P. Bourdieu: Der Staatsadel - H-Net

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Pierre Bourdieu. Der Staatsadel. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz - UVK, 2004.
475 S. ISBN 978-2-7118-4914-7; ISBN 978-3-7757-1505-8.
Reviewed by Christian Oswald
Published on H-Soz-u-Kult (October, 2006)
P. Bourdieu: Der Staatsadel
Obwohl die längst überfällige Übersetzung (aus dem
Französischen von Franz Hector und Jürgen Bolder) von
Pierre Bourdieus bereits 1989 in Frankreich publizierter
Untersuchung der französischen Eliteschulen, der Grandes Ecoles, im Jahre 2004 mitten in die hiesige Diskussion
über Eliteuniversitäten und Exzellenzcluster hätte hinein
platzen müssen, blieb es erstaunlich still um sie. Dafür
lassen sich mehrere Gründe denken. Der wohl politisch
unwichtigste, der aber in einer Rezension unbedingt Erwähnung finden sollte, sei vorneweg genannt und betrifft die Qualität der Edition: Der von Franz Schultheis
und Louis Pinto im UVK-Verlag herausgegebene und von
Franz Hektor und Jürgen Bolder übersetzte Band 31 klassischer und zeitgenössischer Texte der französischen Humanwissenschaften ist in keiner Weise für ein deutschsprachiges Publikum aufbereitet. Es gibt weder ein Glossar noch ein Register, weder Vor- noch Nachwort. Wer
sich nicht sehr gut im französischen Bildungssystem auskennt, wird nur mit Schwierigkeiten vielen Erläuterungen folgen können. Vor allem muss er sich über 164 Seiten hinweg mit allen möglichen Abkürzungen herumärgern, bevor er, sinnigerweise mitten im Buch, mit der
Tabelle 8 eine Liste mit den Benennungen der Schulen
und Einrichtungen findet, die sich hinter den häufig gebrauchten Abbreviaturen verbergen.
schlankung“ des Staates, der sich wie die Unternehmen
aufs Kerngeschäft konzentrieren soll, und die Förderung
privater Initiativen, die immer auf eine Steigerung der
Belastungen für die Beschäftigten und die sogenannten Kunden hinausläuft, will das französische Modell einer überwiegend in staatlichen Einrichtungen organisierten Elitebildung genauso wenig passen, wie der polemische Ton, in dem Bourdieu ein Bildungssystem geißelt,
das Chancengleichheit verspricht, um dann doch nur die
durch ihre soziale Herkunft Privilegierten passend auf die
Schaltstellen der Macht zu verteilen.
Die Studie gliedert sich aus Forschungserfordernissen, wie Bourdieu schreibt, in zwei Teile.
Der erste (S. 21-158) ist, einem konstruktivistischen Ansatz folgend, der Untersuchung der kognitiven Strukturen gewidmet, auf die sich die Akteure des Bildungssystems in ihren Vorstellungen und
Handlungen beziehen, um ihre soziale Wirklichkeit zu
konstruieren. Das empirische Material, auf das sich
Bourdieu hierbei stützt, besteht aus den Bewertungen und Beurteilungen, die Lehrer der Vorbereitungsklassen auf den concour – jenem Wettbewerb, dessen erfolgreiches Überstehen zum Studium an einer
Eliteschule berechtigt – ihren Schülern geben. Daraus
Politische Gründe für die Ignoranz hierzulande ge- destilliert die Analyse eine Reihe von Gegensatzpaaren wie brillant/unscheinbar, mühelos/mühselig, kultigenüber diesem Buch dürften sowohl in den Schwächen
viert/schulmäßig oder originell/alltäglich etc. (S. 32), die
der Untersuchung und ihrer theoretischen Voraussetzungen und Schlussfolgerungen, als auch in der Schwäche ein schulisches Klassifikationssystem strukturieren. Der
der Opposition gegen neoliberalen Elitewahnsinn zu su- Gegensatz von Talent und Fleiß, auf den sich alle andechen sein. In den perennierenden Diskurs um die Ver- ren zurückführen ließen und der das Prinzip des gesam”
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ten Urteilssystems abgebe, drücke, so Bourdieu, in euphemisierender Weise verschiedene Erwerbsmodi (S. 36)
der Bildung aus. Im Talent bzw. der Leichtigkeit, mit der
bestimmte Schüler etwas zu erlernen in der Lage seien,
verberge sich das sogenannte kulturelle Kapital, das sie
von zu Hause mitbrächten. Der Fleiß hingegen, stets mit
Schwerfälligkeit assoziiert, sei der schulische Erwerbsmodus selbst. Das schulische Bewertungssystem zeige
sich also strukturiert von einem sozialen Gegensatz. Der
Vorrang der Herkunft dokumentiere sich in dem paradoxen Verhalten der Akteure, die gerade mit solchen Attributen, die auf den nicht-schulischen, den familiären Erwerbsmodus verwiesen, ihre besondere Wertschätzung
zum Ausdruck bringen.
