Zur Beurteilung posttraumatischer Erkrankungen bei

Werbung
Thomas Soeder, Stuttgart1
Zeitschrift für Ausländerrecht 9/2009
Zur Beurteilung posttraumatischer Erkrankungen bei Migranten
In unsere psychotraumatologische Ambulanz kommt eine große Zahl von Patienten mit
Migrationshintergrund zur Untersuchung, bei denen die Fragestellung besteht, ob sie an
einer posttraumatischen Erkrankung leide. Die Klärung dieser Frage hat einerseits eine
hohe Bedeutung hinsichtlich der Therapieplanung, leider aber oft auch juristische
Implikationen. Aus den Ergebnissen unserer Untersuchungen in Verbindung mit häufig von
juristischer Seite gestellten Fragen ergeben sich bestimmte regelhaft auftauchende
Problemstellungen, die im Folgenden näher erläutert werden sollen.
1. Einführung
Die Frage nach dem Nachweis posttraumatischer Erkrankungen erfordert zunächst eine
Klärung, was hier nachgewiesen bzw. diagnostiziert werden kann. An erster Stelle wird
heute meist nach einer sogenannten »Posttraumatischen Belastungsstörung« gefragt, die
derzeit im Mittelpunkt des Interesses steht. In den Hintergrund treten dabei andere TraumaFolgestörungen, wie sie insbesondere nach langjährigen und sequentiellen Traumatisierungen (d. h, über längere Zeiträume wiederholten traumatischen Lebenserfahrungen)
regelmüßig zu beobachten sind.
2. Zur Begriffsgeschichte
Posttraumatische Erkrankungen sind erstmals Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben
worden. Einer breiteren Öffentlichkeit bewusst wurden sie dann nach dem Ersten Weltkrieg
(z.B. »shellshock«-Syndrom in England, »Kriegszitterrer« in Deutschland), wobei damals
schon anschauliche Beschreibungen des Krankheitsbildes gegeben wurden (Ferenczi,
Simmel u.a.). Ein weiterer großer Schritt in der Gewinnung von Erkenntnissen über
psychotraumatische Erkrankungen resultierte aus der Beschäftigung mit Überlebenden des
Holocausts (z.B. Eisele), wobei jetzt die Bedeutung von sequentiellen Traumarisierungen,
Traumatisierungen mit mehrfachen, oft unterschiedlich determinierten Schädigungen (z.B.
Keilson), und die Möglichkeit eines stark verzögerten Krankheitsbeginns erkannt wurde
(z.B. Lorenzer). Die Begrifflichkeit begann mit der »Kriegeneurose«, dann trat der Begriff
»traumatische Neurose« in den Vordergrund (z.B. Fenchel). Im Gefolge des Vietnamkrieges
kam es dann zu einer Beschäftigung auch der kognitiven Psychologie, vor allem in den
USA, mit posttraumatischen Erkrankungen. 1980 wurde die »posttraumatic stress disorder«,
PTSD, in das damalige DSM (Diagnostic and statistical manual of mental disorders)
aufgenommen.
Dieser. Begriff wurde zu einer An Modediagnose, da er leicht handhabbar erschien. Wie es
dem DSM in der damaligen Version entsprach, handelte es sich um eine reine SymptomDiagnose, die sich vor allem am akuten Krankheitsgeschehen nach einzeitiger
Traumatisierung (Unfall, Katastrophe, Unfall etc.) orientierte. Aufgrund seiner scheinbaren
Genauigkeit hat der Begriff »PTBS« die früheren Krankheitsbezeichnungen weitgehend
verdrängt, obwohl er nur einen geringen Teil der Trauma-Folgestörungen zutreffend
beschreibt. Im Grunde eignet sich dieser Krankheitsbegriff nicht zur Beschreibung von
Folgezuständen nach sequentiellen Traumarisierungen, so wie wir sie etwa bei
1
Der Autor ist Leiter einer Trauma- Ambulanz an der Stuttgarter Akademie für Tiefenpsychologie und von
d e r L andesärztekammer Baden-Württemberg mit der Supervision der Begutachtung psychischer
Traumafolgestörungen beauftragt.
