3 Armut: ein soziales Problem im sozialen Raum

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Der Arme als soziologische Kategorie entsteht nicht durch ein bestimmtes Maß von
Mangel und Entbehrung, sondern dadurch,
daß er Unterstützung erhält oder sie nach
sozialen Normen erhalten sollte. So ist nach
dieser Richtung die Armut nicht an und für
sich, als ein quantitativer festgelegter Zustand zu bestimmen, sondern nur nach der
sozialen Reaktion, die auf einen gewissen
Zustand hin eintritt.
Georg Simmel (1906): „Der Arme“
3
Armut: ein soziales Problem im sozialen Raum
Armut. Ein Begriff der heute vor allem Bilder von Hunger und Elend in sogenannten Dritte-Welt-Staaten in uns aufsteigen lässt. Dass Mangel und Bedürftigkeit auch in der Bundesrepublik noch immer von Bedeutung ist, zeigt der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der seit dem Jahre 2000
erstellt wird und in diesem Jahr (2005) zum zweiten Mal erschien.
Armut im Reichtum ist kein neues Phänomen. Was als überwunden geglaubt
war, kehrt im Zusammenhang postmoderner Gesellschaftsrealität zurück. Und:
Armut gilt als ein soziales Problem, das sich vor allem im sozialen Raum der
Stadt niederschlägt.
Zwei Beschreibungen sollen auf den sozialen Aspekt der „Armut“ hindeuten:
„Während es individuelle Armut immer und überall gegeben hat, ist massenhaft auftretende Armut vorzugsweise ein Produkt sich wandelnder Gesellschafts- und Wirtschaftsformen; z.B. im Übergang von der agrarischen zur industriellen Gesellschaft,
etwa in der industriellen Revolution in Europa oder heute in den Entwicklungsländern. Als Dauererscheinung tritt Armut in komplexen, geschichteten Gesellschaften
auf, in denen traditionelle Verwandtschaftsverbände mit gegenseitigen Verpflichtungen zur Hilfe in Notlagen nicht mehr bestehen. Armut ist nicht nur durch wirtschaftlichen Notstand gekennzeichnet: arme Bevölkerungsschichten besitzen eine
eigene Lebensweise und eigene Grundeinstellung zum Leben, die oft viele Generationen hindurch in Geltung bleiben. Armut läßt sich nur in Relation zur sozialen
Umwelt bestimmen, sie ist in Industrieländern typisch mit Arbeitslosigkeit verbunden“ (Das große Fischer-Lexikon in Farbe 1975.)
„Armut heißt, daß eine Vielzahl von Menschen erheblich benachteiligt und vom gesellschaftlich und sozial Möglichen, das eine hochindustriealisierte Gesellschaft [...]
bieten müßte, ausgeschlossen sind. Aus diesem Zustand heraus resultieren eine
Vielzahl von individuellen und sozialen Behinderungen und Entbehrungen in allen
Lebensbereichen: fehlende Wohnungen, zerstörende Arbeitsbedingungen, geringes Einkommen, Krankheit, Sozialisationsdefizite, fehlende Partizipation an der
Gesellschaft [...]“ (H.-J. Petzold/ H. Speichert 1981).
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Von der Antike bis zum Mittelalter wird „Armut“ als etwas Positives gewertet.
Sie war Impulsgeber für sinnvolles und zielgerichtetes Handeln. In der heutigen
Gesellschaft hat sich der Inhalt des Armutsbegriffes gewandelt. Im Gegensatz
zu den frühen Gesellschaftsformen gilt Armsein jetzt als unmoralisch.
3.1
Etymologie der „Armut“
Die Herkunft des Begriffs (vgl. Duden 2001, S.47) führt zu der Annahme, dass
„Armut“ schon immer zur Bezeichnung eines Mangels diente:
Das gemeingermanische Adjektiv `arm´ gehört wahrscheinlich im
Sinne von „verwaist“ zu der indogermanischen Wortgruppe von Erbe.
Das Adjektiv wurde zunächst im Sinne von „vereinsamt, bemitleidenswert, unglücklich“ verwendet.
An diese Bedeutung schließen sich barmherzig und erbarmen an;
hinzu kommt die Verwendung von arm in christlichem Sinne, z.B. `arme Seele´, `armer Sünder´.
Im Sinne von besitzlos wurde `arm´ im Westgermanischen das Gegenwort zu `reich´.
