Handreichung zu Gustav Mahler Sinfonie Nr.6 a-Moll

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Handreichung zu
Gustav Mahler
Sinfonie Nr.6 a-Moll (Tragische)
von Christoph Wagner
Konzerte am
Do 24./Fr 25. Oktober 2013
Liederhalle Stuttgart, Beethovensaal
20 Uhr Beginn
19 Uhr Einführung (Björn Gottstein)
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Dirigent: Stéphane Denève
Empfohlen ab Klasse 8
Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 6 a-Moll
Hinweise zu den Materialien:
Die Materialien bieten in Bild, Text und Notenbeispielen einen Eindruck über die 6. Sinfonie
von Gustav Mahler ohne einem konkreten Unterrichtsgang zu folgen. Sie sind von daher
flexibel einsetzbar, um - vor allem im Oberstufenunterricht - den Schülerinnen und Schülern
eine Einführung in dieses Werk zu vermitteln.
Ein erster Kontakt mit Mahler und der „Tragischen Symponie“ kann mittels der Karikatur
erfolgen, die Mutmaßungen evoziert, wie der Zeichner zu dieser Darstellung kommt.
Die Überschrift „Tragische Sinfonie“ lässt die SuS außerdem Vermutungen anstellen, wie es
zu diesem Titel kommt und welche Elemente die Musik haben muss, um dem Titel gerecht
zu werden.
Ein erster Höreindruck könnte die Frage aufwerfen worin die Tragik besteht.
Nachfolgend sollten die Texte erarbeitet werden, die sowohl durch das Werk führen als auch
den biografischen Hintergrund liefern, der die Frage der Tragik nochmals thematisiert.
Die Notenbeispiele sollen helfen die wichtigsten Themen und Motive kennenzulernen. Dies
kann entweder lesend erfolgen oder noch besser: indem sie von den SuS selbst gespielt bzw.
vom Lehrer bzw. der Leherin vorgespielt und auf ihre Wirkung hin untersucht werden.
Bei so einem komplexen Werk, wie dem vorliegenden, versteht es sich natürlich von selbst,
dass die Fülle des motivisch-thematischen Materials nur in äußerst bescheidenem Umfang
im Unterricht vorgestellt werden kann. Die Komplexität des Werkes könnte auch durch einen
Einblick in die umfangreiche Partitur1 deutlich werden.
Auf eine im Internet leicht abrufbare Überblicksbeschreibung des Werkes wurde in dieser
Handreichung bewusst verzichtet. Hier sei neben dem entsprechenden Wikipedia-Artikel zur
Biografie (http://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Mahler) und Werk
(http://de.wikipedia.org/wiki/6._Sinfonie_(Mahler)) auch auf folgende Ausführung hingewiesen:
http://www.la-belle-epoque.de/mahler/sinf06_d.htm
Christoph Wagner
1
Die vollständige Partitur kann man als pdf-Datei bei der Petrucci-Musikbibliothek
herunterladen. Folgender Link führt direkt zur 6. Sinfonie von Mahler:
http://imslp.org/wiki/Symphony_No.6_(Mahler,_Gustav)
M 1:
Mahler-Karikatur zur Wiener Aufführung der sechsten Symphonie
„Herrgott, dass ich die Hupe vergessen habe! Jetzt kann ich n o c h eine Sinfonie schreiben.“
M 2:
Entstehung und Besetzung
Entstehungszeit: 1903-1904
Uraufführung:
27. Mai 1906 zum 42. Tonkünstlerfest in Essen unter der Leitung des Komponisten
Besetzung:
Piccoloflöte, vier Flöten (3. und 4. auch Piccoloflöte), vier Oboen (3. und 4. auch
Englischhorn), Englischhorn, Klarinette in D und Es, drei Klarinetten in A und B,
Bassklarinette, vier Fagotte, Kontrafagott, acht Hörner, sechs Trompeten, drei
Posaunen, Bassposaune, Basstuba, Schlagzeug (Pauken, Glockenspiel, Herdenglocken,
tiefen Glocken, Rute und Hammer), Xylophon, zwei Harfen, Celesta und Streicher
Satzbezeichnungen:
1. Allegro energico, ma non troppo - Heftig, aber markig;
2. Scherzo. Wuchtig-Trio. Altvaterisch, grazioso;
3. Andante moderato;
4. Finale. Allegro moderato
M 3:
Aus einem CD-Booklet zur 6. Sinfonie2
Prinzipielle Relevanz sowohl für die Konstruktion der Sechsten als auch für die Erkenntnis
der programmatischen Intentionen Mahlers besitzt das sogenannte Motto: eine ungemein
einprägsame Gestalt, die aus einem Leitklang (der Akkordfolge Dur - Moll) und einem
charakteristischen Leitrhythmus besteht und mit der Funktion eines »Leitmotivs« häufig
wiederkehrt, den Kopfsatz, das Scherzo und das Finale wie eine eiserne Klammer haltend.
