Über das Verlangen nach Gewißheit

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Josef Pieper
Über das Verlangen nach Gewißheit (1953)
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Zur Würde des Wissens gehört Gewißheit: das ist ein alter Satz, mit dem es übrigens bei den
Alten seine besondere Bewandtnis hat – wovon noch zu sprechen sein wird. Zunächst scheint
dies völlig klar und selbstverständlich zu sein; ich »weiß« etwas erst dann wirklich, wenn ich
es mit Sicherheit und verläßlich weiß, d.h. wenn ich Gewißheit habe. Und auch dies ist leicht
deutlich zu machen: es handelt sich hier nicht um eine Sache, die etwa allein den
Wissenschaftler anginge (wenn auch diesen in besonderer Weise); nein, es steht des
Menschen Verhältnis zur Wirklichkeit im Ganzen zur Rede. Wissen, Sehen, Kennen – das ist
die Grundgestalt aller Wirklichkeitsbeziehung; alles geistige Weltverhältnis des Menschen
wurzelt im Erkennen, in dieser Ur-Gebärde der Seinsergreifung und der Weltbemächtigung.
Ich frage also, indem ich nach der Vollkommenheit des Wissens und Erkennens frage,
zugleich nach der größeren oder geringeren Vollkommenheit des Weltverhältnisses, des
Wirklichkeitskontaktes, der Seinsergreifung. Dies Verhältnis des Menschen zu seiner Welt ist
dann »in Ordnung«, es hat dann seine endgültige Richtigkeit und Vollkommenheit, wenn es
auf Gewißheit beruht, d.h. wenn ich der fundamentalen Sachverhalte, mit denen ich es zu tun
habe, unumstößlich sicher bin; wenn ich sie untrüglich und völlig zuverlässig im Griff habe,
wenn ich ihrer – heißt das – absolut gewiß bin. Zur Würde des Wissens gehört Gewißheit!
Ich sagte, mit diesem Satz habe es eine besondere Bewandtnis, was die Stellungnahme der
Alten angehe. Die Sache ist einigermaßen verwirrend und nicht leicht zu verdeutlichen. Die
Alten haben diesen Satz nicht geradezu abgelehnt, natürlich nicht; aber sie haben ihm eine
Einschränkung von äußerster Wichtigkeit hinzugefügt.
Es gibt doch auf die Frage, worin eigentlich die Vollkommenheit des Wissens und der
Erkenntnis bestehe, mehrere mögliche Antworten. Eine Antwort lautet so: Erkenntnis ist dann
vollkommen, wenn sie absolute Gewißheit erreicht. Von dieser Antwort haben wir bisher
allein gesprochen. Aber wäre nicht auch folgende Antwort denkbar: Erkenntnis ist dann
vollkommen, wenn die höchstmögliche Fülle des Seins zu |
[116] Gesicht kommt, der ranghöchste Gegenstand, das auf die vollkommenste Weise
Wirkliche? Diese beiden Antworten unterscheiden sich radikal voneinander. Die
letztgenannte Antwort bestimmt den Rang der Erkenntnis vom Objekt her, von der
gegenständlichen Welt her, vom Rang der in der Erkenntnis faßlich gewordenen Wirklichkeit
her. Während die erste Antwort sagt: es ist eben der Grad dieser Faßlichkeit und
Zugänglichkeit, der über den Rang der Erkenntnis entscheidet. Diese Auskunft blickt nicht
auf den Rang des Gegenstandes, sondern auf die Sicherheit, Verläßlichkeit und
Zuverlässigkeit des Zugriffs, auf die Exaktheit des Habens, mit einem Wort: auf die
Gewißheit.
Neuzeitliche Geistigkeit, neuzeitliches Philosophieren vor allem ist durch diese Antwort
gekennzeichnet, und durch die in ihr sich abzeichnende Grundhaltung: durch das Hinblicken
des Erkennenden auf die Tragfähigkeit und Verläßlichkeit der Erkenntnis, auf die Gewißheit
und auf den etwa zu erreichenden Grad von Gewißheit. Es ist fast ein Gemeinplatz, das zu
sagen. Das neuzeitliche Philosophieren beginnt ja mit der Descartes’schen Grundfrage: Was
ist letztlich gewiß? Was hält dem Zweifel stand? Kant steht in dieser gleichen
Abstammungsreihe, wenn er sagt, das Thema der Metaphysik sei: Was kann ich wissen, kann
ich überhaupt mit Gewißheit wissen? Eine »Schule des Verdachtes« hat Nietzsche daraufhin
die ganze neuere Philosophie genannt.
