Sozialpolitik transnational

Werbung
Vorbemerkung (Introduction)
Author(s): Christoph Conrad
Source: Geschichte und Gesellschaft, 32. Jahrg., H. 4, Sozialpolitik transnational (Oct. - Dec.,
2006), pp. 437-444
Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG)
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40186243
Accessed: 29/10/2009 16:23
Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of JSTOR's Terms and Conditions of Use, available at
http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp. JSTOR's Terms and Conditions of Use provides, in part, that unless
you have obtained prior permission, you may not download an entire issue of a journal or multiple copies of articles, and you
may use content in the JSTOR archive only for your personal, non-commercial use.
Please contact the publisher regarding any further use of this work. Publisher contact information may be obtained at
http://www.jstor.org/action/showPublisher?publisherCode=vandrupr.
Each copy of any part of a JSTOR transmission must contain the same copyright notice that appears on the screen or printed
page of such transmission.
JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of
content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms
of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected].
Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend
access to Geschichte und Gesellschaft.
http://www.jstor.org
Vorbemerkung
von Christoph Conrad
Wenn es noch eine Bastion des Nationalen gibt, dann scheint es der Sozialstaat zu
sein. Diese Rolle spielen Sozialpolitik und öffentlicher Dienst in den Farben der
Nation zum Beispiel im aktuellen französischen Präsidentschaftswahlkampf:Nicht
nur in der Rhetorik der sozialistischen Seite sollen sie den Drohungen der Globalisierung Einhalt gebieten. Schon immer hat ein Großteil der historischen Forschung
zur „Nationalisierung" oder „inneren Reichsbildung" dem Nationalstaat in seinen
Rollen als „Erziehungsstaat"„sorgendem" oder „Wohlfahrtsstaat"eine zentrale Rolle bei der Formierung und Vereinheitlichung europäischer Gesellschaften seit dem
19. Jahrhundert zugewiesen. Sowohl die Begleitdiskurse der sozialpolitischen Protagonisten als auch die historiografische Rekonstruktion haben - ob nun affirmativ
oder kritisch - einen Bismarckschen Sonderweg eher in den Mittelpunkt gestellt als
umgekehrt die Schaffung eines Bewusstseins übernationaler Herausforderungen
und geteilter Antworten durch soziale Reformer und Experten. Noch T. H. Marshalls
- international breit rezipierter - Entwurf eines Dreiphasenmodells von bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten war vollständig anglozentrisch geerdet.
Solche Sichtweisen sind in letzter Zeit immer stärker in Frage gestellt worden. Die
sozialen und politischen Erfahrungen seit dem Ende des Kalten Krieges haben zweifellos zur Entwicklung neuer Debatten und Problematiken beigetragen:Der Zuwachs
an europäischer Supranationalität, die Entstehung „neuer Wohlfahrtsstaaten" in
Schwellenländernweltweit oder die Prominenz gemeinsamer Herausforderungenwie
z. B. strukturelle Arbeitslosigkeit, Wanderungsdruck oder demographisches Altern
haben das Bild insularer,eng mit Identität und historisch gewachsener Verfasstheitdes
jeweiligen Nationalstaats verknüpfter Sozialpolitiken in Frage gestellt. Dennoch - so
wenden manche Beobachter ein - reagieren die Sozialstaaten auf übergreifende Herausforderungen in bemerkenswert spezifischer Art und Weise. „Pfadabhängigkeit"
und „Eigensinnigkeiten"1scheinen sich bei der Auseinandersetzung der Wohlfahrtsstaaten mit grenzüberschreitenden Akteuren und global wirksamen Risiken beharrlich zu behaupten. Nicht zuletzt deshalb erscheint es besonders fruchtbar,an einem
so trotzig nationalen Objekt die Tragweitegrenzüberschreitenderund deterritorialisierter Faktoren und konzeptueller Neuorientierungen zu erproben.