Urteile darstellen, das Schülermaterial auf die verschiedenen Eliteschulen und der Besuch einer solchen Schule
sichert einen Platz in der Gesellschaft, der der dortigen
Positionierung der Herkunftsfamilie entspricht. Betrachtet man diesen Gang durch die Institutionen nach der Seite der sachlichen Abhängigkeiten, dann ergibt sich (da
der Struktur vor dem Handeln der Akteure notwendig
der Vorrang einzuräumen ist) das umgekehrte Bild: Da
die objektiven Strukturen des schulischen Feldes homolog zu denen des Machtfeldes sind und die subjektiven
Kategorien homolog zu den Strukturen des schulischen
Feldes, führen die Bewertungen zu einer Auswahl der
durch ihre Herkunft sowieso schon Privilegierten. Das
Bildungssystem bildet also die Mitte in einem Schluss,
der von der Position, die die Familie im sozialen Raum
besetzt, auf jene Position führt, die ihre Nachkommen
einnehmen.
Der Bewertung von Talent und Fleiß korrespondiert
Bourdieu zufolge eine Einteilung der objektiven Strukturen des schulischen Feldes nach Talent- und Fleißfächern
und nach Institutionen, an denen man dieses oder jenes
Fach besser studieren könne. Es bestehe eine Homologie
zwischen der Tafel der Kategorien, die subjektiv die Klassifikation bestimmen, und den objektiven Strukturen des
schulischen Feldes, auf deren Basis es gelinge, die Schüler
gemäß ihrer Herkunft auf die verschiedenen Disziplinen,
Anstalten und Zweige des schulischen Feldes zu verteilen.
Diese Mitte hat allerdings ein gespaltenes oder gedoppeltes Dasein, ein subjektives in den Kategorien und
den aus ihnen sich ableitenden Handlungen der Akteure
und ein objektives in den Einteilungen der Fächer und Institutionen und ihrem Verhältnis zueinander. Die Homologie, die die beiden Seiten der Medaille zusammenhält,
ist eine Beziehung, die aufgrund des verschiedenartigen
Charakters der aufeinander Bezogenen gar nicht eingesehen werden kann. Lediglich kann ihr faktisches BeIm zweiten Teil (S. 159-453) der Studie werden, eistehen konstatiert werden, sofern das empirische Matenem strukturalistischen Ansatz folgend, die objektiven rial sich nach gleichartiger Logik konstruieren lässt. Die
Strukturen des schulischen Feldes analysiert. Dessen Ein- Aufteilung des Buches in zwei voneinander unabhängige,
teilungen in Fächer, Disziplinen und Institutionen lassen aber einander ergänzende Teilstudien ist darin begrünsich Bourdieu zufolge nun ihrerseits in doppelter Homo- det, dass Struktur und Konstruktion übereinstimmen und
logie zu einem anderen Feld, dem Feld der Macht, konnicht übereinstimmen. Das dualistische Denken, das sich
struieren. Als doppelt homolog sei das Verhältnis diein solchen begrifflichen Gegensätzen bewegt, ist stets auf
ser beiden Felder zu charakterisieren, weil einerseits der der Suche nach ihrer Vermittlung, die aber selbst wieGegensatz zwischen Grandes Ecoles und Petites Ecoles der dualistisch gerät, weil der Widerspruch in der Sache
dem sozialen zwischen Anwärtern auf höhere und sol- nicht ausgetragen wird. Die Mitte der Mitte, die das Bilchen auf mittlere Führungspositionen entspreche und dungswesen im sozialen Reproduktionszyklus darstellt,
weil andrerseits der Gegensatz innerhalb der Grandes
ist Bourdieus berühmtberüchtigter Habitus.
