in diesem Zusammenhang gesondert auf Eichmanns
Mordgehilfen Wisliceny und Brunner einzugehen, die Hauptverantwortlichen für die
„Endlösung“ in Saloniki. Psychologisch interessanter ist der geschmeidige Rechtsanwalt Dr.
Max Merten, der dem Genozid als gefühl- und tadel-loser Bürokrat zuarbeitete und in
Saloniki die Mitschuld der Wehrmacht personifizierte. In den späten 50er-Jahren wird die
„Affäre Merten“ - sein Prozess, seine Verurteilung, seine auf immensen Bonner Druck
erfolgte Freilassung, seine Beschuldigungen hoher griechischer Politiker - nicht nur die
deutsch-griechischen Beziehungen, aber auch das innergriechische Klima aufs schwerste
belasten und zugleich erstmals die bis dahin gültige These von nahezu absoluter Solidarität
der christlichen Mehrheitsbevölkerung für die verfolgten jüdischen Mitbürger in Frage stellen.
Zweifellos wäre das Untertauchen bzw. die Flucht übers Mittelmeer
von 10.000 griechischen Juden nicht möglich gewesen ohne individuellen
Beistand der christlichen Bevölkerung. Jene war im Fall der besser
integrierten griechisch-sprachigen Romanioten aber eher bereit, das
eigene Leben zu riskieren. Die oft erhebliche Differenz in den Überlebens-
Quoten ist jedoch nicht allein auf regionale Unterschiede der
Hilfsbereitschaft zurückzuführen: Ein Untertauchen in der
Mehrheitsbevölkerung ließ sich leichter bewerkstelligen, wenn man sich in
Sprache und Habitus nicht von dieser unterschied. Zudem hatte 1944,
von Thessalien und selbst von Athen aus, die Flucht in geschlossene
Partisanengebiete (mit oder ohne finanzielle Gegenleistung) erhebliche
Erfolgschancen. Anfang 1943 in Saloniki war dies nur in Einzelfällen
möglich, wie schon die Zahlenrelation zeigt: 50.000 Sepharden bzw.
einige Hundert schlecht ausgerüstete Partisanen.
Dennoch waren gerade in Saloniki jene, die dem Schicksal der Juden
mit Indifferenz oder gar Befriedigung begegneten, zahlreicher als
anderswo. Andererseits entpuppten sich wiederholt Antisemiten der
Zwischenkriegszeit als Judenretter, und die Kollaborationspresse drohte
mit schweren Strafen allen, die aus "falscher Philanthropie" oder "Mangel
an Patriotismus" dem "jüdischen Erbfeind" Hilfe gewährten!
Die Haltung der christlichen Mehrheitsbevölkerung gegenüber den
griechischen Juden - im Kriege und danach - wurde oft scharf kommentiert.
Stellvertretend sei Hannah Arendts überspitztes Verdikt (1964) genannt,
jene hätte sich "bestenfalls indifferent" verhalten. Die als Beleg für ihre
These genannte "baldige" Freilassung Mertens erfolgte in Wahrheit erst
nach 2 1/2 Jahren Haft (und Verurteilung zu 25 Jahren) als Abschiebung nach massiven deutschen Pressionen sowie unter der Bedingung, seine
Beteiligung an den Deportationen müsse Gegenstand eines deutschen
Verfahrens werden. Doch in der Bundesrepublik wurde weder Merten noch
irgendein anderer Deutscher jemals wegen in Griechenland begangener
Kriegsverbrechen verurteilt, hingegen genossen griechische
Kollaborateure, die sich -wie der berüchtigte Papanaum- am eifrigsten bei
der Judenverfolgung hervorgetan hatten, im deutschen Asyl mit deutscher
Staatsangehörigkeit einen friedlichen Lebensabend.
In diesem Kontext einige Worte zur Terminologie. Die unerhört neue
Dimension des mit deutscher Gründlichkeit organisierten Genozid zeigt
sich an den Defiziten der griechischen Sprache. So wird der Begriff
Deportation -die Verschleppung in Todeslager- ungenügend als
Abschiebung oder Vertreibung («απέλαση» ή «εκτοπισμός») übersetzt,
Begriffe, die den Betroffenen Spielräume hinsichtlich des Zielortes lassen.
Die in Viehwaggons abtransportierten Todeskandidaten waren auch nicht
Kriegsgefangene oder Geiseln, wie sie im Griechischen genannt werden
(απελαθέντες, αιχμάλωτοι, όμηροι), denn als solche hätten sie ihre
Menschenwürde und gewisse menschliche Grundrechte bewahrt.