(Die beiden Elemente des Mottos kommen auch isoliert vor.) Kein Zweifel, dass das Motto
die Semantik eines Schicksalsspruches hat, und gleichfalls kein Zweifel, dass die Sechste
Mahlers - wie die Fünfte Beethovens und wie die Vierte und die Fünfte Tschaikowskys - eine
Schicksalssymphonie ist.
Zum ersten Mal intoniert wird das Motto von Trompeten und Pauken im Anschluss an das
ungemein energische marschartige Hauptthema des Kopfsatzes Es folgen ein choralartiges
Thema, das die Überleitungspartie vertritt, und ein »schwungvolles« Seitenthema, das als
Porträt Almas gedacht war. Die Dynamik des konzisen3 Satzes (er ist regelmäßig nach dem
Schema der Sonatenform gebaut) resultiert aus der Gegenüberstellung und Verarbeitung
dieser drei kontrastierenden Themen. Zu den originellsten Partien des Satzes gehören drei
Stellen in der Durchführung (Z. 21 -25), in der Reprise (Z. 33-35) und unmittelbar vor der
Coda (Z. 41), in denen die Musik so klingt, als käme sie aus weitester Ferne Die an der ersten
Stelle erklingenden Herdenglocken interpretierte Mahler als Symbol »weltfremder
Einsamkeit«.
Mahlers Äußerungen über das musikalische Porträt seiner Frau im Seitensatz werden
verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass in Richard Strauss' 1898 vollendeter
Tondichtung Ein Heldenleben ein Abschnitt ursprünglich mit dem Titel Des Helden Gefährtin
überschrieben war. Mahler verfolgte das symphonische Schaffen seines Freundes und
2
3
Constantin Floros: Mahler: Sechste Symphonie. In:
kurz, gedrängt
Rivalen Strauss mit größter Aufmerksamkeit, und vieles spricht dafür, dass er bei der
Konzeption seiner Sechsten von Strauss' autobiographischen Tondichtungen manche
Anregung empfing.
Mahler war sich lange Zeit über die Platzierung des Scherzos und des Andantes
unschlüssig. Nach der ursprünglichen Konzeption folgte das Scherzo auf den Kopfsatz und
das Andante stand vor dem Finale. In dieser Reihenfolge wurden die Sätze in Essen
uraufgeführt. Nach einem Bericht Klaus Pringsheims war sich Mahler jedoch noch nach der
Generalprobe nicht im klaren darüber, ob er die mittleren Sätze nicht lieber vertauschen
sollte.
Der zweite Satz ist zweifelsohne eines der dämonischsten Scherzi, die Mahler geschrieben
hat. In fünf Teilen (nach dem Muster Hauptsatz - Trio - Hauptsatz - Trio - Hauptsatz)
angelegt, ist der Satz aus wenigen Motiven ökonomisch entwickelt Die Vortragsbezeichnung
»wuchtig« und die Spielanweisung »wie gepeitscht« geben eine Vorstellung von dem
Charakter der Hauptteile, die im Schauerlichen beheimatet sind. Die Thematik der Trioteile
(Mahler überschreibt sie mit »altväterisch«) mutet dagegen stellenweise kinderliedartig an.