Ecoles zwischen jenen, die auf wissenschaftliche Karrieren und jenen, die auf die Leitung von Unternehmen und
Der Habitus ist der Repräsentant der Gesellschaft im
Verwaltungsaufgaben vorbereiten, demjenigen zwischen Individuum, sozialpsychologischer Inbegriff all der soziaden Polen des ökonomischen und des kulturellen Ka- len Bedingungen der offenbar vollständig gesellschaftpitals des Machtfeldes korrespondiere (ebd. S. 163/164). lich vermittelten Individuation und Selbsterhaltung, die
Durch das Erlangen eines bestimmten Studienplatzes sei durch ein Unterscheiden gelingt, das zugleich, wie die
die spätere Karriere zumindest dergestalt vorgezeichnet, Beispiele, die Bourdieu gibt, deutlich machen, ein Unterdass die Absolventen der Grandes Ecoles sich prädesti- und Überordnen ist (ebd. S. 14). Dass die Dispositionen,
niert fühlen dürften, in die Führungsetagen einzurücken. die ihn ausmachen, Bourdieu zufolge Produkt einer Inkorporation sein sollen, beantwortet nicht die sich aufSo schließt sich der Kreis, der einen sozialen Repro- drängende Frage, wie die Schemata mit der Position im
duktionszyklus beschreibt. Die Lehrer verteilen durch sozialen Raum verknüpft sind. Genetisch, das legt er zuBewertungen, die mehr oder weniger verkappte soziale mindest nahe, könnte sich die Inkorporation im Zuge der
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ständigen Bewertungen vollziehen, denen die Lehrer ihre
Schüler unterziehen, durch die sie eine künstliche Wettbewerbssituation im Klassenzimmer schaffen, in der ihnen keine anderen Mittel als eben diese Bewertungsschemata zu Verfügung stehen, um sich selbst zu beurteilen.
Das würde einerseits die Ausbildung des Habitus in eine
sehr späte Phase der Kindheitsentwicklung verlegen und
der strukturellen Verknüpfung der Schemata mit der sozialen Position widersprechen, die durch die Stellung der
Familie vorgegeben sein soll. Andrerseits würde durch eine solche Genese bestätigt, was Bourdieu an keiner Stelle
in Betracht zieht, nämlich dass die Bildung, insbesondere die Schulbildung, Negation der familiären Erziehung
ist. Bildung soll die Schüler befähigen, sich aus ihrer naturwüchsigen, familiären Umgebung zu lösen, sich dem
Schicksal, wie Bourdieu sagen würde, in das sie hineingeboren wurden, zu entfremden. Dank ihrer sollen sie
selbständig denkende Individuen werden, denn aus denen setzt sich bürgerliche Gesellschaft zusammen, nicht
aus Familienmitgliedern.
Entgegen den Implikationen der eigenen Studie bleibt
die Ideologiekritik Bourdieus bei der Entlarvung stehen.
An die Realität wird der Maßstab des Ideals angelegt
und gezeigt, dass, wer hätte es gedacht, erstere letzterem
nicht entspricht. Die Realität ist nicht das, wofür das Ideal
sie ausgibt, wir leben nicht in einer bürgerlichen, sondern
in einer Ständegesellschaft. Das Ideal ist nur ideell, es
existiert nur im subjektiven Glauben an es, die Schultitel
beinhalten keinerlei Aussage über Fähigkeiten, sondern
werden den Individuen nur wie Etiketten angeheftet und
definieren sie rein nominal. Die abstrakte Entgegensetzung von Realität und Idealität, die auf begrifflicher Ebene lauter Tautologien generiert und auf einem naiv realistischen Begriff der Wahrheit, der Übereinstimmung von
Gedankem und Sache, beruht, wird nicht als Charakterisierung eines falschen gesellschaftlichen Zustandes genommen, d. h. die Getrennten nicht in ihrem Verhältnis
zueinander, nicht in ihrer Einheit begriffen. Ihre Gegenüberstellung ist nur eine subjektive Verknüpfung und der
Wissenschaftler, der sie vollzieht, reflektiert nicht darauf, dass er mit seinem Messen und Vergleichen schon
Den Widerspruch im Sozialisationsprozess, in dem eine Beziehung unterstellt. Soziologie, die Ideologie für
sich der Habitus herausbilden soll und der sich als Gegen- ein pures Bewusstseinsphänomen hält, bleibt ihr verhafsatz der verantwortlichen Sozialisationsinstanzen dar- tet. Die Gewalt, die von den gesellschaftlichen Verhältstellt, löst Bourdieu, indem er ihn zum puren Schein hernissen ausgeht, verdünnt sich ihr zur symbolischen Geabsetzt. Die negative Beziehung der Schulbildung auf die
walt. Würden wir die Macht der Titel anerkennen, würde
familiäre Erziehung verbirgt sich in dem, was er die re- sie sich in Luft auflösen. Bourdieu reproduziert exakt die
”
publikanische Ideologie der befreienden Schule“ nennt. bürgerlich-aufklärerische Religionskritik, die die andere,
Dieser Ideologie kommt die entscheidende Vermittlungs- nicht funktionale, sondern kritische Seite der Ideologie
funktion in Bourdieus Gedankengebäude und bei der des Verdienstes bildet, die er anprangert. Alles, was er
Konstitution des Habitus zu. Sie ist nichts anderes als
der bürgerlichen Gesellschaft vorzuhalten hat, ist, dass
die erzbürgerliche der Chancengleichheit, die ihre Übersie nicht wirklich bürgerlich sei.