Und was sagen die Alten, die großen Lehrer der Christenheit, die Gründer und Erzväter der
griechischen Weisheitsüberlieferung? In einer Summa des Hochmittelalters findet sich dem
Satz »Zur Würde des Wissens gehört Gewißheit« ein anderer Satz gegenübergestellt, man
kann auch sagen: entgegengestellt – ein ungemein bedenkenswerter Satz, dessen Bedeutung
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weit über den unmittelbaren Fragezusammenhang hinausgreift. Dieser andere Satz lautet so:
»Das Geringste an Erkenntnis, das einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist
ersehnenswerter als das gewisseste Wissen von den niederen Dingen.« Die Diktion ist, wie
man sieht, von äußerster Schlichtheit; es fehlt so sehr das auf den ersten Blick »Interessante«
und Erregende, daß man, indem man diesen Satz hört oder liest, geneigt ist, gar nichts
»Besonderes« dahinter zu vermuten; allzu leicht fährt man auf der ungetrübten Spiegelfläche |
[117] dieser bis zum Grund durchsichtigen Aussage einher, ohne zu bemerken, über welch
einem Abgrund ihre gleichmütige Klarheit ausgespannt ist. – Ich sagte, der Satz finde sich in
einer mittelalterlichen Summa; in der Antike finden sich ganz ähnliche, fast gleichlautende
Formulierungen; ich zitiere etwa Aristoteles: »Von den erhabenen und göttlichen Dingen
haben wir nur geringe Erkenntnis [...] Aber: mögen wir auch an diese höheren Bezirke kaum
heranreichen, so ist uns dennoch diese Art des Erkennens, um ihrer größeren Würde willen,
begehrenswerter als alle Dinge unserer eigenen Welt – wie es auch seliger ist, von einem
geliebten Wesen irgendein noch so kleines Zipfelchen zu erspähen, als vieles Andere und
selbst Bedeutende mit Genauigkeit zu betrachten.«
Was ist hier gesagt? Zunächst ist sofort klar, wie von Grund auf verschieden die Haltung ist,
aus der heraus so gesprochen wird: es wird nicht primär nach der Gewißheit gefragt, sondern
nach der Wirklichkeit; es wird nicht auf das Welt-Verhältnis geblickt, sondern auf die Welt.
Es ist darin nichts von Verdacht, nichts von Mißtrauen; im Gegenteil, es spricht sich hier ein
höchst entschiedenes Seinsvertrauen aus, ein allerdings keineswegs »naives« Vertrauen (wie
man vielleicht einen Augenblick lang meinen mag). Um hier klarer zu sehen, muß zuvor noch
ein anderes Element jener Einsicht der Alten bedacht werden, ein nicht ohne weiteres
zutageliegendes Element. Es ist das folgende: die Erkenntniskraft des Menschen wird
ausdrücklich als endlich, als nicht-absolut, als begrenzt verstanden. Geschieht dies aber nicht
auch, ja erst recht in jener Haltung des Mißtrauens und des Verdachtes, wie sie den Ansatz
der neuzeitlichen Philosophie mit ihrem methodischen Zweifel kennzeichnet? Es könnte so
scheinen; aber ich glaube, dieser Anschein ist trügerisch. Hinter dem Mißtrauen des
Zweifelnden steckt, glaube ich, etwas anderes als die Anerkennung der kreatürlichen Unkraft
des menschlichen Verstandes. Steckt nicht vielmehr dahinter die Absicht und die Erwartung
und der Anspruch, durch kritische Vorsicht, durch eine methodische Exaktheitsdisziplin
gerade eine absolute Gewißheit zu erreichen? Wohingegen die Grundhaltung, die sich in
jenem alten Satz ausspricht, etwas genau Entgegengesetztes besagt; sie besagt: absolute
Gewißheiten gibt es nur für einen absoluten Geist. »Kein Mensch auf Erden« – so hat John
Henry Newman |
[118] den gleichen Sachverhalt formuliert – »kein Mensch auf Erden kann eine streng
hinreichende Evidenz schaffen für eine absolute Schlußfolgerung.« Gerade die höchste
Realität ist der natürlichen Kraft des menschlichen Erkennens am schwersten und am
ungewissesten faßbar; gerade die in sich selber lichtesten und gewissesten Wirklichkeiten sind
für uns die dunkelsten und ungewissesten: die Erkenntnis ist um so unvollkommener, je
vollkommener ihr Gegenstand; sie ist um so weniger gewiß, je mehr sie uns eigentlich betrifft
und angeht. – Das Exaktheitsideal des methodischen Zweifels, anderseits, beruht – noch