Aus der deutschsprachigen Diskussion über „transnationale Geschichte", wie sie
etwa Jürgen Kocka 2001 in dieser Zeitschrift lanciert hat, ist inzwischen ein dynamischer, von mannigfaltigen Perspektiven und theoretischen Zielvorstellungen geprägter Debattenraum geworden. In Sammelbänden, auf Tagungen und in Inter1 Franz-XaverKaufmann,Variantendes Wohlfahrtsstaats.Der deutsche Sozialstaatim internationalen Vergleich,Frankfurt2003, S. 11.
Geschichteund Gesellschaft32. 2006, S. 437-444
© Vandenhoeck& Ruprecht2006
ISSN0340-613 X
438
ChristophConrad
netforen drückt sich aus, dass hier ein Leit- oder Dachkonzept gefunden worden
ist, das die Unzufriedenheiten mit dem Status quo ebenso wie die Sehnsüchte nach
einer „anderen" Geschichtsschreibung zu bündeln vermag. Zwischen der Lust an
der Überschreitung nationaler Grenzen und der Sorge vor den kaum zu erfüllenden Ansprüchen einer tatsächlich weltweiten Geschichtsbetrachtung, scheint hier
eine flexible, konzeptuell anregende, aber inhaltlich und methodisch nur schwach
determinierte Ebene gefunden worden zu sein. Zuweilen kommt die Begeisterung
über diese Innovation allerdings erfahrenen Wirtschafts-, Migrations- oder internationalen Beziehungs-Forschern so vor, als ginge es Ihnen wie Molieres Monsieur
Jourdain, als dieser entzückt erfährt, dass er seit langem Prosa spricht, ohne es je
geahnt zu haben.
Doch gibt es wenig Grund, an der Nachhaltigkeit der gerade auch international
erfahrbaren Neuorientierung zu zweifeln. Diese Suchbewegung am Beispiel sozialpolitischer und sozialstaatlicher Problemstellungen zu konkretisieren und historische Forschungen im Austausch mit den hier sehr engagierten sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen weiterzuentwickeln, macht den Reiz der im folgenden
betrachteten Themenbereiche aus. Handelt es sich doch durchweg um Forschungsfelder,deren globale Bedeutung außer Fragesteht und die auf ein solides Fundament
vergleichender wie internationaler, sozialwissenschaftlicher wie historischer Analysen aufbauen können. Die Beiträge dieses Themenschwerpunkts sowie der Forumsbeitrag von Madeleine Herren möchten zusammen vor allem in zwei Richtungen
wirken:2Zum einen sollen sie sozialpolitische Probleme in das Blickfeld transnational und global orientierter Forscher rücken. Die historischen Formen von Sozialstaatlichkeit ebenso wie die zahllosen Formen der Regulierung des Sozialen gehören
auf die thematische Landkarteder sich offenbar auf der Suche nach neuen Objekten
befindlichen transnationalen Geschichtsschreibung. Wie Madeleine Herren betont,
kommt damit nur ein klassisches Feld inter- und transnationaler Verflechtungen
wieder zu seinem Recht, aber mit neuen Fragestellungen und interdisziplinären Impulsen. Zum anderen zeigen die hier versammelten Fallstudien, mit welchen Fragestellungen und methodischen Instrumenten klassische Themen der nationalzentrierten Betrachtung durch die transnationale Öffnung ihre Gestalt verändern, wie
bisher v. a. komparativ vorgehende Ansätze an Perspektivreichtum und Erklärungskraft gewinnen und wie vermeintliche Partikularismen ein interaktives Profil erlangen können.