Diese Zuschreibungen setzt eine Instanz voraus, die definitorisch wirksam werden konnte. Hinzu kommt eine (moralische) Bewertung einer Mangelsituation,
was sich wiederum begrifflich niederschlägt. Die Person, die als arm bezeichnet
wird, erhält ein Etikett: sie gilt z.B. als „vereinsamt“, „bemitleidenswert“ oder
„unglücklich“. Eine Kennzeichnung, die ein bestimmtes Handeln nach sich zu
ziehen scheint, denn die Person verdient Erbarmen oder Mitleid. Der Begriff
enthält somit eine handlungsleitende Fremdzustandsbewertung.
3.2
Perspektiven
Gesellungsformen
Bei dem Versuch, sich dem Wesen von Armut anzunähern, sollen hier verschiedene Perspektiven der Betrachtung dieses Phänomens entwickelt werden.
Der erste Blick fällt dabei auf den Menschen und seine soziale Organisationsweise.
Als Annahmen lassen sich darstellen:
Der Mensch - ein soziales Wesen:
Bedürftigkeit als anthropologische Konstante;
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Soziales Handeln (inklusive Hilfehandeln) sichert seine Existenz;
Unvollkommenheit erzwingt soziale Gesellungsformen.
Gemeinschaft:
Zustand ganzheitlicher Zusammengehörigkeit (Primärgruppe)
Gesellschaft:
„Ein Gefüge von Menschen bzw. von menschlichem Handeln zur Befriedigung individueller und gemeinsamer Bedürfnisse.“
„Das mehr oder weniger dauerhafte und organisierte Zusammenwirken zur Erreichung bestimmter Ziele oder Zwecke.“
„In diesem Sinne ist Gesellschaft zu verstehen als Rahmen, als System, als vorgegebene Struktur, worin der einzelne Mensch Orientierung und Ordnung, Regelhaftigkeit und Bedeutungsgehalte findet.“
Ausgangspunkt ist die Annahme, dass der Mensch seinem Wesen nach auf
Hilfe bzw. Unterstützung von außen angewiesen ist, um seine Existenz zu sichern (vgl. Schilling 1997, S.14ff). Das Handeln des Menschen bezieht sich –
ausgehend vom Überlebenstrieb des Einzelnen – auf andere Menschen. Es
entstehen verschiedene Gesellungsformen, die im historischen Verlauf Wandlungsprozessen unterlagen. Die individuelle Existenz in ihrer Unvollkommenheit
schafft primäre Bezugsgruppen, die, um das Überleben des Einzelnen zu sichern, in ihrer Gänze nach Erhaltung streben (z.B. Familie, Clan usw.). Gesellschaft (vgl. Hartfiel/Hillmann 1982, S.256ff) soll hier als Rahmen verstanden
werden, innerhalb dessen sich Menschen organisieren.
Ungleichheit
Unser zweiter Blick richtet sich auf die in der Etymologie bereits aufgefallene
Differenz, die zwischen Menschen beobachtbar zu sein scheint. Eine Annäherung wird mit folgenden Sätzen versucht:
Das Handeln des Menschen ist auf Überleben ausgerichtet.
Überleben erfordert den Einsatz von Gütern.
In jeder „Epoche“ sind materielle und immaterielle Güter auf eine beschreibbare Weise unter den Menschen einer Gesellschaft verteilt.
Verteilung von Gütern impliziert Relationen: weniger – mehr, Macht –
Ohnmacht, arm – reich usw.
Relationen besitzen assoziativ-emotionale Nebenbedeutungen (Konnotation), die handlungsleitend wirken. Sie finden ihren Niederschlag
in Ethik und Moral.
Die Verteilung und die Bewertung der Güter ist eng verknüpft mit den
Begriffen Macht und Herrschaft.
Die individuelle Verfügbarkeit (Besitz, Zugang) von gesellschaftlich
relevanten Gütern ermöglicht Aussagen über die Position des Einzelnen in einer Gesellschaft.
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Gesellschaftlicher Wandel bedeutet eine Umverteilung und/oder Umbewertung relevanter materieller und/oder immaterieller Güter.
Ein Mangel lässt sich nur im Hinblick auf einen Bezugspunkt beschreiben. Jemand kann nur dann weniger besitzen, wenn es jemanden gibt der vergleichbar
mehr besitzt - und: wenn dieser möglichen Tatsache ein (kommunikativer) Wert
beigemessen wird (z.B. weniger zu haben ist gut/schlecht). Ungleichheiten zwischen Menschen sind nur dann sinnvoll kommunizierbar, wenn sie funktional im
Hinblick auf den sozialen Kontext (die jeweilige Gruppe, Gesellschaft bzw.