einmal – auf dem Anspruch: es müsse sich der Mensch der objektiven Gültigkeit des Seins
versichern können durch eine absolute Gewißheit, durch eine freilich schwer und mit Mühe,
aber eine dennoch erreichbare absolute Gewißheit, und durch sie allein – während die Alten
sagen: die subjektive Gewißheit des menschlichen Geistes könne niemals, prinzipiell nicht,
zum Maßstab gemacht werden für die objektive Gewißheit des Wirklichen. Wer
ausschließlich auf Kritik und Exaktheit besteht, sagt damit: es müsse, durch Vermeidung und
Verwerfung aller nicht-exakten Methoden, dem Menschen möglich sein, zu absoluten
Gewißheiten zu gelangen – während die Meinung der Alten besagt: Vervollkommnet die
Exaktheit der Methoden so viel ihr wollt und könnt, ihr werdet niemals absolute Gewißheit
zustandebringen.
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Es ist also nicht so, als existiere das Problem der Gewißheit für die Alten gar nicht. Sie sagen
kein Wort der Bestreitung gegen den Satz, daß Gewißheit zur Würde der Wissenschaft
gehöre. Aber sie sehen das Gewißheitsproblem – konkret. Das heißt, sie fragen: wer ist
wessen gewiß? Wenn dieser »Wer« der Mensch ist, also ein nicht-absolutes, ein kreatürliches
Wesen – dann gibt es keine absolute Gewißheit, weil es zur Natur des geschaffenen Geistes
gehört, daß er nicht im strengen Sinn begreifen kann, nichts und niemals (begreifen heißt:
etwas so sehr erkennen – das ist die Formulierung des heiligen Thomas in seinem Kommentar
zum Johannes-Evangelium – etwas so sehr erkennen, wie es in sich selber erkennbar ist; das
will sagen, begreifen heiße: alle Erkennbarkeit ausschöpfen und in Erkanntheit umwandeln,
etwas ganz und gar und »zu Ende« erkennen). Weil dies nur einem absolut schöpferischen
Geist möglich ist (begreifen kann nur, wer erschaffen kann), darum |
[119] kann es für den endlichen, für den menschlichen Geist keine letzte und völlige, keine
absolute Evidenz geben.
Man könnte also sagen: das Mißtrauen der Alten in die menschliche Erkenntniskraft reiche
viel tiefer, sei weit radikaler als der Verdacht des methodisch Zweifelnden, dem es gar nicht
exakt genug zugehen kann – man könnte so sprechen, wenn nicht dies radikalere Mißtrauen
auf einem noch tieferen Vertrauen ruhte. In diesem Mißtrauen ist eine unerschütterliche
Bejahung; man kann geradezu sprechen von einer Heiterkeit des Nicht-begreifen-Könnens,
von einer Heiterkeit, die dem Humor benachbart ist, und die darin gründet, daß der Mensch
sich »darin versteht« (wie der schöne Ausdruck Kierkegaards lautet) – daß er sich darin
versteht, ein nicht-absolutes Wesen zu sein, ein Geschöpf, eine creatura. Wer sich
solchermaßen darin versteht, gerade als ein Erkennender Kreatur zu sein (nicht-absolut,
endlich, abhängig, nicht autark, ein Empfangender, ein von Natur Empfangender) – der kann
unmöglich das Problem der Gewißheit so sehr ernst nehmen, so existentiell wichtig, daß er
stets von allem Anfang an die Frage stellt: kann ich dessen gewiß sein? Solche Haltung muß
ein eigentlich menschliches Leben geradezu unmöglich machen – weil sie dem kreatürlichen
Wesen des Menschen im Grunde widerspricht. In dem Anspruch auf absolute Gewißheit liegt
nicht allein etwas von Grund auf Humorloses, sondern etwas formell Un-Menschliches; denn
er bedeutet die Weigerung, ein Empfangender sein zu wollen; er schließt den Irrtum in sich
(oder soll man sagen: die Häresie, die Selbsttäuschung, den vom Willen her bestimmten
Irrtum?), der menschliche Geist könne von sich aus bis in die letzte Tiefe der wirklichen
Dinge vordringen – in welcher Tiefe dann die Dinge so sehr aus sich selbst begreiflich werden
könnten, daß sie aufhören, etwas einfachhin Anzunehmendes zu sein. Auf solche Weise aber
kann der Mensch nicht menschlich leben – weil er auf solche Weise nicht »zum Objekt
kommt« (wie einer der letzten Goethe-Briefe es formuliert: die kritische Philosophie »kommt
nie zum Objekt; dieses müssen wir so gut wie der gemeine Menschenverstand zugeben, um
am unwandelbaren Verhältnis zu ihm die Freude des Lebens zu genießen«).