Drei Wegweiser mögen am Anfang des Parcours helfen, die Erfahrungen und Resultate anderer Forschungsansätze nicht zu übersehen, also zu vermeiden, dass sie
mit großer Mühe noch einmal entdeckt werden. Erstens wäre es unproduktiv,
2 Dieses Themenheft ist aus einer Tagungdes Arbeitskreisesfür moderne Sozialgeschichtehervorgegangen,die im Frühjahr2005 am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität
Bochum stattfand.Neben allen Referentenund Teilnehmern sei dem Hausherrn Klaus Tenfelde für seine Gastfreundschaft,dem Vorsitzendendes ArbeitskreisesLutz Raphaelfür seine
stete Unterstützung sowie der Fritz-Thyssen-Stiftungfür die großzügige Förderungdes Kolloquiums herzlich gedankt.
Vorbemerkung
439
wenn die aktuelle Begeisterung für Transnationalität vergessen ließe, dass die Relativierung der vorgeblichen Einheitlichkeit des Nationalstaats in der Sozialpolitikgeschichte bereits große Fortschritte gemacht hat. In der historischen Entwicklung
europäischer Wohlfahrtsstaaten waren es ja regelmäßig die lokale, kommunale und
regionale Ebene, die in den Bereichen der Armenfürsorge, der Gesundheitsdienste,
der öffentlichen Hygiene, der Wohnungsversorgung sowie anfangs in der Arbeitslosenversicherung entscheidenden Anteil hatten - und insbesondere bei den personalen Dienstleistungen - bis heute behalten haben. Diese Entdeckung der
„Wohlfahrtsstaat"vor, anstatt und parallel mit dem „Wohlfahrtsstaat"hat als wichtige Infragestellung nationalstaatlicher Einheitlichkeit bereits der komparativen
Forschung manche Differenzierungsanstrengung abverlangt.
Genauso gilt dies zweitens für die historisch-empirische Relativierung des „öffentlichen" bzw. „staatlichen"Charaktersder Wohlfahrtsproduktion. Jegenauer man den
Blickwinkel der Betroffenen erschloss, je mehr man sich für die Akteure und ihre
Ressourcen interessiertere aufmerksamer man nach Frauen, Religionsgemeinschaften oder Minderheiten als innovativen Kräften Ausschau hielt, desto stärker fielen
die privat-öffentlichen Mischungsverhältnisse in der Genese sozialstaatlicher Programme ins Auge. Familie und „kleine Netze", Ehrenamt, Stiftung, Verein, „mutual
funds", Paternalismus oder privatwirtschaftliche Anbieter - alle diese Stichworte
stehen für Räume von „agency" im Sozialen, an die man heute unter globalhistorischen Vorzeichen in den postkolonialen Studien, der Erforschung religiöser Solidaritätsnetze oder der transnationalen Migrationsforschung wieder anknüpfen kann.
Wie Amelia Lyons in ihrem Artikel zeigt, sind es solche Interaktionen und Spannungslinien von kolonialer Herrschaft, metropolitaner Sozialstaatlichkeit, weitgehend urbanen Migrantenbevölkerungen und halb öffentlich, halb zivilgesellschaftlich strukturierter Sozialfürsorge, die das Projekt sozialer und kultureller „Integration" (und seine Langzeitfolgen bis heute) in neuem Licht erscheinen lassen.
Drittens hat die Forderung etwa von Michael Mann, dass man Makro- Regionen
als zentrale Räume transnationaler Interaktion ernster nehmen sollte, in der Wohlfahrtsstaatsforschung bereits einen festen Platz gefunden und kann wichtige empirische Belege vorweisen. „Very little that is transnational is global."3Auch wenn
dieser suggestive Satz nicht auf alle Sachbereiche gleichermaßen zutreffen mag, so
zeigt sich in den Debatten über das „nordische Modell"4 oder das „europäische
Sozialmodell"5 jedenfalls, eine wie starke (diskursive und praktische) Verdichtung
in Staaten-Clustern erreicht werden kann. Der Beitrag des Sozial- und Europarechtlers Eberhard Eichenhofer in diesem Heft führt vor, welche wirkungsvollen,
3 Michael Mann, Globalization, Macro-Regions and Nation-States, in: Gunille Budde u. a.
(Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006,
S. 21-31, hier S. 28.
4 Niels Finn Christiansen u. a. (Hg.), The Nordic Model of Weifare- a Historical Reappraisal,
Kopenhagen2006.