Übrigens ist der so hervorstechende Takt- und Tempowechsel in den Trioteilen
programmatisch bedingt - Mahler sprach von dem »arhythmischen Spielen« der beiden
kleinen Kinder. Dem Andante moderato liegen zwei kontrastierende Themenkomplexe
zugrunde, die rondohaft nach dem Schema ABABA alternieren und wiederkehrend
durchgeführt werden. Das erste Thema, zwischen Dur und Moll changierend, ist im Ton dem
vierten der Kindertotenlieder (Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen) ähnlich. Der zweite
Themenkomplex, aus einer »traurigen« Weise entwickelt, erfährt großartige Steigerungen.
Die glanzvoll instrumentierte E-Dur-Stelle (Z. 53), an der wieder die Herdenglocken
erklingen, weist typische Züge des Pastorale auf.
Das Finale (das längste Mahlers) ist nach dem Muster der Sonatenform gebaut. Die
Besonderheit der Anlage macht es aus, dass Exposition, Durchführung, Reprise und Coda mit
einer Introduktion eröffnet werden. Überwältigend ist in diesem Satz der Reichtum an
Ausdruckscharakteren. Visionäres, Choralartiges, Marschähnliches, Überschwängliches,
dramatisch Bewegtes, Musik aus weiter Ferne, Hymnisches - die verschiedensten Charaktere
folgen in raschem Wechsel aufeinander. Besondere Bedeutung besitzen die Hammerschläge,
die (in der ersten Fassung) an drei Stellen fallen: zu Beginn des zweiten und des vierten
Durchführungsteiles (Z. 129 und Z. 1 40) und in der Coda (Takt 783). Mahler hat bei einer
späteren weitgehenden Veränderung der Instrumentation den dritten Hammerschlag
gestrichen, denn er hätte wie Erwin Ratz mutmaßt - »das Gefühl des absoluten Endes zu sehr
verstärkt, das in Wahrheit kein Ende ist«.
Wie kam aber Mahler auf den Einfall, in der Sechsten den Hammer zu verwenden?
Mehreres spricht dafür, dass er die Anregung hierzu von dem Gedicht Alexander Ritters zu
Strauss' Tod und Verklärung erhielt. Dort stehen nämlich die Verse
Da erdröhnt der letzte Schlag
Von des Todes Eisenhammer,
Bricht den Erdenleib entzwei,
Deckt mit Todesnacht das Auge.
Mahlers Sechste gibt sich - so können wir zusammenfassend sagen - als Gegenstück und
zugleich als Gegenpol zu Strauss' Ein Heldenleben zu erkennen. Richard Strauss, dem Jünger
Friedrich Nietzsches, dem Gegner des Christentums, wäre es sicherlich nie in den Sinn
gekommen, in einem symphonischen Werk seinen eigenen Untergang zu schildern
Bezeichnenderweise äußerte er nach der Uraufführung der Sechsten zu Alma: »Warum sich
der Mahler im letzten Satz die größte Wirkung wegnimmt, indem er gleich zu Anfang die
stärkste Stärke gibt und dann immer schwächer wird, das versteh' ich nicht« Alma aber, die
viele Ressentiments gegen Strauss hatte, kommentierte diese Äußerung zu Recht so »Er
[Strauss] hat ihn [Mahler] nie verstanden. Hier und immer sprach der Theatermensch. Dass
Mahler den ersten Schlag am stärksten, den zweiten schwächer und den dritten, den
Todesschlag des verendenden Helden, am schwächsten machen musste, ist jedem klar, der
die Symphonie nur einigermaßen begriffen hat. Vielleicht wäre die Augenblickswirkung in
umgekehrter Dynamik stärker gewesen. Aber um die ging’s ihm nicht.