Wer wüßte nicht, daß die Objekt-Armut, die Dürftigkeit des Aussage-Gehalts eine
charakteristische Begleiterin äußerster |
[120] Exaktheit ist? Wenn »Gewißheit« das ausschließliche Kriterium echter Erkenntnis ist,
dann ist das eine kaum zu vermeidende Konsequenz, eine Konsequenz übrigens, die vielleicht
bereitwillig akzeptiert oder doch in Kauf genommen wird, wofern nur ein Höchstmaß an
Präzision der Aussage-Form, an Gewißheit also, erreicht ist – wohingegen, vom anderen Ufer
her, die Frage gestellt werden muß: ob sich um einer so minimalen Inhaltlichkeit willen ein
solcher Aufwand an Exaktheit verlohne.
Auch dies ist ja ein legitimer Gesichtspunkt: das Verlohnen; es gibt nicht nur Wißbarkeit, es
gibt auch Wissenswürdigkeit; es gibt Dinge, die sehr exakt gewußt werden können, die aber
kaum wert sind, gewußt zu werden. Die »Wissenschaft vom Nicht-Wissenswerten« ist keine
völlig irreale Vorstellung – und man braucht nicht gleich an die Strindbergsche
»Knopfologie« zu denken. Die Alten sprechen von »erhabenen« und von »niederen« Dingen
(wozu sogleich, schleunigst, hinzugesagt werden muß: daß in dieser Wendung »niedere
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Dinge« keine Abweisung und nichts Abschätziges liegt; gerade das ist kennzeichnend für ein
»hierarchisches« Denken, welches echte Rangordnungen kennt: daß auch die niederen Ränge
bejaht und anerkannt bleiben). Wer nur auf Gewißheit bedacht ist, der begibt sich der
Möglichkeit, zwischen mehr und weniger wissenswerten Dingen zu unterscheiden:
wissenswert ist alles, was exakt wißbar ist. Von hier aus kann es keine Kritik an der
»Wissenschaft vom Nicht-Wissenswerten« geben, und keinen Widerstand dagegen. Diese
Kritik kann nur erwartet werden, solange der Seinsrang der Sachen selbst etwas bedeutet für
die Wertung der menschlichen Erkenntnis.
Ebendies ist der eigentliche Aussagesinn der alten Sentenz: »Das Geringste an Erkenntnis, das
einer über die erhabensten Dinge zu gewinnen vermag, ist ersehnenswerter als das gewisseste
Wissen von den niederen Dingen.« – Das heißt nicht allein, die Erkenntnis erhabener Dinge
sei höheren Wertes als die Erkenntnis geringer Dinge (niemand würde das bestreiten wollen;
eine solche Aussage hätte sozusagen keinen Kontur, sie würde sich nicht unterscheiden); es
ist auch nicht gesagt: die Erkenntnis geringer Dinge sei selbst dann noch niedrigeren Wertes
als die Erkenntnis großer Dinge, wenn die geringeren Dinge vollständiger, deutlicher, klarer,
gewisser und exakter erkannt würden. Nein, es ist etwas noch Extremeres, etwas |
[121] wahrhaft Herausforderndes gesagt, nämlich: das Mindestmaß an Gewißheit sei
begehrenswerter, »ersehnenswerter«, als das Höchstmaß an Gewißheit – wenn das Höchstmaß
die niederen Dinge betreffe und das Mindestmaß die erhabensten.
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