Horch, wie der Magen knurrt - Marie Meierhofer Institut für das Kind

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undKinder Nummer 93, Juni 2014
Editorial
Geschätzte Leserinnen und Leser
Ernährt werden und essen sind für die Entwicklung in verschiedener Hinsicht zentral
wichtige Dinge. Essen ist überlebenswichtig und lustvoll. Es ist Ausgangspunkt für
sinnliche und körperliche Erfahrungen
und für Entdeckungsreisen, für Selbstbestimmung und Selbständigkeit. Es ist Anlass für elterliche Fürsorge, Freude und
Ängste und folglich manchmal für erzieherische Konflikte. Es stellt sich deshalb auch
rund ums Essen die Frage nach der Rolle
des Kindes und derjenigen der Erwachsenen, die es in seiner Entwicklung begleiten.
Davon handeln die Beiträge der vorliegenden undKinder Nummer. Ihr Titel „Horch,
wie mein Magen knurrt!“ steht für die Faszination des Kindes an seinem Körper und
ebenso für die klare Aufforderung dem
Magen zu geben, was dem Magen gebührt.
Säuglinge setzen sich vom ersten Tag an
mit all ihren Möglichkeiten fürs Essen ein.
Sie suchen und finden zielstrebig die Brust
der Mutter oder die Milchflasche, bald
saugen und schlucken sie geschickt und
konzentriert, sie zeigen und schreien un-
„Horch, wie der Magen knurrt!“
missverständlich, wenn sie Hunger haben
und fallen müde und zufrieden von der
Quelle, wenn sie satt sind. Doch nicht nur
das Essen selbst, sondern auch das Verdauen kostet Energie. So sind alltägliche Vorgänge wie Rülpsen, Furzen, Gaggimachen
für den Säugling miterlebbar anstrengend
und erleichternd zugleich. Mit wenigen
Monaten erkunden junge Kinder die Welt
um sie herum ausgiebig mit dem Mund.
Sie ertasten mit der Lippe und der Zunge
Gegenstände in ihrer Reichweite und beispielsweise auch die Nase des Grossvaters.
Sie erhalten erste Breinahrung mit dem
Löffel, kauen eine Brotrinde und bieten
diese dann der Mutter oder dem Vater an.
Sie interessieren sich für den Geschmack
und die Konsistenz von Nahrungsmitteln
und zeigen bereits früh klare Vorlieben
und Abneigungen. Schon bald essen junge
Kinder am liebsten selber und zusammen
mit andern. Sie wollen dabei meist alles
kosten und experimentieren ausgiebig mit
den Händen und dem Mund.
Die Vorstellungen, wie und womit Kinder
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ernährt werden sollen, wandeln sich - nicht
zuletzt beeinflusst von Mangel oder Überfluss an Nahrung. Fragen wie „Isst mein
Kind genug? Isst es das richtige?“ treiben
jedoch fast alle Mütter und Väter um. Das
ist gut so. Meistens. Manchmal wird die
Verunsicherung allerdings für Kind und
Eltern quälend. Sie kann zu einer unglücklichen Dynamik zwischen ihnen und sogar
zu einer frühkindlichen Essstörung führen. Die Sorge um die ausreichende Ernährung des Kindes ist zwar berechtigt, die
Kontrolle der Nahrungsaufnahme jedoch
unter normalen Umständen fatal: bringt
sie doch allzu leicht einen Teufelskreis
mit einem frühen Machtkampf in Gang.
Denn die allermeisten Kinder wehren sich
gegen Druck, erst recht wenn es ums Essen geht. Sie verteidigen ihre körperliche
Integrität, verweigern sich, wollen selber
bestimmen, ob, wann, wie, wie viel und
was sie essen. Hunger und Sättigung drohen fremdbestimmt zu werden. Die Lust
am Essen geht verloren, ebenso wie die
Möglichkeit ein verlässliches Körpergefühl
zu entwickeln. Die erzieherische Faustregel, wonach die Erwachsenen bestimmen,
was das Kind isst, und das Kind bestimmt,
wie viel es isst, ist nur bedingt richtig. Die
Erwachsenen haben zwar die Möglichkeit
dem Kind bestimmte Nahrungsmittel anzubieten und andere nicht. Es soll jedoch
Kinder geben, die allzu starre Vorgaben
bei nächster Gelegenheit gierig umgehen.
Eine Fixierung auf DIE gesunde, nicht dick
machende Ernährung kann eine lebendige
Eltern-Kind-Beziehung und den Aufbau
eines Essverhaltens, das sich am Befinden
und an körperlichen Signalen orientiert,
stören.
Unter manchen Umständen müssen sich
Eltern und Fachpersonen hingegen tatsächlich ums Überleben des Kindes sorgen.