M 4:
Hans Heinrich Eggebrecht4
In der sechsten Symphonie (1903/04) ist die Vergeblichkeit zur alles beherrschenden
Aussage erhoben - bis hin zum Schluss. Wieder im ersten Satz marschiert die Musik, und
alsbald ertönt erstmals jenes aus vier Takten bestehende prägnante Ereignis, das als Motto
dieser Symphonie bezeichnet werden kann. Es besteht aus drei Substanzen: einem zu
knallender Härte verdichteten Marschrhythmus in den Pauken; einem in diese Schläge von
den Trompeten fortissimo hinein geschmetterten Durdreiklang, piano gefärbt von den
Oboen; und dem Wechsel dieses Dur- zum Molldreiklang, wobei im Augenblick des Wechsels
der Trompetenklang ins Pianissimo zurückgetreten und der traurig-elegische Oboenton zum
Fortissimo angewachsen ist. Die Bezeichnung dieses Mottos als »Schicksalspruch« verdeckt
und ebnet ins Bekannte ein, was hier gemeint ist: Gegen die Unerbittlichkeit der
Paukenschläge, die als äußere Setzung das Schreiten diktieren, rebelliert das Subjekt im
Ausbruch des Dur, das - Zeichen des Unterliegens - ins Moll umkippt.
In seiner Aussage und Wiederkehr an den formal exponierten Stellen des ersten und
letzten Satzes ist dieses Motto der unverrückbare Bezugspunkt der Symphonie. Alles, was zunächst im ersten Satz - sonst noch vorkommt, bleibt dagegen machtlos, auch das
Choralidiom, auch das emphatisch »schwungvolle« zweite Thema und in der Durchführung
dann die Episode mit dem Getön der Herdenglocken, dem in die Symphonie verpflanzten
realen Naturlaut, der als Inbegriff der Erdenferne den Durdreiklang des Mottos, das
Opponieren, am extremsten motiviert.
Die beiden Mittelsätze sind Einschübe: Sie kommentieren die um das Motto kreisende
Aussage der Ecksätze. Der zweite Satz, das quasi Scherzo, ist nach außen gerichtet. In
seinem Wechsel zwischen verzerrter Musik und - im Trioteil - einem hämischen Hinzeigen
aufs »altväterliche« Gehabe ist er ein Abbild der Außenwelt in ihrer Negativität: Er weist auf
die destruktiven Kräfte, die im Motto die Vergeblichkeit des Opponierens, das Umkippen von
Dur nach Moll, verursachen, und er schließt selbst mit einem siebenmaligen Dur-MollWechsel in den gedämpften Bläsern, der in einen angehaltenen Molldreiklang der Posaunen
einmündet. - Das Andante moderato dagegen ist nach innen gerichtet, Abkapselung von der
Außenwelt, Bild der Seele, Versunkenheit ins Schöne und Traurige in eins; zart und
ausdrucksvoll - Misterioso - mit bewegter Empfindung - morendo heißt es in der Partitur.
Musik jenseits des Mottos und doch ebenfalls von ihm verursacht.
4
aus: Musik im Abendland. München 1991. S. 616f.
Zur Wiederkehr des Mottos und zur Welt, in der es als Kurzformel fungiert, treten im
Finale (am Ende jeweils des ersten und dritten Durchführungsteils, Ziffer 129 und 140, sowie
ursprünglich auch zu Beginn der Coda, elf Takte nach Ziffer 164) als auffälligstes Ereignis die
Schläge des Hammers hinzu. Sie konzentrieren den Paukenrhythmus je auf einen einzigen
Schlag, der - nach Mahlers Anweisung in der Partitur - kurz, mächtig, aber dumpf hallen soll,
»wie ein Axthieb«. Sie sind in ihrem Krach die in die Musik hineingenommene Antimusik. das
Zerschlagen des Subjekts - woher auch immer die Schläge kommen mögen. Später hat
Mahler den letzten Hammerschlag gestrichen und damit - als dürfte es nicht sein - der
Symphonie die Endgültigkeit der Niederwerfung nehmen wollen - aber nicht mehr nehmen
können: An ihrem Ende, in den letzten drei Takten, hat das Motto das letzte Wort, und zwar
derart, dass über dem Marschrhythmus der Pauken statt des Dur-Moll-Wechsels nur noch
der aus dem Fortissimo heraus ersterbende Molldreiklang ertönt.