Staatsform) sind, in dem sie auftreten.
Diese Funktion der Ungleichheit wird repräsentiert von einer den Begriff (z.B.
Armut) begleitenden Konnotation. Diese wirkt handlungsleitend und findet ihren
Niederschlag in gängiger Ethik und Moral. Mangel oder Bedürftigkeit (aber auch
Reichtum) muss also festgestellt und bewertet werden. Die daraus folgende
(sichtbare) Handlung (in diesem Sinne wäre auch die – unsichtbare – Zuschreibung von Eigenschaften eine Handlung) steht in einem bestimmten moralischen
Kontext und wird entsprechend beurteilt (z.B. dies ist ein guter Christ, er gibt
Almosen, er ist ein respektables Mitglied der Gemeinde)1.
Mit steigender Differenzierung einer Gesellschaft entstehen Organisationsstrukturen, die über den unmittelbaren Einflussbereich sozialer Primärverbände hinausgehen und zunehmend gesellschaftlich relevante definitorische Aufgaben
übernehmen (Staat: Rationalisierung, Bürokratisierung). Diejenigen, die über
Güter wie z.B. Macht2 verfügen, haben eine größere Chance Werte und Normen zu bestimmen als jene, die nicht über solche verfügen (Differenz). Dies
ermöglicht Aussagen über die Position des Einzelnen in einer Gesellschaft. Gesellschaftlicher Wandel, d.h. die Veränderung der Verteilung von bzw. die Veränderung der Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlich relevanten Gütern, bedeutet nicht die Aufhebung von Ungleichheit. Als These ließe sich formulieren,
dass gesellschaftlicher Wandel vielmehr Ungleichheiten bzw. Differenz benötigt,
um Veränderungen durch Handeln anzuregen.
1
2
vgl. zu Merkmalen von Kommunikation: Watzlawick (1990): Menschliche Kommunikation.
vgl. bzgl. „Macht“ und „Herrschaft“ z.B.: Weber, Max (1984) oder: Claessens, Dieter (1997).
44
„Armut“: Ergebnis von Definition
Bedürftigkeit ist noch keine Armut. Erst die „öffentliche Definition“ einer spezifischen Lebenslage – wie in Kapitel 2.3.2 bereits angesprochen - macht aus Bedürftigkeit Armut (vgl. Schäfers 1992). Armut entsteht aus der Funktionalisierung von Bedürftigkeit bzw. Mangel. Die Definition von Armut steht in einem
zeitlichen Kontext, d.h. sie kann je nach Epoche variieren und ggf. sogar wegdefiniert werden. Die spezifischen Lebenslagen bleiben dabei allerdings trotzdem weiterhin existent.
Bei der Betrachtung von Armut scheint es sinnvoll, aus der sozialen Interaktion
im Spannungsfeld „Definierender“ – „Definierter“ herauszutreten. Nicht die Tatsache, dass Ungleichheiten bzw. Differenz existiert ist hier von Interesse, sondern die Idee von Armut als relative Teilhabe des Menschen an der Gesellschaft.
Abbildung_1: Differenz von System und Lebenswelt (Quelle: Kleve 2000, S.42)
In Anlehnung an die Systemtheorie lässt sich Gesellschaft modellhaft verstehen
als ein Gebilde, das aus Funktionssystemen und Lebenswelten besteht. Beide
Bereiche sind miteinander verknüpft und beeinflussen sich wechselseitig. Abbildung_1 stellt eine Beschreibung gegenwärtiger Industriegesellschaften dar. Ihren Bezug nimmt sie bei der Habermas´schen „Theorie des Kommunikativen
Handelns“. Nach Habermas besteht grundsätzlich die Gefahr einer „Kolonisie45
rung der Lebenswelt“ durch die Bildung von „systemischen Imperativen“. Lebensweltpathologien (Sinnverlust, Anomie, Persönlichkeitsstörungen) sind
demnach Folgen von gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen (vgl. Habermas 1981).