312
misshandelten oder missbrauchten Kindern und Jugendlichen und auch der großen Überzahl
der erkrankten Flüchtlinge zu sehen bekommen. Es wurde versucht, für diese
Erkrankungsgruppe den Begriff »DESNOS« (Disorder of Extreme Stress Not Otherwise
Classified) einzuführen, dies hat sich jedoch bisher nicht durchgesetzt. Einen anderen Ansatz
bietet die Kategorie der »Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung«, die ebenfalls
eine erheblich größere Variabilität gegenüber der Definition der PTBS aufweist und
Parallelen bietet zur Diagnose der Persönlichkeitsstörungen. Es ergibt sich jedenfalls
zwingend, dass die Frage nach einer posttraumatischen Erkrankung nicht mit der
Entscheidung »PTBS ja oder nein« zu beantworten sein kann. Das typische Bild einer PTBS
findet sich vor allem nach einzeitigen schwerwiegenden traumatischen Erfahrungen, mit
einer der Schwere des Traumas korrelierenden Häufigkeit und Ausprägung. In einer
Untersuchung der Universitär Konstanz (Neuner 2005) wurde eine Prävalenz der PTBS bei
Asylsuchenden von 40% festgestellt.
3. Zur Diagnostik posttraumatischer Erkrankungen
Zur Erkennung einer posttraumatischen Erkrankung, insbesondere bei chronifizierten
Erkrankungen (z.B. jahrelange familiäre Misshandlung) bedarf es vor allem entsprechender
Erfahrungen, ansonsten bleibt es bei Verlegenheitsdiagnosen wie »Depression«. Es ist bei
vielen damit befassten Ärzten, auch Psychiatern und Psychologen noch nicht ausreichend
bekannt, dass das Vermeidungsverhalten bezüglich aller trauma-assoziierten Erinnerungen
einen Grundzug der »normalen« Trauma-Verarbeitung darstellt. Hiermit sind wir bei einem
ersten grundlegenden Problem: Ärzte (und Juristen) erwarten üblicherweise, dass man ihnen
offen über die bestehenden Schwierigkeiten berichtet (andernfalls ist es ein Hinweis auf
»Schuld«) Es gehört daher zu der ersten Aufgabe des Diagnostikers, wahrzunehmen, wenn
eine Scham- (und nicht Schuld-!) Problematik die Untersuchungssituation beherrscht. Dies
ist in der Regel der erste klare Hinweis auf die Vorgeschichte Es wird über etwas nicht
geredet, Fragen werden nicht sinngemäß beantwortet, gegen jedes »vernünftige« eigene.
Interesse wird der schmerzhaften und schambesetzten Thematik ausgewichen.
Das zweite grundlegende Problem ist, dass Menschen allgemein erwarten, und das gilt
natürlich auch für Ärzte und Richter, dass man sich korrekt erinnern kann, wenn man nur
will. Es sei dahingestellt, inwieweit das für die sogenannte Normalbevölkerung stimmen mag,
für schwer und sequentiell traumatisierte Menschen stimmt es mit Sicherheit nicht
(«dissoziative Amnesie«, »mnestisches Blockade-Syndrom« (z. B. Markowitsch etc). Unseren Untersuchungen zu Folge leiden 2/3 aller schwer Traumatisierten an erheblichen
Erinnerungsstörungen, die nicht nur das unmittelbar traumatische Geschehen, sondern
zumeist auch viele andere bedeutungsvolle Lebensereignisse betreffen. Es gehört zu den
selbstverständlichen psychotherapeutischen Erfahrungen, dass solche Ereignisse dann in
einer vertrauensvollen, tragfähigen therapeutischen Beziehung teilweise wiedererinnert
werden können. Insofern gehört das Phänomen der »Steigerung« des Erinnerungsvermögens
zu den Hinweisen auf ein konflikthaftes, nur in einem geschützten Rahmen erinnerbares
Lebensereignis.