Was mit der sechsten Symphonie und ihrem Motto konkret gemeint ist, lässt die Musik
offen, und jede Zeit, jeder Hörer wird es zu sich hin verstehen. Ich glaube aber fest, dass es
nicht bestimmte Ereignisse und persönliche Erlebnisse waren, die diese Musik veranlasst
haben. Sondern für Mahler war die Welt schon im Entwurf ihrer Schöpfung grausam und
vollends in der geschichtlichen und gegenwärtigen Entfaltung dieses Entwurfs eine
Negativität schlechthin, unheilbar verdorben, kaputt. Und gereift war in ihm die Einsicht,
dass der Widerstreit zwischen dieser Welt und einer anderen weder durchs Anzünden
apotheotischer Lichter noch durch »Humor« zu lösen ist und dass gegenüber den negativen
Kräften dieser Welt das Prinzip Opposition unterliegt.
M 5:
Gustav Mahler an seinen Biografen Richard Specht (1904)
Meine 6. [Sinfonie] wird Rätsel aufgeben, an die sich nur eine Generation heranwagen
darf, die meine ersten fünf in sich aufgenommen und verdaut hat.
M 6:
Alma Mahler über den Eindruck, den sie hatte, als ihr Mann ihr die
vollendete Skizze des ganzen Werkes erstmals vorspielte
„Nachdem er den ersten Satz entworfen hatte, war Mahler aus dem Walde herunter
gekommen und hatte gesagt »Ich habe versucht, dich in einem Thema fest zuhalten - ob es
mir gelungen ist, weiß ich nicht. Du musst dirs schon gefallen lassen «
Es ist das große, schwungvolle Thema des 1. Satzes der VI. Symphonie. Im dritten Satz
[gemeint ist das Scherzo] schildert er das arhythmische Spielen der beiden kleinen Kinder,
die torkelnd durch den Sand laufen. Schauerlich - diese Kinderstimmen werden immer
tragischer, und zum Schluss wimmert ein verlöschendes Stimmchen. Im letzten Satz
beschreibt er sich und seinen Untergang oder, wie er später sagte, den seines Helden »Der
Held, der drei Schicksalsschläge bekommt, von denen ihn der dritte fällt, wie einen Baum.«
Dies Mahlers Worte.
Kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen wie dieses. Wir weinten damals
beide. So tief fühlten wir diese Musik und was sie vorahnend verriet. Die Sechste ist sein
allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein. Er hat sowohl mit den
Kindertotenliedern wie auch mit der Sechsten sein Leben »anticipando musiziert«. Auch er
bekam drei Schicksalsschläge, und der dritte fällte ihn. Damals aber war er heiter, seines
großen Werkes bewusst und seine Zweige grünten und blühten5
M 7:
Max Hehemann in: Neue Zeitschrift für Musik vom 6. Juni 1906
Wie Mahler diatonisch-klare, plastische Themen liebt, die in jeglicher polyphoner
Verflechtung deutlich erkennbar bleiben, so ist auch seine ganze Orchesterbehandlung auf
Klarheit und Übersichtlichkeit angelegt. Ich möchte seine Instrumentation mit einem
vielleicht etwas zu kühnen Wort als eine diatonische im Gegensatz zu der chromatischen
Mischfarbenweise von Richard Strauss bezeichnen. Es ist zweifellos, dass die letztere Art
mehr Nuancierungsmöglichkeiten bietet, als die andere; ebenso zweifellos, dass ein Gustav
Mahler dazu gehört, innerhalb der wenigen von ihm benutzten Grundfarben stets wieder
Neues zu erfinden. Vielleicht hat seine Art schon etwas Artistisches, dem Strauss, da er sein
Orchester den feinsten psychologischen Regungen dienstbar zu machen sucht, mit mehr
Glück und Sicherheit aus dem Weg zu gehen vermag. Es scheint manchmal die Freude am
Klang als solchem Mahlers Notenfeder geführt zu haben. Was er darin ersonnen, ist
allerdings der Mühe wert. Tausend Sprühteufelchen blitzen auf in dieser Partitur, das
Schlagzeug spielt eine im Symphonie-Orchester nie geahnte Rolle, wenn sie auch bis zur
Aufführung in mancher Hinsicht reduziert wurde und die Hammerschläge auf die viereckige
Riesentrommel ganz weggefallen sind. Entzückende, ganz neue Klangwirkungen hat Mahler
der Einführung der Celesta abgewonnen, und die Glockentöne hinter der Szene gehören zu
den feinsten Reizen, die wir dem modernen Orchester verdanken. In die Mittelsätze
namentlich hat Mahler eine Fülle zartester Klangschönheiten gebannt, während er in den
Ecksätzen seiner Freude an der gelben Orchesterfarbe, die er mit einem Massenkontingent
von Blechbläsern auftrug, keinen Zwang antat.
