Ergebnisse - Fluchtpunkt

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flucht
punkt
kirchliche Hilfsstelle für Flüchtlinge im Ev. Luth. Kirchenkreis Altona
Eifflerstr. 3, D-22769 Hamburg
Tel.: 0049-40/432500-80 Fax: 0049-40/432500-75
[email protected], www.fluchtpunkt-hamburg.de
Claudia Oelrich:
Empirische Untersuchung über Aufenthaltsdauer, psychopathologische
Auffälligkeiten und Parentifizierung bei Flüchtlingskindern ohne sicheren
Aufenthaltsstatus
Die „Kinderstudie“ - Ein Kooperationsprojekt von fluchtpunkt und
der Spezialambulanz für Flüchtlingskinder und ihre Familien am
UKE
A. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:
Von den befragten Kindern und Jugendlichen
erfüllten 62,7% die wissenschaftlichen Diagnosekriterien für mindestens eine
behandlungsbedürftige psychische Störung, 43,1% litten sogar an mehreren psychiatrischen Auffälligkeiten;
erfüllten 19,6 % die Kriterien für ein gegenwärtiges Suizidrisiko, bei 7,8%
zeigte sich zu diesem Zeitpunkt sogar eine hohe Suizidgefährdung;
wurden bei 21% Verhaltensauffälligkeiten und/oder emotionale Probleme
festgestellt;
berichteten 15,6% über auffällige psychosomatische Beschwerden.
Bei diesen Befunden konnten folgende Zusammenhänge festgestellt werden:
Müssen die Kinder und Jugendlichen über einen längeren Zeitraum hinweg
familiäre Aufgaben übernehmen, die üblicherweise von Erwachsenen erfüllt
werden (sog. Parentifizierung), so berichten sie in signifikant größerem Ausmaß über psychische Probleme.
Es besteht eine deutliche Tendenz, dass mit zunehmender Dauer des ungesicherten Aufenthalts Anzahl und Schwere der psychischen Probleme zunehmen.
Fazit:
Diese Stichprobe zeigt eine ganz außerordentlich belastete Gruppe mit psy-
chopathologischen Auffälligkeiten, die wesentlich durch die spezifischen Lebensumstände mitbeeinflusst sind, denen diese Kinder und Jugendlichen
durch die andauernde unsichere Aufenthaltssituation ausgesetzt sind.
fluchtpunkt Claudia Oelrich
B. Die Studie im Einzelnen
Methode
Die Stichprobe setzte sich aus 51 Kindern und Jugendlichen (26 Jungen, 25 Mädchen) zwischen 9 und 19 Jahren zusammen. Sie stammten zu 58,8% aus Afghanistan, zu 11,8% aus dem Kosovo und jeweils zu 5,9% aus Serbien und der Türkei.
90,2% der Probanden mussten aus dem Heimatland fliehen, als sie im Durchschnitt
8 Jahre alt waren. 9,8% wurden in Deutschland geboren. Ihre Familien lebten zwischen 3 und 21 Jahren in Deutschland (M=7,5 Jahre). Über 88% besaßen zum Zeitpunkt der Befragung nur eine Duldung, zumeist seit mindestens 5 Jahren.
rechtlicher Status der Familie bei Befragung
Dauer des unsicheren Aufenthalts in Jahren
Häufigkeit in Prozent
40
Fiktionsbescheinig.
Aufenthaltserlaubnis
30
Gestattung (Asylv.)
20
10
Duldung
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
13
14
15
17
Dauer des unsicheren Aufenthalts
Befragt wurde mithilfe verschiedener Fragebögen, insbesondere mit international
anerkannten wissenschaftlichen Verfahren. Erhobene Themenbereiche:
- soziodemographischen Informationen
- psychopathologische Auffälligkeiten (Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ),
Goodman, 1999; Diagnostisches Interview M.I.N.I. KID, Plattner et al., 2003)
- Somatisierung (Children‘s Somatization Inventory (CSI), Garber et al., 1991)
- Parentifizierung (Filial Responsibility Scale for Youth (FRS-Y; Jurkovic et al., 2000)
- „3-Wünsche-Frage“ bzw. „Feen-Frage“
Wichtigste Ergebnisse im Detail
In dem diagnostischen Interview M.I.N.I. KID, das nach möglichen psychiatrischen Diagnosen „screent“, stellte sich heraus, dass lediglich 37,3% der befragten
Kinder und Jugendlichen derzeit keine Diagnosekriterien erfüllten; die anderen erfüllten zu 19,6% die Kriterien für eine behandlungsbedürftige psychische Störung, während 43,1% der Probanden sogar die Kriterien für mehr als eine psychiatrische Diagnose erfüllten.