3.3
Armut – ein Kapitel der Erzählung von der Teilhabe des
Menschen an Gesellschaft
Erzählungen bündeln gesellschaftliche Vorstellungen von bestimmten Zusammenhängen. Sie repräsentieren Vorstellungen von Gesellschaft (vergangene,
gegenwärtige, zukünftige) und werden dadurch handlungsleitend. Ihre Manifestationen nennen wir Geschichte.
Erzählungen nehmen mögliche Entwicklungen vorweg und wirken korrigierend
auf die Zukunft, indem sie sie visualisiert und sich selbst aktualisiert. Die Rationalisierung einer Vision ist der Beginn einer neuen Erzählung oder die Fortsetzung einer bestehenden unter neuen Vorzeichen. Aktives Gestalten ist dabei
konstitutiv.
Armut ist eine solche Erzählung. Ihre Existenz scheint zum Menschen zu gehören (Bedürftigkeit als anthropologische Konstante). Die Erzählung von der Armut konstituiert sich mit dem Wandel im Verständnis dieser Bedürftigkeit im
Hinblick auf äußere Zwecke.
Matrix der Teilhabe
Greift man die Differenz von Funktionssystemen und Lebenswelten auf und bezeichnet den Zugang/Nicht-Zugang zu den Funktionssystemen als Inklusion/Exklusion und den Zugang/Nicht-Zugang zu den Lebenswelten als Integration/Desintegration, so lässt sich die Teilhabe des Menschen an Gesellschaft als
Matrix darstellen. Die „Matrix der Teilhabe“ ist vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels zu sehen. Dieser bildet als Zeitachse die dritte - nicht
dargestellte, aber mit zu denkende - Dimension der Darstellung in Abbildung_6.
Der „Kreis der Armut“ beschreibt den Grad der Teilhabe an Gesellschaft. Idealiter ist dieser hier im Zentrum abgebildet. Entsprechend wäre der Mensch, dem
dieser Kreis entspräche, gleichermaßen in Lebenswelten und Funktionsbereiche eingebunden bzw. ausgeschlossen. Realistischer als ein Kreis wäre sicher-
46
lich eine Art Wolke, die sich ungleichmäßig im dreidimensionalen Raum bewegt.
Abbildung_2: Matrix der Teilhabe (Quelle: eigene Darstellung)
3.4
Armut im Zeitverlauf
Konstanten
In allen europäischen Gesellschaften der frühen Neuzeit lässt sich ein harter
Kern von dauerhaft in ihrer Existenz bedrohten Menschen finden, die für den
eigenen Lebensunterhalt bzw. für den ihrer Familien nicht sorgen konnten. Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert gab es in den meisten europäischen Städten Menschen, die auf existenzsichernde Hilfen aufgrund von Alter, Krankheit
oder körperlicher Gebrechen angewiesen waren (zwischen 5-10% der Bevölkerung). Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter gehörten zu den potentiell in ihrer
Existenz gefährdeten. Ihr Anteil an der Stadtbevölkerung: 20-30%. Tendenziell
gefährdet waren zudem die Haushalte der städtischen Handwerker und Kleinhändler. Immerhin 50-80% aller Haushalte.
Konstante Ursachen für materiellen Hilfebedarf über die Epochen hinweg waren
(vgl. Jütte 2000, S. 256ff): Bevölkerungswachstum, wirtschaftliche Stagnation,
Kriege und Naturkatastrophen. Hinzu kamen individuelle Risiken: Krankheit,
Unfälle, vorzeitiger Tod des Ernährers, Kriegsgefangenschaft usw. Hauptrisikoträger - damals wie heute - sind Kinder unter 15 Jahren, alte Menschen und
allein erziehende Mütter.
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Bedürftigkeit und gesellschaftliche Ausgrenzung
Wer bedürftig war, wurde als „arm“ bezeichnet und von Kirche und Staat stets
mit Sünde und Verbrechen in Verbindung gebracht. Im Kirchenstaat bedeutete
Armut nicht nur die Inkarnation Jesu´ sondern auch die des Teufels und damit
eine Gefahr für die Nicht-Armen: „Die Armut sei die Mutter von Verdruss und
Bosheit, Zwietracht und Streit, und vieler anderer Übel, die daraus folgen“ (Jütte
2000, S.190).