Dies gilt etwa für schwerkranke Kleinkinder und für solche mit einer Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme und der
Verdauung, die dem Kind beim Essen
vielleicht sogar Schmerzen bereiten. Unter
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diesen Umständen liegt eine ganz schwierige Aufgabe darin, immer wieder abzuwägen, wann ein Eingriff dem Kind Entwicklungsschritte trotz widriger Umstände
eröffnet und wann er sie möglicherweise
sogar behindert. So kann die Ernährung
mittels Sonde überlebenswichtig sein oder
eine energieraubende negative Dynamik
unterbrechen. Sie erschwert es dem Kind
jedoch gleichzeitig, wichtige Erfahrungen
mit Nahrungsmitteln und dem Selberessen
machen zu können.
Einer Esskultur begegnen Kinder in Familien und in andern Lebenswelten wie
Tagesfamilien, Kitas und Spielgruppen.
Gerade um den Familientisch ranken sich
manche Mythen und zwiespältige Erfahrungen. Im multikulturellen Kontext kann
er überdies zu Missverständnissen führen.
So hat die gemeinsame Mahlzeit verbunden mit (Still-)Sitzen um einen Tisch für
manche Familien – zumindest alltäglich
– eine untergeordnete Bedeutung. Die Zusammengehörigkeit wird auf andere Weise
gepflegt. Allerdings lassen sich die meisten
Kinder trotz unterschiedlicher Vorerfahrungen neugierig auf das Znüni, Zmittag
und Zvieri ein – wenn sie dies in ihrem
Tempo und auf ihre Art tun dürfen.
Heidi Simoni
Leiterin Marie Meierhofer Institut für das
Kind
undKinder Nummer 93
Seite 5
Cornelia Conzelmann-Auer
Für einen gelingenden Lebensstart: Nahrung
für Körper und Seele
Stillen ist die einfachste und natürlichste Art ein kleines
Kind richtig zu ernähren. Das ist nach einer wechselvollen
Geschichte, vielen Mythen und Irrtümern heute der Stand
der Erkenntnis. Trotzdem braucht das Stillen eine Lobby,
denn mangelnde Erfahrung und Unsicherheiten machen
jungen Müttern zu schaffen. Das WHO-UNICEF Qualitätslabel „Baby Freundliches Spital“ setzt am richtigen
Punkt an und hilft mit Kinder gesund zu ernähren.
Seite 15
Theres Blülle-Grunder
Mit Kindern essen
Verhaltenseinladungen statt Verhaltensanweisungen
Dieser Beitrag ist ein Plädoyer dafür, dem Kind bei der Entwicklung seines Essverhaltens zu vertrauen. Das gesunde
Kind wird mit dem Essen zurechtkommen, es wird lernen,
sich richtig zu ernähren und sich sozial angenehm zu verhalten! PädagogInnen werden ermutigt, bei Tisch ihre Aufmerksamkeit auf die Beziehungspflege mit den Kindern im
entspannten Zusammensein zu richten.
Seite 25
Jeremy Hellmann
Nachdenken über Spannungsfelder der frühen
Ernährungsbildung
Die Ausführungen geben den Lesenden die Möglichkeit,
über widersprüchliche Anforderungen rund ums Essen
und Trinken mit körperlich gesunden Kleinkindern nachzudenken. Grundsätzliche Aspekte sowie die Haltungen
und Verhaltensweisen von Bezugspersonen werden der
Perspektive des Kleinkindes gegenübergestellt.
„Horch, wie der Magen knurrt!“
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Seite 39
Doris Frei
Ein Besuch in der familea Kita Kleinhüningen
in Basel
Gesundes Essen, anregende Gespräche und die
Möglichkeiten zur Partizipation – eine gelungene
Mahlzeit in der Kita
Die Verlockungen sind vielseitig: Kinderschokolade, Chips
oder süsse Getränke lachen uns aus Werbung und den Ladenregalen entgegen. Da ist es nicht immer einfach, die Kinder davon zu überzeugen, dass auch Früchte und Gemüse
lecker sind und zu einer gesunden Ernährung gehören.
Seite 45
Marguerite Dunitz-Scheer
Prompte Entlastung
Frühkindliche Essstörungen
Essstörungen sind auch bei Babys schon ein Krankheitsbild, das Fachpersonen des Frühbereichs (er-)kennen sollten. Die frühzeitige Diagnose stellt sich oft durch die Beobachtung der Interaktion zwischen Mutter und Kind. Die
Klassifikation von Fütterstörungen nach medizinischen
Kriterien ist hilfreich für die Einordnung einer gestörten
Situation.
Seite 55
Claudius Natsch
Tischzucht
oder Essen als Spiegel der Kultur
Wie man sich bei Tisch benimmt, so ist man erzogen
worden. Dies gilt zumindest seit der Römerzeit bis zum
heutigen Tag. Einen Höhepunkt findet die sittliche Regulierung des Essens zu Beginn der Neuzeit. Ist der Familientisch noch das Zentrum der Familie und wie
wird in Zukunft das Essen mit Kindern aussehen? Das
sind Fragen, mit denen sich dieser Artikel beschäftigt.
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undKinder Nummer 93
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