Auf der Symptomebene treten im Lauf der Jahre bei chronifizierten Traumafolgestörungen
zwei Akutsymptome der PTBS zumeist in den Hintergrund, nämlich die sogenannten
»intrusiven Erinnerungen« und die generalisierte Übererregbarkeit. Als Rest bleiben zumeist
Schlafstörungen und Alpträume. In den Vordergrund treten die Anzeichen einer strukturellen
Störung, unter anderem die Störung der Affekt-Integration, der Selbst- u nd Fremdwahrnehmung, der Erinnerungsfähigkei t i m K u r z - und Langzeitbereich, d e r
Konzentrationsfälligkeit und auch die Störung früher vorhandener kognitiver Kompetenzen
(z.B. Rechenfähigkeit), sodass nicht selten das Bild einer Demenz entsteht. Hinzu kommt, je
nach individueller Krankheitsbewältigung, ei n e überwiegend depressive oder mehr
angstbetonte Symptomatik, s o w i e h ä u f i g paranoide Verfolgungsvorstellungen und
313
akkustische (Pseudo-) Halluzinationen. All dies kann von einem erfahrenen Untersucher
leicht erkannt und beschrieben werden, wobei allerdings eine mehrzeitige Untersuchung
notwendig bzw. wünschenswert ist.
Ein zweiter Weg führt über standardisierte Untersuchungsinstrumente, z.B. CAPS (Clinical
Administered PTSD Scale), PDS D1 (diagnostische Scala für die posttraumatische
Belastungsstörung), IES-R (Impact of Event Scale) u.a.. Hinzu kommen noch andere
Instrumente, etwa um Hinweise auf Simulation zu erfassen. (s. Morgan 2007). Der Nachteil
dieser Instrumente ist, dass sie zumeist nicht in validierten Übersetzungen vorliegen, für
Analphabeten ohnehin ungeeignet sind, und nur sehr schematisierte Störungsmuster erfassen,
so z.B. bei der PTBS die Bereiche Intrusion, Vermeidung, Übererregbarkeit und emotionale
Abstumpfung. Ein sorgfältig und ausreichend lange geführtes klinisches Interview, verbunden
mit einer psychopathologischen Befunderhebung, wird in aller Regel aussagekräftiger und
zuverlässiger sein als eine auf Symptom-Abfrage und Selbsteinschätzung gestützte
Untersuchung. Dabei sollte die Exploration die gesamte Biographie des Betroffenen mit
einschließen, und nicht nur etwaige als auslösend vermutete traumatisierende Situationen. Nur
bei einer umfassenden Würdigung eines Menschen kann das Verhältnis zwischen
Persönlichkeit, traumatischem Ereignis und den die traumatische Erfahrung verarbeitenden
Mechanismen zu erfassen sein.
Die differenzialdiagnostischen Überlegungen sind bei ausgeprägten Krankheitsbildern
verhä1tnismäßig übersehbar. Zu erwägen sind in der Regel, vor allem bei ausgeprägter
depressiver Symptomatik, primär affektive Erkrankungen sowie (insbesondere bei
Verfolgungsvorstellungen, Wahrnehmungsstörungen und auffälligen Denkstörungen)
psychotische Störungen. Bei überwiegender Angstsymptomatik sind Panikstörungen und generalisierte Angststörungen zu erwägen sowie, vor allem bei ausgeprägter dementieller
Symptomatik, hirnorganische Störungen. Eine Untersuchung mit der funktionellen
Magnetresonanztomographie wäre aus wissenschaftlichen Gründen oft wünschenswert, da
hier charakteristische Aktivitätsverteilungen n a c h g e w i e s e n w e r d e n k ö n n t e n . A l s
Routinevcrfahren scheidet dies aber zum einen aus Kostengründen aus, zum anderen ist
diese Untersuchung für traumatisierte Patienten ausgesprochen belastend (schon für gesunde
Menschen ist sie oft ziemlich beängstigend). Die häufigste Differentialdiagnose bei
chronifizierten Traumafolgestörungen sind Persönlichkeitsstörungen, die ihrerseits ja in der
Mehrzahl der Fälle in traumatischen Einflüssen auf die frühe Entwicklung wurzeln. Wie
leicht vorstellbar, gibt es hier unter Umständen fließende Übergänge.