5 Hartmut Kaelbleu. Günther Schmid (Hg.), Das europäischeSozialmodell.Auf dem Weg zum
transnationalenSozialstaat,Berlin 2004.
440
ChristophConrad
aber oft unterschätzten Mechanismen in der Gesetzgebung, der Politikkoordinierung und der Rechtsprechung an der Konstruktion europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit am Werke sind.
Transnationalität als Konzept lässt sich auf eine Reihe höchst unterschiedlicher,
aber jeweils konstitutiver Dimensionen von sozialen Problemen und ihrer Regulierung anwenden. Einige davon seien hier kurz charakterisiert. Dabei ist zu betonen, dass der jeweilige Fokus sowohl inhaltliche Entscheidungen als auch eigene
methodische und konzeptuelle Vorgehensweisen mit sich bringt.
a) Zirkulation von Modellen. Die gegenseitige Beobachtung von Regierungen im
Hinblick auf die je vorbildlichen Modelle und Lösungsversuche sozialer Probleme,
die Debatten um Übernahme oder Ablehnung, Gegenbilder und Konkurrenz sind
bereits klassische Themen der internationalen Sozialstaatsgeschichte. Bereits die
Sozialpolitik des deutschen Kaiserreichstrat mit dem Anspruch der Vorbildlichkeit
ihrer Sozialversicherungen für andere Industriestaaten auf und erfasste mit empirischen Studien noch die entlegensten Sozialprogramme in Australien oder Neuseeland. Statt Imitation haben bilaterale historische Studien eher Abgrenzung und
Alternativlösungen als Reaktion auf diesen Pionier hervorgehoben. Die dennoch
erstaunliche weltweite Ähnlichkeit etwa der Sozialversicherungen oder der Diffusionsmuster von politisch-administrativen Lösungsformen ist von Politikwissenschaftlern früh unterstrichen worden.6 Ein Modell historischer Kulturtransferforschung ist die meisterhafte „connected history" von transatlantischen Beobachtungen, Aneignungen und Modellzirkulationen, die Daniel Rodgers vorgelegt hat.7
Der Beitrag von Andreas Eckert stellt solche Fragen in den Kontext der kolonialen
Herrschaftsformen des britischen und französischen Empires seit den 1940er Jahren. Er zeigt Grenzen und Sackgassen eines linearen „Exports" von Sozialprogrammen auf und unterstreicht damit das prekäre Erbe von „(Sozial- )Staatlichkeit",das
als postkoloniale Hypothek fortwirkt.
b) Organisationen und Foren der Transnationalisierung.Internationale Organisationen, ob getragen von Regierungsvertretungen oder von zivilgesellschaftlichen Verbänden, sind sicher diejenigen Vernetzungen und Orte transnationaler Art, die seit
langem die Aufmerksamkeit und die Forschungsinteressen nicht nur von Historikern auf sich gezogen haben. Im Bereich der sozialen Reform, der Sozialversicherungen und der Sozialpolitik allgemein ist das Geflecht von Kongressen, Vereinigungen
und - seit dem Ende des Ersten Weltkriegs - internationalen Organisationen im
Rahmen des Völkerbundes und später der Vereinten Nationen sehr reich entwickelt.
Jüngste historische Studien etwa zur Internationalen Arbeitsorganisation (ILO und
BIT) in Genf liefern endlich eine solide Basis für weitere Forschungen.8
6 Andrew Abbott u. Stanley DeViney, The WeifareState as TransnationalEvent:Evidencefrom
Sequences of Policy Adoption, in: Social Science History 16. 1992, S. 245-274.