Arbeitsfähige Arme galten als Unruhestifter, die das bürgerliche Leben in seiner
Existenz bedrohten. Standlose mussten kirchlicher wie sozialer Disziplin unterworfen werden. Mit dem zahlenmäßigen Anwachsen der Bedürftigen wurde
zwischen würdigen und unwürdigen Armen unterschieden. Als „wahre Arme“
galten Kinder, Alte, Kranke und Gebrechliche. Alle anderen wurden als bewusste Müßiggänger stigmatisiert, die unnachgiebig verfolgt werden müssten. Auf
diese Weise wurden arbeitsfähige Bettler kriminalisiert und entsprechend polizeilich „behandelt“. Dass „Landstreicherei“, Diebstahl, Warenschmuggel und
Prostitution oftmals der einzige Weg war, für diese gesellschaftlichen Außenseiter am Leben zu bleiben, interessierte die Mächtigen der damaligen Zeit herzlich wenig. Im Frühkapitalismus galt das Interesse der herrschenden Klasse an
den Armen einzig ihrer Arbeitskraft. Stigmatisierung und Ausbeutung gingen
eine entwürdigende Ehe in Form der Arbeitshäuser ein. Im NS wurden Arme
und „Arbeitsscheue“ durch Arbeit vernichtet. Erst im 20. Jahrhundert wurde das
Recht auf Unterstützung festgeschrieben. Die Diskriminierung und Stigmatisierung blieb erhalten – bis heute (vgl. z.B. Tenta 2000).
Gesellschaftlicher Wandel und die Kapitel der Erzählung von Armut
Zusammenfassend lässt sich für die einzelnen historischen Epochen folgendes
feststellen (vgl. Dietz 1997):
Mittelalter (MA): Legitimation des gesellschaftlichen Modells bzw. Zementierung von
Macht und Herrschaft im Kirchenstaat. Armut und Hilfe standen in einem direkten funktionalen Zusammenhang.
Ständegesellschaft/spätes MA: Entwicklung des Arbeitsethos trennt die Verbindung von
Seelenheil und Armut auf. Zugang zu öffentlichen Leistungen wird an Arbeitsbegriff gekoppelt. Stigmatisierungen von Armut.
Industrialisierung: Armut/Bedürftigkeit wird zum Wirtschaftsfaktor. Zwang zur Arbeit begünstigt Industrialisierung und rechtfertigt niedrigste Löhne.
19.Jahrhundert: Sozialer Druck durch Pauperisierung und Proletarisierung zwingt zur
Inklusion der Arbeiter (Arbeitsrecht). Die „wahren Armen“ werden an den gesellschaftlichen und existentiellen Rand (Lohnabstandsgebot) gedrängt.
48
3.5
20. Jahrhundert: sozialer Wohlfahrtsstaat (soziale Sicherung für größt mögliche Zahl)
steht der Rassenpolitik des NS gegenüber. Zementierung und Übersteigerung des Arbeitsethos.
BRD und „Postmoderne“: Armut wird zunächst als Randerscheinung begriffen und
„Nichtthema“. Begriff verschwindet aus der öffentlichen Diskussion. Die „Stigmatisierungslücke“ wird von Ost-West-Konflikt, „Ausländerfrage“ und Neuen sozialen Bewegungen gefüllt. Ökonomische Krisen wirken sich auf den Sozialstaat aus. Liberalistische
Ideen versuchen den Arbeitsethos zu stärken, während postmoderne, d.h. unvorhersehbare und unkontrollierbare Effekte ihn zu zerschlagen drohen. „Neue Armut“ wird
beobachtbar. „Refeudalisierungstendenzen“ (Butterwegge) stellen sich ein.
Folgerungen
Allgemein
Die Zeitläufe scheinen zu belegen, dass Bedürftigkeit und Mangellagen immer
wieder hinsichtlich des Systemerhalts (Staat) funktionalisiert wurden. Mit der
Differenzierung von Gesellschaft veränderte sich das Hilfehandeln der Menschen: von direkter zu indirekter Hilfe, von Naturalien zu Geldtransfers. Bedürftigkeit wurde durch Stigmatisierung zum Integrationsmittel für die Mitglieder der
Mehrheitsgesellschaft.