Im Unterschied zur für den Erfahrenen relativ unproblematischen klinischen Diagnostik birgt
der von manchen Autoren geforderte »objektive« Traumanachweis schier unüberwindbare
Schwierigkeiten. So hat ein Artikel von Ehlert und Kindl (2004) dazu geführt, dass sich bei
vielen Menschen, auch bei Psychiatern, die Vorstellung gebildet hat, posttraumatische
psychische Erkrankungen dürften nur dann diagnostiziert werden, wenn das traumatische
Ereignis nachweisbar sei. Dies ist zum einen deshalb irrig, weil eine ausgeprägte psychische
posttraumatische Erkrankung sich in der Regel deutlich von anderen schweren psychischen
Erkrankungen unterscheidet (eine absolute Sicherheit gibt es selbstverständlich bei keiner
Diagnose). Zum anderen ist es meines Erachtens aus ethischen Granden nicht vertretbar, Gewaltopfern die Anerkennung ihrer Lebensgeschichte zu v erweigern, wenn si e keine
objektivcn Beweise bringen können. Dies bedeutet regelmäßig eine schwere, zumeist kaum
wider gutzumachende Krankung Selbstverständlich betrifft das nicht nur Flüchtlinge.
Insbesondere betrifft es die Opfer aus der Nachbarschaft, die Opfer von Kindesmisshandlung
oder sexuellem Messbrauch, von Erpressung in der Schule oder von Arbeits-Sklaverei in
einer versteckten Firma. All diese Menschen wird, wenn sie es denn schaffen, jemanden zu
finden, der ihnen zuhört, zunächst Unglaubhaftigkeit unterstellt: so, wie es ein
314
Vermeidungsverhalten des Individuums bezüglich traumatischer Erinnerungen gibt, gibt es
auch ein Vermeidungsverhalten der sozialen Gruppen, sich mit dem, was eigentlich nicht sein
darf, auseinanderzusetzen.
Selbstverständlich gibt es gelegentlich auch das Problem der „false memory“, bei der, sei es
durch Fremdsuggestion, sei es aufgrund eigener Phantasietätigkeit Ereignisse erinnert
werden, die so nicht statt gefunden haben. Naturgemäß gibt es über die Häufigkeit solcher
Erscheinungen keine zuverlässigen Zahlen. Wenn man jedoch die von Volbert (2004) nach
Derivera (1997) zitierte Zahl von 5% falscher Anschuldigungen bezüglich kindlichen
Missbrauchs als Orientierungsgröße nimmt, käme man schon rein statistisch auf ein
Verhältnis von 20 richtigen auf eine falsche Trauma-Erinnerung, was ja bereits eine recht
hohe Wahrscheinlichkeit darstellt. ( S i c h e r l i c h m u s s b e züglich möglicher Täter
selbstverständlich die Unschuldsvermutung einen hohen Stellenwert haben, auch wenn es
sich um den so häufigen familiären Missbrauch handelt. Bei traumatisierten Flüchtlingen
kommt es jedoch fast nie vor, dass die Schutzinteressen putativer Täter mit dem
Wirklichkeitsanspruch der Opfer kollidieren.) Hinzu kommt, dass eine angemessene
Behandlung natürlich nur bei einer zutreffenden Diagnose möglich ist; insofern müssen sich
alle Anstrengungen darauf richten, eine korrekte Diagnose auch dann zu stellen, wenn keine
objektiven Nachweise einer traumatischen Situation zu erhalten sind. Hierfür gibt es auch
zumindest auf einzelnen Gebieten recht klare Kriterien (z. B. Soeder 2009).