M 8:
Signale für die musikalische Welt6 (1907)
Kuhglocken und Celesta! Paradies auf Erden und elysäische Gefilde dort oben! Es wäre
recht einfach, wenn sich Mahlers Sinfonie nur zwischen diesen beiden schönen Dingen
abspielte. Aber dazwischen gähnt ein tiefer Riss, ein unbefriedigtes sich Sehnen, ein
Verzweifeln, ein sich Abmühen des vollen Orchesters namentlich im letzten Satz, wo das
starkbesetzte Blechkorps fast keinen Augenblick zur Ruhe gelangt, ein Stöhnen und Ächzen
und ein Schreien und Brüllen, und das ist es, was der Sinfonie die Tragik verleiht, die ihr der
obenhin Urteilende wohl abstreitet, die sie bei näherem Aufhorchen dennoch besitzt und
mehr besitzt als die frühern Schöpfungen Mahlers.
5
Almas Andeutung ist klar. Die tragische Botschaft der Symphonie, wie die Totenklage der Rückertlieder
antizipieren beide den Katastrophensommer 1907, als Mahlers älteres Töchterchen starb, als seine schwere
Herzkrankheit erstmals ärztlich erkannt wurde, und als er schließlich - unter dem Druck lokaler Intrigen - von
seiner machtvollen Stellung an der Wiener Oper zurücktreten musste. Alma bezieht sich ausdrücklich auf die
drei Hammerschläge des Finale, die sie als drei Schicksalsschläge bezeichnet, von denen der dritte tödlich sein
sollte. In diesem Sinne ist die VI. Symphonie zweifellos ein autobiographisch konzipiertes Werk, dessen Held
(ein Ausdruck, den Alma stets gebraucht, wenn sie der VI. gedenkt) als „ideales" Selbstbildnis des Komponisten
gelten kann.
In: Hans F. Redlich (Hg.) Vorwort zu Eulenburg Taschenpartitur der Sinf. Nr. 6 von G. Mahler. Mainz 1968. S. IV.
6
5
Aus: Renate Ulm, Gustav Mahlers Symphonien. München 2010. S. 184f.
M 9:
Alma Mahler, in: Erinnerungen (1949)7
„Ein Tempo ist richtig, wenn alles noch klingen kann.
Wenn eine Figur nicht mehr erfasst werden kann, weil die Töne ineinander gleiten, dann
ist das Tempo zu schnell.