***
Die Stunde der Freiheit für Griechenland schlug im Oktober '44 mit dem
Abzug der Wehrmacht aus gesamtstrategischen Gründen. Für alle
Griechen folgten allerdings bald die Wirren des Bürgerkriegs, die im Lande
untergetauchten Juden bangten zusätzlich um ihre verschleppten
Angehörigen. Viele verschlossen sich der unfassbaren Wahrheit, bis die
Erzählungen der Heimkehrer aus Auschwitz selbst die wahnwitzigsten
Befürchtungen übertrafen.
Der Neuanfang war schwer. Die deutschen Besatzer hatten - nach
Selbstbedienung und Belohnung der Kollaborateure - das "Judenvermögen"
ostentativ dem griechischen Staat übertragen. Zwei Wochen nach der
Befreiung war Griechenland der erste ehemals besetzte Staat, der die
Rückgabe beschließt. Dennoch fanden die Heimkehrer nicht nur vom
Besatzungsregime eingesetzte "Treuhänder" (μεσεγγυούχους) in ihren
ausgeplünderten Häusern; auch Tausende von Obdachlosen hatten - mit
oder ohne Genehmigung - "herrenlose" Immobilien übernommen.
Politische Rücksichten auf diese Gruppe sowie die eskalierende
Bürgerkriegssituation trugen dazu bei, daß auch das verbesserte
Restitutionsgesetz vom Januar '46 erst 1949 ratifiziert wurde, nachdem
der World Jewish Congress und die US-Botschaft immer schärfer drängten.
Doch Materielles war ohnehin nicht erste Priorität. Die Überlebenden
wollen und können nicht "mit Toten leben" und sich "selbst verlieren". Sie
suchen nach neuen Perspektiven und Beziehungen. Der bald darauf
einsetzende Heirats- und Baby-Boom war vielen Überlebenden zufolge
"unsere Art, den Nazismus zu besiegen". Viele emigrierten. Der reiche
jüdische Beitrag zur Geschichte Salonikis verschwand aus dem
öffentlichen Gedächtnis, zumal es schien, als ob die Überlebenden nicht
auf die separate eigene Existenz aufmerksam machen wollten.
Die kürzlich verstorbene Erika Kounio-Amarilio beschrieb wohl am besten
die Sprachlosigkeit einerseits bzw. Verständnislosigkeit andererseits
infolge der Unfassbarkeit des Jahrtausend-Verbrechens: «Μαρτυρίες
υπήρχαν, όμως δεν έγινε κατανοητό το μέγεθος του εγκλήματος και η
ιδιαιτερότητά του, ενώ οι φρικαλεότητες δημιουργούσαν ‘δυσκολίες
ακρόασης’. Η απουσία ενός ανάλογου ιστορικού παραδείγματος δεν
επέτρεπε να γίνουν κατανοητές και ερμηνεύσιμες πολλές πλευρές της
‘ακραίας εμπειρίας’ ...
So flüchtet sich die Mehrzahl der Überlebenden angesichts des
tatsächlichen oder vemeintlichen Unverständnisses ihres sozialen
Umfeldes in die innere Emigration. Hinzu kam die anfängliche Scheu,
Fehlverhalten christlicher Mitbürger zu kritisieren - und damit indirekt die
eigene, zweite Identität und "Zugehörigkeit" zu gefährden. Erst in den
80er-Jahren ermutigte die weltweite Thematisisierung des Holocaust die
ersten "Pioniere", ihre autobiographischen Zeugnisse einer weiteren
Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Diese Verspätung war allerdings nur partiell holocaust-spezifisch
bedingt, da gesamtgriechische Ursachen mitspielten und das Land
Probleme mit der historisch-sozialen Aufarbeitung der blutigen 40er-Jahre
hatte und hat. Unter den Vorzeichen des Kalten Krieges profitierte zudem der
westdeutsche Teilstaat nicht nur von der traditionellen deutschen Position als wichtigster
Markt für den griechischen Export, sondern auch davon, daß man sich als "Frontstaat" im
gleichen ideologischen Lager mit den Siegern des griechischen Bürgerkriegs befand.
Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang die zunehmende "Konzilianz"
<υποχωρητικότητα> des offiziellen Griechenlands, das nach Gründung der Bundesrepublik
un-diplomatische Äusserungen zur Kriegsvergangenheit vermied und es vorzog, die neue
Waffenbrüderschaft gegen den Weltkommunismus zu beschwören. Die Folgen sind bis heute
nicht überwunden. Doch Veranstaltungen wie die heutige sind ein wichtiger Schritt in der
richtigen Richtung.
Hagen Fleischer
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