7 Daniel T. Rodgers,Atlantic Crossings. Social Politics in a ProgressiveAge, Cambridge 1998.
8 Cedric Guinand, Die InternationaleArbeitsorganisation(ILO) und die soziale Sicherheit in
Vorbemerkung
441
c) Experten-Communities und Netzwerke. Eine bereits eingeführte und erfolgreich
beschrittene Herangehensweise betrifft die Sozialexperten als Akteure und ihre inter- oder transnationalen Vernetzungen. Umfang, Selbstverständnis und politischer Einfluss unterschiedlicher Spezialisten des Sozialen (Mediziner, Versicherungsmathematiker, Sozialrechtler, Fürsorgespezialisten, Demographen) können
vergleichend und beziehungsgeschichtlich mit großem Nutzen analysiert werden.
Wie an den Netzwerken der Frauenbewegung und der weiblichen Sozialarbeit demonstriert worden ist, sind private, assoziative und zivilgesellschaftliche Organisationsformen entscheidend in diesen transnationalen, ja globalen Interaktionen.9
Der Ruf nach prosopografischen Studien ist vielleicht nicht die einzige mögliche
Forschungsstrategie, aber der Nutzen eines solchen Datenfundaments ist unbestritten. Zentral sind die personellen Akteure aber auch als Träger der Diskurse,
Semantiken und Vermittler der Diffusion und Aneignung von Information und
Modellen. Die Fragen des Einflusses und der Eindringtiefe internationaler Empfehlungen und Normbildungen auf konkrete Sozialleistungen und Sozialstandards
vor Ort sind methodisch oft schwierig; in der Vermittlung von Mikro- und Makroperspektiven wären hier durchaus frische Ansätze willkommen.
Thomas Etzemüller nutzt die beiden prototypischen Sozialexperten des schwedischen Wohlfahrtsstaats,Alva und Gunnar Myrdal, um die theoretischen Elemente,
die „gouvernementalite" im Sinne Michel Foucaults sowie die Außenwirkung des
schwedischen „Modells" zu rekonstruieren. Neben der Ebene der übernationalen
epistemischen Gemeinschaften ist das Transnationalebesonders auch durch die entwicklungspolitischen und internationalen Aktivitäten der beiden Myrdals präsent.
d) Lost in Translation?GrenzüberschreitendeSprachen. In der historische Semantik
der Sozialstaaten bieten sich zahlreiche Schlüsselbegriffe für vergleichende und
transfergeschichtliche Analysen an. Hier sind mit Blick v. a. auf nationale Diskursgemeinschaften bereits innovative Studien vorgelegt worden, ihre Erweiterung auf
inter- und transnationaler Ebene liegt nahe.10 Die Debatten der Assoziationen,
Kongresse und Völkerbundsorganisationen, die sich solchen Fragen widmen, Begriffe übersetzen und gemeinsame Verständigungsbasen nutzen, stellen hier reiche
Quellen zur Verfügung. Welche „Sprachen" dienten am ehesten der grenzüberschreitenden Verständigung: die Statistik, das Recht, eine dominierende nationale
Tradition? Der Reiz solcher Debatten liegt darin, dass sie nicht in der reine Ideengeschichte bleiben, sondern dank ihrer mehr oder weniger erfolgreichen UmEuropa (1942-1969), Bern u. a. 2003; Daniel Maul, Menschenrechte,Entwicklung und Dekolonisation. Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) 1940-1970, Essen u.a. (im
Druck); ferner aus aktuellerSicht:EvaSenghaas-Knobloch(Hg.)>Weltweitgeltende Arbeitsstandardstrotz Globalisierung.Analysen, Diagnosen und Einblicke,Münster 2005.
9 Einen quellennahen Einblick bietet zuletzt das Themenheft „Women in Weifare.Soziale Arbeit in internationaler Perspektive",in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, Heft 49. 2006.
10 Stephan Lessenich (Hg.), WohlfahrtsstaatlicheGrundbegriffe.Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt2003.