4. Zur Frage der Retraumatisierung
Obwohl der Begriff »Retraumatisierung« inzwischen in vielfältigen Zusammenhängen
auftaucht, fehlt nach wie vor eine klare definitorische Abgrenzung. Von manchen Autoren
wird er im reinen Wortsinn verwendet (re = wieder), was impliziert, dass es sich um das
Einwirken eines Reizes handelt, der dem ursprünglich traumatisierenden Reiz in hohem
Maße entspricht (ein geprügeltes Kind wird erneut geprügelt; ein einmal Verhörter wird
erneut verhört, einer missbrauchten Frau wird dies erneut angedroht etc). Dabei geht es
nicht darum, dass exakt das Gleiche wieder passiert, aber darum, dass der Kontext die
gleiche Gefahr impliziert (wenn in einem Verhör gefoltert wurde, muss an nächsten Verhör
nicht konkret gefoltert werden, um eine Retraumatisierung zu erreichen).
Eine weitere Auslegung des Retraumatisierungsbegriffes schließt alles ein, was als
»Trigger« für die traumatische Erinnerung dient (so kann z.B. ein bestimmter Geruch, der
Anblick einer Uniform, ein Knall zum quälenden Wiedererleben einer bestimmten
traumatischen Erinnerung führen). Eine weitere Begriffsausweitung bestellt dann, jede, wie
auch immer geartete, spätere Traumatisierung als Retraumatisierung zu bezeichnen. Damit
wird dann z.B. ein ungeeignetes therapeutisches Vorgehen bei einem traumatisierten
M e n s c h e n z u e i n e r R e t r a u ma t i s i e r u n g , e b e n s o k ö n n t e m a n d a n n b ei einer
Zwangseinweisung in eine geschlossene psychiatrische Station von einer
Retraumatisierung sprechen.
Ich denke, dass die Tendenz in der fachlichen Diskussion dahin geht, den Begriff
»Retraumatisierung« eher eng auszulegen (vgl. Wenk-Ansohn 2008). Dies darf aber nicht
dazu fuhren, den kumulativen Effekt an sich unzusammenhängender traumatischer
Ereignisse zu übersehen (ein Beispiel für eine solche sequentielle Traumatisierung, wäre
eine Frau, die in ihrem Heimatland gegen ihren Willen als 15-jährige verheiratet wurde (der
Begriff der Zwangsheirat entspräche in unserem Verständnis im Grunde j a e i n e r
Vergewaltigung), die dann von der Schwiegerfamilie missachtet u n d zu unerwünschten
Arbeiten gezwungen wurde, anschließend aufgrund der politischen Aktivitäten ihres Ehemannes von der Polizei geschlagen und sexuell. bedroht wurde, und schließlich, nach ihrer
Flucht, in einem von ihr als sicher betrachteten anderen Staat damit konfrontiert wurde, dass
ihre Leidensgeschichte als Lüge aufgenommen wurde).
315
5. Erinnerungsstörungen und Glaubhaftigkeit
Oft wurde beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und auch in vielen
Gerichtsurteilen davon ausgegangen, es spreche für die Glaubhaftigkeit einer Aussage, wenn
sie vollständig, detailreich, chronologisch geordnet, und widerspruchsfrei wäre, und sich
im weiteren Verlauf keine sogenannten »Steigerungen« ergäben.
Diese Vorstellung widerspricht den Ergebnissen der modernen Gedächtnisforschung. Ihre
Vorannahmen beruhen vermutlich a u f der Vorstellung eines »photographischen
Gedächtnisses«, die aber bereits seit langem widerlegt ist. Erinnern und Rekonstruieren ist
e i n Prozess, h e i d e m eben nicht gespeicherte, abgelegte »Gedächtnisakten« wieder
hervorgezogen werden, sondern bei dem, zumeist in Zusammenhang mit verknüpften
Affekten und Handlungserinnerungen, die Umstände jeweils neu zusammengesetzt werden.