Eine (moralisierend konnotierende) Definition von Bedürftigkeit steht in einem
Inklusions/Exklusions-Verhältnis bzgl. der Teilhabe des Einzelnen an Gesellschaft. Nur wer inkluiert und/oder integriert ist, verfügt potentiell über handlungsleitende Definitionsmacht:
Traditionell Mächtige (z.B. Adel, Kirche, Bürgertum) verfügen über Ressourcen, die sich aus Inklusion und Integration ergeben (Geld, Positionen);
Temporär Mächtige (z.B. Arbeiterbewegung) verfügten zwar lange Zeit
nicht über entsprechende funktionale Macht (z.B. Gewerkschaften),
konnten jedoch über eine integrierende Solidarität (marxistisch gesprochen: Klassenbewusstsein) eine Veränderung von gesellschaftlichen Zugängen zu Ressourcen erreichen (Sozialrechte). Allerdings wurden ihnen
diese, von den traditionell Mächtigen zugänglich gemacht.
Ökonomie
Armut ist ein ökonomischer Faktor in der volkswirtschaftlichen Rechnung einer
Gesellschaft: öffentliche Hilfen kosten Geld. Bedürftigkeit musste daher immer
neu definiert werden. Die Rationalisierung von gesellschaftlichen Hilfeabläufen
korrespondiert mit Rationalisierungen im ökonomisch-technischen Bereich. Im
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Zusammenhang mit einem „Arbeits-Mythos“: „Wer arbeiten will, findet auch
welche!“, wurde auch ein „Faulenzer“-Stigma generiert, das sich bis heute
gehalten hat.
In der Moderne steht Armut für Exklusion, während Arbeit für Inklusion steht
und Zugänge zu den Systemwelten der Gesellschaft ermöglicht. In der Postmoderne steht Armut für Exklusion und Desintegration. Allerdings: Arbeit steht
zwar für Inklusion, kann aber dennoch Desintegration zeitgleich bedeuten,
wenn z.B. das Einkommen nicht ausreicht, um am Konsum teilzunehmen (Phänomen der working-poor).
Mit der Bewertung von Arbeit als Bedingung für den Erhalt öffentlicher Hilfeleistungen entstand eine neue Konnotation aus dem Gegensatz von „arbeitswillig“
und „arbeitsscheu“. Diese Bewertung wirkte sowohl inklusiv wie exklusiv. Reiche mussten nicht arbeiten, um zu leben. Wer arm war und arbeiten konnte,
sollte arbeiten, um zu leben. Nur wer nicht arbeiten konnte, sollte öffentliche
Hilfe erhalten und galt damit als arm.
Sozial-politisches System
Inklusion dient dem Systemerhalt (z.B. durch die Institutionalisierung von Arbeiterrechten). Die Inklusion der Arbeiter hatte allerdings eine Exklusion der Arbeitsunfähigen (aus der Arbeitswelt) zur Folge. Der Inklusion der Mehrheit steht
Exklusion einer Minderheit gegenüber. Integrationsmotiv beinhaltet gleichzeitig
den Grund für Ausschluss. Nicht alle Menschen sind gleich. Die, die über keine
Identifikationsbrücken verfügen, werden ausgeschlossen bzw. sind potentiell
nicht integrierbar: Wer keine Arbeit hat, hat kein Geld (es sei denn er besitzt
andere Vermögenswerte) und kann daher nicht am Marktgeschehen teilnehmen.
Der Weg zur Problemdefinition ist relativ lang. Erst wenn Mangellagen zu einem
Massenphänomen werden und die Kosten dieser Mangellagen von der Gemeinschaft nicht mehr geschultert werden können (fehlende Steuereinnahmen
und Sozialkassenbeiträge bei gleichzeitiger Geltendmachung von Rechtsansprüchen), wird interveniert. Erst wenn öffentliche Hilfen gewährt werden sollen
oder müssen und diese Hilfen indirekt von den Erwerbseinkommensbeziehern
mittels Steuern oder Beiträgen bereitgestellt werden und diese Belastungen
steigen, d.h. weniger Geld z.B. für Konsum oder individuelle Risikoabsicherung
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bereitsteht (Rückgang der Binnennachfrage), beginnt die Auseinandersetzung
auf politischer Ebene (Mehrheiten schaffen und sichern) - und mit der öffentlichen Diskussion über die Massenmedien, spätestens dann auch auf zwischenmenschlicher Ebene. Sofern es nicht angebracht bzw. möglich ist, die
Minderheit einzubeziehen. Hier kommt Macht bzw. Machterhalt ins Spiel.
Doppelt ausgegrenzt wird derjenige, der weder über materielle Ressourcen,
noch über soziale Ressourcen verfügt, die ihm lebensweltliche Integration sichern. Armut verliert seinen schichtenspezifischen Charakter: verdeckte Armut
ist v.a. statistisch erfassbar, weniger direkt von der Mehrheitsbevölkerung erlebbar.