442
ChristophConrad
Setzung zur Anwendungs- und Sozialgeschichte hinführen. Auf diesem Feld eröffnen sich auch zahlreiche Ansatzmöglichkeiten für eine „histoire croiseV',z. B. wenn
chinesische Fachleute auf das „Modell Schweden" schauen.11
e) Mobile Akteure. Entscheidende Vektoren von Transnationalität sind auch die
Frauen und Männer, die die Grenzen von Staaten oder Kontinenten überschreiten,
um ihr Leben zu gestalten und Arbeit zu finden. Dabei werden sie oft in der Forschung - in der Übernahme der Sicht staatlicher Apparate - zu „Objekten" oder
„Klienten" sozialpolitischer Regulierungen und Interventionen. Die Probleme der
Arbeitsmigration und der „Wanderarbeiter"ziehen bereits Ende des 19. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit nationalstaatlicher und internationaler Politiker auf sich
und werden nach dem Ersten Weltkrieg zu einem der großen Themen der Internationalen Arbeitsorganisation.12Auch in der jüngsten Zeit lässt sich zeigen, dass
grenzüberschreitende Risiken, Ansprüche und Rechte solcher Arbeitnehmer das
entscheidende Ferment gebildet haben, um nationale Wohlfahrtssysteme etwa innerhalb Europas kompatibler und kombinierbar zu machen. Interessant ist aber,
dass allein drei Beiträge dieses Heftes (Etzemüller, Eckert, Lyons) untersuchen, wie
Frauen und Mütter als zentrale Akteurinnen von Reproduktion, sozialer Integration und Modernisierung zum bevorzugten Ziel von Diskursen, Dienstleistungen
und Zumutungen der Verhaltensänderung geworden sind.
f) ÜbernationalesRecht mit Anwendung auf lokale und nationale Tatbestände: Die
Menschenrechte, die Flüchtlingskonvention, multilaterale Arbeitsschutzabkommen oder die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs können dafür als
Beispiele dienen. Auf einem anderen Themenfeld, dem der Kolonialpolitik, aber
mit anregenden Übertragsmöglichkeiten auf sozial- und entwicklungspolitische
Prozesse diskutiert der zweite Forumsbeitrag von Susan Pedersen auf prägnante
Weise die besonderen Bedingungen und Grenzen, die am Beispiel der Mandatsverwaltung hinsichtlich der Genese und Anwendung internationaler Normen und
Regelungsmechanismen zu beobachten sind. Auch dort wird deutlich, dass grenzüberschreitende Projektion von Recht einen Rückhalt in mobilisierbaren öffentlichen Meinungen finden muss, an die man auch bei fernliegenden Missständen
oder Skandalen appellieren kann.
g) Travelingproblems. Aber nicht nur Arbeiter, Experten oder Lösungsmodelle
überschreiten regelmäßig nationale Grenzen, sondern auch soziale oder gesundheitliche Risiken und Problemlagen selbst sind höchst selten territorial fest gebunden. Die soziale oder Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts wurde bereits von den
zeitgenössischen Beobachtern als eine übernationale Herausforderung angesehen.
Im sozialpolitischen, oft höchst alarmistischen Diskurs der letzten Jahrzehnte wa11 Lin Ka, Chinese Perceptions of the Scandinavian Social Policy Model, in: Social Policy and
Administration 35. 2001, S. 321-340.
12 Paul-Andre"Rosental, Geopolitique et £tat-providence. Le BIT et la politique mondiale des
migrations dans l'entre-deux-guerres,in: Annales HSS 61. 2006, S. 99-134.