Wenn man mit einem gut motivierten, »offenen und ehrlichen« Menschen in zeitlichem
Abstand mehrmals über die gleichen Ereignisse spricht, wird man unterschiedliche
Varianten zu hören bekommen. Innerhalb dieser Varianten stellt sich dann aber ein
Kerngeschehen heraus, von dem man, nach Ablauf angemessener Zeit, sicher sein kann,
dass es der subjektiven Erfahrung des Betroffenen entspricht. Damit muss es aber noch nicht
einer objektiven, dokumentierbaren Ereignisfolge entsprechen, da das menschliche
Erinnerungsvermögen immer nur bestimmte Teile der jeweiligen Realität aufnimmt. Wenn
man vier Leute über den gleichen Streit oder Unfall befragt, erhält man, je nach Perspektive,
vier verschiedene Schilderungen. Dabei ist weiter zu beachten, dass die optimale Erinnerungsfähigkeit in einem Zustand mittlerer affektiver Erregung möglich ist. Das
Erinnerungsvermögen nimmt ab bei völligem Desinteresse, aber auch hei Übererregung, wie
sie bei traumatischen Ereignissen in der Regel der Fall ist. Das, was jemand drei Jahre nach
einem schwer traumatischen Ereignis zu erzählen in der Lage ist, ist immer eine
Rekonstruktion, nie eine quasi dokumentarische Darstellung. Dies hat überhaupt nichts
damit zu tun, dass der Betreffende eine falsche Darstellung geben möchte; er kann einfach
nur, anhand der für ihn auffindbaren Erinnerungsspuren, ein Gesamtereignis rekonstruieren,
Dieser Prozess ist grundsätzlich unbewusst. Mit geeigneten explorativen Techniken kann
jedoch ein Teil dieses Rekonstruktionsprozesses bewusst gemacht werden, was dann zur
Folge hat, das der Betroffene sich genauer darüber klar wird, was er nun wirklich weiß, und
was er nicht mehr weiß, Dieser Prozess ist aber ebenfalls nur im Rahmen eines mittleren
Erregungsniveaus möglich; in einem Zustand der Angst. der Wut oder Scham kann er nicht
ablaufen; d.h., in Zuständen heftiger affektiver Erregung ist es dem jeweiligen Menschen
nicht möglich, genau zu unterscheiden zwischen dem, was er tatsächlich erinnert und was
nicht.
Für das traumatische Ereignis selbst gelten die Regeln der Fragmentierung von Erinnerung,
d.h., es sind Bruchstücke vorhanden, teilweise äußerst konkret, die dann in intrusiven
Erinnerungen wie ein Film ablaufen können, Dabei handelt es sieh aber dennoch um
Bruchstücke, die oft nicht in richtiger Reihenfolge zusammengesetzt werden können. Hier
wäre erst die bereits erwähnte rekonstruktive Erinnerungsarbeit notwendig. Diese
Erinnerungsarbeit kann aber erst geleistet wurden, wenn die hohe affektive Besetzung der
traumatischen Erinnerungsbruchstücke sozusagen »abgekühlt« ist. (Die
Gedächtnisforschung unterscheidet hier zwischen »heißen« und »kalten« Gedächtnisinhalten.)
6. Häufige Schwierigkeiten und Fragen
Die häufigste Komplikation besteht in der Vorstellung, man dürfe eine posttraumatische
Störung nur bei nachgewiesenem Trauma diagnostizieren. Dies ist unter therapeutischen
316
Gesichtspunkten m, E. nicht vertretbar. Ich stütze diese Auffassung unter anderem auf
Krankheitsverläufe von sexuell missbrauchten Kindern, bei denen oft jahrelang an ihrem
eigentlichen Problem vorbei therapiert wurde, weil ihnen niemand glauben konnte. Ich
bestreite nicht, dass es auch unzutreffende Vorwürfe, z. B. aus anders motivierter Rache,
gibt. Wie bereits oben erwähnt, ist das jedoch wohl eher selten, und zum anderen hält es
n a c h m e i n e r Erfahrung einer längeren, quasi therapeutischen Exploration bzw.