Die Hauptdiagnosen waren:
1. spezifische Phobien
2. Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS
3. Major depressive Episode, gegenwärtig
4. Trennungsangst
5. hypomanische Episode, vergangen
6. Anpassungsstörung
fluchtpunkt Claudia Oelrich
25,5%
17,6%
17,6%
17,6%
13,7%
10,0%
Außerdem erfüllten 19,6% der Befragten die Kriterien für ein gegenwärtiges Suizidrisiko, bei 7,8% war zum Zeitpunkt der Befragung sogar von einer hohen Suizidgefährdung auszugehen.
Ein anderes wissenschaftliches Verfahren, das die Stärken und Schwächen des Kindes zu
erfassen sucht (Strengths and Difficulties Questionnaire, SDQ), zeigte Verhal-
tensauffälligkeiten und emotionale Probleme auf: Über 21% lagen im grenzwertigen
und auffälligen Bereich.
Außerdem berichteten 15,6% der befragten Kinder und Jugendlichen über auffällige
psychosomatische Beschwerden. (Erhebungsinstrument hierfür war das Children‘s
Somatization Inventory, CSI.)
86% der befragten Kinder und Jugendlichen gaben an, nicht in ihr Heimatland / das
Heimatland ihrer Eltern zurückkehren zu wollen und über 84% fühlten sich in
Deutschland zu Hause. 88% berichteten, Angst vor einer Abschiebung zu haben, von
ihnen hatte knapp 82% sogar große Angst davor.
Die Kinder und Jugendlichen gaben an, vielfältige Aufgaben innerhalb ihrer Familien
zu übernehmen/übernehmen zu müssen, die normalerweise in Familien eher von
den Eltern ausgeführt werden (Parentifizierung): z.B. Arbeiten im Haushalt, Versorgung jüngerer Geschwister, Übersetzungshilfe für die Eltern („instrumentelle Fürsorge“), aber auch die Rolle des „Trösters“ für Eltern und Geschwister, des Streitschlichters etc. („emotionale Fürsorge“). Die Übernahme dieser Aufgaben war jedoch
u.a. abhängig von Alter, Geschlecht und Geschwisterposition.
Mussten die Kinder und Jugendlichen für einen längeren Zeitraum sehr viele familiäre Aufgaben übernehmen, die üblicherweise von Erwachsenen erfüllt werden, so berichteten sie in signifikant größerem Ausmaß über psychische Probleme, v.a. psychosomatische Beschwerden. Dies war insbesondere dann der Fall, wenn die Kinder
die Aufgabenverteilung innerhalb der Familie als unfair erlebten.
Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der Variable “Länge des unsicheren Aufenthalts in Deutschland“ und psychischen Problemen zeigt sich ein eindeutiger Trend
dahingehend, dass die Anzahl und das Ausmaß der Auffälligkeiten mit zunehmender
Duldungsdauer zunehmen. Angesichts der geringen Größe der Stichprobe lässt sich
mit statistischen Methoden jedoch noch nicht sicher nachweisen, ob dieser Zusammenhang bereits für sich genommen statistisch signifikant ist oder ob noch weitere
Variablen miteinbezogen werden müssen (z.B. Parentifizierung, familiäre Situation
etc.).
Wie hoch der Leidensdruck bei vielen Kindern und Jugendlichen angesichts ihrer
unsicheren Aufenthaltssituation ist, zeigen jedoch auch ihre Antworten auf die Frage,
welche Wünsche ihnen eine gute Fee denn erfüllen sollte, wenn sie 3 Wünsche frei
hätten: 31% der Kinder wünschten sich in ihrem ersten Wunsch einen deutschen
Pass bzw. einen sicheren Aufenthalt.
Einige beispielhafte Wünsche:
„Ich wünsche mir...
„...dass ich in Deutschland bleiben darf.“;
„...dass wir nie eine Abschiebung bekommen.“
„...ein eigenes Zimmer.“;
„...ein Schloss für meine Eltern.“
„...keinen Krieg auf der Welt und dass alle gesund sind.“
fluchtpunkt Claudia Oelrich
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