Vorbemerkung
443
ren es insbesondere zwei Phänomene, die genuin transnational auftreten und wirken: die AIDS-Epidemie auf der einen Seite13und das demographische Altern der
Bevölkerung (nicht nur) entwickelter Länder auf der anderen Seite. Die jeweiligen
Herausforderungen implizieren selbstverständlich sowohl diskursive Problemkonstruktionen, historische Traditionen der Intervention sowie aktuelle Wahrnehmungen und Prioritäten, die - so ist zu vermuten hauptsächlich im nationalen
Rahmen verhandelt werden, aber durch ihren Signalcharakter oder ihre Rückwirkungen wiederum jenseits der jeweiligen Grenzen wirken.
h) Finanzflüsse. Transnational im sozialen Bereich wird auch dort agiert, wo Spendenflüsse und Spendenmotive nationale oder kontinentale Räume überschreiten,
also z. B. bei humanitären Notlagen oder Naturkatastrophen. Bei diesen Themen
verbinden sich die Geschichte von Wohltätigkeit und Philanthropie mit der Erforschung von Öffentlichkeit und Mediensystemen, die aufhahmebereit für transnationale, tendenziell globale Nachrichten und Mobilisierungen sind. Sie stellen einen Bereich dar, in dem sich kollektive Solidarität von regionalen und nationalen
Bezugsrahmen löst und an eine transnationale „imagined Community" anknüpft.
Die praktische Durchführung solcher „transnationaler Solidarität"14erfordert ihrerseits wiederum Expertennetze, Organisationen mit ihren Ressourcen und lokalglobale Handlungsverbünde. Über punktuelle Hilfen hinaus kommt im weiteren
Sinne auch der Ausgleich von Ungleichheiten zwischen Regionen, Ländern oder
Kontinenten zu seinem Recht. Spannt man den Bogen so global, kommen die Berührungspunkte von Entwicklungs- und Sozialpolitik in den Blick.
Sicherlich ist diese Aufzählung erweiterbar. Wie Madeleine Herren ausfuhrt, werden diese Dimensionen überwölbt von den jeweiligen geopolitischen Konstellationen von Machtverteilung und „governance": so etwa die Metropolen-Kolonien
Beziehungen, die Bipolarität des Kalten Krieges oder aktuelle Ausprägungen von
globaler Zivilgesellschaft und transnationalen ökonomischen Kräften.Wie sich aus
der „world polity"-Forschung oder der Soziologie der Weltgesellschaft:lernen lässt,
ist die universelle Verbreitung der nationalstaatlichen Formatierung von Gesellschaften und der Ausbildung nationaler Selbstbezogenheit nicht als Gegensatz,
sondern als Funktionselement und Pendant von Globalisierung zu sehen.15Sicher
möchten Historiker genauer wissen, wie, wann und wo sich - jenseits der Suggestivkraft dieser Paradoxie - Nationalstaatlichkeit mit und durch transnationale
Kräfte artikuliert und profiliert hat. Es spricht für die große Eignung sozialpoliti13 PeterBaldwin,Disease and Democracy.The IndustrializedWorld FacesAIDS, Berkeley2005;
Baldwins Analyse führt zurück zur Beharrungskraftnationaler Pfade, die sich im Umgang
mit Seuchen seit dem 19. Jahrhundertherausgebildethaben.
14 Jens Beckert u. a. (Hg.), TransnationaleSolidarität.Chancen und Grenzen, Frankfurt2004.
15 John W. Meyer, Weltkultur.Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hrsg. v.
Georg Krücken,Frankfurt2005; Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft.Soziologische Analysen, Frankfurt2000.
444
ChristophConrad
scher Zugänge zu solchen Wechselbeziehungen, dass die kürzlich erschienene Studie von Sebastian Conrad zu diesem Fragenkomplex im Kaiserreich die nationale
und imperiale Kodierung von Arbeit sowie die Regulierung von Arbeitsmigration
in den Mittelpunkt stellt.16
Prof. Dr. Christoph Conrad, Universite' de Geneve, Departement d'histoire
ge^rale, rue Saint-Ours 5, 1211 Geneve 4, Schweiz
E-Mail: [email protected]
16 SebastianConrad, Globalisierungund Nation im Deutschen Kaiserreich,München 2006.
Herunterladen