zeugungskraft aus der Existenz eines allgemeinen, jedermann zugänglichen Schulsystems zieht und aus dem conBourdieus Studie ist nicht der Bildungs-, sondern der
cour, dem vermeintlich freien Wettbewerb um die be- Elitesoziologie zuzurechnen. Dass in ihr nicht von Bilgehrten Stellen an den Eliteschulen. Ihre soziale Funktion dung, sondern höchstens von technischen Kompetenzen
bestehe Bourdieu zufolge darin, den Akteuren zu sugge- die Rede ist, dass die Lehrer nicht unterrichten, sondern
rieren, dass die Noten im Guten wie im Schlechten ihr nur bewerten, ist nicht allein einer Soziologie geschuleigenes Verdienst seien, dass ihre Leistungen und nicht det, die ihre Aufgabe darin sieht, alles aus einer sozioloihre Herkunft beurteilt werde. Nur weil sie daran glaub- gischen Perspektive betrachten zu sollen, statt die soziale
ten, adaptierten sie die Schemata, auf denen die Bewer- Bestimmtheit der Gegenstände in diesen selbst aufzusutungen beruhen und wendeten sie schließlich auf sich chen. Ihren Schein der Wahrheit hat sie zum einen darselbst an (S. 47f.). Bedingung dieser Konstitution eines an, dass in den Schulen der Bildungsprozess tatsächlich
Selbstbewusstseins, das sich auf eine Täuschung stütze, dem Bewertungsprozess subsumiert wird, aber auch darsei eine euphemisierende Sprache, in der der soziale Cha- an, dass die Elitebildung sich auf keinerlei pädagogische
rakter der ausgesprochenen Urteile neutralisiert werde. Begründung stützen kann, sondern ein sozialer Vorgang
Erst indem, wie Bourdieu dies tut, die Episteme dieses ist. Elitebildung in einem pädagogischen Sinne ist purer
schulischen Diskurses herausgearbeitet und auf ihre so- Nonsens und der Versuch, die mit den besten Noten als
zialen Voraussetzungen bezogen werde, werde unter die- die Besten zu definieren, rassistisch.
sem rein technisch anmutenden Sprachmantel, der soziaIndem jedoch Bourdieu als Elitesoziologe meint den
le Inhalt deutlich (S. 59).
Reproduktionsprozess der herrschenden Gruppen geson3
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dert für sich untersuchen zu können, verfehlt seine Soziologie gerade, was sie intendiert. Er kann lediglich einen
Distributionsmodus angeben, zeigen, wie die Individuen
auf das Feld der Macht verteilt werden. Für dessen Produktion und Reproduktion ist aber das gesellschaftliche
Verhältnis der Mächtigen zu den Ohnmächtigen verant-
wortlich. Dies ist ein Klassenverhältnis und bestimmt das
Feld der Macht bis in seine innerste Struktur. Weil er die
arbeitsteilig funktionierende soziale Welt fein säuberlich
in voneinander separierte Felder einteilt, koppelt er die
Soziologie von ihrem wesentlichen Gegenstand ab, den
gesellschaftlichen Verhältnissen.
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Citation: Christian Oswald. Review of Bourdieu, Pierre, Der Staatsadel. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. October, 2006.
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