Christliche Sozialethik verhinderte, dass sich liberalistische Vorstellungen gänzlich durchsetzen konnten. Diese sahen den totalen Verzicht auf öffentliche Leistungen vor. Individuelles Überleben Bedürftiger wäre vom Wohlwollen einzelner
Spender abhängig geworden. Die Schaffung des sozialen Systems sollte den
völligen Ausschluss Bedürftiger aus der Gesellschaft verhindern.
Soziales System
Hilfe wurde neu definiert: aus Pflicht wurde Recht. Das moralische Motiv zum
Hilfehandeln ging vom Individuum über auf den Staat und wurde im Sozialstaat
institutionalisiert (soziales System).
Die Teilhabe am sozialen Sicherungssystem schließt allerdings eine lebensweltliche Desintegration nicht mehr aus: In der Moderne wurde versucht, Inklusion durch Arbeit zu erreichen. Im Zeitalter der Globalisierung kündigen sich
neue Exklusionsprozesse an: Wirtschaftsprozesse werden nicht mehr vom
Staat ausreichend beherrscht bzw. maßgeblich und umfassend von den lokal
agierenden Unternehmen kontrolliert. Das soziale Sicherungssystem steht jedoch in einem Abhängigkeitsverhältnis zur wirtschaftlichen Konjunktur. Die
strukturelle Freisetzung von Beschäftigten droht, das Sicherungssystem zu kippen (Privatisierung der Risiken; vgl. Beck). Die Ideen und Hoffnungen der Moderne (Vollbeschäftigung, Wachstum und Wohlstand durch Arbeit) werden von
Ambivalenz-Realitäten der Postmoderne (z.B. „strukturelle“ Massenarbeitslosigkeit und den Zwängen des shareholder-value) in Frage gestellt. Gleichzeitig
werden Unsicherheiten mit über Jahrhunderte hinweg eingeübten Stigmatisierungen beantwortet: „Sozialschmarotzer“.
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Die Hilflosigkeit des Staates spiegelt sich oft genug in sinnlosen Qualifizierungsmaßnahmen Arbeitsloser wider, die v.a. der Kontrolle dienen: wer etwas
tut, tut schließlich nichts Falsches (z.B. sich organisieren und demonstrieren).
Die Renaissance der liberalen Hilfeidee, dass nur derjenige Hilfe erhält, der dafür arbeitet (Harz IV), erscheint paradox angesichts einer globalisierten Weltwirtschaft, die nationale Bindungen und Verantwortungen nach und nach abstreift.
3.6
Zusammenfassung
Während Mangellagen, z.B. ein objektiver Mangel an Ressourcen mit lebensbedrohlichem Charakter, zur Geschichte der Menschheit gehören, zeigt sich mit
und hinter dem Armutsbegriff eine gesellschaftlich-institutionelle Antwort auf ein
„soziales Problem“: den öffentlich realisierten Folgen von sozialer Ungleichheit.
Immer wieder über die Jahrhunderte bzw. Epochen der gesellschaftlichen Entwicklung hinweg, waren Menschen in großer Zahl von Mangellagen betroffen,
die ihnen das Überleben erschwerten, bzw. waren sie von der Hilfe der Menschen mit besserem Ressourcenzugang abhängig. Die Zugänge zu den Hilfeleistungen (z.B. Brot) und die Motivation zur Hilfe (z.B. privates Almosen wurde
gegeben, um Gott zu gefallen) - und damit die Stellung von Geber und Empfänger von Hilfen zueinander und innerhalb der Gesellschaft - waren das Ergebnis
von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. Diese Positionierungen haben
sich mit dem gesellschaftlichen Wandel verändert: von der mittelalterlichen „Caritas“ zum modernen Wohlfahrtsstaat wurde ein Weg zurück gelegt, auf dem
sich der Hilfecharakter veränderte und von einer direkten Interaktion eines „sozialen Handelns“ (z.B. Almosen von Hand zu Hand geben), über die Verknüpfung des Leistungsbezuges mit Arbeit, bis hin zur abstrakt-rationalisierten Hilfe
(z.B. BSHG als gesetzlich geregelter standardisierter Leistungsbezug) führte.
Der sozialräumliche Abstand zwischen den „Sozialpartnern“ (Gebenden und
Nehmenden) hat sich verändert.
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