Bei einem Presto ist die äußerste Distinctgrenze das richtige Tempo, darüber hinaus
verliert es die Wirkung.“
Mahler sagte, wenn ihm ein Adagio wirkungslos auf das Publikum erscheine, so
verlangsame er das Tempo und beschleunige es nicht, wie es gemeiniglich gemacht wird.«
M 10:
Klaus Pringsheim, Erinnerungen an Gustav Mahler 8 (1960)
Dem Dirigenten Mahler, und hier also dem Dirigenten seines eigenen Werks, war es vor
allem immer um die Erzielung maximaler Deutlichkeit zu tun; sie war ihm wichtiger als
Kolorit und Klangreiz. Während einer Probe zur Sechsten Symphonie, an einer Stelle im
Finale, klopfte er ab und rief den Trompeten zu: >Können Sie das nicht noch stärker blasen?<
Im leeren Saal hörte sich's schon an wie unbeherrschter Lärm, aber: die Trompeten noch
stärker? Er unterbrach ein zweites Mal, und wieder zu den Trompeten gewandt, jetzt mit
einer Geste der linken Hand, deren Befehlsgewalt unwiderstehlich war: >Können Sie das
nicht noch stärker blasen?!< Sie bliesen noch stärker, alles andere übertönend, und was
eben noch bloßer Lärm schien, gewann jetzt - jetzt erst den musikalischen Sinn, den er
verhüllte. Nach der Generalprobe bemerkte Strauss, wie obenhin, er finde die Symphonie
teilweise >überinstrumentiert<. Überinstrumentiert? [...] das Wort, weil es von Strauss kam
[...], ging ihm lange nach. In diesem Zusammenhang, ich habe es nie vergessen, tat Mahler
eine Äußerung, die wohl mehr besagte, als darin unmittelbar ausgesagt war. Es sei doch
merkwürdig, sagte er, Strauss sei imstande, mit ein paar Proben auszukommen, und immer
>klingt es<; er aber mühe sich in zahllosen Proben mit dem Orchester, um alles
herauszubringen, wie er es haben wolle, aber wann könne er nach der Aufführung dann
wirklich sagen, dass ihm nichts gefehlt habe?<
7
8
Alma Mahler, Erinnerungen und Briefe. Amsterdam 1949. S. 69
5
Neue Zürcher Zeitung, 7. Juli 1960. Aus: Renate Ulm, Gustav Mahlers Symphonien. München 2010. S. 184
Wichtige Themen und Motive:
Notenbeispiel 1:
1. Satz - Haupthema (Z. 1)
Notenbeispiel 2:
Hauptthema (Z. 2)
Notenbeispiel 3:
Das „Motto“
Notenbeispiel 4:
Der „Choral“
Der Choral als Klaviersatz:
Notenbeispiel 5:
2. Thema
Notenbeispiel 6:
2. Satz - Hauptthema
Notenbeispiel 7:
2. Satz - Trio (Z. 56)
Notenbeispiel 8:
3. Satz - Hauptthema
Notenbeispiel 9:
3. Satz - Seitenthema
Notenbeispiel 10:
4. Satz - 1. Themengruppe
Notenbeispiel 11:
4. Satz - 1. Themengruppe (Klaviersatz)
Literaturverzeichnis:
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Hans Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland. München 1991. Vor allem sei
hier auf den Artikel „Wo die schönen Trompeten blasen - Über die Musik
Gustav Mahlers“ verwiesen (s. 724-740)
Renate Ulm (Hg.), Gustav Mahlers Symphonien (Reihe: Bärenreiter
Werkeinführungen). München 52010. Insbesondere: Werkbetrachtung und
Essay zur 6. Symphonie von Peter Gülke (S. 174-200)
Hans Redlich in: Vorwort zur Taschenpartitur (Eulenburg). Mainz 1968.
Entstehung und sehr ausführliche Analyse mit Notenbeispielen.
Constantin Floros: Mahler: Sechste Symphonie. Booklet zur CD Gustav Mahler
Symphonie Nr. 6 - Kindertotenlieder. Wiener Philharmoniker, Ltg.: Leonard
Bernstein. Deutsche Grammophon 1989.
Karl-Josef Müller: Mahler. Leben, Werke, Dokumente. Mainz 1988. Vor allem:
„Vollendung der Sechsten“ (S. 275f) und „Uraufführung der Sechsten“ (S. 324)
Wolfgang Schreiber: Mahler. Reinbek bei Hamburg 1971 (rororo-Reihe).
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