Probebehandlung nicht stand.
Ein weiterer Zweifel äußert sich oft in der Argumentation, die Symptome von
Traumafolgestörungen (genannt wird meistens wieder die PTBS) kämen auch bei anderen
psychischen Erkrankungen vor. Dies ist zweifelsfrei richtig, basiert aber auf der
reduktionistischen Grundannahme, komplexe psychische Erkrankungen ließen sich anhand
einer Symptomenliste diagnostizieren o d e r a u s s c h l i e ß e n . F a s t a l l e p s y c h i s c h e n
Symptombildungen kommen bei verschiedenen Erkrankungen vor.
E i n d r i t t e r E i n w a n d l a u t e t , e s g e b e k e i n e f ü r P T B S c h a r a k t e r i s t i schen
Erinnerungsstörungen. Auch das ist richtig, zumal die individuelle Reaktion auf
traumatische Ereignisse stark variiert Typisch ist allerdings der über die Jahre progrediente
Erinnerungsverlust bei chronischen posttraumatischen Erkrankungen, wobei hier natürlich
euch wieder der jeweilige soziale und individuelle Ausgangspunkt eine Rolle spielt.
7. Zusammenfassung
Die Untersuchung von in Folge psychischer Traumatisierung erkrankter Menschen ist
ebenso vielschichtig und komplex wie die Beurteilung anderer schwerer psychischer
Erkrankungen. Sie lässt sich nicht ausreichend in manualisierten Items erfassen, auch wenn
diese bis zum gewissen Grade hilfreich sein können. Aus den neueren
Forschungsergebnissen folgert, dass Traumatisierungen zum einen häufiger sind, als dies
bisher wahrgenommen wurde- Zum zweiten haben sie gravierendere Auswirkungen auf die
weitere Lebensführung der Betroffenen, als dies bislang anerkannt war. Zum dritten zeigt
sich, dass ihre Interpretation unter Alltagsbedingungen ausgesprochen schwierig ist.
Festzuhalten ist:
1. Aufgrund deutlicher Kriterien in einer zeitlich ausreichend langen Beobachtung ist die
Diagnose einer posttraumatischen Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit auch b ei,
fehlendem objektiven Trauma-Nachweis möglich.
2. Die traditionell angenommenen Voraussetzungen für die Erinnerungsfähigkeit und damit
für die Glaubhaftigkeit einer Darstellung stehen im Widerspruch zu den neueren Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung.
Literatur:
Dreißing, H. u n d Foerster, K . (2009): Psychiatrische Begutachtung hei asyl- u n d
ausländerrechtlichen Verfahren- In: Diese., Hrsg. Psychiatrische Begutachtung, Urban und
Fischer 2009.
Eissler, K.R. (1963): Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch
symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben? Psyche 17, S. 241291.
Keilson, H. (1979): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern, Psychosozial-Verlag 2005.
317
Lorenzer, A. (1966): Zum Begriff der traumatischen Neurose, Psyche 20, 5.481-492.
Mor g a n S . : Welche Anforderungen sind an die Diagnose einer posttraumatischen
Belastungsstörung zu stellen? Kurzvortrag für das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge, 2007.
Neuner, F. et. al.: Prävalenz der posttraumatischen Belastungsstörung und Möglichkeiten
der Ermittlung in der Asylverfahrenspraxis. Z. f. Klin Psychologie u. Psychotherapie 2005.
Soeder, T. (2009) : Sexuelle Gewalt gegen Männer. In: Über die (Un)möglichkeit zu trauern,
Hrsg; F. Wellendorf und Th. Wesle, Klett-Cotta 2009.
Volbert R. (2004)1 Beurteilung von Aussagen über Traumata. Hans Huber Verlag,
318
Herunterladen